Das Unglück der anderen
Kosovo, Liberia, Afghanistan
Reisen in die Krise Oder Der Rausch des Helfens
Rainer Merkel, der ein Jahr lang als Mitarbeiter bei der Hilfsorganisation Cap Anamur in einer Psychiatrie in Liberia gearbeitet hat, reist in drei vom Krieg verwüstete Länder. In seinen Reportagen fragt...
Rainer Merkel, der ein Jahr lang als Mitarbeiter bei der Hilfsorganisation Cap Anamur in einer Psychiatrie in Liberia gearbeitet hat, reist in drei vom Krieg verwüstete Länder. In seinen Reportagen fragt...
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Produktinformationen zu „Das Unglück der anderen “
Klappentext zu „Das Unglück der anderen “
Reisen in die Krise Oder Der Rausch des HelfensRainer Merkel, der ein Jahr lang als Mitarbeiter bei der Hilfsorganisation Cap Anamur in einer Psychiatrie in Liberia gearbeitet hat, reist in drei vom Krieg verwüstete Länder. In seinen Reportagen fragt er, welche Anziehungskraft Traumata und Gewalt auf Menschen haben können. Friedensarbeiter, Traumatherapeut oder Bundeswehrsoldat: Sie alle suchen die Grenzerfahrung, die nicht intensiv genug sein kann. Als »Embedded Journalist« im Feldlager der Bundeswehr in Afghanistan wird Merkel plötzlich mit seiner eigenen Geschichte und seinen eigenen Traumata konfrontiert. Es zeigt sich, dass das Unglück der anderen unsere Trauer ist.
Lese-Probe zu „Das Unglück der anderen “
Das Unglück der anderen von Rainer MerkelKosovo
1
Am Anfang schien es noch so, als könnten wir ihm wirklich helfen, ein neues Leben anzufangen und alles zu vergessen, was er durchgemacht hatte. Ich frage mich, ob er auch so einen Blick gehabt hat. »Dieses betäubte Starren, die weit aufgerissenen, leeren Augen eines Mannes, dem alles egal ist.« Der Zweitausend- Jahre-Blick, von dem die Amerikanerin Judith Herman in ihrem Buch Die Narben der Gewalt erzählt. Ich denke daran, als ich auf dem Weg ins Café Gottlob bin, an einem warmen Frühlingstag in Berlin. Ich denke an den Jungen, der noch nie in seinem Leben Schuhe getragen hatte, den Carly so mochte und dessen Potential sie für so groß hielt, dass sie eine regelrechte Leidenschaft für ihn entwickelte. Sie war gar nicht damit einverstanden, als Freunde ihm später ein Paar nagelneue Lederschuhe besorgten. Sie wollte nicht, dass man es ihm zu einfach machte und ihm alle Hindernisse aus dem Weg räumte. »Es wäre das Beste gewesen, sie hätten ihm die Schuhe nie gekauft«, sagte Carly. »Das wäre wirklich das Beste gewesen.« Carly wollte den Jungen beschützen. Eine Weile versuchte sie sogar, eine Familie in Monrovia zu überreden, ihn zu adoptieren. Einen Jungen, der noch nie in seinem Leben Schuhe getragen hatte und den sie in seinem Dorf im Süden von Liberia am liebsten bei lebendigem Leib verbrannt hätten. Über die Schuhe war er sehr glücklich. Er trug sie ohne Socken, und er zog sie auch nachts nicht aus, so dass die harten Lederkanten ihm immer mehr in die Haut hineinschnitten.
... mehr
Carly konnte seinem scheinbar unschuldigen Charme nicht widerstehen. Seinem Zweitausend-Jahre-Blick, der aber vielleicht gar nicht so leer und gleichgültig war, wie wir zuerst dachten. Carly wollte nicht glauben, dass er einen Monat nach seiner wundersamen Rettung durch einen UN-Mitarbeiter im Landesinneren noch nicht erkannt hatte, wie wichtig unsere Hilfe für ihn war und was für eine große Chance das für ihn bedeutete. Carly betrachtete das Gesicht des Jungen wie ein Gemälde, ein Bild, das sie gemalt hatte und über dessen fehlende Veränderungsbereitschaft sie dann aber ein bisschen enttäuscht war. Sie sagte, wir dürften keine Zeit verlieren und den richtigen Moment nicht verpassen. Die brasilianische Psychoanalytikerin Suely Rolnik, die in den 1970ern ein Opfer der Diktatur in ihrem Heimatland geworden war, hat darüber geschrieben, wie viel Zeit sie gebraucht habe, um die erlittenen Erfahrungen zu verarbeiten. Es war die traditionelle brasilianische Musik, die Rolnik schließlich ihre Stimme und ihre Lebensenergie zurückgaben. Ein Prozess, der mit Umwegen vielleicht sogar noch länger gedauert hat als die neun Jahre, die zwischen der Erfahrung der brasilianischen Diktatur und der Wiederentdeckung ihrer Stimme bei einer Stunde Gesangsunterricht in Paris lagen. Für den Jungen, der noch nie in seinem Leben Schuhe getragen hatte, war ein Monat schon zu viel. Der Junge konnte nicht singen. Oder er wollte es nicht. Am Ende enttäuschte er uns alle. Es lag nicht daran, dass er ständig alle Angebote in den Wind schlug und nirgendwo länger als ein paar Wochen blieb. Es lag daran, dass es von Anfang an so bestimmt und so festgelegt war, dass er uns enttäuschen würde.
»Er soll wenigstens Socken tragen«, bat mich Carly ihm auszurichten. »Denkst du bitte daran?« Das Mitleid in ihrem Gesicht war echt, aber die Socken hat er trotzdem nie bekommen.
»Sag ihm, dass er Socken anziehen soll«, sagte Carly immer wieder.
»Ja«, sagte ich, »mache ich.« Aber dazu hätte er erst mal die Schuhe wieder ausziehen müssen.
War Carly am Ende deswegen so unglücklich und wollte deswegen am liebsten wieder in den Kosovo zurück? Wegen des Jungen, der sie und mich nicht mehr zur Ruhe kommen ließ? Der Junge, dessen Unbekümmertheit und grenzenlose Zuversicht stärker war als jedes Trauma. Ich laufe in einem Bogen am Café Gottlob vorbei. Ich versuche Zeit zu gewinnen. Ich bin mit Rron verabredet, den ich am Abend zuvor bei der Finissage seiner Ausstellung in einer kleinen Schöneberger Galerie getroffen habe. Es ist der erste Kontakt, der ohne Carly zustande gekommen ist. Der erste Versuch, diese Reise ohne ihre Hilfe zu organisieren. Im Licht des gnädigen, großzügig warmen Frühlings sieht Berlin jetzt ganz harmlos aus. Das Café Gottlob ist ein harmloser und gepflegter Ort, wo man auch draußen sitzen kann. Ich laufe die wenigen Meter über die Grunewaldstraße und genieße die Sonne (die mich aber gleichzeitig daran erinnert, dass ich die Stadt, die ich noch vor einer Woche, als ich den Flug gebucht habe, so sehnsüchtig verlassen wollte, jetzt auf einmal doch nicht mehr verlassen will). Ein Flug nach Priština, mit Umsteigen und einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt. »Jetzt habe ich auch keine Lust mehr«, sagte Carly am Ende. Da hatte der Junge seine Schuhe schon längst verkauft und stand kurz davor, nach Maryland in sein Dorf zurückzukehren, in das Dorf seiner Eltern, die nicht mehr lebten und für deren Tod er verantwortlich gemacht worden war. Zurück nach Hause und in seinen sicheren Untergang, wie Carly glaubte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein Copyshop, genau an der Ecke, wo ich abbiegen muss, um zum Café zu gelangen. Ich stelle mir vor, dass der Künstler, mit dem ich verabredet bin, ohnehin zu spät kommt und dass es deswegen keinen Unterschied macht, wenn ich jetzt noch Carly anrufe. Carly ist schwer zu erreichen, doch in diesem so schmeichelhaft weichen Licht, unter dieser so sanften, nachgiebigen Sonne, die Berlin auf einmal so gut aussehen lässt, erreicht das Bedürfnis, Carly anzurufen, seinen Höhepunkt. Ich halte nach einem Internetcafé Ausschau, in dem man telefonieren kann, als ich auf einmal Rron entdecke. Drüben, auf der anderen Straßenseite, auf der er sich in fast identischer Geschwindigkeit, parallel zu mir, in Begleitung einer jungen Frau, Richtung Café Gottlob bewegt. Er ist auf dem Weg zu unserer Verabredung. Er geht im Schatten. Er bewegt sich ähnlich langsam und unschlüssig wie ich, aber es sind die Bewegungen eines Künstlers, der die Nacht durchgemacht hat und der sich in Anwesenheit seiner Begleiterin einen Habitus von Gleichmut und Gelassenheit geben will, den Ausdruck eleganter Dumpfheit, mit der er die Unwägbarkeiten des Lebens ignoriert. Er bleibt an der Straßenecke, an der sich der Copyshop befindet, stehen. Er scheint zu überlegen, in welche Richtung er gehen soll. Ich verstecke mich, zumindest versuche ich das, sofern es in der prallen Sonne mitten auf dem Bürgersteig, auf dem sich noch nicht einmal Bäume befinden, möglich ist. Rron wendet sich nach links, biegt in die Nebenstraße ein und nähert sich dem Café. Was würde er wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass ich an ihm als Künstler gar nicht interessiert bin? Dass mir das Interview mit ihm gar nichts bedeutet? Dass es um etwas ganz anderes geht?
2
Ich könnte Carly anrufen. Sie ist irgendwo in Australien mit ihrem Mobiltelefon unterwegs. Sie hat kein Festnetz, und die Verbindung, falls sie überhaupt zustande kommt, ist so fragil, dass es gut sein kann, dass das Gespräch mitten im Satz abbricht und dann trotz aller Anstrengungen nicht mehr fortgesetzt werden kann. (Warum will ich auf einmal doch nicht mehr aufbrechen, zu einer Reise, auf die ich mich doch so gut vorbereitet habe?) Es ist eine Reise, die ich vielleicht gar nicht gemacht hätte, wenn Carly und ich uns nicht getroffen hätten und Carly nicht ins Krankenhaus gekommen wäre, in dem ich arbeitete, um den Jungen, der noch nie in seinem Leben Schuhe getragen hatte, kennenzulernen. Im Krankenhaus, dem E. S. Grant Mental Health Hospital, hielt er es noch am längsten aus, vermutlich weil er dort mehr oder weniger ein Gefangener war, alle Mitarbeiter ihn ins Herz geschlossen hatten und sich rührend um ihn kümmerten. Vielleicht würde sich etwas von der Begeisterung auch auf mich übertragen, die Begeisterung, die Carly empfindet, wenn sie von ihrer Zeit im Kosovo spricht. Wenn sie davon spricht, dass sie unbedingt wieder dorthin will, zurück in das Land, in dem sie fünf Jahre gelebt hat. Mein Vater war geradezu süchtig danach, Reisen zu unternehmen und zu planen. Und noch vor dem Ende einer Reise dachte er schon wieder an die nächste, das nächste Ziel, die nächste Sehenswürdigkeit. Am Ende seines Lebens hatte diese Reiselust meines Vaters ein derartiges Ausmaß angenommen, dass ich mir wünschte, wenn ich auch nur davon hörte, er habe wieder eine seiner berüchtigten Busreisen geplant, irgendetwas würde ihn stoppen und seiner Reiselust, diesem ganzen Eskapismus endlich ein Ende bereiten. Rron dreht sich um. Ob er mich erkannt hat? Ob er sieht, dass ich ihm auf der Spur bin? Er ist Künstler, er umgibt sich mit der Aura der Unberechenbarkeit. Als ich ihn am Abend zuvor fragte, ob ich ihn interviewen dürfte, sagte er zwar sofort zu, weigerte sich aber dann, einen Termin zu vereinbaren, und überließ das lieber seiner Managerin. Ich habe den Verdacht, dass die Frau an seiner Seite dieselbe Frau ist, mit der ich gestern gesprochen und diesen Termin vereinbart habe, mit der zusammen er jetzt langsam aus meinem Blickfeld verschwindet, um das Café Gottlob zu betreten.
Es ist eine Halluzination, eine Phantasie. Rron Qena ist eine Schleuse, ein Tor oder ein Türöffner. Er entspricht dem Bild, das ich mir immer vom Kosovo gemacht habe. Eine Mischung aus süßlichen Klischees und wirklich existentieller Bedrohung, aus der er heraustritt mit einer gewissen Souveränität. Mit schlechten Zähnen, übernächtigt, zerfahren und mit einer Managerin, die merkwürdig zögerlich und unsicher ist. Er sitzt draußen vor dem idyllischen Café Gottlob, mitten in Berlin-Schöneberg, in einem ausgeblichenen T-Shirt, einen halben Meter von den Strahlen der wärmenden Frühlingssonne entfernt, und versucht, eine Portionspackung Kaffeesahne zu öffnen. Er untersucht die Packung, er dreht sie nach links und nach rechts. Da ist irgendwo die Lasche, die man nicht hochziehen, sondern abbrechen muss. In aller Gelassenheit kapituliert er, und die Frau an seiner Seite, die als Managerin doch noch etwas ungeübt wirkt, braucht einen Moment, bis sie bemerkt, dass sie ihm vielleicht helfen könnte. Wir sitzen im Schatten. Es ist eiskalt. Was hat Rron erlebt, dass er so kälteunempfindlich ist? Der Krieg im Kosovo ist seit über zehn Jahren vorbei. Tears of Europe. Der Gestus seiner Bilder ist fragmentarisch, unentschlossen, aber nicht ohne Wärme. Die Frauenfiguren in seinen wilden expressionistischen Landschaften sehen wie Gefangene einer Abstraktion aus, die etwas gewalttätig geraten ist.
»Wie war er, der Krieg?«, frage ich Rron, nachdem wir schon eine ganze Weile über seine Kunst gesprochen haben. Die Gesprächsatmosphäre hat sich entspannt. Längst hat sich herausgestellt, dass die Frau an seiner Seite nicht seine Managerin, sondern in Wirklichkeit seine Freundin ist.
»Ich meine, hat er deine Kunst beeinflusst?«
Rron hat noch immer das kleine Milchdöschen in der Hand. Vielleicht inspiriert es ihn. Im Kosovo, wie sich später herausstellen wird, findet man so etwas nicht. Im Kosovo ist der Kaffee selbst ein Kunstwerk.
»Ich lasse mich nicht durch die Politik beeinflussen«, sagt er.
»Natürlich nicht«, sage ich und überlege, wie ich das Thema trotzdem am Leben erhalten kann. »Aber das ist schon wichtig, oder? Im Hinblick auf den Kunstmarkt, zum Beispiel.« Ich denke an seine Bilder, und ich frage mich, ob er auch nach Europa eingeladen würde, wenn er aus Usbekistan oder Kasachstan stammte.
»Der Kunstmarkt?«, fragt er und stellt das Milchdöschen auf den Tisch. »Den ignoriere ich total. Mit dem möchte ich lieber nichts zu tun haben.« Seine Freundin, die nicht seine Managerin ist, lächelt. Aber es ist nicht klar, ob sie mit seiner Antwort zufrieden ist.
»Wenn man den Kunstmarkt als Künstler ernst nimmt«, erklärt er und schiebt das Milchdöschen beiseite, »dann ist man ruiniert. Dann ist man ganz unten.« Er beugt sich vor. Ich warte darauf, dass er noch etwas sagt. Etwas Ironisches oder etwas in der Richtung, dass er natürlich trotzdem irgendwie mitspielt. Er sagt aber nichts, starrt nur auf den Tisch und wartet auf die nächste Frage. So oft ist er vielleicht noch gar nicht interviewt worden, und vielleicht weiß er nicht, dass es am besten ist, wenn sich seine Ehrlichkeit in Grenzen hält.
Ich brauche jemanden wie Rron. Jemand, der sich im Kosovo auskennt. Ein Mensch, der in einer Parallelwelt lebt. Rron weiß selbst nicht ganz genau, ob es Kunst, Performance, Zivilcourage oder doch nur ein Gag gewesen ist, als er zusammen mit Freunden den UNMIK-Soldaten und den ihnen gegenüberstehenden nationalistischen Vetëvendosje!-Demonstranten Tee ausschenkte. Peacebuilding als Street-Performance. Ich denke an zerschossene Stadtlandschaften, KFOR-Soldaten, die sich betrinken, Internationale, die sich arrogant verhalten. Fragmentarische urbane Orte, in denen die Düsternis plötzlich aufreißt und den Blick auf eine andere, viel wildere und wahrere Welt freigibt. Das ist das Versprechen, das Rron mir gibt. Aber Rron ist müde. Er denkt schon an die nächste Ausstellung in New York, außerdem ist er noch mit seinem Galeristen zum Mittagessen verabredet.
»Ich nehme den Krieg nicht so ernst«, sagt er.
»Und warum nicht?«, frage ich.
»Das ist besser so.«
Seine Freundin räuspert sich, und ich denke, sie wird jetzt vielleicht doch noch eingreifen, um das Bild, das er von sich gibt, etwas zu korrigieren.
»Es hat keinen Sinn, Kunst zu studieren«, sagt er und starrt auf den Tisch. »Es macht gar keinen Sinn, überhaupt etwas zu studieren. Schon gar nicht im Kosovo.«
»Du willst es ja auch nicht«, sagt seine Freundin. Sie dreht sich kurz zu mir um. »Er könnte hier studieren, wenn er wollte, aber er will lieber in Priština bleiben«, setzt sie mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton hinzu.
»Genau«, sagt Rron und nickt. »Ich könnte hier keine Kunst machen.« Er dreht sich um, sein Blick schweift über die bepflanzte Terrasse des Café Gottlob und die sanierten, in dezenten Farben gehaltenen Schöneberger Altbauten. Er schüttelt entschuldigend den Kopf. »Das würde nicht gehen.« Er rückt mit seinem Stuhl etwas zurück. Ich nicke und mache eine Notiz. Ich solidarisiere mich mit ihm. Ich wechsele das Thema und befrage ihn zu seiner Einschätzung der aktuellen politischen Lage. Wir sprechen über die internationale Gemeinschaft und darüber, wie die KFOR-Soldaten und UN-Mitarbeiter Priština verändert haben. Er erzählt mir von seinem Vater, der ein berühmter Karikaturist gewesen ist, und wie er, ohne dass es eigentlich geplant war, dessen Arbeit fortsetzt. Es sind die Cartoons, die ihn und seine Familie über Wasser halten, und nicht die Kunst. Unser Gespräch verwandelt sich. Längst führe ich kein Interview mehr, sondern unterhalte mich mit ihm über den Kosovo. Ich erzähle ihm nichts von Carly und meinen Kontakten, meinen Verbindungen zur NGO-Szene. Ich erzähle ihm nichts von dem Jungen, der seine Schuhe verkauft hat und für immer verschwunden ist, der Carly so viel Kraft gekostet und sie beinahe an den Rand der Verzweiflung getrieben hat. Rron hat sie gesehen, die UN-Leute und die KFOR-Soldaten, er hat erlebt, wie sie in den Bars und Clubs von Priština auftreten, als würde ihnen die ganze Stadt gehören.
»Vielleicht treffen wir uns mal in Priština«, schlage ich vor.
»Natürlich treffen wir uns in Priština«, sagt Rron und richtet sich auf. »Wo wirst du wohnen?«
Und dann erklärt er mit großer Geste, dass er schon etwas für mich finden werde und dass ich ihm das ruhig überlassen könne. Ich falte meine Notizen zusammen und stecke sie in die Tasche. Das Interview ist beendet. Ich übernehme die Rechnung und bezahle auch die Getränke seiner Freundin. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass die Beziehung zwischen ihnen am Scheidepunkt steht. Sie haben komplizierte Reisepläne, über die sie sich nicht einig sind. Er verschränkt seine Arme. Wir stehen noch einen Moment an der Straßenecke, wo der Copyshop ist und wo ich noch vor zwei Stunden nach einem Internetcafé Ausschau gehalten habe. Wir stehen in der Sonne, aber Rron, der auf der Terrasse die ganze Zeit im Schatten gesessen und nicht im Geringsten gefroren hat, scheint es jetzt auf einmal kalt zu sein. Wir verabschieden uns. Es ist eine herzliche Verabschiedung, als seien wir in kürzester Zeit Freunde geworden, und sie ist in gewisser Hinsicht Ausdruck meiner Hoffnung, der plötzlich aufkommenden Erwartung und des Gefühls der Vorfreude, dass ich jetzt also meine Reise beginnen und endlich aufbrechen kann. Vielleicht brauche ich Carly jetzt gar nicht mehr. Vielleicht funktioniert meine Reise auch ohne sie.
Das Licht ist grell bei der Ankunft, es scheint keinen Schatten zu geben. Der aus Deutschland stammende klapprige Audi des Taxifahrers scheint Licht und Dreck aufzusaugen wie ein Staubsauger, und selbst mein Laptop, in dem die Telefonnummer des Vermieters versteckt ist, weigert sich hochzufahren. Eine eigentümliche Mischung aus Baulücken, Glasfassaden und schnell hochgezogenen kastenförmigen Gebilden, die noch gar nicht fertig sind. Ein architektonisches Niemandsland, in dem es keine Anhaltspunkte, keine großen Gesten, keine Fixpunkte gibt. Eine Stadt, die so aussieht wie eine misslungene Parodie auf Los Angeles.
»Das ist der Bill-Clinton-Boulevard«, sagt der Taxifahrer. »Kennst du den?« Bill Clinton. Ein Geist, der sich über eine staubige Hauptstraße legt. Nachdem General Mladic, der jetzt in Den Haag sitzt, nach Srebrenica gekommen ist und der Westen den Horror des Balkankrieges nicht mehr länger ertragen konnte, fing das NATO-Bombardement an.
»Das ist seine Schuld«, sagt der Taxifahrer stolz, aber er meint es natürlich anders. Es sei allein den Amerikanern zu verdanken, dass es so weit gekommen ist und die NATO eingegriffen hat.
»Sind Sie sicher, dass es die Amerikaner waren?«, frage ich, während ich mir schon nicht mehr sicher bin, ob der Krieg wirklich notwendig gewesen ist.
»Sie ist nach ihm benannt. Es ist seine Straße«, sagt er und neigt den Kopf etwas nach hinten, da wir sie in diesem Moment überqueren. Den Bill-Clinton-Boulevard sehe ich nie mehr wieder. Lange Zeit zweifele ich daran, ob er überhaupt existiert. Meine eigene Straße habe ich noch nicht gefunden. Es dauert eine Weile, bis ich meinen Vermieter kennenlerne, der mich an einer Straßenecke in Empfang nimmt. Über meine eigene Straße, in der sich meine Unterkunft befindet, bin ich mir im Unklaren. Eine Woche brauche ich, um endlich zu verstehen, was sich hinter dem Straßennamen, der nirgendwo schwarz auf weiß zu sehen ist, verbirgt. UÇK Street. Die kosovo-albanische Befreiungsarmee, der auch der Präsident angehört hat, bewacht meinen Schlaf und breitet ihre schützenden Arme über mich aus. Die UÇK Street ist ganz schön weit vom Bill-Clinton-Boulevard entfernt. Nach meiner Ankunft gehe ich vorerst nicht mehr aus dem Haus. Ich telefoniere mit einer Psychologin, einer Kinderpsychiaterin und einer Philosophin, die mir Rron empfohlen hat.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Carly konnte seinem scheinbar unschuldigen Charme nicht widerstehen. Seinem Zweitausend-Jahre-Blick, der aber vielleicht gar nicht so leer und gleichgültig war, wie wir zuerst dachten. Carly wollte nicht glauben, dass er einen Monat nach seiner wundersamen Rettung durch einen UN-Mitarbeiter im Landesinneren noch nicht erkannt hatte, wie wichtig unsere Hilfe für ihn war und was für eine große Chance das für ihn bedeutete. Carly betrachtete das Gesicht des Jungen wie ein Gemälde, ein Bild, das sie gemalt hatte und über dessen fehlende Veränderungsbereitschaft sie dann aber ein bisschen enttäuscht war. Sie sagte, wir dürften keine Zeit verlieren und den richtigen Moment nicht verpassen. Die brasilianische Psychoanalytikerin Suely Rolnik, die in den 1970ern ein Opfer der Diktatur in ihrem Heimatland geworden war, hat darüber geschrieben, wie viel Zeit sie gebraucht habe, um die erlittenen Erfahrungen zu verarbeiten. Es war die traditionelle brasilianische Musik, die Rolnik schließlich ihre Stimme und ihre Lebensenergie zurückgaben. Ein Prozess, der mit Umwegen vielleicht sogar noch länger gedauert hat als die neun Jahre, die zwischen der Erfahrung der brasilianischen Diktatur und der Wiederentdeckung ihrer Stimme bei einer Stunde Gesangsunterricht in Paris lagen. Für den Jungen, der noch nie in seinem Leben Schuhe getragen hatte, war ein Monat schon zu viel. Der Junge konnte nicht singen. Oder er wollte es nicht. Am Ende enttäuschte er uns alle. Es lag nicht daran, dass er ständig alle Angebote in den Wind schlug und nirgendwo länger als ein paar Wochen blieb. Es lag daran, dass es von Anfang an so bestimmt und so festgelegt war, dass er uns enttäuschen würde.
»Er soll wenigstens Socken tragen«, bat mich Carly ihm auszurichten. »Denkst du bitte daran?« Das Mitleid in ihrem Gesicht war echt, aber die Socken hat er trotzdem nie bekommen.
»Sag ihm, dass er Socken anziehen soll«, sagte Carly immer wieder.
»Ja«, sagte ich, »mache ich.« Aber dazu hätte er erst mal die Schuhe wieder ausziehen müssen.
War Carly am Ende deswegen so unglücklich und wollte deswegen am liebsten wieder in den Kosovo zurück? Wegen des Jungen, der sie und mich nicht mehr zur Ruhe kommen ließ? Der Junge, dessen Unbekümmertheit und grenzenlose Zuversicht stärker war als jedes Trauma. Ich laufe in einem Bogen am Café Gottlob vorbei. Ich versuche Zeit zu gewinnen. Ich bin mit Rron verabredet, den ich am Abend zuvor bei der Finissage seiner Ausstellung in einer kleinen Schöneberger Galerie getroffen habe. Es ist der erste Kontakt, der ohne Carly zustande gekommen ist. Der erste Versuch, diese Reise ohne ihre Hilfe zu organisieren. Im Licht des gnädigen, großzügig warmen Frühlings sieht Berlin jetzt ganz harmlos aus. Das Café Gottlob ist ein harmloser und gepflegter Ort, wo man auch draußen sitzen kann. Ich laufe die wenigen Meter über die Grunewaldstraße und genieße die Sonne (die mich aber gleichzeitig daran erinnert, dass ich die Stadt, die ich noch vor einer Woche, als ich den Flug gebucht habe, so sehnsüchtig verlassen wollte, jetzt auf einmal doch nicht mehr verlassen will). Ein Flug nach Priština, mit Umsteigen und einem kurzen Aufenthalt in Frankfurt. »Jetzt habe ich auch keine Lust mehr«, sagte Carly am Ende. Da hatte der Junge seine Schuhe schon längst verkauft und stand kurz davor, nach Maryland in sein Dorf zurückzukehren, in das Dorf seiner Eltern, die nicht mehr lebten und für deren Tod er verantwortlich gemacht worden war. Zurück nach Hause und in seinen sicheren Untergang, wie Carly glaubte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist ein Copyshop, genau an der Ecke, wo ich abbiegen muss, um zum Café zu gelangen. Ich stelle mir vor, dass der Künstler, mit dem ich verabredet bin, ohnehin zu spät kommt und dass es deswegen keinen Unterschied macht, wenn ich jetzt noch Carly anrufe. Carly ist schwer zu erreichen, doch in diesem so schmeichelhaft weichen Licht, unter dieser so sanften, nachgiebigen Sonne, die Berlin auf einmal so gut aussehen lässt, erreicht das Bedürfnis, Carly anzurufen, seinen Höhepunkt. Ich halte nach einem Internetcafé Ausschau, in dem man telefonieren kann, als ich auf einmal Rron entdecke. Drüben, auf der anderen Straßenseite, auf der er sich in fast identischer Geschwindigkeit, parallel zu mir, in Begleitung einer jungen Frau, Richtung Café Gottlob bewegt. Er ist auf dem Weg zu unserer Verabredung. Er geht im Schatten. Er bewegt sich ähnlich langsam und unschlüssig wie ich, aber es sind die Bewegungen eines Künstlers, der die Nacht durchgemacht hat und der sich in Anwesenheit seiner Begleiterin einen Habitus von Gleichmut und Gelassenheit geben will, den Ausdruck eleganter Dumpfheit, mit der er die Unwägbarkeiten des Lebens ignoriert. Er bleibt an der Straßenecke, an der sich der Copyshop befindet, stehen. Er scheint zu überlegen, in welche Richtung er gehen soll. Ich verstecke mich, zumindest versuche ich das, sofern es in der prallen Sonne mitten auf dem Bürgersteig, auf dem sich noch nicht einmal Bäume befinden, möglich ist. Rron wendet sich nach links, biegt in die Nebenstraße ein und nähert sich dem Café. Was würde er wohl dazu sagen, wenn er wüsste, dass ich an ihm als Künstler gar nicht interessiert bin? Dass mir das Interview mit ihm gar nichts bedeutet? Dass es um etwas ganz anderes geht?
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Ich könnte Carly anrufen. Sie ist irgendwo in Australien mit ihrem Mobiltelefon unterwegs. Sie hat kein Festnetz, und die Verbindung, falls sie überhaupt zustande kommt, ist so fragil, dass es gut sein kann, dass das Gespräch mitten im Satz abbricht und dann trotz aller Anstrengungen nicht mehr fortgesetzt werden kann. (Warum will ich auf einmal doch nicht mehr aufbrechen, zu einer Reise, auf die ich mich doch so gut vorbereitet habe?) Es ist eine Reise, die ich vielleicht gar nicht gemacht hätte, wenn Carly und ich uns nicht getroffen hätten und Carly nicht ins Krankenhaus gekommen wäre, in dem ich arbeitete, um den Jungen, der noch nie in seinem Leben Schuhe getragen hatte, kennenzulernen. Im Krankenhaus, dem E. S. Grant Mental Health Hospital, hielt er es noch am längsten aus, vermutlich weil er dort mehr oder weniger ein Gefangener war, alle Mitarbeiter ihn ins Herz geschlossen hatten und sich rührend um ihn kümmerten. Vielleicht würde sich etwas von der Begeisterung auch auf mich übertragen, die Begeisterung, die Carly empfindet, wenn sie von ihrer Zeit im Kosovo spricht. Wenn sie davon spricht, dass sie unbedingt wieder dorthin will, zurück in das Land, in dem sie fünf Jahre gelebt hat. Mein Vater war geradezu süchtig danach, Reisen zu unternehmen und zu planen. Und noch vor dem Ende einer Reise dachte er schon wieder an die nächste, das nächste Ziel, die nächste Sehenswürdigkeit. Am Ende seines Lebens hatte diese Reiselust meines Vaters ein derartiges Ausmaß angenommen, dass ich mir wünschte, wenn ich auch nur davon hörte, er habe wieder eine seiner berüchtigten Busreisen geplant, irgendetwas würde ihn stoppen und seiner Reiselust, diesem ganzen Eskapismus endlich ein Ende bereiten. Rron dreht sich um. Ob er mich erkannt hat? Ob er sieht, dass ich ihm auf der Spur bin? Er ist Künstler, er umgibt sich mit der Aura der Unberechenbarkeit. Als ich ihn am Abend zuvor fragte, ob ich ihn interviewen dürfte, sagte er zwar sofort zu, weigerte sich aber dann, einen Termin zu vereinbaren, und überließ das lieber seiner Managerin. Ich habe den Verdacht, dass die Frau an seiner Seite dieselbe Frau ist, mit der ich gestern gesprochen und diesen Termin vereinbart habe, mit der zusammen er jetzt langsam aus meinem Blickfeld verschwindet, um das Café Gottlob zu betreten.
Es ist eine Halluzination, eine Phantasie. Rron Qena ist eine Schleuse, ein Tor oder ein Türöffner. Er entspricht dem Bild, das ich mir immer vom Kosovo gemacht habe. Eine Mischung aus süßlichen Klischees und wirklich existentieller Bedrohung, aus der er heraustritt mit einer gewissen Souveränität. Mit schlechten Zähnen, übernächtigt, zerfahren und mit einer Managerin, die merkwürdig zögerlich und unsicher ist. Er sitzt draußen vor dem idyllischen Café Gottlob, mitten in Berlin-Schöneberg, in einem ausgeblichenen T-Shirt, einen halben Meter von den Strahlen der wärmenden Frühlingssonne entfernt, und versucht, eine Portionspackung Kaffeesahne zu öffnen. Er untersucht die Packung, er dreht sie nach links und nach rechts. Da ist irgendwo die Lasche, die man nicht hochziehen, sondern abbrechen muss. In aller Gelassenheit kapituliert er, und die Frau an seiner Seite, die als Managerin doch noch etwas ungeübt wirkt, braucht einen Moment, bis sie bemerkt, dass sie ihm vielleicht helfen könnte. Wir sitzen im Schatten. Es ist eiskalt. Was hat Rron erlebt, dass er so kälteunempfindlich ist? Der Krieg im Kosovo ist seit über zehn Jahren vorbei. Tears of Europe. Der Gestus seiner Bilder ist fragmentarisch, unentschlossen, aber nicht ohne Wärme. Die Frauenfiguren in seinen wilden expressionistischen Landschaften sehen wie Gefangene einer Abstraktion aus, die etwas gewalttätig geraten ist.
»Wie war er, der Krieg?«, frage ich Rron, nachdem wir schon eine ganze Weile über seine Kunst gesprochen haben. Die Gesprächsatmosphäre hat sich entspannt. Längst hat sich herausgestellt, dass die Frau an seiner Seite nicht seine Managerin, sondern in Wirklichkeit seine Freundin ist.
»Ich meine, hat er deine Kunst beeinflusst?«
Rron hat noch immer das kleine Milchdöschen in der Hand. Vielleicht inspiriert es ihn. Im Kosovo, wie sich später herausstellen wird, findet man so etwas nicht. Im Kosovo ist der Kaffee selbst ein Kunstwerk.
»Ich lasse mich nicht durch die Politik beeinflussen«, sagt er.
»Natürlich nicht«, sage ich und überlege, wie ich das Thema trotzdem am Leben erhalten kann. »Aber das ist schon wichtig, oder? Im Hinblick auf den Kunstmarkt, zum Beispiel.« Ich denke an seine Bilder, und ich frage mich, ob er auch nach Europa eingeladen würde, wenn er aus Usbekistan oder Kasachstan stammte.
»Der Kunstmarkt?«, fragt er und stellt das Milchdöschen auf den Tisch. »Den ignoriere ich total. Mit dem möchte ich lieber nichts zu tun haben.« Seine Freundin, die nicht seine Managerin ist, lächelt. Aber es ist nicht klar, ob sie mit seiner Antwort zufrieden ist.
»Wenn man den Kunstmarkt als Künstler ernst nimmt«, erklärt er und schiebt das Milchdöschen beiseite, »dann ist man ruiniert. Dann ist man ganz unten.« Er beugt sich vor. Ich warte darauf, dass er noch etwas sagt. Etwas Ironisches oder etwas in der Richtung, dass er natürlich trotzdem irgendwie mitspielt. Er sagt aber nichts, starrt nur auf den Tisch und wartet auf die nächste Frage. So oft ist er vielleicht noch gar nicht interviewt worden, und vielleicht weiß er nicht, dass es am besten ist, wenn sich seine Ehrlichkeit in Grenzen hält.
Ich brauche jemanden wie Rron. Jemand, der sich im Kosovo auskennt. Ein Mensch, der in einer Parallelwelt lebt. Rron weiß selbst nicht ganz genau, ob es Kunst, Performance, Zivilcourage oder doch nur ein Gag gewesen ist, als er zusammen mit Freunden den UNMIK-Soldaten und den ihnen gegenüberstehenden nationalistischen Vetëvendosje!-Demonstranten Tee ausschenkte. Peacebuilding als Street-Performance. Ich denke an zerschossene Stadtlandschaften, KFOR-Soldaten, die sich betrinken, Internationale, die sich arrogant verhalten. Fragmentarische urbane Orte, in denen die Düsternis plötzlich aufreißt und den Blick auf eine andere, viel wildere und wahrere Welt freigibt. Das ist das Versprechen, das Rron mir gibt. Aber Rron ist müde. Er denkt schon an die nächste Ausstellung in New York, außerdem ist er noch mit seinem Galeristen zum Mittagessen verabredet.
»Ich nehme den Krieg nicht so ernst«, sagt er.
»Und warum nicht?«, frage ich.
»Das ist besser so.«
Seine Freundin räuspert sich, und ich denke, sie wird jetzt vielleicht doch noch eingreifen, um das Bild, das er von sich gibt, etwas zu korrigieren.
»Es hat keinen Sinn, Kunst zu studieren«, sagt er und starrt auf den Tisch. »Es macht gar keinen Sinn, überhaupt etwas zu studieren. Schon gar nicht im Kosovo.«
»Du willst es ja auch nicht«, sagt seine Freundin. Sie dreht sich kurz zu mir um. »Er könnte hier studieren, wenn er wollte, aber er will lieber in Priština bleiben«, setzt sie mit einem leicht vorwurfsvollen Unterton hinzu.
»Genau«, sagt Rron und nickt. »Ich könnte hier keine Kunst machen.« Er dreht sich um, sein Blick schweift über die bepflanzte Terrasse des Café Gottlob und die sanierten, in dezenten Farben gehaltenen Schöneberger Altbauten. Er schüttelt entschuldigend den Kopf. »Das würde nicht gehen.« Er rückt mit seinem Stuhl etwas zurück. Ich nicke und mache eine Notiz. Ich solidarisiere mich mit ihm. Ich wechsele das Thema und befrage ihn zu seiner Einschätzung der aktuellen politischen Lage. Wir sprechen über die internationale Gemeinschaft und darüber, wie die KFOR-Soldaten und UN-Mitarbeiter Priština verändert haben. Er erzählt mir von seinem Vater, der ein berühmter Karikaturist gewesen ist, und wie er, ohne dass es eigentlich geplant war, dessen Arbeit fortsetzt. Es sind die Cartoons, die ihn und seine Familie über Wasser halten, und nicht die Kunst. Unser Gespräch verwandelt sich. Längst führe ich kein Interview mehr, sondern unterhalte mich mit ihm über den Kosovo. Ich erzähle ihm nichts von Carly und meinen Kontakten, meinen Verbindungen zur NGO-Szene. Ich erzähle ihm nichts von dem Jungen, der seine Schuhe verkauft hat und für immer verschwunden ist, der Carly so viel Kraft gekostet und sie beinahe an den Rand der Verzweiflung getrieben hat. Rron hat sie gesehen, die UN-Leute und die KFOR-Soldaten, er hat erlebt, wie sie in den Bars und Clubs von Priština auftreten, als würde ihnen die ganze Stadt gehören.
»Vielleicht treffen wir uns mal in Priština«, schlage ich vor.
»Natürlich treffen wir uns in Priština«, sagt Rron und richtet sich auf. »Wo wirst du wohnen?«
Und dann erklärt er mit großer Geste, dass er schon etwas für mich finden werde und dass ich ihm das ruhig überlassen könne. Ich falte meine Notizen zusammen und stecke sie in die Tasche. Das Interview ist beendet. Ich übernehme die Rechnung und bezahle auch die Getränke seiner Freundin. Für einen Moment habe ich das Gefühl, dass die Beziehung zwischen ihnen am Scheidepunkt steht. Sie haben komplizierte Reisepläne, über die sie sich nicht einig sind. Er verschränkt seine Arme. Wir stehen noch einen Moment an der Straßenecke, wo der Copyshop ist und wo ich noch vor zwei Stunden nach einem Internetcafé Ausschau gehalten habe. Wir stehen in der Sonne, aber Rron, der auf der Terrasse die ganze Zeit im Schatten gesessen und nicht im Geringsten gefroren hat, scheint es jetzt auf einmal kalt zu sein. Wir verabschieden uns. Es ist eine herzliche Verabschiedung, als seien wir in kürzester Zeit Freunde geworden, und sie ist in gewisser Hinsicht Ausdruck meiner Hoffnung, der plötzlich aufkommenden Erwartung und des Gefühls der Vorfreude, dass ich jetzt also meine Reise beginnen und endlich aufbrechen kann. Vielleicht brauche ich Carly jetzt gar nicht mehr. Vielleicht funktioniert meine Reise auch ohne sie.
Das Licht ist grell bei der Ankunft, es scheint keinen Schatten zu geben. Der aus Deutschland stammende klapprige Audi des Taxifahrers scheint Licht und Dreck aufzusaugen wie ein Staubsauger, und selbst mein Laptop, in dem die Telefonnummer des Vermieters versteckt ist, weigert sich hochzufahren. Eine eigentümliche Mischung aus Baulücken, Glasfassaden und schnell hochgezogenen kastenförmigen Gebilden, die noch gar nicht fertig sind. Ein architektonisches Niemandsland, in dem es keine Anhaltspunkte, keine großen Gesten, keine Fixpunkte gibt. Eine Stadt, die so aussieht wie eine misslungene Parodie auf Los Angeles.
»Das ist der Bill-Clinton-Boulevard«, sagt der Taxifahrer. »Kennst du den?« Bill Clinton. Ein Geist, der sich über eine staubige Hauptstraße legt. Nachdem General Mladic, der jetzt in Den Haag sitzt, nach Srebrenica gekommen ist und der Westen den Horror des Balkankrieges nicht mehr länger ertragen konnte, fing das NATO-Bombardement an.
»Das ist seine Schuld«, sagt der Taxifahrer stolz, aber er meint es natürlich anders. Es sei allein den Amerikanern zu verdanken, dass es so weit gekommen ist und die NATO eingegriffen hat.
»Sind Sie sicher, dass es die Amerikaner waren?«, frage ich, während ich mir schon nicht mehr sicher bin, ob der Krieg wirklich notwendig gewesen ist.
»Sie ist nach ihm benannt. Es ist seine Straße«, sagt er und neigt den Kopf etwas nach hinten, da wir sie in diesem Moment überqueren. Den Bill-Clinton-Boulevard sehe ich nie mehr wieder. Lange Zeit zweifele ich daran, ob er überhaupt existiert. Meine eigene Straße habe ich noch nicht gefunden. Es dauert eine Weile, bis ich meinen Vermieter kennenlerne, der mich an einer Straßenecke in Empfang nimmt. Über meine eigene Straße, in der sich meine Unterkunft befindet, bin ich mir im Unklaren. Eine Woche brauche ich, um endlich zu verstehen, was sich hinter dem Straßennamen, der nirgendwo schwarz auf weiß zu sehen ist, verbirgt. UÇK Street. Die kosovo-albanische Befreiungsarmee, der auch der Präsident angehört hat, bewacht meinen Schlaf und breitet ihre schützenden Arme über mich aus. Die UÇK Street ist ganz schön weit vom Bill-Clinton-Boulevard entfernt. Nach meiner Ankunft gehe ich vorerst nicht mehr aus dem Haus. Ich telefoniere mit einer Psychologin, einer Kinderpsychiaterin und einer Philosophin, die mir Rron empfohlen hat.
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Autoren-Porträt von Rainer Merkel
Rainer Merkel, 1964 in Köln geboren, hat Psychologie und Kunstgeschichte studiert und lebt in Berlin. Von 2008 bis 2009 arbeitete er für Cap Anamur im einzigen psychiatrischen Krankenhaus Liberias. Es erschienen die Romane »Das Jahr der Wunder«, für den er den Preis der Jürgen Ponto-Stiftung erhielt, »Das Gefühl am Morgen«, »Lichtjahre entfernt«, der auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand, »Bo«, »Stadt ohne Gott« und die Reportagen »Das Unglück der anderen. Kosovo, Liberia, Afghanistan« und »Go Ebola Go. Eine Reise nach Liberia«. 2013 wurde Rainer Merkel mit dem Erich Fried-Preis ausgezeichnet.Literaturpreise:Literaturförderpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2001Erich Fried-Preis 2013
Bibliographische Angaben
- Autor: Rainer Merkel
- 2012, 1. Auflage, 480 Seiten, Maße: 13,6 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: S. Fischer Verlag GmbH
- ISBN-10: 3100484436
- ISBN-13: 9783100484437
- Erscheinungsdatum: 08.10.2012
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