Das Turmzimmer
Dänemark, Anfang des 20. Jahrhunderts: Als einzige Erbin kehrt Nella in das Haus ihrer Familie zurück. Unter den Dielenböden entdeckt sie die Tagebücher der verstorbenen Verwalterin. Nach und nach erkennen Nella und ihre Freundin...
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Produktinformationen zu „Das Turmzimmer “
Dänemark, Anfang des 20. Jahrhunderts: Als einzige Erbin kehrt Nella in das Haus ihrer Familie zurück. Unter den Dielenböden entdeckt sie die Tagebücher der verstorbenen Verwalterin. Nach und nach erkennen Nella und ihre Freundin Agnes, welche erschreckenden Geheimnisse das Haus verbirgt.
Klappentext zu „Das Turmzimmer “
Was geschah wirklich auf Liljenholm?Dänemark, Anfang des 20. Jahrhunderts. An einem kalten Novembertag kehrt Nella als einzige Erbin in das Haus ihrer Familie zurück. Als junges Mädchen lebte sie dort zurückgezogen mit ihrer Mutter, der Autorin Antonia von Liljenholm. Begleitet wird Nella von ihrer Freundin Agnes, mit der sie gemeinsam das einst so prachtvolle Anwesen erkundet. Unter den knarrenden Dielenböden entdecken sie die Tagebücher der verstorbenen Verwalterin von Liljenholm und erkennen nach und nach, welche erschreckenden Geheimnisse das dunkle Haus jahrzehntelang verbarg. Doch die Geheimnisse lauern nicht nur in der Vergangenheit. Denn auch Agnes verschweigt ihrer Freundin etwas ...
Lese-Probe zu „Das Turmzimmer “
Das Turmzimmer von Leonora Christina SkovAus dem Dänischen von Hanne Hammer
August 1973
Ein neuer Anfang
Nicht ein einziger Tag ist in all den Jahren vergangen, an dem ich nicht an damals gedacht habe, als ich nach Liljenholm zurückkehrte. Es war im November 1941, kurz nach vier am Nachmittag, und genau dort, wo die Lindenallee endet und man plötzlich freie Sicht auf das Gut hat, blieben meine Füße wie von selbst stehen.
»Mein Gott!«
Meine liebe Nella, die vor mir ging, drehte sich um. Ihre Haut war wie Porzellan, selbst bei diesem Wind, der sich schon längst ihrer sorgsam aufgesteckten Frisur bemächtigt hatte. Sie strich sich eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht und setzte ihren Koffer für einen kurzen Moment ab.
»Was ist?«
Sie sah meinen zeigenden Finger nicht. Nahm lediglich wieder ihren Koffer in die Hand und zog den Kragen höher.
»Ich schlage vor, dass du dich beeilst«, sagte sie über die Schulter.
»Aber siehst du denn nicht ...?«
»Komm endlich. Ein Unwetter zieht auf.«
... mehr
Vor fünf Jahren waren wir das letzte Mal hier gewesen, und während unserer Abwesenheit war das Gut wie ein buckliger Greis in sich zusammengesunken. Oder vielleicht war es auch nur die Wildnis, die sich ausgebreitet hatte. Einige Gewächse lagen jetzt in der Dämmerung auf der Lauer, kletterten die dunkelroten Mauern hinauf und verdeckten den größten Teil des Eingangsbereichs. Das Loch inmitten dieser Wildnis, wo die Haustür sein musste, glich jedoch etwas Anderem, Bedeutsamerem als einem Loch. Es glich ... ja, ich weiß nicht recht, wie ich das erklären soll. Aber stellen Sie sich vor, Sie öffnen ein altes, dickes Buch, das Sie noch einmal lesen wollen. Nichtsahnend blättern Sie ein paar Seiten um, das Papier knistert, und natürlich erwarten Sie, dass die Geschichte, die Sie kennen, beginnt. Vielleicht steht dort sogar Kapitel 1, doch darunter ist nur ein Loch, so groß wie eine Faust, das sich durch alle Seiten bohrt, sodass nur noch halbe, verkrüppelte Sätze übrig sind. So hat es sich angefühlt, als ich Liljenholm erblickte. Selbst als ich näher herantrat, sah ich statt des Eingangs nichts als die beunruhigende Dunkelheit.
»Liljenholm ist nicht gerade mit Anmut gealtert«, stellte ich fest, nur um etwas zu sagen, das wieder Normalität schaffte. Nella hatte das Loch bereits fast erreicht. Flankiert von zwei mit Moos bewachsenen Steinlöwen, die mit gebleckten Zähnen auf ihren Hinterbeinen standen. Ich erinnerte mich schwach, sie schon einmal gesehen zu haben.
»Nein, hast du das erwartet?«, fragte sie und tätschelte zerstreut einen der Löwen. Den rechten, der die Hälfte seiner perückenähnlichen Mähne durch einen geraden Schnitt vom Scheitel bis zur Mitte seines muskulösen Rückens verloren hatte. Ihr Selbstbewusstsein überraschte mich, obwohl es das genau genommen nicht hätte tun sollen. Schließlich hatte sie, und nicht ich, ihre gesamte Kindheit hier verbracht. Achtzehn lange Jahre, zusammen mit ihrer Mutter, Antonia von Liljenholm.
Sie kennen den Namen? Ich hoffe es. Ungeachtet, was man sonst von Antonia halten mochte, war sie bis zum Zweiten Weltkrieg Dänemarks führende Autorin von Schauerromanzen, doch die Zeit ist mit ihrem Andenken nicht sanft umgegangen. Selbst die bedeutendsten ihrer 32 Romane sind mittlerweile in Vergessenheit geraten, und falls das auch auf ihre Lebensgeschichte zutreffen sollte, ist es wohl an mir zu erwähnen, dass alle in ihrem Umfeld gestorben oder verschwunden (oder wie in Nellas Fall nach Kopenhagen geflüchtet) sind, sodass Antonia die letzten zehn Jahre ihres Lebens ganz alleine auf dem Gut hier verbracht hatte. Sie starb im Alter von 52 Jahren an Krebs. 1936.
»Man muss sich einmal vorstellen, dass sie das ausgehalten hat, hier alleine zu wohnen«, rief ich genau in dem Augenblick, in dem der Umriss der Haustür sichtbar wurde und Nella den Schlüssel ins Schloss steckte und dreimal umdrehte. Wir waren einzig und alleine hier, um Ordnung in die von Antonia hinterlassenen Papiere zu bringen und die Erbstücke in Augenschein zu nehmen, bevor das Gut verkauft werden und unsere Zukunft beginnen sollte. Nun ja, Nellas Zukunft, um genau zu sein. Ich war nur hier, um Nella Gesellschaft zu leisten und zur Hand zu gehen, wo ich konnte. Ihre ungewichtige Begleiterin könnte man mich auch nennen, obwohl es angesichts meiner Erscheinung passender gewesen wäre, mich ihre gewichtige Begleiterin zu nennen. Nella drehte den Kopf und fing meinen Blick ein. Ihr Gesicht war gefühllos wie ein frischgebügeltes Laken.
»Bist du bereit?«, fragte sie und stieß die Tür auf, die sich mit einem ergebenen Seufzer fügte. Ich gehe einmal davon aus, dass ich Ja gesagt habe. Doch ich war nicht im Mindesten bereit. Selbst heute, nachdem so viele Jahre vergangen sind, dass das Ganze genauso gut erfunden sein könnte, spüre ich ein starkes, prickelndes Unbehagen bei dem Gedanken an den Moment, in dem ich über die Türschwelle trat. Alles, was mir bekannt und vertraut war, verschwand hinter mir, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Alles, was ich war, wurde plötzlich in Frage gestellt, und ich weiß nicht einmal, was mich am meisten beunruhigt: dass es passiert ist oder dass es genauso gut nicht hätte passieren können.
Denn ich kam nie wieder fort von Liljenholm. Das ist die kurze Geschichte. Und die lange? Die erzähle ich Ihnen natürlich, wenn ich dieses Vorwort zu Ende geschrieben habe. Doch ich möchte noch einen Augenblick warten, bis ich das Wort an die wesentlich jüngere Ausgabe meiner selbst übergebe. An sie, die alles, was in diesem Winter auf Liljenholm passiert ist, und alles, was dem vorausging, aufgeschrieben und das Ergebnis dann 1943 als Roman herausgebracht hat, Das Turmzimmer. Unter dem wenig passenden Pseudonym
A. von Liljenholm übrigens. Doch bevor ich mich ganz in der Vergangenheit verliere, muss ich darauf aufmerksam machen, dass ich dieses Vorwort nicht ganz freiwillig schreibe. Eigentlich verstehe ich nicht, warum ein Buch wie Das Turmzimmer überhaupt ein Vorwort braucht, doch meine Verlegerin ist da offenbar anderer Meinung. Bella heißt sie. Sie ist Nellas Tochter, und ich habe sonst nie große Probleme damit, Nein zu sagen, doch ich kann unmöglich einem Menschen etwas abschlagen, der Nella so sehr gleicht. Meiner Nella. Das macht die Liebe mit einem. Bella kam neulich auf Liljenholm vorbei und küsste mich auf die Wange, wie sie das immer tut. Sie ist die reinste Augenweide mit ihren langen Gliedmaßen und ihrem sonnengebleichten Haar, das um ihr Gesicht schwingt. Ein wenig wie diese modernen Staubwedel, mit denen meine neue, junge Haushälterin herumeilt, aber natürlich schöner. Was Bellas Kleidung angeht, bin ich mir nicht so sicher, doch sie behauptet, dass kurze Röcke modern sind, und das wird schon stimmen. Ich selbst habe nie das Privileg genossen, mit meiner Zeit im Einklang zu sein, sodass ich mir kein Urteil anmaßen will.
»Der Verlag hat beschlossen, Das Turmzimmer in einer neuen Schmuckausgabe herauszubringen. Du weißt schon, mit allem Drum und Dran, mit Schutzumschlag und so«, sagte sie.
»Zu welchem Anlass, meine Liebe?«, fragte ich, und erlauben Sie mir den Kommentar, dass es dieses Buch doch wohl mehr als verdient hat, nicht nur anlässlich eines albernen Gedenktags neu aufgelegt zu werden.
»Das Turmzimmer ist schließlich vor genau dreißig Jahren zum ersten Mal erschienen, hast du das vergessen?«
»Was du nicht sagst!«
Ich bin auf meine alten Tage so zynisch geworden, sagt meine Freundin und Privatsekretärin Marguerite. Doch das liegt einzig und alleine daran, dass ich es nicht mehr so gut verbergen kann. Selbst wenn das Leben tut, was immer es kann, um sich zu verkleiden, wiederholt sich im Grunde genommen doch alles nur immer wieder, und wenn man die 75 erreicht hat, werden die Zeitspannen zwischen den Überraschungen allmählich furchtbar lang. Doch Bella zog eine für mich aus dem Ärmel.
»Ich weiß sehr wohl, dass du es hassen wirst«, sagte sie und fing meinen Blick ein. »Aber es war Nellas letzter Wunsch, dass du ein Vorwort schreibst, wenn ausreichend Zeit verstrichen ist. So hat sie es formuliert.«
»Was für ein Unsinn!«
Bella hob die Hand auf genau die gleiche Weise, wie Nella es immer getan hatte, wenn sie sich Gehör verschaffen wollte. Ich musste kurz wegsehen, um die Fassung wiederzugewinnen.
»Das Turmzimmer hat Mutter schließlich genauso viel bedeutet wie dir«, sagte sie eindringlich. »Sie hat sich wirklich gewünscht, dass du die Geschichte bis heute zu Ende erzählst.«
In diesem Augenblick trat Marguerite in mein Arbeitszimmer. Unser alter Hütehund, Simo der Dritte, folgte ihr auf den Fersen. Sie stellte zwei Tassen mit schwarzem Kaffee und einen steifen Whisky auf den kleinen Beistelltisch, den ich mir an meinem Schreibtisch habe anbringen lassen, und ich musste es mir verkneifen, ihr frischblondiertes Haar anzustarren. Es mag gut sein, dass ihr Frisör die Farbe als hellen Kornton bezeichnet, doch das Ergebnis sieht seltsam aus. Und gedrungen. Als hätte ihr jemand einen zerknüllten Hut auf den Kopf gesetzt.
»Ich bringe euch etwas zur Stärkung«, sagte sie und sah Bella vielsagend an, die ihren Blick besorgt erwiderte. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als wenn die Leute über meinen Kopf hinweg reden. Obwohl meine Entscheidungen hin und wieder zwar fragwürdig waren, lege ich großen Wert darauf, über das, was mich betrifft, selbst zu bestimmen. Vielleicht weil ich von ganz unten komme. Aus dem Kinderheim. Aber Sie kennen meine Lebensgeschichte wohl bereits? Ich nähre diese eitle Hoffnung, das kann ich nicht verbergen. Über viele Jahre hinweg habe ich mich unter anderem als armselige Sekretärin über die Runden gebracht, mit einem Vorstrafenregister so lang wie die Psalmenreihe am Sonntag. Die Jahre dürften es wohl inzwischen reingewaschen haben, das Vorstrafenregister. Doch ich bezweifle, dass das mit meinem Gewissen jemals geschehen wird. Wie eine kluge Frau mir einst geschrieben hat: Wenn man erst einmal angefangen hat, im falschen Takt zu tanzen, wird man den richtigen nie mehr finden. Wie recht sie doch hatte. Falsche Entscheidungen haben die Angewohnheit, sich zu vermehren, erst im Leben und dann im Kopf. Doch eine gute Entscheidung habe ich seinerzeit getroffen: Ich habe dieses Buch geschrieben.
Neulich, als Bella mit der Idee für dieses Vorwort kam, hat sie noch etwas anderes gesagt, das mir wichtig erschien. Sie hat gesagt: »Du brauchst gar nicht erst zu behaupten, dass Das Turmzimmer ein abgeschlossenes Kapitel deines Lebens ist, denn wir wissen schließlich beide, dass das nicht stimmt.«
Und wie recht sie damit hat! Wenn man sein Leben erst einmal vor den Lesern weltweit ausgebreitet hat, ist nichts abgeschlossen, ganz im Gegenteil. Es ist wie ein aufgeschlagenes Buch, und hin und wieder war schon allein das unerträglich. Nur noch übertroffen von den unverblümten Meinungen bestimmter Personen. In Das Turmzimmer distanziere ich mich nicht ausreichend vom Nationalsozialismus, meinten sie mit der Empörung der im Nachhinein Klugen auf ihrer Seite. Was war eigentlich mit dem Krieg? Hat er sich oder hat er sich nicht direkt vor den Mauern von Liljenholm abgespielt? Ich hätte alles weniger geschnörkelt aufbauen, von etwas anderem schreiben sollen, hätte weniger Effekte einsetzen und anstelle der ganzen frustrierten Weiber mehr Männer porträtieren müssen. Was sollte der ganze Wahnsinn überhaupt, ganz zu schweigen von all den Perversionen, mit denen konfrontiert zu werden wir nicht gebeten haben. Man stelle sich einmal vor, dass ein Kritiker das tatsächlich einmal geschrieben hat, als würde er es ernsthaft vorziehen, dass sie stattdessen unter der Oberfläche brodelten. Aber trotzdem verkaufte sich das Buch ausgezeichnet, sowohl während als auch nach dem Krieg.
Es gab Höhen und Tiefen, und es gab Vorwürfe. Alles andere wäre in Anbetracht dessen, wie kontrovers die Geschichte schließlich geworden ist, auch seltsam gewesen. Man soll zwar nicht für die Toten sprechen, doch nichtsdestotrotz mache ich eine Ausnahme. Denn ich zweifle nicht einen Moment daran, dass Das Turmzimmer mir und Nella die besten Jahre unseres Lebens beschert hat. Ich war die Autorin, Nella die Herausgeberin. Näher bin ich einer glücklichen Beziehung nie gekommen.
Ich möchte noch etwas sagen, aber ich weiß nicht, wie. Was das angeht, wird das Schreiben nie zur Routine werden. Immer gibt es etwas, von dem man nicht weiß, wie man es formulieren soll. Jedenfalls geht es um die Nächte, wenn sich Marguerite, mögliche Gäste von ihr und meine Haushälterin längst zur Ruhe begeben haben. In der Regel sitze ich dort, wo ich auch jetzt sitze, und wo Antonia vor mir gesessen hat, an dem alten Schreibtisch im Arbeitszimmer, unten im Turm, mit Aussicht auf den Park. Ohne Vorwarnung dringt mit einem Mal die Dunkelheit in meine Poren. Die ächzenden Laute suchen sich ihren Weg direkt in meine Blutbahn. Innerhalb von Sekunden merke ich, dass ich zittere, und nach und nach kommen die Gedanken angeschlichen. Dass ich bei allem Wichtigen immer zu spät gekommen bin und mir das erst sehr viel später klar geworden ist. Dass alles Mögliche mich daran gehindert hat, glücklich zu sein, und ich nicht einmal sagen kann, was das Schlimmste davon war. Dass ich auf eine glänzende Karriere als Autorin zurückblicken kann und mir trotzdem geplündert vorkomme wie ein alter Kleiderbügel. Ich habe auf zu viel verzichtet und zu wenig bekommen, so fühlt es sich an.
Zwölf Romane habe ich auf die Welt gebracht, Millionen von Wörtern geschrieben, und doch ist es mir nie gelungen, Nella zu sagen, dass sie mir sehr viel mehr bedeutet hat als alle Worte zusammen. Es ist nicht schön, das erkennen zu müssen, doch zum jetzigen Zeitpunkt bin ich wahrscheinlich wichtiger für mich als für andere. Marguerite natürlich ausgenommen. Und Bella vielleicht.
»Du vergisst nicht, von der Fotografie zu erzählen, ja?«, sagte sie von der Tür aus, kurz bevor sie ihr helles Haar schwang. Wenn es eine Sache gibt, die ich hasse, sind das Leute, die es sich anmaßen, mir zu sagen, was ich erzählen soll und was nicht. Doch ich will eine Ausnahme machen, da sie zufälligerweise recht hat. Im Gegensatz zu Antonia von Liljenholm, die meistens mitten in irgendeiner Gruppe und damit mitten auf irgendeiner Fotografie zu sehen war, habe ich ein besonderes Talent, außerhalb des Rahmens zu stehen. Entweder, weil ich aus freien Stücken hier gesessen und auf die Tasten meiner inzwischen total antiken Underwood eingehackt habe, oder weil es mir einfach zur Gewohnheit geworden ist, einen Schritt von der Menge zurückzutreten.
Die Fotografen haben sich auch kein Bein ausgerissen, mich mit der Kamera einzufangen, muss ich gestehen. Doch so ist das wohl, wenn das Äußere nicht den Konventionen entspricht. Wie dem auch sei, mich hat das nie ernsthaft gekümmert. Doch wenn ich jetzt hier sitze, ärgert es mich, dass ich sie nicht mit einer einzigen Fotografie von mir bereichern konnte. Nicht einmal von dem unbestrittenen Höhepunkt meiner Karriere. Denn der ist mit Sicherheit zur Genüge verewigt worden, auch wenn ich nicht auf einem einzigen Bild zu sehen bin. Unbestreitbar sieht niemand so aus, als würde er auch nur ahnen, dass ich überhaupt anwesend war, was mich jedoch nicht daran hindern soll, es hier zu erwähnen.
Vielleicht kennen Sie die bekannte Fotografie von 1959. Damals hatte meine inzwischen verstorbene Freundin Lula, besser bekannt als die Autorin Carson McCullers, die Baronesse Karen Blixen eingeladen, um die Bekanntschaft von Marilyn Monroe und Arthur Miller zu machen. Sie sitzen an Lulas Marmortisch und prosten sich mit Champagner zu, während sie auf ihre Austern warten, und mitten auf dem Tisch steht eine Schale mit Trauben. Ich erwähne die Schale deshalb, weil ich links davon sitze. Außerhalb des Bildes, getreu meiner Gewohnheit, und niemand scheint mit mir anzustoßen. Arthur sieht die Baronesse an, Marilyn ebenfalls, und wo Lula hinsieht, weiß ich nicht. Dafür sieht sie mich auf einer der anderen Fotografien, auf der sie, die Baronesse und Marilyn allein zu sehen sind, direkt an. »Komm doch zu uns herüber!«, sagt ihr Blick, und ich weiß wirklich nicht, warum ich es nicht getan habe, doch ich gehe einmal davon aus, dass ich einfach so bin. Wenn ich soll, will ich nicht. Selbst wenn eine Schönheit wie Marilyn Monroe mit ihrem reizenden Dekolleté und dem Duft von Chanel N°5 sich zu mir hinüberbeugt.
Das Merkwürdigste am Altwerden ist, dass ich immer häufiger Tagträumen nachhänge. Von Situationen, die endgültig vorbei oder nie eingetreten sind, von Nella und Marilyn und den Hofbällen, die ich gehasst habe. Vielleicht bin ich einfach ein Mensch, der besser im Kopf als in der Wirklichkeit lebt. Der Gedanke ist mir vor allem deshalb gekommen, weil die Wirklichkeit immer unwichtiger für mich wird. Früher fühlte ich mich wochenlang geschmeichelt, wenn ich von meinen Lesern begeisterte Briefe erhielt, heute lese ich sie nicht einmal mehr. Marguerite liest sie, glaube ich. Sie kümmert sich um meine Korrespondenz und um eine ganze Reihe anderer Dinge, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei ihr zu bedanken. Wir kennen uns seit fünfzig Jahren, und das, Marguerite, meine allerliebste Freundin, ist nicht ein Jahr zu viel. Du tust es als unwichtig ab, wenn ich dir das sage. Aber nie bin ich dankbarer für etwas gewesen als dafür, dass du 1943, als ich so unglücklich war wie noch nie zuvor in meinem Leben, eingewilligt hast, nach Liljenholm zu ziehen. Weil du gekommen bist, bin ich geblieben. Ich mag gar nicht daran denken, wo ich sonst heute wäre.
1947, als die erste überarbeitete Auflage von Das Turmzimmer herauskam, wurde ich aufgefordert, das Buch den Lebenden zu widmen, doch ich habe es nicht getan. Ich habe es den Toten gewidmet, und dabei bleibt es. Ich vermisse dich zutiefst, Nella. Alles, was ich im Folgenden zu Papier gebracht habe, ist dir gewidmet, aus ganzem Herzen.
November 1941
Die Ankunft
Obwohl ich erst zum zweiten Mal in meinem Leben nach Liljenholm kam, musste ich tief Luft holen, bevor ich an diesem späten Nachmittag des Jahres 1941 über die Türschwelle trat. Als Erstes zündete ich eine goldene Lampe an, die sich einen Moment darauf zu leuchten entschloss. Der Koffer gab einen dumpfen Laut von sich, als ich ihn neben Nellas abstellte. Aufrecht wie immer stand sie in der stattlichen Halle. Ihre Hände bändigten schnell ein paar aus der Hochsteckfrisur auf Abwege geratene Korkenzieherlocken, und ich erahnte die mir nur zu gut bekannte Mischung aus Leichtigkeit und Konzentration auf ihrem leicht rundlichen Gesicht. Ich konnte nicht genug bekommen von dieser Mischung, kann es immer noch nicht, doch in diesem Augenblick sollte sie etwas anderes verbergen, dachte ich. Das Gut wirkte im ersten Moment zwar friedlich, doch ich spürte deutlich, dass dem bei Weitem nicht so war.
Nella war hier aufgewachsen, doch sie sprach nur selten über ihre Vergangenheit. Das tat keine von uns, denn Nella vertrat die feste Meinung, dass sie dort, wo sie war, am besten aufgehoben sei. Nämlich hinter uns. Ich wusste jedoch genau, dass sie hier mehr Unglück erlebt hatte, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben auch nur annähernd erfahren, und trotzdem lächelte sie jetzt. Scheinbar ohne zu merken, dass es auf Liljenholm so still war, dass der Eindruck entstehen konnte, die alten Räume um uns würden sich gegenseitig zum Schweigen auffordern.
»Alles sieht doch wie immer aus«, sagte sie, und es fiel mir schwer zu glauben, dass wir das Gleiche sahen. Das Zimmer war etwas zu gelb tapeziert, sonnengelb dürfte die korrekte Bezeichnung sein, und auf den Kacheln im Rautenmuster, die den Boden bedeckten, mischten sich Glasscherben und zerbrochene Spiegelrahmen in einem bunten Durcheinander. Als hätte eine unsichtbare Hand das Zimmer zehn Meter hoch in die Luft gehoben und aus Spaß fallen lassen, kam mir der Gedanke. Selbst das Geländer der stattlichen Treppe rechts war zertrümmert, bis zur Unkenntlichkeit zerhackt und verschrammt, und ich kam nicht umhin, an das letzte Mal zu denken, als ich hier gewesen war. Vor fünf Jahren. Auf dem Weg die Treppe hinauf, mit Nella dicht auf den Fersen und dem einzigen Gedanken im Kopf: Ist es zu spät? Ist es meine Schuld? Jetzt räusperte sie sich.
»Kannst du nicht die Haustür hinter dir schließen? Hier ist es eiskalt.«
Sie hatte recht. Die Kälte schlich sich durch alle Ritzen, und doch schwitzte ich, als die Tür sich mit einem Seufzer schloss. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, von Angst übermannt zu werden. Nicht damit zu schwitzen, diesmal wieder. Genau genommen kann man wohl sagen, dass meine Vorbereitung fehlgeschlagen war, und das passierte nur äußerst selten. In einem meiner früheren Berufe galt es, genau zu wissen, was auf einen zukam, und damit habe ich hoffentlich nicht zu viel verraten. Ich versuchte, den Blick auf die durch einen Wasserschaden verunstaltete Decke zu richten, die sich hoch über unseren Häuptern wölbte. Höher und höher, als würde sie dort oben herumschweben. Anschließend knöpfte ich meinen riesigen, unbequemen Lodenmantel auf, zog meinen Hosenanzug zurecht und suchte nach einem freien Bügel. Die Garderobe an der Tür erwies sich merkwürdigerweise als unbeschädigt, und es hing eine lange Reihe dunkler Mäntel daran. Sie hingen Schulter an Schulter. Mein Herz stach wie ein umgestülptes Nadelkissen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Nella, und ich hustete so laut, dass es hallte. Zu laut möglicherweise.
»Mir geht es gut. Schließlich hat mich niemand gezwungen, hier herauszukommen, nicht?«
Das stimmte. Obwohl man es nicht glauben sollte, hatte ich mich aus völlig freien Stücken entschlossen, Nella zu begleiten. Der Anlass war schlicht und einfach der, dass plötzlich ein uns unbekannter Käufer für Liljenholm aufgetaucht war. Hans Nielsen hieß er, und er wusste, wie er sich auszudrücken hatte: Wenn Nella von Liljenholm nicht die Absicht besäße, in Zukunft das Gut zu bewohnen, wäre er sehr an einem Kauf interessiert, gerne vollständig möbliert und natürlich für eine stattliche Summe. Könnte das geehrte Fräulein sein Ansinnen wohl überdenken?
Meiner unwichtigen Meinung nach gab es da nicht viel zu überdenken. Liljenholm stand leer, seit Nellas Mutter, die große Autorin Antonia von Liljenholm, vor fünf Jahren gestorben war und Nella als ihre einzige Tochter alles geerbt hatte. Doch bis jetzt hatte sie sich geweigert zurückzukehren, was jeder Logik widersprach, wie ich gedacht hatte. Bis ich selbst hier stand, mich an meinem Mantel zu schaffen machte und wie eine Wahnsinnige schwitzte. Genau genommen hätte Nella schon lange Ordnung in Antonias persönliche Papiere und hinterlassene Manuskripte bringen und die wertvollsten Möbel zum Verkauf anbieten müssen. Wenn aus keinem anderen Grund, dann aus dem, dass Nellas ansonsten vorzüglicher Verlag langsam der Pleite entgegenging. Es gab keinen Grund, zusammen mit den Kirchenratten und mir zu enden, wenn man dem entgehen konnte. Ich hatte gerade zum Gott weiß wievielten Mal meine Arbeit als Sekretärin verloren, was nicht an meinen Qualifikationen lag. Das zu schreiben gebietet mir mein Stolz. Ich war immer die Beste, auch darin, gekündigt zu werden, und mein Aussehen und Auftreten trugen zweifellos einen Teil der Schuld. Ich sah einfach nicht so aus und verhielt mich nicht so, wie man es von einer Sekretärin erwartete.
Doch genug davon. Jetzt waren wir endlich hier, und Nellas einzige Aufgabe bestand darin, Liljenholm so schnell wie möglich verkaufsfertig zu machen. Und meine Aufgabe? Tja, es mag gut sein, dass ich altmodisch bin, doch in meiner Welt sollte eine jüngere, unverheiratete Frau sich nicht alleine auf einem verlassenen Gut aufhalten, schon gar nicht mehrere Tage und Nächte lang, und deshalb hatte ich beschlossen, mitzufahren und ihr nach bestem Vermögen zu helfen. Man ist schließlich galant, auch wenn Nella wirklich getan hatte, was sie konnte, um mir das auszureden. Sie schaffe das Ganze leicht alleine, hatte sie betont. Es bestand nicht der geringste Grund, dass ich mein letztes Erspartes für eine Zugfahrkarte ausgab, und wenn ich Ihnen gegenüber, lieber Leser, von Anfang an ehrlich sein soll, habe ich ihr auch nicht nur um ihrer schönen Augen willen geholfen. Ich habe ihr geholfen, weil ihr Blick immer hart und dunkel wurde, wenn ich Liljenholm auch nur erwähnte, und das hat mich neugierig gemacht, das kann ich genauso gut zugeben. Ich wollte wissen, warum.
Nella musste mich etwas gefragt haben, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wartete sie schon eine ganze Weile auf eine Antwort. Schnell griff ich nach ein paar freien Bügeln zwischen den ganzen Mänteln. Sie rochen noch immer nach Antonias schwerem, orientalischem Parfüm, stellte ich fest, und das sagte ich auch. Nella schnupperte.
»Was schlägst du vor?«, fragte sie, und ich hätte gerne gesagt, dass ich vorschlug, umzukehren und nach Hause zu fahren. Es half nicht, dass mein Mantel jetzt auf einem Bügel hing und ich objektiv betrachtet zu dünn angezogen war. Ich schwitzte noch immer stark, und der alkoholgeschwängerte Parfümgeruch brannte in meiner Nase und setzte sich in meiner Kehle fest, sodass ich hustete, statt zu antworten. Nella nickte.
»Gut, dann drehen wir eine Runde durch mein altes Elternhaus, bevor wir auspacken«, sagte sie und blickte zu dem halbkreisförmigen Fenster über der Tür hoch, dessen Farbe in diesem Moment von hellgrau zu dunkelgrau wechselte.
»Das schaffen wir gut, bevor es dunkel wird, meinst du nicht?«
Heute Nacht sollte es Schnee geben, möglicherweise sogar einen Schneesturm. Den Wind hatten wir jedenfalls den ganzen Weg vom Bahnhof bis hier heraus wie eine kalte Hand im Nacken gespürt. Ich blickte mich um. Auf allem lag eine versöhnliche Schicht Staub, die davon zeugte, dass die Zerstörungen nicht neueren Datums waren. Was ich übrigens sehr wohl wusste. Zu den Zerstörungen war es bei unserem letzten Besuch gekommen, und mein Herz beruhigte sich ein wenig. Schließlich gab es nichts, wovor man Angst haben musste, nicht mehr, ich brauchte nur zu helfen, nett zu sein und die Dinge zu regeln, dann waren wir bald wieder in Kopenhagen, wo wir hingehörten.
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte ich, und Nella drückte leicht meine Schulter.
»Auf dich«, sagte sie und knöpfte mit flinken Fingern ihren Mantel auf. Eins dieser kunstvollen Kleidungsstücke mit stoffbezogenen Knöpfen. Aus der Zeit vor dem Krieg, natürlich. Nella zog ihn nur bei besonderen Gelegenheiten an. Darunter trug sie ihre dickste Wolljacke. Gut, dass zumindest eine von uns wusste, was es hieß, Liljenholm im Winterhalbjahr einen Besuch abzustatten.
»Sollen wir?«
Sie glich einer Figur aus einem schlechten Stummfilm, als sie über die vertrauten Fliesen ging, scheinbar ohne besondere Notiz von den Scherben zu nehmen. Jemand hatte die Kulisse zerstört, und trotzdem spielte sie die Rolle der heimgekehrten Tochter, die mit ein paar schnellen Schritten zu dem ersten der Zimmer hochging, die Schulter gegen die Tür stemmte, alle Kraft in die Bewegung legte. Die Tür in dem gewölbten Eingang gab einen klagenden Laut von sich und ging auf.
»Machst du die Wandleuchte bitte aus? Wir wollen doch nicht, dass uns das E-Werk gerade jetzt den Strom abschaltet «, sagte sie über die Schulter. Normalerweise lasse ich mich von anderen Frauen, die zehn Jahre jünger sind als ich, nicht herumkommandieren. Doch ich machte eine Ausnahme und schaltete die Wandleuchte aus. Der Anblick der Wand ließ meine Fingerspitzen kribbeln. Meine Hände streckten sich wie von selbst danach aus.
»Die Tapete draußen in der Halle, Nella?«
»Ja, was ist damit?«
Ihr Schatten fiel auf die gelbe Fläche, verzerrte sich leicht, doch man sah noch immer die langen, hellen Kratzspuren, die erschreckend deutlich an die Spuren auf Nellas Körper erinnerten. Sie hatte sie sowohl auf dem Rücken wie auch auf dem Bauch und den Beinen (wie man wohl ahnt, kennen wir einander ziemlich gut), doch an den Wänden waren noch erheblich mehr. Manche nur an der Oberfläche, während andere tiefer gingen, und die meisten verliefen in fünf parallelen Spuren, sodass man sich den Rest denken konnte. Meine Fingerspitzen folgten einem besonders tiefen Riss bis zu der offenstehenden Tür.
»Wer hat die Tapete abgerissen?«
Aus dem Vorzimmer, in das wir gerade traten, schien mir das Licht bleich entgegen. Nella lachte leicht.
»Oh, das haben mit der Zeit bestimmt viele«, sagte sie. Das Zimmer machte auf mich einen ruhigen Eindruck. Die dunklen Holzbohlen und der dickbäuchige Sekretär an der einen Wand waren ganz grau vor Staub, genau wie der längliche Tisch, der auf seinen geschnitzten Tierpfoten abwartend mitten im Raum stand. Worauf er wartete, wusste man nicht, doch mit ein paar Stühlen hätte er sicher besser ausgesehen.
»Ihr habt sie abgerissen?«
Nella war bereits bei den beiden Fenstern, die auf die Lindenallee hinausgingen. Sie nickte von dort.
»Ja, natürlich haben wir sie abgerissen.«
Und wer weiß, vielleicht war das in den besseren Kreisen auf Südseeland eine ganz normale Beschäftigung. Ich hatte mein ganzes miserables 43-jähriges Leben mitten in Kopenhagen verbracht und demnach wirklich keine Ahnung, womit man sich die Zeit auf einem Gut wie diesem vertrieb.
Darüber hinaus hatte man ganz offensichtlich versucht, seinen Gästen zu imponieren. Die Tapete in diesem Raum war mit goldenen Blumen übersät, der Stuck ähnelte einer hässlichen Kuchenverzierung (ich kann mir nichts Schlimmeres als Kuchen vorstellen), und mitten in etwas, das an eine kleinere Explosion von Stuckblumen erinnerte, hing ein überdimensionaler Kristallleuchter. Ich blinzelte, doch es bestand kein Zweifel. Die langen Glasprismen da oben schlugen zart gegeneinander, und eine Glaskugel schwang an einer reich dekorierten Kette spielerisch von einer Seite zur anderen. Nella zog den dicken, roten Gardinenstoff aus seinem Winterschlaf und inspizierte ihn.
»Aber du erkennst das Meiste wieder?«, sagte sie, scheinbar ohne eine Antwort zu erwarten, und das war bestimmt auch gut so. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war ich durch das Gut gestürmt, und wenn ich irgendetwas wiedererkannte, war es eher die Stimmung als ein bestimmter Raum. Das unverkennbare Gefühl, nicht willkommen zu sein und boshaft beäugt zu werden, als wäre man wieder zehn Jahre alt. Oder sogar noch jünger, in meinem Fall. Nella wickelte sich in den Gardinenstoff ein.
»Der reicht bestimmt für etliche neue Kleider, meinst du nicht?«
»Zweifellos.«
Wenn man nichts anderes und Besseres zu tun hatte, konnte man sich aus den Gardinen von Liljenholm mit Sicherheit eine ganze Garderobe nähen, aber es half weder sich herauszureden noch sie um sich zu drapieren. Der Raum scherte sich nicht das Mindeste um Besuch. Nella runzelte die Stirn, als ich das sagte.
»Liljenholm war eigentlich nie ein freundlicher Ort«, entgegnete sie. »Daran dürftest du dich doch erinnern?«
Doch in diesem Moment erinnerte ich mich nur an den haarsträubenden Tratsch, den ich über die Jahre über Liljenholm gehört oder gelesen hatte. Ohne ihn wirklich ernst zu nehmen. Von schlagenden Türen und ächzenden Lauten und Dingen, die verschwanden, nur um an den unwahrscheinlichsten Orten wiederaufzutauchen. Irgendeine Wahnsinnige mit dem fantasievollen Pseudonym Madame Rosencrantz hatte 1932 eine Schmähschrift verfasst. Die Königin der Gespenster hieß sie, und sie verkaufte sich weit über die Erwartungen hinaus, weil sie für sich in Anspruch nahm, die unheimlichen und blutigen Geheimnisse von Liljenholm und das dunkle Schicksal der Familie zu enthüllen. Ich will Sie jetzt nicht mit Details ermüden, sondern lediglich erwähnen, dass dieses dunkle Schicksal angeblich darin bestand, dass alle Generationen der Liljenholmer Zwillinge zur Welt brachten. Von denen einer ein wunderbares Leben führte, während der andere wahnsinnig wurde und sich das Leben nahm, um dann auf dem Gut herumzuspuken, wie es hieß. Und das versuchte ich zu verdrängen.
»Nur war die Situation letztes Mal ziemlich angespannt«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Ich hatte wohl gehofft, dass heute alles anders wäre.«
Der Boden wölbte sich und knarrte. Vielleicht aus Verwunderung über die Schuhe, die über ihn liefen. Meine alten Herrenschuhe, Nellas hochhackige Stiefel.
»Wenn ich du wäre, würde ich diese Hoffnung die nächsten Tage aufgeben«, sagte sie trocken. Mit verschränkten Armen inspizierte sie den nächsten Raum.
»Aus diesem Grund wundert es mich ja auch, dass dieser Hans Nielsen so an einem Kauf interessiert ist«, fuhr sie fort. Wir hatten dieses Gespräch in den letzten Tagen bereits ein paarmal zu oft geführt. Nella, die meinte, dass die Leute hier so viel redeten, dass Herrn Nielsen die schlimmsten Gerüchte über Liljenholm wohl kaum entgangen sein konnten. Ich, die antwortete, dass dieser Hans Nielsen wohl einfach sein altes Leben hinter sich lassen wollte. Vielleicht liebte er die Natur, die alten Bäume im Park, und im Übrigen konnten uns seine Motive doch völlig egal sein, wenn er nur kaufen und bar zahlen würde.
Nella war einige Schritte weitergegangen. Der nächste Raum glich weitgehend dem vorigen. Den einzigen Unterschied machte eine Sitzgruppe vor den beiden Fenstern. Außer einem o-beinigen Sofatisch bestand sie aus einigen Sesseln und einer nicht gerade gelungenen Kreation aus Stuhl und Sofa.
»Eine bergère«, sagte Nella. »Hier hat Mutter also ihre Gäste empfangen.«
Dass dieser Raum einmal voller Leben gewesen sein sollte, konnte man sich heute fast nicht mehr vorstellen. Doch von 1905, als Antonia mit ihrem Debütroman Lady Nellas geschlossene Augen ihren großen Durchbruch hatte, bis zu Nellas Geburt drei Jahre später hatte Antonia angeblich ein reges soziales Leben geführt. Nella sagte bestimmt auch noch mehr dazu, doch mich beschäftigte einzig und allein die schleichende Dunkelheit, die uns umgab. Sie schien hier ausgeprägter, vielleicht weil ein paar hohe Bäume die Fenster überschatteten. Ich versuchte, Leben in eine verschämte Tischlampe zu knipsen, die auf einer Anrichte an einer der Wände stand. Vergebens. Hinter den Glastüren der Anrichte ruhte eine Sammlung alter Teller in Ständern. Mein Nacken knackte laut. Es war neu, dass er das tat, wenn ich den Kopf ruckartig nach hinten bog. Zweifellos ein Zeichen meines fortgeschrittenen Alters.
»Was war das für ein Geräusch?«
Nella verstummte. Erst jetzt wurde mir klar, dass sie die ganze Zeit geredet haben musste. Das Geräusch kehrte zurück. Es klang wie ein leichtes Klopfen oben vom Speicher, und Nella drehte sich halb zu mir um. Ihre schönen grünen Augen schienen plötzlich schwarz und warfen runde Schatten auf ihre Wangen.
»Es ist nur zu deinem eigenen Besten«, sagte sie. »Was immer du hörst oder siehst oder wahrnimmst, tu, als ob nichts geschehen sei. Das ist das Einzige, das hier auf Liljenholm hilft. Ich weiß, wovon ich rede.«
Im gleichen Moment strahlte uns der letzte Raum in einem toten, nadelgrünen Ton entgegen. Wie es schien, handelte es sich um ein Eckzimmer, das als Speisezimmer diente. Vorsichtig trat ich näher.
»Es wird nur schlimmer, wenn man danach fragt, ich spreche aus Erfahrung«, sagte sie schnell. Ich konnte die kleinen Härchen in ihrem Nacken sehen.
»Was ist denn passiert, wenn du gefragt hast?«
Sie bückte sich, um eine Handvoll hellblauer Scherben vom Boden aufzuheben, der mit dicken, geblümten Teppichen bedeckt war, die meisten in fleischfarbenen Tönen. Es musste traurig sein, den schlechten Geschmack anderer zu erben, doch Nella schien dem keinen Gedanken zu schenken.
»Dann habe ich so viel Prügel bekommen, dass ich nicht wieder gefragt habe«, sagte sie. Die Möbel im Raum schienen plötzlich zu groß. Ein Esstisch für mindestens zwanzig Personen, eine Anrichte mit unendlich viel Porzellan, mannshohe Porträts an den Wänden. Nella legte die Scherben weg.
»Nur ein Versehen, als ich letztes Mal hier war«, sagte sie. »Eine Bodenvase, die umgekippt ist.«
Ich konnte ihren dünnen Körper nur zu deutlich vor mir sehen. Hände, die sich wehrten. Die zarte Haut von Schlägen übersät, die schließlich zu den Narben geworden waren, die ich so gut kannte wie die Straßen von Kopenhagen.
»Es tut mir leid, dass ich so darauf gedrängt habe, dass wir hierhin zurückkommen«, sagte ich, und ich meinte es, wie ich nur selten etwas gemeint habe. Ich hatte im Grunde genommen gut damit leben können, nicht viel über Nellas erste Lebensjahre zu wissen, und so gesehen hatte ich auch gut damit leben können, nicht viel über meine eigenen zu wissen. Und was Nellas angespannte Finanzlage anging, konnte ich ihr durchaus mit meinen zwar nicht vortrefflichen, aber doch brauchbaren Kenntnissen zur Seite stehen. Nella ging zu einer geschlossenen Flügeltür und öffnete sie.
»Machen wir weiter«, sagte sie leichthin. »Wir müssen schließlich noch auspacken.«
Sofort erkannte ich den Geruch des Raums wieder. Den staubigen und zugleich würzigen Duft alter Bücher. Und als das Opalglas der Deckenleuchte in fünf kleinen Sonnenuntergängen erstrahlte, sah ich sie auch. Sie säumten in langen Reihen die Wände, Rücken an Rücken, vom Boden bis zur Decke, und lagen in hohen Stapeln neben einem tiefen Sofa, in dessen Füße Blätter geschnitzt waren. Der Brokatbezug war an einem Ende zerschlissen.
»Womit hat sie dich geschlagen?«, hörte ich mich fragen. »Denn es war doch wohl Antonia, die ...?«
Der verschwommene Umriss von Nellas Atem war deutlich zu sehen und bei genauerem Hinsehen auch meiner.
»Was? Ach so, in der Regel mit Eisenbügeln.« Sie sah mich verwundert an. »Aber das ist nicht so oft passiert, du brauchst dich nicht aufzuregen.«
Sie ging zu dem einzigen Stück Wand, das nicht mit Büchern zugestellt war, und blieb vor einem prunkvollen Porträt in einem noch prunkvolleren Rahmen stehen.
»Mein großes Glück war, dass ich nichts anderes kannte.«
»Meinst du das wirklich?«
Nella sah die Fotografie nachdenklich an. Sie zeigte zweifelsfrei Antonia, hingegossen auf einem Sofa, eine Zigarettenspitze zwischen den Lippen, die langen Wimpern waren hoffentlich hinzugemalt worden. Ich hoffte jedenfalls für sie, dass es nicht ihre eigenen waren.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass es eine große Hilfe sein kann, nicht zu wissen, was normal ist«, sagte sie und sah schräg an mir vorbei zu der kleinen Treppe neben dem Bild, die zu einer geschlossenen Tür hinaufführte. Ich verstand ehrlich gesagt nicht, warum ich jetzt in das Gespräch einbezogen werden sollte. Deshalb richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf das Foto, das wohl kaum in den letzten zwanzig Jahren aufgenommen worden war. Es existieren ziemlich viele Bilder von Antonia, weil sie sich jedes Mal, wenn der Verkauf ihrer Bücher stagnierte, porträtieren ließ, sodass ich dieses einigermaßen datieren konnte. Als junge Frau war sie rundbäckiger, schöner und hatte unschuldigere Augen, und die letzten zehn Jahre ihres Lebens schminkte sie sich beträchtlich stärker als hier. Ihre Lippen wurden auch schmäler, und die Mundwinkel zeigten nach unten, während die Pelze um ihre Schultern immer opulenter wurden. Im Gegensatz zu Antonia selbst übrigens. Als der Krebs sich allmählich in sie hineinfraß, wurde sie mager wie ein Windhund. Nella zeigte auf irgendetwas.
»Sieh dir mal den Hintergrund der Fotografie an, den Spiegel oben rechts.«
Ich musste mir bei Gelegenheit eine Brille anschaffen. Die Stelle, auf die sie zeigte, sah ich noch immer unklar. Nella lächelte.
»Siehst du nicht, dass ich da mit dem Rücken zum Bild sitze?«
Es war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, nach Nella zu suchen. Soweit ich das wusste, ließ Antonia sich immer alleine porträtieren. Das Glas war kalt an meiner Nase, doch jetzt sah ich sie. Im Spiegel, hinter einer Tischlampe, die eingeschaltet zu sein schien. Ihr Haar schwang wie eine Gardine um ihr Gesicht, und ihre Haltung war so aufrecht, dass sie selbst wie eine Lampe aussah. So schlecht sah ich also doch nicht. Hinter Antonia waren Bücher zu sehen, und unter einem Arm erahnte man die Schnitzereien des Sofas.
»Das Bild ist in diesem Zimmer aufgenommen, nicht? Wie alt warst du da?«
»Sechs.«
Sie setzte sich vor den Kamin, der sich zwischen die Bücher drängte.
»Hilfst du mir?«
Schnell reichte ich ihr ein paar knochentrockene Holzscheite aus einem Korb auf dem Boden. Ich sehe ein, dass da etwas ist, das ich Ihnen erzählen muss, auch wenn ich im Prinzip nicht glaube, dass ich als Person auch nur eine Spur wichtig für diesen Teil der Geschichte bin. Doch sonst werden Sie nicht verstehen, warum ich mich plötzlich so leer und traurig fühlte, dass Nella mich ganz verwundert ansah.
»Ist etwas?«
Die Leute sagen hin und wieder, dass Nella mir ähnlich sieht, wenn sie so guckt. Ein Ausrufungszeichen zwischen den Brauen und die Augen leicht schräg. Ich muss ehrlich gesagt zugeben, dass ich das erwähne, weil mir der Vergleich schmeichelt.
»Nein, was sollte denn sein?«
Die Holzscheite wanden sich wütend, als Nella versuchte sie anzuzünden. Mein Blick fiel auf die vielen Streichholzschachteln im Regal. Ein Lichtblick, dachte ich. In Kopenhagen waren Streichhölzer im letzten Jahr Mangelware geworden, und ja, ich rede darum herum. Ich habe das nie jemandem erzählt, nicht einmal meinem besten Freund, Ambrosius, deshalb weiß ich nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Das ist der Nachteil, wenn man Geheimnisse zu lange mit sich herumträgt, irgendwann gehen einem die Worte für sie aus.
Es geht um die ersten vier Jahre meines Lebens. Ich weiß sehr wohl, dass ich geschrieben habe, gut damit gelebt zu haben, nicht viel darüber zu wissen, und das sage ich auch gewöhnlich, wenn jemand sich erdreistet danach zu fragen. Doch die Wahrheit ist die, dass alles, was ich nicht über mich weiß, sich wie ein saugendes Loch in meinem Inneren anfühlt; wann ich Geburtstag habe, wer meine Eltern sind, inwieweit ich ihnen ähnlich sehe, was in den ersten Jahren meines Lebens passiert ist. Und hin und wieder, wenn ich direkt mit einer Familie oder auch nur den traurigen Resten davon konfrontiert werde, wächst das Loch, sodass ich kaum etwas anderes sehe. Selbst wenn die Familie so zweifelhaft ist wie Nellas.
Lassen Sie mich das etwas vertiefen. Nellas Großeltern, Horace und Clara, wohnten, verstehe es wer kann, auch hier auf Liljenholm, und eines Abends im Jahr 1898 saßen sie aufrecht in ihrem Ehebett und starrten in die leere Ecke neben dem Fenster. Doch sie sahen nichts. Nicht mehr. Sie waren nämlich mausetot, und soweit man weiß, haben Antonia und ihre Zwillingsschwester Lily sie gefunden. Was zwei vierzehnjährige Mädchen zu dieser Abendstunde im Schlafzimmer ihrer Eltern zu suchen hatten, kann man nur mutmaßen, doch die offizielle Todesursache hieß jedenfalls Selbstmord. Liljenholm war zu diesem Zeitpunkt hoch verschuldet, sodass man berechtigterweise davon ausging, dass Horace und Clara lieber sterben als ihre alten Tage im Armenhaus verbringen wollten. Oder einige zumindest sind davon ausgegangen, denn schon damals tuschelte man über die Gespenster auf Liljenholm und darüber, dass Horace und Clara sich deren Unmut zugezogen haben könnten, indem sie versucht hatten, sie aus den Türmen zu vertreiben. Zur Strafe hätten die Gespenster ihre Seelen aus den Körpern der beiden Liljenholmer gezerrt, hieß es. Jetzt waren sie mit all den anderen vereint, die vor ihrer Zeit gestorben waren.
Horaces und Claras viel zu früher Tod war übrigens weder der erste noch der letzte in der Familie Liljenholm, und so gesehen hatte die Ihnen bereits bekannte Madame Rosencrantz auf ihre Weise recht. Alle Generationen der Liljenholmer bekamen tatsächlich Zwillinge, und einer von ihnen war tatsächlich verrückt und beging Selbstmord. Horace hatte zum Beispiel eine Zwillingsschwester, die Hortensia hieß und sich schon als Vierzehnjährige das Leben nahm. 1850. Da sprang sie aus einem der großen Fenster und landete direkt im Rosenbeet. Und viele Jahre später sprang Antonias Zwillingsschwester Lily auch dort hinunter. Es gibt nicht ein Foto von ihr, weil sie all ihre Bilder höchstpersönlich aus den Fotoalben herausgerissen hat, bevor sie in den Tod sprang. Doch angeblich war sie weder so schön noch so charmant wie Antonia, und außerdem hatte sie weitaus weniger Glück. In einer feinen Familie wie der Liljenholmer erbte die Erstgeborene alles, den Titel und die Schlüssel zu Speisekammer, Truhen und Türen. Und die Erstgeborene war nicht Lily. Die Erstgeborene war Antonia.
Während Lily ledig blieb, verlobte sich Antonia mit ihrer großen Liebe, Simon, und heiratete ihn später. Von ihm gibt es auf Liljenholm ebenfalls keine Fotografien, denn als Lily erst einmal dabei war, die Liljenholmer Fotosammlung zu malträtieren, hat sie auch ihn aus der Familie herausgerissen. Er und Lily und Antonia haben viele Jahre zusammen auf dem Gut gewohnt (mit begrenztem Erfolg, wie Sie wohl ahnen) und von dem Einkommen aus Antonias Büchern gelebt. Nella wurde in dieser Zeit geboren, sie war sechs Jahre alt, als Lily starb. Und dann war da noch die Verwalterin ...
»Wie hieß sie noch mal, diese Verwalterin?«
Nella war es endlich gelungen, die Holzscheite anzuzünden, doch das Loch im Schornstein war mit Sicherheit seit Längerem nicht mehr gereinigt worden. Ich musste husten.
»Meinst du Laurits?«
Richtig. Fräulein Lauritsen, so hieß sie. Sie war schon viele Jahre zuvor eingestellt worden, und zu ihren zahlreichen Qualitäten gehörte es angeblich auch, über spezielle Fähigkeiten zu verfügen. Sie konnte mit den Toten reden, und sie tat es auch. Außerdem war sie Haushälterin, Kindermädchen und nach Horaces und Claras Tod schließlich Mutter der Zwillinge. Diese Funktion übernahm sie später auch Nella gegenüber, denn als Sechsjährige verlor Nella nicht nur ihre Tante Lily, sondern auch ihren Vater und in gewisser Weise ihre Mutter.
Simon löste sich nämlich ungefähr zur gleichen Zeit wie Lily in Luft auf. Oder genauer gesagt im Wasser, da er angeblich bei einer Angeltour verschwand, sodass man davon ausgehen konnte, dass er ertrunken war. Dass Antonia um den Verlust ihres geliebten Mannes und ihrer Schwester trauerte, war offensichtlich. Jedenfalls für alle bis auf die rührige Madame Rosencrantz, die behauptete, dass der ritterliche Simon und die menschenscheue Lily in Wirklichkeit jahrelang eine Affäre gehabt hätten und dass Antonia in einem Anfall von verschmähten Gefühlen und reinem Wahnsinn ihre Schwester in den Tod gestoßen und Simon umgebracht und an einer unbekannten Stelle im Park begraben habe. Aber ich verbreite keine Klatschgeschichten, lassen Sie mich also bei den Fakten bleiben, die so aussehen, dass Antonia auf den offiziellen Bildern plötzlich erheblich älter aussah. Ihre Augen blickten traurig, die Züge waren angespannt, und immer öfter verschanzte sie sich in ihrem Arbeitszimmer, um zu schreiben. So wuchs Nella mit Fräulein Lauritsen als ihrer nächsten Vertrauten auf, und als diese 1926 starb, zog Nella zu Hause aus. Erst zehn Jahre später, in Verbindung mit Antonias Tod, kehrte sie zurück.
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München.
Vor fünf Jahren waren wir das letzte Mal hier gewesen, und während unserer Abwesenheit war das Gut wie ein buckliger Greis in sich zusammengesunken. Oder vielleicht war es auch nur die Wildnis, die sich ausgebreitet hatte. Einige Gewächse lagen jetzt in der Dämmerung auf der Lauer, kletterten die dunkelroten Mauern hinauf und verdeckten den größten Teil des Eingangsbereichs. Das Loch inmitten dieser Wildnis, wo die Haustür sein musste, glich jedoch etwas Anderem, Bedeutsamerem als einem Loch. Es glich ... ja, ich weiß nicht recht, wie ich das erklären soll. Aber stellen Sie sich vor, Sie öffnen ein altes, dickes Buch, das Sie noch einmal lesen wollen. Nichtsahnend blättern Sie ein paar Seiten um, das Papier knistert, und natürlich erwarten Sie, dass die Geschichte, die Sie kennen, beginnt. Vielleicht steht dort sogar Kapitel 1, doch darunter ist nur ein Loch, so groß wie eine Faust, das sich durch alle Seiten bohrt, sodass nur noch halbe, verkrüppelte Sätze übrig sind. So hat es sich angefühlt, als ich Liljenholm erblickte. Selbst als ich näher herantrat, sah ich statt des Eingangs nichts als die beunruhigende Dunkelheit.
»Liljenholm ist nicht gerade mit Anmut gealtert«, stellte ich fest, nur um etwas zu sagen, das wieder Normalität schaffte. Nella hatte das Loch bereits fast erreicht. Flankiert von zwei mit Moos bewachsenen Steinlöwen, die mit gebleckten Zähnen auf ihren Hinterbeinen standen. Ich erinnerte mich schwach, sie schon einmal gesehen zu haben.
»Nein, hast du das erwartet?«, fragte sie und tätschelte zerstreut einen der Löwen. Den rechten, der die Hälfte seiner perückenähnlichen Mähne durch einen geraden Schnitt vom Scheitel bis zur Mitte seines muskulösen Rückens verloren hatte. Ihr Selbstbewusstsein überraschte mich, obwohl es das genau genommen nicht hätte tun sollen. Schließlich hatte sie, und nicht ich, ihre gesamte Kindheit hier verbracht. Achtzehn lange Jahre, zusammen mit ihrer Mutter, Antonia von Liljenholm.
Sie kennen den Namen? Ich hoffe es. Ungeachtet, was man sonst von Antonia halten mochte, war sie bis zum Zweiten Weltkrieg Dänemarks führende Autorin von Schauerromanzen, doch die Zeit ist mit ihrem Andenken nicht sanft umgegangen. Selbst die bedeutendsten ihrer 32 Romane sind mittlerweile in Vergessenheit geraten, und falls das auch auf ihre Lebensgeschichte zutreffen sollte, ist es wohl an mir zu erwähnen, dass alle in ihrem Umfeld gestorben oder verschwunden (oder wie in Nellas Fall nach Kopenhagen geflüchtet) sind, sodass Antonia die letzten zehn Jahre ihres Lebens ganz alleine auf dem Gut hier verbracht hatte. Sie starb im Alter von 52 Jahren an Krebs. 1936.
»Man muss sich einmal vorstellen, dass sie das ausgehalten hat, hier alleine zu wohnen«, rief ich genau in dem Augenblick, in dem der Umriss der Haustür sichtbar wurde und Nella den Schlüssel ins Schloss steckte und dreimal umdrehte. Wir waren einzig und alleine hier, um Ordnung in die von Antonia hinterlassenen Papiere zu bringen und die Erbstücke in Augenschein zu nehmen, bevor das Gut verkauft werden und unsere Zukunft beginnen sollte. Nun ja, Nellas Zukunft, um genau zu sein. Ich war nur hier, um Nella Gesellschaft zu leisten und zur Hand zu gehen, wo ich konnte. Ihre ungewichtige Begleiterin könnte man mich auch nennen, obwohl es angesichts meiner Erscheinung passender gewesen wäre, mich ihre gewichtige Begleiterin zu nennen. Nella drehte den Kopf und fing meinen Blick ein. Ihr Gesicht war gefühllos wie ein frischgebügeltes Laken.
»Bist du bereit?«, fragte sie und stieß die Tür auf, die sich mit einem ergebenen Seufzer fügte. Ich gehe einmal davon aus, dass ich Ja gesagt habe. Doch ich war nicht im Mindesten bereit. Selbst heute, nachdem so viele Jahre vergangen sind, dass das Ganze genauso gut erfunden sein könnte, spüre ich ein starkes, prickelndes Unbehagen bei dem Gedanken an den Moment, in dem ich über die Türschwelle trat. Alles, was mir bekannt und vertraut war, verschwand hinter mir, ohne dass ich mir dessen bewusst war. Alles, was ich war, wurde plötzlich in Frage gestellt, und ich weiß nicht einmal, was mich am meisten beunruhigt: dass es passiert ist oder dass es genauso gut nicht hätte passieren können.
Denn ich kam nie wieder fort von Liljenholm. Das ist die kurze Geschichte. Und die lange? Die erzähle ich Ihnen natürlich, wenn ich dieses Vorwort zu Ende geschrieben habe. Doch ich möchte noch einen Augenblick warten, bis ich das Wort an die wesentlich jüngere Ausgabe meiner selbst übergebe. An sie, die alles, was in diesem Winter auf Liljenholm passiert ist, und alles, was dem vorausging, aufgeschrieben und das Ergebnis dann 1943 als Roman herausgebracht hat, Das Turmzimmer. Unter dem wenig passenden Pseudonym
A. von Liljenholm übrigens. Doch bevor ich mich ganz in der Vergangenheit verliere, muss ich darauf aufmerksam machen, dass ich dieses Vorwort nicht ganz freiwillig schreibe. Eigentlich verstehe ich nicht, warum ein Buch wie Das Turmzimmer überhaupt ein Vorwort braucht, doch meine Verlegerin ist da offenbar anderer Meinung. Bella heißt sie. Sie ist Nellas Tochter, und ich habe sonst nie große Probleme damit, Nein zu sagen, doch ich kann unmöglich einem Menschen etwas abschlagen, der Nella so sehr gleicht. Meiner Nella. Das macht die Liebe mit einem. Bella kam neulich auf Liljenholm vorbei und küsste mich auf die Wange, wie sie das immer tut. Sie ist die reinste Augenweide mit ihren langen Gliedmaßen und ihrem sonnengebleichten Haar, das um ihr Gesicht schwingt. Ein wenig wie diese modernen Staubwedel, mit denen meine neue, junge Haushälterin herumeilt, aber natürlich schöner. Was Bellas Kleidung angeht, bin ich mir nicht so sicher, doch sie behauptet, dass kurze Röcke modern sind, und das wird schon stimmen. Ich selbst habe nie das Privileg genossen, mit meiner Zeit im Einklang zu sein, sodass ich mir kein Urteil anmaßen will.
»Der Verlag hat beschlossen, Das Turmzimmer in einer neuen Schmuckausgabe herauszubringen. Du weißt schon, mit allem Drum und Dran, mit Schutzumschlag und so«, sagte sie.
»Zu welchem Anlass, meine Liebe?«, fragte ich, und erlauben Sie mir den Kommentar, dass es dieses Buch doch wohl mehr als verdient hat, nicht nur anlässlich eines albernen Gedenktags neu aufgelegt zu werden.
»Das Turmzimmer ist schließlich vor genau dreißig Jahren zum ersten Mal erschienen, hast du das vergessen?«
»Was du nicht sagst!«
Ich bin auf meine alten Tage so zynisch geworden, sagt meine Freundin und Privatsekretärin Marguerite. Doch das liegt einzig und alleine daran, dass ich es nicht mehr so gut verbergen kann. Selbst wenn das Leben tut, was immer es kann, um sich zu verkleiden, wiederholt sich im Grunde genommen doch alles nur immer wieder, und wenn man die 75 erreicht hat, werden die Zeitspannen zwischen den Überraschungen allmählich furchtbar lang. Doch Bella zog eine für mich aus dem Ärmel.
»Ich weiß sehr wohl, dass du es hassen wirst«, sagte sie und fing meinen Blick ein. »Aber es war Nellas letzter Wunsch, dass du ein Vorwort schreibst, wenn ausreichend Zeit verstrichen ist. So hat sie es formuliert.«
»Was für ein Unsinn!«
Bella hob die Hand auf genau die gleiche Weise, wie Nella es immer getan hatte, wenn sie sich Gehör verschaffen wollte. Ich musste kurz wegsehen, um die Fassung wiederzugewinnen.
»Das Turmzimmer hat Mutter schließlich genauso viel bedeutet wie dir«, sagte sie eindringlich. »Sie hat sich wirklich gewünscht, dass du die Geschichte bis heute zu Ende erzählst.«
In diesem Augenblick trat Marguerite in mein Arbeitszimmer. Unser alter Hütehund, Simo der Dritte, folgte ihr auf den Fersen. Sie stellte zwei Tassen mit schwarzem Kaffee und einen steifen Whisky auf den kleinen Beistelltisch, den ich mir an meinem Schreibtisch habe anbringen lassen, und ich musste es mir verkneifen, ihr frischblondiertes Haar anzustarren. Es mag gut sein, dass ihr Frisör die Farbe als hellen Kornton bezeichnet, doch das Ergebnis sieht seltsam aus. Und gedrungen. Als hätte ihr jemand einen zerknüllten Hut auf den Kopf gesetzt.
»Ich bringe euch etwas zur Stärkung«, sagte sie und sah Bella vielsagend an, die ihren Blick besorgt erwiderte. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als wenn die Leute über meinen Kopf hinweg reden. Obwohl meine Entscheidungen hin und wieder zwar fragwürdig waren, lege ich großen Wert darauf, über das, was mich betrifft, selbst zu bestimmen. Vielleicht weil ich von ganz unten komme. Aus dem Kinderheim. Aber Sie kennen meine Lebensgeschichte wohl bereits? Ich nähre diese eitle Hoffnung, das kann ich nicht verbergen. Über viele Jahre hinweg habe ich mich unter anderem als armselige Sekretärin über die Runden gebracht, mit einem Vorstrafenregister so lang wie die Psalmenreihe am Sonntag. Die Jahre dürften es wohl inzwischen reingewaschen haben, das Vorstrafenregister. Doch ich bezweifle, dass das mit meinem Gewissen jemals geschehen wird. Wie eine kluge Frau mir einst geschrieben hat: Wenn man erst einmal angefangen hat, im falschen Takt zu tanzen, wird man den richtigen nie mehr finden. Wie recht sie doch hatte. Falsche Entscheidungen haben die Angewohnheit, sich zu vermehren, erst im Leben und dann im Kopf. Doch eine gute Entscheidung habe ich seinerzeit getroffen: Ich habe dieses Buch geschrieben.
Neulich, als Bella mit der Idee für dieses Vorwort kam, hat sie noch etwas anderes gesagt, das mir wichtig erschien. Sie hat gesagt: »Du brauchst gar nicht erst zu behaupten, dass Das Turmzimmer ein abgeschlossenes Kapitel deines Lebens ist, denn wir wissen schließlich beide, dass das nicht stimmt.«
Und wie recht sie damit hat! Wenn man sein Leben erst einmal vor den Lesern weltweit ausgebreitet hat, ist nichts abgeschlossen, ganz im Gegenteil. Es ist wie ein aufgeschlagenes Buch, und hin und wieder war schon allein das unerträglich. Nur noch übertroffen von den unverblümten Meinungen bestimmter Personen. In Das Turmzimmer distanziere ich mich nicht ausreichend vom Nationalsozialismus, meinten sie mit der Empörung der im Nachhinein Klugen auf ihrer Seite. Was war eigentlich mit dem Krieg? Hat er sich oder hat er sich nicht direkt vor den Mauern von Liljenholm abgespielt? Ich hätte alles weniger geschnörkelt aufbauen, von etwas anderem schreiben sollen, hätte weniger Effekte einsetzen und anstelle der ganzen frustrierten Weiber mehr Männer porträtieren müssen. Was sollte der ganze Wahnsinn überhaupt, ganz zu schweigen von all den Perversionen, mit denen konfrontiert zu werden wir nicht gebeten haben. Man stelle sich einmal vor, dass ein Kritiker das tatsächlich einmal geschrieben hat, als würde er es ernsthaft vorziehen, dass sie stattdessen unter der Oberfläche brodelten. Aber trotzdem verkaufte sich das Buch ausgezeichnet, sowohl während als auch nach dem Krieg.
Es gab Höhen und Tiefen, und es gab Vorwürfe. Alles andere wäre in Anbetracht dessen, wie kontrovers die Geschichte schließlich geworden ist, auch seltsam gewesen. Man soll zwar nicht für die Toten sprechen, doch nichtsdestotrotz mache ich eine Ausnahme. Denn ich zweifle nicht einen Moment daran, dass Das Turmzimmer mir und Nella die besten Jahre unseres Lebens beschert hat. Ich war die Autorin, Nella die Herausgeberin. Näher bin ich einer glücklichen Beziehung nie gekommen.
Ich möchte noch etwas sagen, aber ich weiß nicht, wie. Was das angeht, wird das Schreiben nie zur Routine werden. Immer gibt es etwas, von dem man nicht weiß, wie man es formulieren soll. Jedenfalls geht es um die Nächte, wenn sich Marguerite, mögliche Gäste von ihr und meine Haushälterin längst zur Ruhe begeben haben. In der Regel sitze ich dort, wo ich auch jetzt sitze, und wo Antonia vor mir gesessen hat, an dem alten Schreibtisch im Arbeitszimmer, unten im Turm, mit Aussicht auf den Park. Ohne Vorwarnung dringt mit einem Mal die Dunkelheit in meine Poren. Die ächzenden Laute suchen sich ihren Weg direkt in meine Blutbahn. Innerhalb von Sekunden merke ich, dass ich zittere, und nach und nach kommen die Gedanken angeschlichen. Dass ich bei allem Wichtigen immer zu spät gekommen bin und mir das erst sehr viel später klar geworden ist. Dass alles Mögliche mich daran gehindert hat, glücklich zu sein, und ich nicht einmal sagen kann, was das Schlimmste davon war. Dass ich auf eine glänzende Karriere als Autorin zurückblicken kann und mir trotzdem geplündert vorkomme wie ein alter Kleiderbügel. Ich habe auf zu viel verzichtet und zu wenig bekommen, so fühlt es sich an.
Zwölf Romane habe ich auf die Welt gebracht, Millionen von Wörtern geschrieben, und doch ist es mir nie gelungen, Nella zu sagen, dass sie mir sehr viel mehr bedeutet hat als alle Worte zusammen. Es ist nicht schön, das erkennen zu müssen, doch zum jetzigen Zeitpunkt bin ich wahrscheinlich wichtiger für mich als für andere. Marguerite natürlich ausgenommen. Und Bella vielleicht.
»Du vergisst nicht, von der Fotografie zu erzählen, ja?«, sagte sie von der Tür aus, kurz bevor sie ihr helles Haar schwang. Wenn es eine Sache gibt, die ich hasse, sind das Leute, die es sich anmaßen, mir zu sagen, was ich erzählen soll und was nicht. Doch ich will eine Ausnahme machen, da sie zufälligerweise recht hat. Im Gegensatz zu Antonia von Liljenholm, die meistens mitten in irgendeiner Gruppe und damit mitten auf irgendeiner Fotografie zu sehen war, habe ich ein besonderes Talent, außerhalb des Rahmens zu stehen. Entweder, weil ich aus freien Stücken hier gesessen und auf die Tasten meiner inzwischen total antiken Underwood eingehackt habe, oder weil es mir einfach zur Gewohnheit geworden ist, einen Schritt von der Menge zurückzutreten.
Die Fotografen haben sich auch kein Bein ausgerissen, mich mit der Kamera einzufangen, muss ich gestehen. Doch so ist das wohl, wenn das Äußere nicht den Konventionen entspricht. Wie dem auch sei, mich hat das nie ernsthaft gekümmert. Doch wenn ich jetzt hier sitze, ärgert es mich, dass ich sie nicht mit einer einzigen Fotografie von mir bereichern konnte. Nicht einmal von dem unbestrittenen Höhepunkt meiner Karriere. Denn der ist mit Sicherheit zur Genüge verewigt worden, auch wenn ich nicht auf einem einzigen Bild zu sehen bin. Unbestreitbar sieht niemand so aus, als würde er auch nur ahnen, dass ich überhaupt anwesend war, was mich jedoch nicht daran hindern soll, es hier zu erwähnen.
Vielleicht kennen Sie die bekannte Fotografie von 1959. Damals hatte meine inzwischen verstorbene Freundin Lula, besser bekannt als die Autorin Carson McCullers, die Baronesse Karen Blixen eingeladen, um die Bekanntschaft von Marilyn Monroe und Arthur Miller zu machen. Sie sitzen an Lulas Marmortisch und prosten sich mit Champagner zu, während sie auf ihre Austern warten, und mitten auf dem Tisch steht eine Schale mit Trauben. Ich erwähne die Schale deshalb, weil ich links davon sitze. Außerhalb des Bildes, getreu meiner Gewohnheit, und niemand scheint mit mir anzustoßen. Arthur sieht die Baronesse an, Marilyn ebenfalls, und wo Lula hinsieht, weiß ich nicht. Dafür sieht sie mich auf einer der anderen Fotografien, auf der sie, die Baronesse und Marilyn allein zu sehen sind, direkt an. »Komm doch zu uns herüber!«, sagt ihr Blick, und ich weiß wirklich nicht, warum ich es nicht getan habe, doch ich gehe einmal davon aus, dass ich einfach so bin. Wenn ich soll, will ich nicht. Selbst wenn eine Schönheit wie Marilyn Monroe mit ihrem reizenden Dekolleté und dem Duft von Chanel N°5 sich zu mir hinüberbeugt.
Das Merkwürdigste am Altwerden ist, dass ich immer häufiger Tagträumen nachhänge. Von Situationen, die endgültig vorbei oder nie eingetreten sind, von Nella und Marilyn und den Hofbällen, die ich gehasst habe. Vielleicht bin ich einfach ein Mensch, der besser im Kopf als in der Wirklichkeit lebt. Der Gedanke ist mir vor allem deshalb gekommen, weil die Wirklichkeit immer unwichtiger für mich wird. Früher fühlte ich mich wochenlang geschmeichelt, wenn ich von meinen Lesern begeisterte Briefe erhielt, heute lese ich sie nicht einmal mehr. Marguerite liest sie, glaube ich. Sie kümmert sich um meine Korrespondenz und um eine ganze Reihe anderer Dinge, und ich möchte die Gelegenheit nutzen, mich bei ihr zu bedanken. Wir kennen uns seit fünfzig Jahren, und das, Marguerite, meine allerliebste Freundin, ist nicht ein Jahr zu viel. Du tust es als unwichtig ab, wenn ich dir das sage. Aber nie bin ich dankbarer für etwas gewesen als dafür, dass du 1943, als ich so unglücklich war wie noch nie zuvor in meinem Leben, eingewilligt hast, nach Liljenholm zu ziehen. Weil du gekommen bist, bin ich geblieben. Ich mag gar nicht daran denken, wo ich sonst heute wäre.
1947, als die erste überarbeitete Auflage von Das Turmzimmer herauskam, wurde ich aufgefordert, das Buch den Lebenden zu widmen, doch ich habe es nicht getan. Ich habe es den Toten gewidmet, und dabei bleibt es. Ich vermisse dich zutiefst, Nella. Alles, was ich im Folgenden zu Papier gebracht habe, ist dir gewidmet, aus ganzem Herzen.
November 1941
Die Ankunft
Obwohl ich erst zum zweiten Mal in meinem Leben nach Liljenholm kam, musste ich tief Luft holen, bevor ich an diesem späten Nachmittag des Jahres 1941 über die Türschwelle trat. Als Erstes zündete ich eine goldene Lampe an, die sich einen Moment darauf zu leuchten entschloss. Der Koffer gab einen dumpfen Laut von sich, als ich ihn neben Nellas abstellte. Aufrecht wie immer stand sie in der stattlichen Halle. Ihre Hände bändigten schnell ein paar aus der Hochsteckfrisur auf Abwege geratene Korkenzieherlocken, und ich erahnte die mir nur zu gut bekannte Mischung aus Leichtigkeit und Konzentration auf ihrem leicht rundlichen Gesicht. Ich konnte nicht genug bekommen von dieser Mischung, kann es immer noch nicht, doch in diesem Augenblick sollte sie etwas anderes verbergen, dachte ich. Das Gut wirkte im ersten Moment zwar friedlich, doch ich spürte deutlich, dass dem bei Weitem nicht so war.
Nella war hier aufgewachsen, doch sie sprach nur selten über ihre Vergangenheit. Das tat keine von uns, denn Nella vertrat die feste Meinung, dass sie dort, wo sie war, am besten aufgehoben sei. Nämlich hinter uns. Ich wusste jedoch genau, dass sie hier mehr Unglück erlebt hatte, als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben auch nur annähernd erfahren, und trotzdem lächelte sie jetzt. Scheinbar ohne zu merken, dass es auf Liljenholm so still war, dass der Eindruck entstehen konnte, die alten Räume um uns würden sich gegenseitig zum Schweigen auffordern.
»Alles sieht doch wie immer aus«, sagte sie, und es fiel mir schwer zu glauben, dass wir das Gleiche sahen. Das Zimmer war etwas zu gelb tapeziert, sonnengelb dürfte die korrekte Bezeichnung sein, und auf den Kacheln im Rautenmuster, die den Boden bedeckten, mischten sich Glasscherben und zerbrochene Spiegelrahmen in einem bunten Durcheinander. Als hätte eine unsichtbare Hand das Zimmer zehn Meter hoch in die Luft gehoben und aus Spaß fallen lassen, kam mir der Gedanke. Selbst das Geländer der stattlichen Treppe rechts war zertrümmert, bis zur Unkenntlichkeit zerhackt und verschrammt, und ich kam nicht umhin, an das letzte Mal zu denken, als ich hier gewesen war. Vor fünf Jahren. Auf dem Weg die Treppe hinauf, mit Nella dicht auf den Fersen und dem einzigen Gedanken im Kopf: Ist es zu spät? Ist es meine Schuld? Jetzt räusperte sie sich.
»Kannst du nicht die Haustür hinter dir schließen? Hier ist es eiskalt.«
Sie hatte recht. Die Kälte schlich sich durch alle Ritzen, und doch schwitzte ich, als die Tür sich mit einem Seufzer schloss. Ich hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, von Angst übermannt zu werden. Nicht damit zu schwitzen, diesmal wieder. Genau genommen kann man wohl sagen, dass meine Vorbereitung fehlgeschlagen war, und das passierte nur äußerst selten. In einem meiner früheren Berufe galt es, genau zu wissen, was auf einen zukam, und damit habe ich hoffentlich nicht zu viel verraten. Ich versuchte, den Blick auf die durch einen Wasserschaden verunstaltete Decke zu richten, die sich hoch über unseren Häuptern wölbte. Höher und höher, als würde sie dort oben herumschweben. Anschließend knöpfte ich meinen riesigen, unbequemen Lodenmantel auf, zog meinen Hosenanzug zurecht und suchte nach einem freien Bügel. Die Garderobe an der Tür erwies sich merkwürdigerweise als unbeschädigt, und es hing eine lange Reihe dunkler Mäntel daran. Sie hingen Schulter an Schulter. Mein Herz stach wie ein umgestülptes Nadelkissen.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«, fragte Nella, und ich hustete so laut, dass es hallte. Zu laut möglicherweise.
»Mir geht es gut. Schließlich hat mich niemand gezwungen, hier herauszukommen, nicht?«
Das stimmte. Obwohl man es nicht glauben sollte, hatte ich mich aus völlig freien Stücken entschlossen, Nella zu begleiten. Der Anlass war schlicht und einfach der, dass plötzlich ein uns unbekannter Käufer für Liljenholm aufgetaucht war. Hans Nielsen hieß er, und er wusste, wie er sich auszudrücken hatte: Wenn Nella von Liljenholm nicht die Absicht besäße, in Zukunft das Gut zu bewohnen, wäre er sehr an einem Kauf interessiert, gerne vollständig möbliert und natürlich für eine stattliche Summe. Könnte das geehrte Fräulein sein Ansinnen wohl überdenken?
Meiner unwichtigen Meinung nach gab es da nicht viel zu überdenken. Liljenholm stand leer, seit Nellas Mutter, die große Autorin Antonia von Liljenholm, vor fünf Jahren gestorben war und Nella als ihre einzige Tochter alles geerbt hatte. Doch bis jetzt hatte sie sich geweigert zurückzukehren, was jeder Logik widersprach, wie ich gedacht hatte. Bis ich selbst hier stand, mich an meinem Mantel zu schaffen machte und wie eine Wahnsinnige schwitzte. Genau genommen hätte Nella schon lange Ordnung in Antonias persönliche Papiere und hinterlassene Manuskripte bringen und die wertvollsten Möbel zum Verkauf anbieten müssen. Wenn aus keinem anderen Grund, dann aus dem, dass Nellas ansonsten vorzüglicher Verlag langsam der Pleite entgegenging. Es gab keinen Grund, zusammen mit den Kirchenratten und mir zu enden, wenn man dem entgehen konnte. Ich hatte gerade zum Gott weiß wievielten Mal meine Arbeit als Sekretärin verloren, was nicht an meinen Qualifikationen lag. Das zu schreiben gebietet mir mein Stolz. Ich war immer die Beste, auch darin, gekündigt zu werden, und mein Aussehen und Auftreten trugen zweifellos einen Teil der Schuld. Ich sah einfach nicht so aus und verhielt mich nicht so, wie man es von einer Sekretärin erwartete.
Doch genug davon. Jetzt waren wir endlich hier, und Nellas einzige Aufgabe bestand darin, Liljenholm so schnell wie möglich verkaufsfertig zu machen. Und meine Aufgabe? Tja, es mag gut sein, dass ich altmodisch bin, doch in meiner Welt sollte eine jüngere, unverheiratete Frau sich nicht alleine auf einem verlassenen Gut aufhalten, schon gar nicht mehrere Tage und Nächte lang, und deshalb hatte ich beschlossen, mitzufahren und ihr nach bestem Vermögen zu helfen. Man ist schließlich galant, auch wenn Nella wirklich getan hatte, was sie konnte, um mir das auszureden. Sie schaffe das Ganze leicht alleine, hatte sie betont. Es bestand nicht der geringste Grund, dass ich mein letztes Erspartes für eine Zugfahrkarte ausgab, und wenn ich Ihnen gegenüber, lieber Leser, von Anfang an ehrlich sein soll, habe ich ihr auch nicht nur um ihrer schönen Augen willen geholfen. Ich habe ihr geholfen, weil ihr Blick immer hart und dunkel wurde, wenn ich Liljenholm auch nur erwähnte, und das hat mich neugierig gemacht, das kann ich genauso gut zugeben. Ich wollte wissen, warum.
Nella musste mich etwas gefragt haben, und ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen, wartete sie schon eine ganze Weile auf eine Antwort. Schnell griff ich nach ein paar freien Bügeln zwischen den ganzen Mänteln. Sie rochen noch immer nach Antonias schwerem, orientalischem Parfüm, stellte ich fest, und das sagte ich auch. Nella schnupperte.
»Was schlägst du vor?«, fragte sie, und ich hätte gerne gesagt, dass ich vorschlug, umzukehren und nach Hause zu fahren. Es half nicht, dass mein Mantel jetzt auf einem Bügel hing und ich objektiv betrachtet zu dünn angezogen war. Ich schwitzte noch immer stark, und der alkoholgeschwängerte Parfümgeruch brannte in meiner Nase und setzte sich in meiner Kehle fest, sodass ich hustete, statt zu antworten. Nella nickte.
»Gut, dann drehen wir eine Runde durch mein altes Elternhaus, bevor wir auspacken«, sagte sie und blickte zu dem halbkreisförmigen Fenster über der Tür hoch, dessen Farbe in diesem Moment von hellgrau zu dunkelgrau wechselte.
»Das schaffen wir gut, bevor es dunkel wird, meinst du nicht?«
Heute Nacht sollte es Schnee geben, möglicherweise sogar einen Schneesturm. Den Wind hatten wir jedenfalls den ganzen Weg vom Bahnhof bis hier heraus wie eine kalte Hand im Nacken gespürt. Ich blickte mich um. Auf allem lag eine versöhnliche Schicht Staub, die davon zeugte, dass die Zerstörungen nicht neueren Datums waren. Was ich übrigens sehr wohl wusste. Zu den Zerstörungen war es bei unserem letzten Besuch gekommen, und mein Herz beruhigte sich ein wenig. Schließlich gab es nichts, wovor man Angst haben musste, nicht mehr, ich brauchte nur zu helfen, nett zu sein und die Dinge zu regeln, dann waren wir bald wieder in Kopenhagen, wo wir hingehörten.
»Worauf warten wir dann noch?«, fragte ich, und Nella drückte leicht meine Schulter.
»Auf dich«, sagte sie und knöpfte mit flinken Fingern ihren Mantel auf. Eins dieser kunstvollen Kleidungsstücke mit stoffbezogenen Knöpfen. Aus der Zeit vor dem Krieg, natürlich. Nella zog ihn nur bei besonderen Gelegenheiten an. Darunter trug sie ihre dickste Wolljacke. Gut, dass zumindest eine von uns wusste, was es hieß, Liljenholm im Winterhalbjahr einen Besuch abzustatten.
»Sollen wir?«
Sie glich einer Figur aus einem schlechten Stummfilm, als sie über die vertrauten Fliesen ging, scheinbar ohne besondere Notiz von den Scherben zu nehmen. Jemand hatte die Kulisse zerstört, und trotzdem spielte sie die Rolle der heimgekehrten Tochter, die mit ein paar schnellen Schritten zu dem ersten der Zimmer hochging, die Schulter gegen die Tür stemmte, alle Kraft in die Bewegung legte. Die Tür in dem gewölbten Eingang gab einen klagenden Laut von sich und ging auf.
»Machst du die Wandleuchte bitte aus? Wir wollen doch nicht, dass uns das E-Werk gerade jetzt den Strom abschaltet «, sagte sie über die Schulter. Normalerweise lasse ich mich von anderen Frauen, die zehn Jahre jünger sind als ich, nicht herumkommandieren. Doch ich machte eine Ausnahme und schaltete die Wandleuchte aus. Der Anblick der Wand ließ meine Fingerspitzen kribbeln. Meine Hände streckten sich wie von selbst danach aus.
»Die Tapete draußen in der Halle, Nella?«
»Ja, was ist damit?«
Ihr Schatten fiel auf die gelbe Fläche, verzerrte sich leicht, doch man sah noch immer die langen, hellen Kratzspuren, die erschreckend deutlich an die Spuren auf Nellas Körper erinnerten. Sie hatte sie sowohl auf dem Rücken wie auch auf dem Bauch und den Beinen (wie man wohl ahnt, kennen wir einander ziemlich gut), doch an den Wänden waren noch erheblich mehr. Manche nur an der Oberfläche, während andere tiefer gingen, und die meisten verliefen in fünf parallelen Spuren, sodass man sich den Rest denken konnte. Meine Fingerspitzen folgten einem besonders tiefen Riss bis zu der offenstehenden Tür.
»Wer hat die Tapete abgerissen?«
Aus dem Vorzimmer, in das wir gerade traten, schien mir das Licht bleich entgegen. Nella lachte leicht.
»Oh, das haben mit der Zeit bestimmt viele«, sagte sie. Das Zimmer machte auf mich einen ruhigen Eindruck. Die dunklen Holzbohlen und der dickbäuchige Sekretär an der einen Wand waren ganz grau vor Staub, genau wie der längliche Tisch, der auf seinen geschnitzten Tierpfoten abwartend mitten im Raum stand. Worauf er wartete, wusste man nicht, doch mit ein paar Stühlen hätte er sicher besser ausgesehen.
»Ihr habt sie abgerissen?«
Nella war bereits bei den beiden Fenstern, die auf die Lindenallee hinausgingen. Sie nickte von dort.
»Ja, natürlich haben wir sie abgerissen.«
Und wer weiß, vielleicht war das in den besseren Kreisen auf Südseeland eine ganz normale Beschäftigung. Ich hatte mein ganzes miserables 43-jähriges Leben mitten in Kopenhagen verbracht und demnach wirklich keine Ahnung, womit man sich die Zeit auf einem Gut wie diesem vertrieb.
Darüber hinaus hatte man ganz offensichtlich versucht, seinen Gästen zu imponieren. Die Tapete in diesem Raum war mit goldenen Blumen übersät, der Stuck ähnelte einer hässlichen Kuchenverzierung (ich kann mir nichts Schlimmeres als Kuchen vorstellen), und mitten in etwas, das an eine kleinere Explosion von Stuckblumen erinnerte, hing ein überdimensionaler Kristallleuchter. Ich blinzelte, doch es bestand kein Zweifel. Die langen Glasprismen da oben schlugen zart gegeneinander, und eine Glaskugel schwang an einer reich dekorierten Kette spielerisch von einer Seite zur anderen. Nella zog den dicken, roten Gardinenstoff aus seinem Winterschlaf und inspizierte ihn.
»Aber du erkennst das Meiste wieder?«, sagte sie, scheinbar ohne eine Antwort zu erwarten, und das war bestimmt auch gut so. Als ich das letzte Mal hier gewesen war, war ich durch das Gut gestürmt, und wenn ich irgendetwas wiedererkannte, war es eher die Stimmung als ein bestimmter Raum. Das unverkennbare Gefühl, nicht willkommen zu sein und boshaft beäugt zu werden, als wäre man wieder zehn Jahre alt. Oder sogar noch jünger, in meinem Fall. Nella wickelte sich in den Gardinenstoff ein.
»Der reicht bestimmt für etliche neue Kleider, meinst du nicht?«
»Zweifellos.«
Wenn man nichts anderes und Besseres zu tun hatte, konnte man sich aus den Gardinen von Liljenholm mit Sicherheit eine ganze Garderobe nähen, aber es half weder sich herauszureden noch sie um sich zu drapieren. Der Raum scherte sich nicht das Mindeste um Besuch. Nella runzelte die Stirn, als ich das sagte.
»Liljenholm war eigentlich nie ein freundlicher Ort«, entgegnete sie. »Daran dürftest du dich doch erinnern?«
Doch in diesem Moment erinnerte ich mich nur an den haarsträubenden Tratsch, den ich über die Jahre über Liljenholm gehört oder gelesen hatte. Ohne ihn wirklich ernst zu nehmen. Von schlagenden Türen und ächzenden Lauten und Dingen, die verschwanden, nur um an den unwahrscheinlichsten Orten wiederaufzutauchen. Irgendeine Wahnsinnige mit dem fantasievollen Pseudonym Madame Rosencrantz hatte 1932 eine Schmähschrift verfasst. Die Königin der Gespenster hieß sie, und sie verkaufte sich weit über die Erwartungen hinaus, weil sie für sich in Anspruch nahm, die unheimlichen und blutigen Geheimnisse von Liljenholm und das dunkle Schicksal der Familie zu enthüllen. Ich will Sie jetzt nicht mit Details ermüden, sondern lediglich erwähnen, dass dieses dunkle Schicksal angeblich darin bestand, dass alle Generationen der Liljenholmer Zwillinge zur Welt brachten. Von denen einer ein wunderbares Leben führte, während der andere wahnsinnig wurde und sich das Leben nahm, um dann auf dem Gut herumzuspuken, wie es hieß. Und das versuchte ich zu verdrängen.
»Nur war die Situation letztes Mal ziemlich angespannt«, sagte ich so ruhig ich konnte. »Ich hatte wohl gehofft, dass heute alles anders wäre.«
Der Boden wölbte sich und knarrte. Vielleicht aus Verwunderung über die Schuhe, die über ihn liefen. Meine alten Herrenschuhe, Nellas hochhackige Stiefel.
»Wenn ich du wäre, würde ich diese Hoffnung die nächsten Tage aufgeben«, sagte sie trocken. Mit verschränkten Armen inspizierte sie den nächsten Raum.
»Aus diesem Grund wundert es mich ja auch, dass dieser Hans Nielsen so an einem Kauf interessiert ist«, fuhr sie fort. Wir hatten dieses Gespräch in den letzten Tagen bereits ein paarmal zu oft geführt. Nella, die meinte, dass die Leute hier so viel redeten, dass Herrn Nielsen die schlimmsten Gerüchte über Liljenholm wohl kaum entgangen sein konnten. Ich, die antwortete, dass dieser Hans Nielsen wohl einfach sein altes Leben hinter sich lassen wollte. Vielleicht liebte er die Natur, die alten Bäume im Park, und im Übrigen konnten uns seine Motive doch völlig egal sein, wenn er nur kaufen und bar zahlen würde.
Nella war einige Schritte weitergegangen. Der nächste Raum glich weitgehend dem vorigen. Den einzigen Unterschied machte eine Sitzgruppe vor den beiden Fenstern. Außer einem o-beinigen Sofatisch bestand sie aus einigen Sesseln und einer nicht gerade gelungenen Kreation aus Stuhl und Sofa.
»Eine bergère«, sagte Nella. »Hier hat Mutter also ihre Gäste empfangen.«
Dass dieser Raum einmal voller Leben gewesen sein sollte, konnte man sich heute fast nicht mehr vorstellen. Doch von 1905, als Antonia mit ihrem Debütroman Lady Nellas geschlossene Augen ihren großen Durchbruch hatte, bis zu Nellas Geburt drei Jahre später hatte Antonia angeblich ein reges soziales Leben geführt. Nella sagte bestimmt auch noch mehr dazu, doch mich beschäftigte einzig und allein die schleichende Dunkelheit, die uns umgab. Sie schien hier ausgeprägter, vielleicht weil ein paar hohe Bäume die Fenster überschatteten. Ich versuchte, Leben in eine verschämte Tischlampe zu knipsen, die auf einer Anrichte an einer der Wände stand. Vergebens. Hinter den Glastüren der Anrichte ruhte eine Sammlung alter Teller in Ständern. Mein Nacken knackte laut. Es war neu, dass er das tat, wenn ich den Kopf ruckartig nach hinten bog. Zweifellos ein Zeichen meines fortgeschrittenen Alters.
»Was war das für ein Geräusch?«
Nella verstummte. Erst jetzt wurde mir klar, dass sie die ganze Zeit geredet haben musste. Das Geräusch kehrte zurück. Es klang wie ein leichtes Klopfen oben vom Speicher, und Nella drehte sich halb zu mir um. Ihre schönen grünen Augen schienen plötzlich schwarz und warfen runde Schatten auf ihre Wangen.
»Es ist nur zu deinem eigenen Besten«, sagte sie. »Was immer du hörst oder siehst oder wahrnimmst, tu, als ob nichts geschehen sei. Das ist das Einzige, das hier auf Liljenholm hilft. Ich weiß, wovon ich rede.«
Im gleichen Moment strahlte uns der letzte Raum in einem toten, nadelgrünen Ton entgegen. Wie es schien, handelte es sich um ein Eckzimmer, das als Speisezimmer diente. Vorsichtig trat ich näher.
»Es wird nur schlimmer, wenn man danach fragt, ich spreche aus Erfahrung«, sagte sie schnell. Ich konnte die kleinen Härchen in ihrem Nacken sehen.
»Was ist denn passiert, wenn du gefragt hast?«
Sie bückte sich, um eine Handvoll hellblauer Scherben vom Boden aufzuheben, der mit dicken, geblümten Teppichen bedeckt war, die meisten in fleischfarbenen Tönen. Es musste traurig sein, den schlechten Geschmack anderer zu erben, doch Nella schien dem keinen Gedanken zu schenken.
»Dann habe ich so viel Prügel bekommen, dass ich nicht wieder gefragt habe«, sagte sie. Die Möbel im Raum schienen plötzlich zu groß. Ein Esstisch für mindestens zwanzig Personen, eine Anrichte mit unendlich viel Porzellan, mannshohe Porträts an den Wänden. Nella legte die Scherben weg.
»Nur ein Versehen, als ich letztes Mal hier war«, sagte sie. »Eine Bodenvase, die umgekippt ist.«
Ich konnte ihren dünnen Körper nur zu deutlich vor mir sehen. Hände, die sich wehrten. Die zarte Haut von Schlägen übersät, die schließlich zu den Narben geworden waren, die ich so gut kannte wie die Straßen von Kopenhagen.
»Es tut mir leid, dass ich so darauf gedrängt habe, dass wir hierhin zurückkommen«, sagte ich, und ich meinte es, wie ich nur selten etwas gemeint habe. Ich hatte im Grunde genommen gut damit leben können, nicht viel über Nellas erste Lebensjahre zu wissen, und so gesehen hatte ich auch gut damit leben können, nicht viel über meine eigenen zu wissen. Und was Nellas angespannte Finanzlage anging, konnte ich ihr durchaus mit meinen zwar nicht vortrefflichen, aber doch brauchbaren Kenntnissen zur Seite stehen. Nella ging zu einer geschlossenen Flügeltür und öffnete sie.
»Machen wir weiter«, sagte sie leichthin. »Wir müssen schließlich noch auspacken.«
Sofort erkannte ich den Geruch des Raums wieder. Den staubigen und zugleich würzigen Duft alter Bücher. Und als das Opalglas der Deckenleuchte in fünf kleinen Sonnenuntergängen erstrahlte, sah ich sie auch. Sie säumten in langen Reihen die Wände, Rücken an Rücken, vom Boden bis zur Decke, und lagen in hohen Stapeln neben einem tiefen Sofa, in dessen Füße Blätter geschnitzt waren. Der Brokatbezug war an einem Ende zerschlissen.
»Womit hat sie dich geschlagen?«, hörte ich mich fragen. »Denn es war doch wohl Antonia, die ...?«
Der verschwommene Umriss von Nellas Atem war deutlich zu sehen und bei genauerem Hinsehen auch meiner.
»Was? Ach so, in der Regel mit Eisenbügeln.« Sie sah mich verwundert an. »Aber das ist nicht so oft passiert, du brauchst dich nicht aufzuregen.«
Sie ging zu dem einzigen Stück Wand, das nicht mit Büchern zugestellt war, und blieb vor einem prunkvollen Porträt in einem noch prunkvolleren Rahmen stehen.
»Mein großes Glück war, dass ich nichts anderes kannte.«
»Meinst du das wirklich?«
Nella sah die Fotografie nachdenklich an. Sie zeigte zweifelsfrei Antonia, hingegossen auf einem Sofa, eine Zigarettenspitze zwischen den Lippen, die langen Wimpern waren hoffentlich hinzugemalt worden. Ich hoffte jedenfalls für sie, dass es nicht ihre eigenen waren.
»Du weißt genauso gut wie ich, dass es eine große Hilfe sein kann, nicht zu wissen, was normal ist«, sagte sie und sah schräg an mir vorbei zu der kleinen Treppe neben dem Bild, die zu einer geschlossenen Tür hinaufführte. Ich verstand ehrlich gesagt nicht, warum ich jetzt in das Gespräch einbezogen werden sollte. Deshalb richtete ich meine volle Aufmerksamkeit auf das Foto, das wohl kaum in den letzten zwanzig Jahren aufgenommen worden war. Es existieren ziemlich viele Bilder von Antonia, weil sie sich jedes Mal, wenn der Verkauf ihrer Bücher stagnierte, porträtieren ließ, sodass ich dieses einigermaßen datieren konnte. Als junge Frau war sie rundbäckiger, schöner und hatte unschuldigere Augen, und die letzten zehn Jahre ihres Lebens schminkte sie sich beträchtlich stärker als hier. Ihre Lippen wurden auch schmäler, und die Mundwinkel zeigten nach unten, während die Pelze um ihre Schultern immer opulenter wurden. Im Gegensatz zu Antonia selbst übrigens. Als der Krebs sich allmählich in sie hineinfraß, wurde sie mager wie ein Windhund. Nella zeigte auf irgendetwas.
»Sieh dir mal den Hintergrund der Fotografie an, den Spiegel oben rechts.«
Ich musste mir bei Gelegenheit eine Brille anschaffen. Die Stelle, auf die sie zeigte, sah ich noch immer unklar. Nella lächelte.
»Siehst du nicht, dass ich da mit dem Rücken zum Bild sitze?«
Es war mir überhaupt nicht in den Sinn gekommen, nach Nella zu suchen. Soweit ich das wusste, ließ Antonia sich immer alleine porträtieren. Das Glas war kalt an meiner Nase, doch jetzt sah ich sie. Im Spiegel, hinter einer Tischlampe, die eingeschaltet zu sein schien. Ihr Haar schwang wie eine Gardine um ihr Gesicht, und ihre Haltung war so aufrecht, dass sie selbst wie eine Lampe aussah. So schlecht sah ich also doch nicht. Hinter Antonia waren Bücher zu sehen, und unter einem Arm erahnte man die Schnitzereien des Sofas.
»Das Bild ist in diesem Zimmer aufgenommen, nicht? Wie alt warst du da?«
»Sechs.«
Sie setzte sich vor den Kamin, der sich zwischen die Bücher drängte.
»Hilfst du mir?«
Schnell reichte ich ihr ein paar knochentrockene Holzscheite aus einem Korb auf dem Boden. Ich sehe ein, dass da etwas ist, das ich Ihnen erzählen muss, auch wenn ich im Prinzip nicht glaube, dass ich als Person auch nur eine Spur wichtig für diesen Teil der Geschichte bin. Doch sonst werden Sie nicht verstehen, warum ich mich plötzlich so leer und traurig fühlte, dass Nella mich ganz verwundert ansah.
»Ist etwas?«
Die Leute sagen hin und wieder, dass Nella mir ähnlich sieht, wenn sie so guckt. Ein Ausrufungszeichen zwischen den Brauen und die Augen leicht schräg. Ich muss ehrlich gesagt zugeben, dass ich das erwähne, weil mir der Vergleich schmeichelt.
»Nein, was sollte denn sein?«
Die Holzscheite wanden sich wütend, als Nella versuchte sie anzuzünden. Mein Blick fiel auf die vielen Streichholzschachteln im Regal. Ein Lichtblick, dachte ich. In Kopenhagen waren Streichhölzer im letzten Jahr Mangelware geworden, und ja, ich rede darum herum. Ich habe das nie jemandem erzählt, nicht einmal meinem besten Freund, Ambrosius, deshalb weiß ich nicht, wo ich anfangen und wo ich aufhören soll. Das ist der Nachteil, wenn man Geheimnisse zu lange mit sich herumträgt, irgendwann gehen einem die Worte für sie aus.
Es geht um die ersten vier Jahre meines Lebens. Ich weiß sehr wohl, dass ich geschrieben habe, gut damit gelebt zu haben, nicht viel darüber zu wissen, und das sage ich auch gewöhnlich, wenn jemand sich erdreistet danach zu fragen. Doch die Wahrheit ist die, dass alles, was ich nicht über mich weiß, sich wie ein saugendes Loch in meinem Inneren anfühlt; wann ich Geburtstag habe, wer meine Eltern sind, inwieweit ich ihnen ähnlich sehe, was in den ersten Jahren meines Lebens passiert ist. Und hin und wieder, wenn ich direkt mit einer Familie oder auch nur den traurigen Resten davon konfrontiert werde, wächst das Loch, sodass ich kaum etwas anderes sehe. Selbst wenn die Familie so zweifelhaft ist wie Nellas.
Lassen Sie mich das etwas vertiefen. Nellas Großeltern, Horace und Clara, wohnten, verstehe es wer kann, auch hier auf Liljenholm, und eines Abends im Jahr 1898 saßen sie aufrecht in ihrem Ehebett und starrten in die leere Ecke neben dem Fenster. Doch sie sahen nichts. Nicht mehr. Sie waren nämlich mausetot, und soweit man weiß, haben Antonia und ihre Zwillingsschwester Lily sie gefunden. Was zwei vierzehnjährige Mädchen zu dieser Abendstunde im Schlafzimmer ihrer Eltern zu suchen hatten, kann man nur mutmaßen, doch die offizielle Todesursache hieß jedenfalls Selbstmord. Liljenholm war zu diesem Zeitpunkt hoch verschuldet, sodass man berechtigterweise davon ausging, dass Horace und Clara lieber sterben als ihre alten Tage im Armenhaus verbringen wollten. Oder einige zumindest sind davon ausgegangen, denn schon damals tuschelte man über die Gespenster auf Liljenholm und darüber, dass Horace und Clara sich deren Unmut zugezogen haben könnten, indem sie versucht hatten, sie aus den Türmen zu vertreiben. Zur Strafe hätten die Gespenster ihre Seelen aus den Körpern der beiden Liljenholmer gezerrt, hieß es. Jetzt waren sie mit all den anderen vereint, die vor ihrer Zeit gestorben waren.
Horaces und Claras viel zu früher Tod war übrigens weder der erste noch der letzte in der Familie Liljenholm, und so gesehen hatte die Ihnen bereits bekannte Madame Rosencrantz auf ihre Weise recht. Alle Generationen der Liljenholmer bekamen tatsächlich Zwillinge, und einer von ihnen war tatsächlich verrückt und beging Selbstmord. Horace hatte zum Beispiel eine Zwillingsschwester, die Hortensia hieß und sich schon als Vierzehnjährige das Leben nahm. 1850. Da sprang sie aus einem der großen Fenster und landete direkt im Rosenbeet. Und viele Jahre später sprang Antonias Zwillingsschwester Lily auch dort hinunter. Es gibt nicht ein Foto von ihr, weil sie all ihre Bilder höchstpersönlich aus den Fotoalben herausgerissen hat, bevor sie in den Tod sprang. Doch angeblich war sie weder so schön noch so charmant wie Antonia, und außerdem hatte sie weitaus weniger Glück. In einer feinen Familie wie der Liljenholmer erbte die Erstgeborene alles, den Titel und die Schlüssel zu Speisekammer, Truhen und Türen. Und die Erstgeborene war nicht Lily. Die Erstgeborene war Antonia.
Während Lily ledig blieb, verlobte sich Antonia mit ihrer großen Liebe, Simon, und heiratete ihn später. Von ihm gibt es auf Liljenholm ebenfalls keine Fotografien, denn als Lily erst einmal dabei war, die Liljenholmer Fotosammlung zu malträtieren, hat sie auch ihn aus der Familie herausgerissen. Er und Lily und Antonia haben viele Jahre zusammen auf dem Gut gewohnt (mit begrenztem Erfolg, wie Sie wohl ahnen) und von dem Einkommen aus Antonias Büchern gelebt. Nella wurde in dieser Zeit geboren, sie war sechs Jahre alt, als Lily starb. Und dann war da noch die Verwalterin ...
»Wie hieß sie noch mal, diese Verwalterin?«
Nella war es endlich gelungen, die Holzscheite anzuzünden, doch das Loch im Schornstein war mit Sicherheit seit Längerem nicht mehr gereinigt worden. Ich musste husten.
»Meinst du Laurits?«
Richtig. Fräulein Lauritsen, so hieß sie. Sie war schon viele Jahre zuvor eingestellt worden, und zu ihren zahlreichen Qualitäten gehörte es angeblich auch, über spezielle Fähigkeiten zu verfügen. Sie konnte mit den Toten reden, und sie tat es auch. Außerdem war sie Haushälterin, Kindermädchen und nach Horaces und Claras Tod schließlich Mutter der Zwillinge. Diese Funktion übernahm sie später auch Nella gegenüber, denn als Sechsjährige verlor Nella nicht nur ihre Tante Lily, sondern auch ihren Vater und in gewisser Weise ihre Mutter.
Simon löste sich nämlich ungefähr zur gleichen Zeit wie Lily in Luft auf. Oder genauer gesagt im Wasser, da er angeblich bei einer Angeltour verschwand, sodass man davon ausgehen konnte, dass er ertrunken war. Dass Antonia um den Verlust ihres geliebten Mannes und ihrer Schwester trauerte, war offensichtlich. Jedenfalls für alle bis auf die rührige Madame Rosencrantz, die behauptete, dass der ritterliche Simon und die menschenscheue Lily in Wirklichkeit jahrelang eine Affäre gehabt hätten und dass Antonia in einem Anfall von verschmähten Gefühlen und reinem Wahnsinn ihre Schwester in den Tod gestoßen und Simon umgebracht und an einer unbekannten Stelle im Park begraben habe. Aber ich verbreite keine Klatschgeschichten, lassen Sie mich also bei den Fakten bleiben, die so aussehen, dass Antonia auf den offiziellen Bildern plötzlich erheblich älter aussah. Ihre Augen blickten traurig, die Züge waren angespannt, und immer öfter verschanzte sie sich in ihrem Arbeitszimmer, um zu schreiben. So wuchs Nella mit Fräulein Lauritsen als ihrer nächsten Vertrauten auf, und als diese 1926 starb, zog Nella zu Hause aus. Erst zehn Jahre später, in Verbindung mit Antonias Tod, kehrte sie zurück.
© 2013 der deutschsprachigen Ausgabe btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House, München.
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Autoren-Porträt von Leonora Christina Skov
Leonora Christina Skov, geboren 1976, ist in ihrer Heimat Dänemark für ihre sarkastische Literaturkritik und ihre bissige Kolumne in der Wochenzeitung Weekendavise bekannt. Für ihre Romane »Das Turmzimmer« und »Der erste Liebhaber« wurde sie von der dänischen Kritik gefeiert. Leonora Christina Skov lebt in Kopenhagen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Leonora Christina Skov
- 2013, 443 Seiten, Maße: 11,8 x 18,7 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Hanne Hammer
- Verlag: BTB
- ISBN-10: 344274475X
- ISBN-13: 9783442744756
- Erscheinungsdatum: 11.03.2013
Rezension zu „Das Turmzimmer “
»Ein großer, ein fesselnder Roman, wunderbar lebendig erzählt.«
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