Das Totenbuch
Die ägyptische Königin Nofretete ließ an den Ufern des Nils eine prächtige Tempelstadt erbauen. Doch dann verschwindet Nofretete plötzlich. Der Ermittler Rahotep hat 10 Tage Zeit, sie zurückzubringen - ansonsten werden er und seine Familie sterben.
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Produktinformationen zu „Das Totenbuch “
Die ägyptische Königin Nofretete ließ an den Ufern des Nils eine prächtige Tempelstadt erbauen. Doch dann verschwindet Nofretete plötzlich. Der Ermittler Rahotep hat 10 Tage Zeit, sie zurückzubringen - ansonsten werden er und seine Familie sterben.
Lese-Probe zu „Das Totenbuch “
Das Totenbuch von Nick Drake1
Im Jahre 12 der Regierung von König Echnaton,
Ruhm der Sonnenscheibe.
Theben, Ägypten
Ich hatte von Schnee geträumt. Ich hatte mich in der Dunkelheit
verirrt, und langsam und sacht fiel der Schnee, jede Flocke
ein Rätsel, das ich nicht lösen konnte, bevor es verschwand. Als
ich erwachte, spürte ich noch immer seine flüchtige, geheimnisvolle,
sanfte Berührung auf meinem Gesicht. Das machte
mich erstaunlich traurig. Es war, als hätte ich etwas oder jemanden
für immer verloren.
Für einen Augenblick lag ich ganz still und horchte auf Taneferts
ruhigen Atem neben mir, während die Hitze des Tages
bereits einsetzte. Selbstverständlich habe ich nie Schnee gesehen,
doch ich erinnere mich, gelesen zu haben, dass einmal
eine Kiste voller Schnee, wie ein Schatz in Stroh verpackt, weither
aus dem Norden herbeigeschafft wurde. Und dann hörte
man die Berichte aus den Ländern jenseits des Horizonts. Eine
froststarre Welt. Schneewüsten. Eisflüsse. Weiß und gewichtslos,
wie er ist, lässt sich der Schnee in der Hand halten, sofern
man das Brennen seines kalten Feuers ertragen kann. Und
doch ist er nichts als Wassser. Wasser, das man nicht in der
Hand halten kann. Nur manchmal ändert es seine Gestalt und
verwandelt sich erneut zurück, je nachdem, in welcher Welt es
sich befindet. Es heißt auch, die Kiste sei leer gewesen, als man
sie schließlich öffnete. Der geheimnisvolle Schnee war verschwunden.
Für diese Enttäuschung musste zweifellos jemand sein Leben
lassen. So ist das mit den Schätzen.
... mehr
Vielleicht ist es mit dem Tod ganz ähnlich und nicht so, wie
wir es von den Priestern hören. Wir alle haben das Gebet gelernt:
»Wenn das Grab geöffnet wird, möge der Leib vollkommen
sein für das vollkommene Leben nach dem Leben.« Aber
haben die Priester auch gesehen, wie unter der Hitze des Sonnengottes
das zarte Fleisch der Lebenden, der Jungen und Schönen
mit ihren unsinnigen Hoffnungen und müßigen Träumen
fault und verwest, bis nichts mehr bleibt als in Todesqualen
erstarrte Schreckgestalten? Haben sie gesehen, wie hübsche Gesichter
zerfetzt, Muskeln zerrissen, Schädel zerschmettert werden?
Wissen sie, wie seltsam es aussieht, wenn Fleisch verschmort
und das Fett unter der Haut kocht? Ich bezweifle es.
Derartige Gedanken sind der Fluch meiner Arbeit. Ich, Rahotep,
der jüngste Oberermittler der Medjaieinheit von Theben,
sehe zu, wie meine Kinder spielen oder sich mit ihren
Musikinstrumenten abplagen. Und ich weiß, ihre Haut, die wir
küssen und liebkosen, die wir mit Mandel- und Moringa-Öl
pflegen, mit Extrakten aus Avocado und Myrrhe parfümieren
und in Leinwand und Gold hüllen, ist nichts weiter als ein Sack,
angefüllt mit Organen und Knochen und Gefäßen voller Blut.
Hoffnungen auf Leben und Liebe hängen vom Wirken dieses
Schlächters ab. Derartige Gedanken behalte ich für mich, selbst
wenn ich bei meiner Frau schlafe und ihr anmutiger, makelloser
Körper, der sich mir beim Schein der Öllampe zuwendet, für
einen Augenblick zum Abbild des Todes wird. Das ist vermutlich
eine ziemlich außergewöhnliche Vorstellung, für die ich
dankbar sein sollte. Ich sollte mich auch öfter mit Poesie und
Philosophie befassen, und sei es nur zum Zeitvertreib während
meiner Mußestunden. Allerdings habe ich keine Mußestunden.
Und wenn ich dann wieder vor einer Leiche stehe, einem Leben
- einer kleinen Geschichte von Liebe und Vergänglichkeit -, das
in einem kurzen Augenblick von Raserei, Panik, Hass oder
Wahnsinn endete, dann, und nur dann, weiß ich, wo ich in der
Welt stehe.
Wie Tanefert bei jeder Gelegenheit - und das ist in letzter
Zeit allzu häufig - bemerkt, ist es natürlich typisch für mich, in
jeder Lage stets vom Schlimmsten auszugehen. Doch in diesen
unmöglichen Zeiten unter der Herrschaft Echnatons werde ich
jeden Tag von Neuem in dieser Haltung bestärkt. Ich sehe es
doch bei meiner Arbeit: die ständig wachsende Zahl der gefolterten
und verstümmelten Mordopfer und die geschändeten
und geplünderten Gräber der Reichen und Mächtigen, deren
nubischen Wächtern die Kehle von einem Ohr zum anderen
aufgeschlitzt wurde. Ich erkenne es an der Prachtentfaltung der
Reichen und dem unendlichen Elend der Armen. Und an den
erschütternden Nachrichten, die aus der großen Welt zu uns
dringen und von den Großen Veränderungen künden: Sie
besagen, dass die Priester vom Karnaktempel auf Befehl des
Königs ihrer angestammten Stellung und Rechte beraubt und
verbannt wurden; dass Amun und mit ihm all die niederen,
älteren, volkstümlichen Götter schändlich gestürzt und an ihre
Stelle dieser merkwürdige neue Gott gesetzt wurde, den wir
jetzt feiern und anbeten sollen. Ich erkenne es an dem exzentrischen
Entwurf und dem übertriebenen Aufwand für die geheimnisvolle
neue Tempelstadt Echnatons, die seit einigen
Jahren weitab in der Wüste, auf halbem Weg zwischen hier
und Memphis, entsteht.
Und das alles wird uns in dieser unruhigen und unsicheren
Zeit aufgebürdet, da die Wirtschaft des Reiches ins Wanken
gerät. Wie also könnte ich anderer Meinung sein? Tanefert sagt,
es sei nicht normal, und damit hat sie auch recht. Doch diese
Pforte habe ich schon vor langer Zeit durchschritten, als ich begriff,
dass es in jedem von uns Schatten und Finsternis gibt und
wie leicht sie die Seele und das Lächeln durchdringen. Der Tod
ist leicht.
Als ich daher um die Mittagszeit nach Hause kam, noch
ganz aufgeregt, weil man mich berufen hatte, ein rätselhaftes
Ereignis in höchsten Regierungskreisen zu untersuchen, warf
Tanefert mir einen Blick zu und sagte: »Was ist los? Erzähle es
mir.« Sie setzte sich auf die Bank im vorderen Zimmer, wo wir
sonst nie sitzen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, doch den
Trick kannte sie schon. »Du brauchst meine Hand nicht zu
halten. Das habe ich alles schon einmal erlebt.«
Also erzählte ich es ihr. Wie Ahmose am Morgen in meine
Amtsstube gekommen war. Wie immer verzehrte er genüsslich
eine Pastete, ohne darauf zu achten, dass Krümel in die weiten
Falten seines Gewandes fielen. Sein dicker Bauch macht ihn
unbeholfen, doch ein Ermittler sollte stark und gut in Form sein
(was ich dank meines täglichen Trainings, wie ich glaube, bin).
Wie er mir, mürrisch wie immer, doch noch widerstrebender
und unwilliger als gewöhnlich mitteilte, dass ich mich auf allerhöchsten
Befehl hin unverzüglich nach Achet-Aton an den Hof
Echnatons begeben solle, um einen äußerst rätselhaften Vorfall
aufzuklären.
Wir blickten einander an.
»Wie komme ausgerechnet ich zu der Ehre?«, fragte ich.
Ahmose zuckte die Achseln, dann lächelte er so breit, als
würde eine der Katzen aus der Totenstadt gähnen. »Das musst
du selbst herausfinden.«
»Und um was für einen Vorfall geht es?«
»Das wirst du erfahren, wenn du Mahu, den Obersten der
neu eingesetzten dortigen Medjai triffst. Hast du schon von
ihm gehört?«
Ich nickte. Er war dafür berüchtigt, dass er sich buchstabengetreu
an die Gesetze hielt.
Ahmose vertilgte geräuschvoll den Rest seiner Pastete, dann
beugte er sich zu mir hinunter. »Aber ich verfüge über Beziehungen
in der neuen Hauptstadt und habe gehört, dass jemand vermisst
wird.«
Wieder grinste er vielsagend.
Tanefert saß ganz still, mit angstvoll verkniffener Miene.
Wenn es mir nicht gelang, das Rätsel zu lösen - und Re mochte
wissen, dass es ein großes Rätsel sein musste, in dem es um
bedeutende Personen und viel Macht ging -, dann, das war ihr
ebenso klar wie mir, würde mein weiteres Schicksal kein Rätsel
sein. Dann würde ich aus dem Amt gejagt werden und würde
meine bescheidenen Auszeichnungen, meinen gesamten Besitz
und letztlich mein Leben verlieren.
Und dennoch hatte ich keine Angst. Ich empfand etwas
anderes, was ich in diesem Augenblick aber noch nicht benennen
konnte.
»Sag doch etwas.« Ich schaute sie an.
»Was soll ich denn sagen? Es wird dich ja doch nicht bei uns
halten. Du bist jetzt schon ganz aufgeregt.«
Womit sie recht hatte, obgleich ich es niemals zugegeben
hätte.
»Das ist nur, weil ich mir vor den Mädchen meine Sorge
nicht anmerken lassen will.«
Sie glaubte mir nicht.
»Wie lange wirst du fort sein?«
Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich keine Ahnung hatte.
»Etwa vierzehn Tage. Vielleicht viel weniger. Es kommt darauf
an, wie schnell ich das Rätsel lösen kann. Und darauf,
wie die Beweislage ist, ob es Anhaltspunkte gibt, auf die allgemeinen
Umstände ...«
Doch sie hatte das Gesicht abgewandt und starrte blicklos
aus dem Fenster.
Als die Nachmittagssonne ihre Züge beleuchtete, hatte ich
plötzlich einen Kloß im Hals und konnte nicht mehr weiterreden.
Wir schwiegen eine Weile.
Dann sagte sie: »Ich verstehe das nicht. Sollten sich die
städtischen Medjai dort nicht um den Fall kümmern? Schließlich
ist es eine interne Angelegenheit. Warum wollen sie dich?
Du bist ein Fremder, ohne Beziehungen und ohne einen
Menschen, dem du vertrauen kannst ... Und wenn es wirklich
so geheim ist, warum lassen sie dann jemanden von außerhalb
kommen? Die dortige Polizei wird es dir übelnehmen, dass du
dich in ihre Angelegenheiten mischst.«
Wie gewöhnlich hatte sie mit allem, was sie sagte, recht. Sie
besaß ein unfehlbares Gespür für die schlichte Wahrheit. Ich
lächelte.
»Das ist nicht zum Lachen«, sagte sie.
»Ich liebe dich.«
»Ich will nicht, dass du gehst.«
Ihre Worte machten mich betroffen.
»Du weißt, dass mir keine andere Wahl bleibt.«
»Doch. Man hat immer eine Wahl.«
Ich nahm sie in die Arme und versuchte, sie zu besänftigen,
als ich spürte, wie sie zitterte. Sie beruhigte sich und legte sanft
die Hände auf mein Gesicht.
»An jedem neuen Morgen weiß ich nicht, ob ich dich zum
letzten Mal sehe. Daher präge ich mir dein Gesicht ein. Mittlerweile
kenne ich es so gut, dass ich die Erinnerung daran mit
ins Grab nehmen könnte.«
»Lass uns nicht von Gräbern reden, sondern lieber davon,
was wir mit der Belohnung machen, die mir der Herr geben
wird, wenn ich den Fall gelöst habe und der berühmteste
Ermittler der Stadt bin.«
Endlich lächelte sie. »Eine Belohnung käme gelegen. Man
hat dich seit Monaten nicht mehr bezahlt.«
Die Wirtschaft liegt am Boden, seit mehreren Jahren ist die
Ernte schlecht, sogar von Plünderungen wird gemunkelt. Und
das großartige Bauprojekt hat Einwanderer aus Nord und Süd
in Scharen herbeigelockt, eine Masse von entwurzelten und
hoffnungslosen Menschen, die nichts zu verlieren haben. Das
Getreide, so heißt es, ist sogar in den königlichen Kornkammern
knapp geworden. Und dass niemand seinen Lohn erhält,
ist Stadtgespräch und trägt zur allgemeinen Unsicherheit bei.
Jeder hat doch hungrige Mäuler zu stopfen. Die Menschen
haben Angst vor Hungersnöten und fragen sich, wann sie gezwungen
wären, ihre guten städtischen Möbel unter der Hand
gegen ein Stück Fleisch und einen Korb Gemüse vom Land zu
tauschen.
»Ich kann schon auf mich aufpassen. Und die ganze Zeit
über werde ich nur daran denken, wie ich wieder zu dir zurück
komme. Das verspreche ich dir.«
Sie nickte und wischte sich mit dem Ärmel die Augen.
»Ich muss den Kindern Lebewohl sagen.«
»Du gehst jetzt gleich?«
»Ich muss.«
Sie wandte sich ab.
Als ich ins Zimmer trat, hielten die Mädchen in ihrer Tätigkeit
inne. Sechmet blickte von ihrer Schriftrolle auf. Ihre topasgelben
Augen unter den schwarzen Stirnfransen. Hin- und hergerissen
zwischen dem Wunsch, weiterzulesen, und mich richtig
zu begrüßen. Ich stellte sie auf einen Stuhl und legte meine
Wange an die ihre. Ich roch den vertrauten Milchduft ihres
Atems. Sie schlang ihre federleichten Arme um meinen Hals.
»Ich muss für eine Weile fortgehen. Wirst du auf deine Mutter
und deine Schwestern aufpassen, bis ich wieder da bin?«
Sie nickte ernst und flüsterte mir ins Ohr, dass sie es tun
wolle und dass sie mich liebte und jeden Tag an mich denken
würde.
»Schreib mir einen Brief«, bat ich sie.
Wieder nickte sie. Meine kleine Gelehrte. Dieses Jahr ist sie
unsicher: Ihre Stimme klingt verändert, feiner und bedächtiger.
Als Nächste Thuju. Sie grinste, nun wieder mit vollständigen
Zähnen, und schnitt Grimassen. Ich ließ es zu, dass sie mir
in die Nase biss. »Viel Spaß!«, schrie sie und ließ sich zu Boden
fallen.
Nedjmet, das Baby, »die Süße«, wie wir sie hoffnungsvoll
nennen. Ein beherztes Geschöpf, das in seiner unbedingten
Entschlossenheit mir erschreckend ähnlich ist. Ihr nächtliches
Weinen ist einer ausgesprochen ernsthaften Betrachtung der
Welt gewichen. Ich kann ihr beim Frühstück nicht mehr einreden,
das süße Brötchen wäre frisch, wenn es in Wahrheit
vom Vortag ist.
Und schließlich meine Tanefert, mein Herz, mit deinem Haar,
so schwarz wie eine mondlose Nacht, deiner markanten
Nase und den länglichen Augen.
Verzeih mir, dass ich dich verlasse. Wenn ich auch sonst
nichts mit meinem Leben angefangen habe, so habe ich doch
zumindest diese Familie gegründet. Meine klugen Mädchen.
Mögen sie mir zurückgegeben werden, wenn diese Geschichte
beendet ist. Für sie würde ich jedes Opfer bringen. Man
erkennt die Dinge, die man liebt, erst dann, wenn man sie verlassen
muss.
Wie es meine Gewohnheit und Arbeitsweise ist, werde ich in
der nächsten Zeit ein Tagebuch führen. Am Ende jedes Tages
oder jeder Nacht werde ich niederschreiben, was ich weiß, und
ebenso, was ich nicht weiß. Ich werde Anhaltspunkte notieren
und Fragen und verzwickte Probleme und Rätsel. Ich werde
schreiben, was ich mag und denke, und nicht, was ich schreiben
sollte.
Falls mir etwas zustößt, wird dieses Tagebuch vielleicht als
mein Vermächtnis erhalten bleiben und seinen Weg zurück
nach Hause finden wie ein verirrter Hund. Und vielleicht erfährt
der Fall ja durch die Stücke und Teile, die Schnipsel und
scheinbaren Nebensächlichkeiten, die Träume und Zufälle und
Unmöglichkeiten, die mit einem Verbrechen einhergehen, eine
schlüssige, wohlgeordnete und, wer weiß, vielleicht sogar vernünftige,
logische, scharfsinnige Lösung. Aber das wäre nicht
die Wahrheit. Meiner Erfahrung nach klären sich die Dinge
nicht so einfach. Meiner Erfahrung nach sind sie eher verworren.
Daher werde ich in diesem Tagebuch die Abschweifungen
vermerken, die abwegigen Gedanken und auch die unausgereiften,
unsinnigen und unbegreiflichen. Dann werde ich
sehen, was sie mir sagen und ob aus den bruchstückhaften
Beweisen (denn meist habe ich es mit dem Unwiderruflichen zu
tun) die Wahrheit zutage tritt.
Und dann tat ich etwas, das mir schwerer fiel als alles andere
zuvor. Angetan mit meinem feinsten Leinengewand, in der
Reisekiste die Empfehlungsschreiben, brachte ich dem Hausgott
ein kleines Trankopfer dar. Mit ungewohnter Ernsthaftigkeit
(er weiß nämlich, dass ich nicht an ihn glaube) erflehte ich
seinen Schutz für mich und meine Familie. Dann umarmte ich
meine Töchter, küsste Tanefert, die mein Gesicht mit den Händen
berührte, schlüpfte in meine alten Ledersandalen und
schloss mit zitternder Hand die Tür zu meinem Heim und
meinem Leben. Ich ging einer Zukunft entgegen, in der nichts
gewiss und alles unsicher war. Und zu meiner Schande muss ich
gestehen, dass ich mich lebendiger fühlte als jemals zuvor, auch
wenn das Herz in meiner Brust in Scherben lag.
2
Herrliches Theben mit deinem Licht und Schatten, deinen
unredlichen Geschäften und deinen geschwätzigen Festen,
deinen Läden und deinem Luxus, deinen armseligen, verkommenen
Winkeln und deinen jungen, modischen Schönheiten,
deinem Elend, deinen Verbrechen und Morden. Ich weiß nie,
ob ich dich hasse oder liebe. Aber zumindest kenne ich dich.
Über die niedrigen Dächer meines Viertels hinweg kann ich
das Blau, Gold, Rot und Grün der Tempelfassaden und Wandelgänge
sehen und der Tortürme, die sich zur Sonne emporrecken.
Die Sykomoren in den heiligen Hainen, die sie
umgeben, sind wie dunkelgrüne Kerzen. Obstbäume und verborgene
Gärten. Und gleich daneben Abfallhaufen zwischen
finsteren Verschlägen und in verrufenen Gässchen. Hinter den
teuren Villen, den prächtigen Palästen und Tempeln liegen die
Hütten, errichtet aus dem Müll und Abfall der Reichen, wo
die Massen der Armen sich ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratzen.
Die Nischen der Hausgötter, mit Tellern, auf
denen die täglichen Opfergaben liegen. Man sagt, es gäbe in
der Stadt mehr Götter als Sterbliche, doch ich habe noch nie
jemanden gesehen, der nicht aus Fleisch und Blut gewesen
wäre. Nein, mit den Göttern habe ich nicht viel im Sinn. Egoistisch
sind sie in ihren Tempeln und himmlischen Gefilden.
Sie haben zu viel Schuld auf sich geladen, indem sie sich an
unserem Leid und Unglück weiden und das Flehen unserer
Herzen ignorieren. Aber das ist Gotteslästerung, und ich muss
den Gedanken unterdrücken - doch ich werde ihn hier niederschreiben,
und wer es liest, muss wenigstens meine törichte
Vertrauensseligkeit anerkennen.
Unter den staubigen weißen Sonnensegeln, die uns vor der
Mittagssonne schützen, ging ich durch die Straßen hinunter
zum Hafen. Dabei sah ich den Kindern des Viertels zu, wie sie
schreiend über die Dächer rannten, zwischen den Haufen von
dörrendem Getreide und Früchten hindurchflitzten, an den
Vogelkäfigen rüttelten, worauf sich ein kleiner Aufruhr aus
Kreischen und Zwitschern erhob. Sie sprangen über Schlafende
hinweg und vollführten waghalsige Sätze von einem Dach zum
nächsten. Ich kam an den Marktständen vorüber, auf denen sich
die bunten Waren türmten, ging durch die Gasse der Früchte
und bog dann in die schattige Passage unter den gemusterten
Sonnensegeln ein, wo die teuren Läden Raritäten wie gelehrige
Affen, Giraffenhäute, Straußeneier und Stoßzähne mit eingravierten
Gebeten feilbieten. Die ganze Welt zollt uns Tribut und
bringt uns ihre Wundergaben: Die bemerkenswerten Früchte
ihrer endlosen Mühen werden uns auf die Schwelle gelegt. Oder
zumindest auf die Schwelle derer, die nicht viele Monate auf
ihren Lohn warten müssen (Anmerkung in eigener Sache: beim
Kämmerer erneut wegen ausstehender Bezahlung vorsprechen).
Mir ist das allgemeine Chaos der belebten Straßen lieber als
die gedämpfte Stille der Tempel, Gerichtshöfe und Heiligtümer
und die wohlgeordneten Hierarchien der Priester. Ich
bevorzuge das Durcheinander, selbst den Lärm und Schmutz
der Arbeitervorstädte im Osten mit ihren stinkenden Schweineställen
und Kettenhunden in den elenden, finsteren Verschlägen,
die den Menschen dort als Behausung dienen. An
jenen Orten bewegen wir uns mit Vorsicht, da wir aus Erfahrung
wissen, dass wir dort verhasst und daher in Gefahr sind.
Das Gesetz der Medjai, die befugt sind, in allen Provinzen der
beiden Reiche für Recht und Ordnung zu sorgen, hat dort
keine Gültigkeit, auch wenn es kaum einer von uns zugeben
würde. Sobald wir uns nähern, steigen Drachen aus aufgespannter
Leinwand auf, bemalt mit den Augen zorniger Götter,
und sie zucken und taumeln am Himmel, als Warnung,
dass wir im Anmarsch sind. Doch ich glaube, in den Palästen
und Tempeln hat unser Gesetz ebenso wenig Einfluss. Auch
dort herrschen ganz eigene Mächte. Das werde ich ohne Zweifel
an meinem Bestimmungsort erkennen.
Endlich kam ich zum Hafen und fand unter den Tausenden
von Schiffen das Boot, das mich zur ersten Station meiner
Reise bringen sollte. Ich ging als Letzter an Bord, und sobald
ich das Deck betreten hatte, legten die Seeleute ab, die Ruder
wurden ausgefahren, und wir mischten uns unter das Leben
auf dem Großen Fluss, der sich mit seiner Last von Menschen
und Waren so weit erstreckte, wie das Auge reichte, bis zum
Horizont, wo das Schwarze Land auf das Rote trifft und sich
ihm für alle Zeiten entgegenstemmt.
Lichtland, unsere Welt aus Licht. Der Triumph der Zeit.
Zahllose Boote, die Segel vom unsichtbaren Wind gebläht: die
Fischerboote, die größeren Frachtkähne, beladen mit Steinen
und Vieh, die Fähren, die mit ihren sterblichen Passagieren
zwischen den Ufern hin- und herpendeln, zwischen den Tempeln
im Osten und den Grabmälern im Westen, zwischen der
aufgehenden und der untergehenden Sonne. Scharen von Ibissen,
die im Seichten waten. Blaue Lotosblüten, die als Weihe-
gaben im Wasser treiben, daneben die Überbleibsel des alltäglichen
Lebens: Essensreste, Kleiderfetzen, Abfall, tote Fische
und Hunde und Hundsfische und Katzenwelse. Das unablässige
Quietschen der Schadufs. Die nie versiegenden Gaben des
Großen Flusses. Theben lebt für ihn und von ihm. Oder, besser
gesagt, der Fluss spendet der Stadt das lebensnotwendige Wasser.
Was wären wir ohne Wasser? Nichts als eine Wüste voller
Furcht vor dem Fluss.
Es heißt, der Fluss gehöre den Göttern und sei selbst ein Gott,
aber ich glaube, die wahren Besitzer sind die Priester in ihren
Amtssitzen und die Reichen mit ihren Villen und Terrassen, wo
das kühle Wasser ihre weichen, trägen Füße benetzt. Und wer
den Fluss besitzt, besitzt auch die Stadt - ja sogar das Leben
selbst. Doch in Wahrheit gehört der Fluss niemandem. Er ist
größer, dauerhafter und mächtiger als wir alle, beinahe noch
mehr als jeder Gott. Er kann uns mit seiner Kraft zerschmettern
und uns aushungern, indem er uns seine jährlichen Überschwemmungen
vorenthält. Er ist voller Tod. In seiner Tiefe
trägt er die Leichen von Tieren, Männern und Kindern mit sich,
bis sie grünlich verfärbt sind. Manchmal kommt es mir vor, als
könnte ich ihre hoffnungslosen, unerlösten Geister über dem
Wasser spüren, wo sie lautlose Kreise aussenden, zum Zeichen
dafür, dass sie dort waren und rastlos weitergezogen sind. Doch
er liefert auch die reiche schwarze Erde, aus der unsere Feldfrüchte
sprießen, unsere Gerste und das Emmergetreide.
Als wir die Stadt, in der ich geboren bin und lebte, hinter uns
ließen, verließ ich auch meine vertraute Welt, in der sich unsere
kurzen Geschichten abspielen, zwischen Schwarz und Rot,
zwischen dem Land der Lebenden und der aufgehenden Sonne
und dem Land der langen Schatten und des Todes, zwischen
den kleinen, schwelgerischen Augenblicken unseres Lebens und
der Wüste im Westen, dieser Einöde, in die wir unsere Verbrecher
hinausjagen, damit sie dort umkommen und als Dämonen
zurückkehren und uns im Schlaf heimsuchen. Einst, so sagt
man, vor Anbeginn aller Zeiten, war das ganze Land grün, mit
Herden von Wasserbüffeln, Gazellen und Elefanten. Und plötzlich
musste ich daran denken, wie ich einmal mit meinem Vater
in die Wüste hinausgeritten war. Ein schwerer Sturm hatte
wieder einmal die Dünenlandschaft verwandelt und das Gerippe
eines Krokodils freigelegt, weit entfernt von jeder Wasserstelle.
Was verbirgt sich sonst noch dort draußen? Große Städte,
sonderbare Statuen, untergegangene Völker, deren Schiffe auf
dem endlosen Sandmeer der jenseitigen Welt dahingleiten.
Aber ich gerate schon wieder ins Träumen. Ich muss hellwach
sein, während mich die große Wasserschlange auf ihren schwarzen
unablässig glitzernden Schuppen fortträgt von allem, was
mir vertraut ist und was ich liebe, mit ihrer verborgenen Erinnerung
an eine lange Reise von hoch droben im unbekannten
Gestein Nubiens, hinunter durch die großen Katarakte und
hinein in die Felder mit Früchten, Gemüse und Wein, bis ins
Meer und irgendwo in den Schnee.
Vielleicht ist es mit dem Tod ganz ähnlich und nicht so, wie
wir es von den Priestern hören. Wir alle haben das Gebet gelernt:
»Wenn das Grab geöffnet wird, möge der Leib vollkommen
sein für das vollkommene Leben nach dem Leben.« Aber
haben die Priester auch gesehen, wie unter der Hitze des Sonnengottes
das zarte Fleisch der Lebenden, der Jungen und Schönen
mit ihren unsinnigen Hoffnungen und müßigen Träumen
fault und verwest, bis nichts mehr bleibt als in Todesqualen
erstarrte Schreckgestalten? Haben sie gesehen, wie hübsche Gesichter
zerfetzt, Muskeln zerrissen, Schädel zerschmettert werden?
Wissen sie, wie seltsam es aussieht, wenn Fleisch verschmort
und das Fett unter der Haut kocht? Ich bezweifle es.
Derartige Gedanken sind der Fluch meiner Arbeit. Ich, Rahotep,
der jüngste Oberermittler der Medjaieinheit von Theben,
sehe zu, wie meine Kinder spielen oder sich mit ihren
Musikinstrumenten abplagen. Und ich weiß, ihre Haut, die wir
küssen und liebkosen, die wir mit Mandel- und Moringa-Öl
pflegen, mit Extrakten aus Avocado und Myrrhe parfümieren
und in Leinwand und Gold hüllen, ist nichts weiter als ein Sack,
angefüllt mit Organen und Knochen und Gefäßen voller Blut.
Hoffnungen auf Leben und Liebe hängen vom Wirken dieses
Schlächters ab. Derartige Gedanken behalte ich für mich, selbst
wenn ich bei meiner Frau schlafe und ihr anmutiger, makelloser
Körper, der sich mir beim Schein der Öllampe zuwendet, für
einen Augenblick zum Abbild des Todes wird. Das ist vermutlich
eine ziemlich außergewöhnliche Vorstellung, für die ich
dankbar sein sollte. Ich sollte mich auch öfter mit Poesie und
Philosophie befassen, und sei es nur zum Zeitvertreib während
meiner Mußestunden. Allerdings habe ich keine Mußestunden.
Und wenn ich dann wieder vor einer Leiche stehe, einem Leben
- einer kleinen Geschichte von Liebe und Vergänglichkeit -, das
in einem kurzen Augenblick von Raserei, Panik, Hass oder
Wahnsinn endete, dann, und nur dann, weiß ich, wo ich in der
Welt stehe.
Wie Tanefert bei jeder Gelegenheit - und das ist in letzter
Zeit allzu häufig - bemerkt, ist es natürlich typisch für mich, in
jeder Lage stets vom Schlimmsten auszugehen. Doch in diesen
unmöglichen Zeiten unter der Herrschaft Echnatons werde ich
jeden Tag von Neuem in dieser Haltung bestärkt. Ich sehe es
doch bei meiner Arbeit: die ständig wachsende Zahl der gefolterten
und verstümmelten Mordopfer und die geschändeten
und geplünderten Gräber der Reichen und Mächtigen, deren
nubischen Wächtern die Kehle von einem Ohr zum anderen
aufgeschlitzt wurde. Ich erkenne es an der Prachtentfaltung der
Reichen und dem unendlichen Elend der Armen. Und an den
erschütternden Nachrichten, die aus der großen Welt zu uns
dringen und von den Großen Veränderungen künden: Sie
besagen, dass die Priester vom Karnaktempel auf Befehl des
Königs ihrer angestammten Stellung und Rechte beraubt und
verbannt wurden; dass Amun und mit ihm all die niederen,
älteren, volkstümlichen Götter schändlich gestürzt und an ihre
Stelle dieser merkwürdige neue Gott gesetzt wurde, den wir
jetzt feiern und anbeten sollen. Ich erkenne es an dem exzentrischen
Entwurf und dem übertriebenen Aufwand für die geheimnisvolle
neue Tempelstadt Echnatons, die seit einigen
Jahren weitab in der Wüste, auf halbem Weg zwischen hier
und Memphis, entsteht.
Und das alles wird uns in dieser unruhigen und unsicheren
Zeit aufgebürdet, da die Wirtschaft des Reiches ins Wanken
gerät. Wie also könnte ich anderer Meinung sein? Tanefert sagt,
es sei nicht normal, und damit hat sie auch recht. Doch diese
Pforte habe ich schon vor langer Zeit durchschritten, als ich begriff,
dass es in jedem von uns Schatten und Finsternis gibt und
wie leicht sie die Seele und das Lächeln durchdringen. Der Tod
ist leicht.
Als ich daher um die Mittagszeit nach Hause kam, noch
ganz aufgeregt, weil man mich berufen hatte, ein rätselhaftes
Ereignis in höchsten Regierungskreisen zu untersuchen, warf
Tanefert mir einen Blick zu und sagte: »Was ist los? Erzähle es
mir.« Sie setzte sich auf die Bank im vorderen Zimmer, wo wir
sonst nie sitzen. Ich streckte die Hand nach ihr aus, doch den
Trick kannte sie schon. »Du brauchst meine Hand nicht zu
halten. Das habe ich alles schon einmal erlebt.«
Also erzählte ich es ihr. Wie Ahmose am Morgen in meine
Amtsstube gekommen war. Wie immer verzehrte er genüsslich
eine Pastete, ohne darauf zu achten, dass Krümel in die weiten
Falten seines Gewandes fielen. Sein dicker Bauch macht ihn
unbeholfen, doch ein Ermittler sollte stark und gut in Form sein
(was ich dank meines täglichen Trainings, wie ich glaube, bin).
Wie er mir, mürrisch wie immer, doch noch widerstrebender
und unwilliger als gewöhnlich mitteilte, dass ich mich auf allerhöchsten
Befehl hin unverzüglich nach Achet-Aton an den Hof
Echnatons begeben solle, um einen äußerst rätselhaften Vorfall
aufzuklären.
Wir blickten einander an.
»Wie komme ausgerechnet ich zu der Ehre?«, fragte ich.
Ahmose zuckte die Achseln, dann lächelte er so breit, als
würde eine der Katzen aus der Totenstadt gähnen. »Das musst
du selbst herausfinden.«
»Und um was für einen Vorfall geht es?«
»Das wirst du erfahren, wenn du Mahu, den Obersten der
neu eingesetzten dortigen Medjai triffst. Hast du schon von
ihm gehört?«
Ich nickte. Er war dafür berüchtigt, dass er sich buchstabengetreu
an die Gesetze hielt.
Ahmose vertilgte geräuschvoll den Rest seiner Pastete, dann
beugte er sich zu mir hinunter. »Aber ich verfüge über Beziehungen
in der neuen Hauptstadt und habe gehört, dass jemand vermisst
wird.«
Wieder grinste er vielsagend.
Tanefert saß ganz still, mit angstvoll verkniffener Miene.
Wenn es mir nicht gelang, das Rätsel zu lösen - und Re mochte
wissen, dass es ein großes Rätsel sein musste, in dem es um
bedeutende Personen und viel Macht ging -, dann, das war ihr
ebenso klar wie mir, würde mein weiteres Schicksal kein Rätsel
sein. Dann würde ich aus dem Amt gejagt werden und würde
meine bescheidenen Auszeichnungen, meinen gesamten Besitz
und letztlich mein Leben verlieren.
Und dennoch hatte ich keine Angst. Ich empfand etwas
anderes, was ich in diesem Augenblick aber noch nicht benennen
konnte.
»Sag doch etwas.« Ich schaute sie an.
»Was soll ich denn sagen? Es wird dich ja doch nicht bei uns
halten. Du bist jetzt schon ganz aufgeregt.«
Womit sie recht hatte, obgleich ich es niemals zugegeben
hätte.
»Das ist nur, weil ich mir vor den Mädchen meine Sorge
nicht anmerken lassen will.«
Sie glaubte mir nicht.
»Wie lange wirst du fort sein?«
Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich keine Ahnung hatte.
»Etwa vierzehn Tage. Vielleicht viel weniger. Es kommt darauf
an, wie schnell ich das Rätsel lösen kann. Und darauf,
wie die Beweislage ist, ob es Anhaltspunkte gibt, auf die allgemeinen
Umstände ...«
Doch sie hatte das Gesicht abgewandt und starrte blicklos
aus dem Fenster.
Als die Nachmittagssonne ihre Züge beleuchtete, hatte ich
plötzlich einen Kloß im Hals und konnte nicht mehr weiterreden.
Wir schwiegen eine Weile.
Dann sagte sie: »Ich verstehe das nicht. Sollten sich die
städtischen Medjai dort nicht um den Fall kümmern? Schließlich
ist es eine interne Angelegenheit. Warum wollen sie dich?
Du bist ein Fremder, ohne Beziehungen und ohne einen
Menschen, dem du vertrauen kannst ... Und wenn es wirklich
so geheim ist, warum lassen sie dann jemanden von außerhalb
kommen? Die dortige Polizei wird es dir übelnehmen, dass du
dich in ihre Angelegenheiten mischst.«
Wie gewöhnlich hatte sie mit allem, was sie sagte, recht. Sie
besaß ein unfehlbares Gespür für die schlichte Wahrheit. Ich
lächelte.
»Das ist nicht zum Lachen«, sagte sie.
»Ich liebe dich.«
»Ich will nicht, dass du gehst.«
Ihre Worte machten mich betroffen.
»Du weißt, dass mir keine andere Wahl bleibt.«
»Doch. Man hat immer eine Wahl.«
Ich nahm sie in die Arme und versuchte, sie zu besänftigen,
als ich spürte, wie sie zitterte. Sie beruhigte sich und legte sanft
die Hände auf mein Gesicht.
»An jedem neuen Morgen weiß ich nicht, ob ich dich zum
letzten Mal sehe. Daher präge ich mir dein Gesicht ein. Mittlerweile
kenne ich es so gut, dass ich die Erinnerung daran mit
ins Grab nehmen könnte.«
»Lass uns nicht von Gräbern reden, sondern lieber davon,
was wir mit der Belohnung machen, die mir der Herr geben
wird, wenn ich den Fall gelöst habe und der berühmteste
Ermittler der Stadt bin.«
Endlich lächelte sie. »Eine Belohnung käme gelegen. Man
hat dich seit Monaten nicht mehr bezahlt.«
Die Wirtschaft liegt am Boden, seit mehreren Jahren ist die
Ernte schlecht, sogar von Plünderungen wird gemunkelt. Und
das großartige Bauprojekt hat Einwanderer aus Nord und Süd
in Scharen herbeigelockt, eine Masse von entwurzelten und
hoffnungslosen Menschen, die nichts zu verlieren haben. Das
Getreide, so heißt es, ist sogar in den königlichen Kornkammern
knapp geworden. Und dass niemand seinen Lohn erhält,
ist Stadtgespräch und trägt zur allgemeinen Unsicherheit bei.
Jeder hat doch hungrige Mäuler zu stopfen. Die Menschen
haben Angst vor Hungersnöten und fragen sich, wann sie gezwungen
wären, ihre guten städtischen Möbel unter der Hand
gegen ein Stück Fleisch und einen Korb Gemüse vom Land zu
tauschen.
»Ich kann schon auf mich aufpassen. Und die ganze Zeit
über werde ich nur daran denken, wie ich wieder zu dir zurück
komme. Das verspreche ich dir.«
Sie nickte und wischte sich mit dem Ärmel die Augen.
»Ich muss den Kindern Lebewohl sagen.«
»Du gehst jetzt gleich?«
»Ich muss.«
Sie wandte sich ab.
Als ich ins Zimmer trat, hielten die Mädchen in ihrer Tätigkeit
inne. Sechmet blickte von ihrer Schriftrolle auf. Ihre topasgelben
Augen unter den schwarzen Stirnfransen. Hin- und hergerissen
zwischen dem Wunsch, weiterzulesen, und mich richtig
zu begrüßen. Ich stellte sie auf einen Stuhl und legte meine
Wange an die ihre. Ich roch den vertrauten Milchduft ihres
Atems. Sie schlang ihre federleichten Arme um meinen Hals.
»Ich muss für eine Weile fortgehen. Wirst du auf deine Mutter
und deine Schwestern aufpassen, bis ich wieder da bin?«
Sie nickte ernst und flüsterte mir ins Ohr, dass sie es tun
wolle und dass sie mich liebte und jeden Tag an mich denken
würde.
»Schreib mir einen Brief«, bat ich sie.
Wieder nickte sie. Meine kleine Gelehrte. Dieses Jahr ist sie
unsicher: Ihre Stimme klingt verändert, feiner und bedächtiger.
Als Nächste Thuju. Sie grinste, nun wieder mit vollständigen
Zähnen, und schnitt Grimassen. Ich ließ es zu, dass sie mir
in die Nase biss. »Viel Spaß!«, schrie sie und ließ sich zu Boden
fallen.
Nedjmet, das Baby, »die Süße«, wie wir sie hoffnungsvoll
nennen. Ein beherztes Geschöpf, das in seiner unbedingten
Entschlossenheit mir erschreckend ähnlich ist. Ihr nächtliches
Weinen ist einer ausgesprochen ernsthaften Betrachtung der
Welt gewichen. Ich kann ihr beim Frühstück nicht mehr einreden,
das süße Brötchen wäre frisch, wenn es in Wahrheit
vom Vortag ist.
Und schließlich meine Tanefert, mein Herz, mit deinem Haar,
so schwarz wie eine mondlose Nacht, deiner markanten
Nase und den länglichen Augen.
Verzeih mir, dass ich dich verlasse. Wenn ich auch sonst
nichts mit meinem Leben angefangen habe, so habe ich doch
zumindest diese Familie gegründet. Meine klugen Mädchen.
Mögen sie mir zurückgegeben werden, wenn diese Geschichte
beendet ist. Für sie würde ich jedes Opfer bringen. Man
erkennt die Dinge, die man liebt, erst dann, wenn man sie verlassen
muss.
Wie es meine Gewohnheit und Arbeitsweise ist, werde ich in
der nächsten Zeit ein Tagebuch führen. Am Ende jedes Tages
oder jeder Nacht werde ich niederschreiben, was ich weiß, und
ebenso, was ich nicht weiß. Ich werde Anhaltspunkte notieren
und Fragen und verzwickte Probleme und Rätsel. Ich werde
schreiben, was ich mag und denke, und nicht, was ich schreiben
sollte.
Falls mir etwas zustößt, wird dieses Tagebuch vielleicht als
mein Vermächtnis erhalten bleiben und seinen Weg zurück
nach Hause finden wie ein verirrter Hund. Und vielleicht erfährt
der Fall ja durch die Stücke und Teile, die Schnipsel und
scheinbaren Nebensächlichkeiten, die Träume und Zufälle und
Unmöglichkeiten, die mit einem Verbrechen einhergehen, eine
schlüssige, wohlgeordnete und, wer weiß, vielleicht sogar vernünftige,
logische, scharfsinnige Lösung. Aber das wäre nicht
die Wahrheit. Meiner Erfahrung nach klären sich die Dinge
nicht so einfach. Meiner Erfahrung nach sind sie eher verworren.
Daher werde ich in diesem Tagebuch die Abschweifungen
vermerken, die abwegigen Gedanken und auch die unausgereiften,
unsinnigen und unbegreiflichen. Dann werde ich
sehen, was sie mir sagen und ob aus den bruchstückhaften
Beweisen (denn meist habe ich es mit dem Unwiderruflichen zu
tun) die Wahrheit zutage tritt.
Und dann tat ich etwas, das mir schwerer fiel als alles andere
zuvor. Angetan mit meinem feinsten Leinengewand, in der
Reisekiste die Empfehlungsschreiben, brachte ich dem Hausgott
ein kleines Trankopfer dar. Mit ungewohnter Ernsthaftigkeit
(er weiß nämlich, dass ich nicht an ihn glaube) erflehte ich
seinen Schutz für mich und meine Familie. Dann umarmte ich
meine Töchter, küsste Tanefert, die mein Gesicht mit den Händen
berührte, schlüpfte in meine alten Ledersandalen und
schloss mit zitternder Hand die Tür zu meinem Heim und
meinem Leben. Ich ging einer Zukunft entgegen, in der nichts
gewiss und alles unsicher war. Und zu meiner Schande muss ich
gestehen, dass ich mich lebendiger fühlte als jemals zuvor, auch
wenn das Herz in meiner Brust in Scherben lag.
2
Herrliches Theben mit deinem Licht und Schatten, deinen
unredlichen Geschäften und deinen geschwätzigen Festen,
deinen Läden und deinem Luxus, deinen armseligen, verkommenen
Winkeln und deinen jungen, modischen Schönheiten,
deinem Elend, deinen Verbrechen und Morden. Ich weiß nie,
ob ich dich hasse oder liebe. Aber zumindest kenne ich dich.
Über die niedrigen Dächer meines Viertels hinweg kann ich
das Blau, Gold, Rot und Grün der Tempelfassaden und Wandelgänge
sehen und der Tortürme, die sich zur Sonne emporrecken.
Die Sykomoren in den heiligen Hainen, die sie
umgeben, sind wie dunkelgrüne Kerzen. Obstbäume und verborgene
Gärten. Und gleich daneben Abfallhaufen zwischen
finsteren Verschlägen und in verrufenen Gässchen. Hinter den
teuren Villen, den prächtigen Palästen und Tempeln liegen die
Hütten, errichtet aus dem Müll und Abfall der Reichen, wo
die Massen der Armen sich ihren mageren Lebensunterhalt zusammenkratzen.
Die Nischen der Hausgötter, mit Tellern, auf
denen die täglichen Opfergaben liegen. Man sagt, es gäbe in
der Stadt mehr Götter als Sterbliche, doch ich habe noch nie
jemanden gesehen, der nicht aus Fleisch und Blut gewesen
wäre. Nein, mit den Göttern habe ich nicht viel im Sinn. Egoistisch
sind sie in ihren Tempeln und himmlischen Gefilden.
Sie haben zu viel Schuld auf sich geladen, indem sie sich an
unserem Leid und Unglück weiden und das Flehen unserer
Herzen ignorieren. Aber das ist Gotteslästerung, und ich muss
den Gedanken unterdrücken - doch ich werde ihn hier niederschreiben,
und wer es liest, muss wenigstens meine törichte
Vertrauensseligkeit anerkennen.
Unter den staubigen weißen Sonnensegeln, die uns vor der
Mittagssonne schützen, ging ich durch die Straßen hinunter
zum Hafen. Dabei sah ich den Kindern des Viertels zu, wie sie
schreiend über die Dächer rannten, zwischen den Haufen von
dörrendem Getreide und Früchten hindurchflitzten, an den
Vogelkäfigen rüttelten, worauf sich ein kleiner Aufruhr aus
Kreischen und Zwitschern erhob. Sie sprangen über Schlafende
hinweg und vollführten waghalsige Sätze von einem Dach zum
nächsten. Ich kam an den Marktständen vorüber, auf denen sich
die bunten Waren türmten, ging durch die Gasse der Früchte
und bog dann in die schattige Passage unter den gemusterten
Sonnensegeln ein, wo die teuren Läden Raritäten wie gelehrige
Affen, Giraffenhäute, Straußeneier und Stoßzähne mit eingravierten
Gebeten feilbieten. Die ganze Welt zollt uns Tribut und
bringt uns ihre Wundergaben: Die bemerkenswerten Früchte
ihrer endlosen Mühen werden uns auf die Schwelle gelegt. Oder
zumindest auf die Schwelle derer, die nicht viele Monate auf
ihren Lohn warten müssen (Anmerkung in eigener Sache: beim
Kämmerer erneut wegen ausstehender Bezahlung vorsprechen).
Mir ist das allgemeine Chaos der belebten Straßen lieber als
die gedämpfte Stille der Tempel, Gerichtshöfe und Heiligtümer
und die wohlgeordneten Hierarchien der Priester. Ich
bevorzuge das Durcheinander, selbst den Lärm und Schmutz
der Arbeitervorstädte im Osten mit ihren stinkenden Schweineställen
und Kettenhunden in den elenden, finsteren Verschlägen,
die den Menschen dort als Behausung dienen. An
jenen Orten bewegen wir uns mit Vorsicht, da wir aus Erfahrung
wissen, dass wir dort verhasst und daher in Gefahr sind.
Das Gesetz der Medjai, die befugt sind, in allen Provinzen der
beiden Reiche für Recht und Ordnung zu sorgen, hat dort
keine Gültigkeit, auch wenn es kaum einer von uns zugeben
würde. Sobald wir uns nähern, steigen Drachen aus aufgespannter
Leinwand auf, bemalt mit den Augen zorniger Götter,
und sie zucken und taumeln am Himmel, als Warnung,
dass wir im Anmarsch sind. Doch ich glaube, in den Palästen
und Tempeln hat unser Gesetz ebenso wenig Einfluss. Auch
dort herrschen ganz eigene Mächte. Das werde ich ohne Zweifel
an meinem Bestimmungsort erkennen.
Endlich kam ich zum Hafen und fand unter den Tausenden
von Schiffen das Boot, das mich zur ersten Station meiner
Reise bringen sollte. Ich ging als Letzter an Bord, und sobald
ich das Deck betreten hatte, legten die Seeleute ab, die Ruder
wurden ausgefahren, und wir mischten uns unter das Leben
auf dem Großen Fluss, der sich mit seiner Last von Menschen
und Waren so weit erstreckte, wie das Auge reichte, bis zum
Horizont, wo das Schwarze Land auf das Rote trifft und sich
ihm für alle Zeiten entgegenstemmt.
Lichtland, unsere Welt aus Licht. Der Triumph der Zeit.
Zahllose Boote, die Segel vom unsichtbaren Wind gebläht: die
Fischerboote, die größeren Frachtkähne, beladen mit Steinen
und Vieh, die Fähren, die mit ihren sterblichen Passagieren
zwischen den Ufern hin- und herpendeln, zwischen den Tempeln
im Osten und den Grabmälern im Westen, zwischen der
aufgehenden und der untergehenden Sonne. Scharen von Ibissen,
die im Seichten waten. Blaue Lotosblüten, die als Weihe-
gaben im Wasser treiben, daneben die Überbleibsel des alltäglichen
Lebens: Essensreste, Kleiderfetzen, Abfall, tote Fische
und Hunde und Hundsfische und Katzenwelse. Das unablässige
Quietschen der Schadufs. Die nie versiegenden Gaben des
Großen Flusses. Theben lebt für ihn und von ihm. Oder, besser
gesagt, der Fluss spendet der Stadt das lebensnotwendige Wasser.
Was wären wir ohne Wasser? Nichts als eine Wüste voller
Furcht vor dem Fluss.
Es heißt, der Fluss gehöre den Göttern und sei selbst ein Gott,
aber ich glaube, die wahren Besitzer sind die Priester in ihren
Amtssitzen und die Reichen mit ihren Villen und Terrassen, wo
das kühle Wasser ihre weichen, trägen Füße benetzt. Und wer
den Fluss besitzt, besitzt auch die Stadt - ja sogar das Leben
selbst. Doch in Wahrheit gehört der Fluss niemandem. Er ist
größer, dauerhafter und mächtiger als wir alle, beinahe noch
mehr als jeder Gott. Er kann uns mit seiner Kraft zerschmettern
und uns aushungern, indem er uns seine jährlichen Überschwemmungen
vorenthält. Er ist voller Tod. In seiner Tiefe
trägt er die Leichen von Tieren, Männern und Kindern mit sich,
bis sie grünlich verfärbt sind. Manchmal kommt es mir vor, als
könnte ich ihre hoffnungslosen, unerlösten Geister über dem
Wasser spüren, wo sie lautlose Kreise aussenden, zum Zeichen
dafür, dass sie dort waren und rastlos weitergezogen sind. Doch
er liefert auch die reiche schwarze Erde, aus der unsere Feldfrüchte
sprießen, unsere Gerste und das Emmergetreide.
Als wir die Stadt, in der ich geboren bin und lebte, hinter uns
ließen, verließ ich auch meine vertraute Welt, in der sich unsere
kurzen Geschichten abspielen, zwischen Schwarz und Rot,
zwischen dem Land der Lebenden und der aufgehenden Sonne
und dem Land der langen Schatten und des Todes, zwischen
den kleinen, schwelgerischen Augenblicken unseres Lebens und
der Wüste im Westen, dieser Einöde, in die wir unsere Verbrecher
hinausjagen, damit sie dort umkommen und als Dämonen
zurückkehren und uns im Schlaf heimsuchen. Einst, so sagt
man, vor Anbeginn aller Zeiten, war das ganze Land grün, mit
Herden von Wasserbüffeln, Gazellen und Elefanten. Und plötzlich
musste ich daran denken, wie ich einmal mit meinem Vater
in die Wüste hinausgeritten war. Ein schwerer Sturm hatte
wieder einmal die Dünenlandschaft verwandelt und das Gerippe
eines Krokodils freigelegt, weit entfernt von jeder Wasserstelle.
Was verbirgt sich sonst noch dort draußen? Große Städte,
sonderbare Statuen, untergegangene Völker, deren Schiffe auf
dem endlosen Sandmeer der jenseitigen Welt dahingleiten.
Aber ich gerate schon wieder ins Träumen. Ich muss hellwach
sein, während mich die große Wasserschlange auf ihren schwarzen
unablässig glitzernden Schuppen fortträgt von allem, was
mir vertraut ist und was ich liebe, mit ihrer verborgenen Erinnerung
an eine lange Reise von hoch droben im unbekannten
Gestein Nubiens, hinunter durch die großen Katarakte und
hinein in die Felder mit Früchten, Gemüse und Wein, bis ins
Meer und irgendwo in den Schnee.
... weniger
Bibliographische Angaben
- Autor: Nick Drake
- 2009, 1, 399 Seiten, Maße: 12,5 x 18,8 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800291X
- ISBN-13: 9783868002911
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