Das Urteil
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In Biloxi, einer verschlafenen Kleinstadt an der Golfküste von Mississippi, findet ein Prozess satt, der weltweit Aufsehen erregt. Da die Geschworenen unter großem Druck stehen, sieht sich der Richter genötigt, die Jury von der Außenwelt abzuschotten: Er sperrt sie unter strikter Bewachung in ein Motel. Dennoch mehren sich die Anzeichen, dass die Jury von außen kontrolliert wird, denn im Hintergrund lauern handfeste Interessen: Für einen mächtigen Konzern geht es um Milliarden ...
Das Urteilvon John Grisham
LESEPROBE
1. KAPITEL
Das Gesicht von NicholasEaster war durch ein mit schlanken, schnurlosen Telefonen gefülltes Schauregalhalbwegs verdeckt, und er schaute nicht direkt in die versteckte Kamera,sondern eher nach links, vielleicht zu einem Kunden oder vielleicht auch zueinem Tisch, an dem eine Gruppe von Jugendlichen bei den neuestenComputerspielen aus Asien herumlungerte. Obwohl aus einer Entfernung vonvierzig Metern von einem Mann aufgenommen, der ziemlich starkemFußgängerverkehr im Einkaufszentrum ausweichen mußte, war das Foto klar undzeigte ein nettes Gesicht, glattrasiert, mit kraftvollen Zügen und jungenhaftgutaussehend. Easter war siebenundzwanzig, soviel wußten sie bestimmt. KeineBrille. Kein Nasenring oder irrer Haarschnitt. Keinerlei Hinweis darauf, daß ereiner der üblichen Computerfreaks war, die für einen Fünfer die Stunde in demLaden arbeiteten. In seinem Fragebogen stand, daß er seit vier Monaten dortwar, und außerdem stand darin, er sei Teilzeitstudent, aber sie hatten ankeinem einzigen College im Umkreis von dreihundert Meilen irgendwelcheImmatrikulations-Unterlagen gefunden. In diesem Punkt hatte er gelogen, dawaren sie ganz sicher.
Er mußte gelogen haben.Ihre Recherchiermethoden waren zu perfekt. Wenn der Junge Student wäre, dannwüßten sie auch wo, seit wann, welches Studienfach, wie gut seine Noten warenoder wie schlecht. Sie wüßten es. Er war Verkäufer in einem Computerladen ineinem Einkaufszentrum. Nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hatte er vor,sich irgendwo immatrikulieren zu lassen. Vielleicht hatte er sein Studium auchabgebrochen und bezeichnete sich trotzdem noch gern als Teilzeitstudent.Möglicherweise fühlte er sich damit besser, so als hätte er ein Ziel vor Augen,oder es hörte sich einfach gut an.
Auf jeden Fall war erkein Student, weder jetzt noch irgendwann in der jüngsten Vergangenheitgewesen. Also, konnte man ihm trauen? Zweimal war diese Frage bereits hier imZimmer durchdiskutiert worden, jedesmal, wenn sie auf der Liste auf seinenNamen stießen und sein Gesicht auf der Leinwand erschien. Sie waren so gut wieentschlossen, das Ganze als harmlose Lüge zu betrachten.
Er rauchte nicht. ImLaden herrschte striktes Rauchverbot. Aber er war gesehen (nicht fotografiert)worden, wie er im Food Garden ein Taco aß, zusammen mit einer Kollegin, die zuihrer Limonade zwei Zigaretten rauchte. Der Rauch schien Easter nicht zustören. Zumindest war er kein fanatischer Antiraucher.
Das Gesicht auf dem Fotowar schlank und braungebrannt und lächelte leicht mit geschlossenen Lippen. Dasweiße Hemd unter dem roten Ladenjackett hatte einen nicht angeknöpften Kragen,und er trug eine geschmackvoll gestreifte Krawatte. Er wirkte nett, gut inForm, und der Mann, der das Foto gemacht hatte, hatte sogar mit Nicholasgesprochen, angeblich auf der Suche nach irgendeinem veralteten Ersatzteil, undmeinte, er sei redegewandt, hilfsbereit, kenntnisreich, ein netter junger Mann.Sein Namensschild wies Easter als Co-Manager aus, aber es gab in dem Laden nochzwei weitere Verkäufer mit demselben Titel.
Einen Tag, nachdem dasFoto aufgenommen worden war, betrat eine attraktive junge Frau in Jeans denLaden und zündete sich, während sie sich die Software anschaute, eine Zigarettean. Zufällig war Nicholas Easter der ihr am nächsten stehende Verkäufer oderCo-Manager oder was immer er war, und er trat höflich auf die Frau zu und batsie, ihre Zigarette auszumachen. Sie gab sich verärgert, ja beleidigt, undversuchte ihn zu provozieren. Er blieb dennoch zuvorkommend und erklärte ihrnur, daß in dem Laden ein striktes Rauchverbot herrsche. Es stünde ihr frei,woanders zu rauchen. »Stört es Sie, wenn geraucht wird?« hatte sie gefragt undeinen Zug getan. »Eigentlich nicht«, hatte er erwidert. »Aber es stört denMann, dem dieser Laden hier gehört.« Dann hatte er sie abermals gebeten, ihreZigarette auszumachen. Im Grunde sei sie ja auch wegen eines neuenDigitalradios da, erklärte sie ihm, also, wäre es wohl möglich, daß er ihr einenAschenbecher besorgte? Nicholas holte eine leere Coladose unter dem Tresenhervor, nahm ihr die Zigarette ab und drückte sie aus. Sie unterhielten sichzwanzig Minuten über Radios, während sie sich bemühte, ihre Wahl zu treffen.Sie flirtete schamlos, und er nützte die Chance. Nachdem sie das Radio bezahlthatte, gab sie ihm ihre Telefonnummer. Er versprach, sie anzurufen.
Die Episode dauertevierundzwanzig Minuten und wurde von einem kleinen, in ihrer Handtascheversteckten Recorder aufgezeichnet. Das Band war beide Male abgespielt worden,während die Anwälte und ihre Experten sein auf die Leinwand projiziertesGesicht studierten. Ihr schriftlicher Bericht über das Zusammentreffen lag inder Akte, sechs maschinegeschriebene Seiten mit ihren Beobachtungen über alles,von seinen Schuhen (alte Nikes), über seinen Atem (Zimt-Kaugummi) und seinVokabular (College-Niveau) bis hin zu der Art, wie er mit der Zigarette umging.Ihrer Ansicht nach, und sie hatte Erfahrung in solchen Dingen, hatte er niegeraucht.
Sie lauschten seinerangenehmen Stimme mit dem professionellen Verkäufertonfall und seinem nettenGeplauder, und sie mochten ihn. Er war intelligent und kein absoluterTabakhasser, nicht gerade ihr Modell-Geschworener, aber eindeutig jemand, denman im Auge behalten mußte. Das Problem mit Easter, Anwärter auf das Amt einesGeschworenen Nummer sechsundfünfzig, war, daß sie so wenig über ihn wußten. Wiees schien, war er vor weniger als einem Jahr an der Golfküste gelandet, und siehatten keine Ahnung, wo er herkam. Seine Vergangenheit lag vollkommen imdunkeln. Er hatte acht Blocks vom Gerichtsgebäude von Biloxi entfernt einekleine Wohnung gemietet - sie hatten Fotos von dem Mietshaus - und zuerst alsKellner in einem der Kasinos am Strand gearbeitet. Dann war er schnell zumGeber am Black Jack-Tisch aufgestiegen, hatte aber nach zwei Monaten gekündigt.
Kurz nachdem Mississippidas Glücksspiel legalisiert hatte, waren über Nacht an der Küste ein DutzendKasinos aus dem Boden geschossen und hatten einen heftigen Konjunkturaufschwungausgelöst. Jobsucher kamen aus allen Richtungen, und so konnte man mit einigerGewißheit annehmen, daß Nicholas Easter aus denselben Gründen nach Biloxigekommen war wie zehntausend andere Leute auch. Das einzig Merkwürdige daranwar, daß er sich so schnell in die Wählerliste hatte eintragen lassen.
Er fuhr einen VW-Käfervon 1969; ein Foto davon wurde auf die Leinwand projiziert und nahm den Platzseines Gesichts ein. Na großartig. Er war siebenundzwanzig, ledig, angeblicher Teilzeitstudent- der perfekte Typ für so einen Wagen. Keine Aufkleber. Nichts, was aufpolitische Neigungen oder seine soziale Einstellung oder auch nur eineLieblings-Baseballmannschaft hindeutete. Kein Parkausweis von einem College.Nicht einmal eine verblichene Händlerreklame. Der Wagen sagte ihnen gar nichts,außer daß sich sein Eigentümer am Rande der Mittellosigkeit befand.
Der Mann, der denProjektor bediente und den größten Teil des Redens besorgte, war Carl Nussman,ein Anwalt aus Chicago, der nicht mehr in seinem ursprünglichen Beruf tätigwar, sondern statt dessen seine eigene Juryberater-Firma leitete. Für einkleines Vermögen konnten Carl Nussman und seine Leute jedem die richtige Juryzusammenstellen. Sie sammelten Material, machten Fotos, zeichneten Stimmen auf,ließen genau im richtigen Moment Blondinen in engen Jeans aufmarschieren. Carlund seine Mitarbeiter umschifften sämtliche Klippen von Gesetz und Ethik, aberman konnte sie einfach nicht dafür drankriegen. Schließlich war nichts Illegalesoder Unethisches am Fotografieren potentieller Geschworener. Sie hatten vorsechs Monaten, dann noch mal vor zwei Monaten und vor einem Monat wiedererschöpfende Telefonumfragen in Harrison County durchgeführt, umherauszufinden, wie man dort über das Thema Tabak dachte und danach Modelle derperfekten Geschworenen auszuarbeiten. Sie ließen kein Foto unaufgenommen, keineschmutzige Wäsche unberührt. Über jeden potentiellen Geschworenen hatten sieeine eigene Akte.
Carl drückte auf einenKnopf, und an die Stelle des VW trat ein nichtssagendes Foto von einemMietshaus mit abblätternder Farbe, das Heim, irgendwo drinnen, von NicholasEaster. Dann ein Klick, und wieder zurück zu seinem Gesicht.
»Also haben wir nur diedrei Fotos von Nummer sechsundfünfzig«, sagte Carl mit einem Anflug vonFrustration, während er sich umdrehte und den Fotografen anfunkelte, einenseiner zahllosen Privatschnüffler, der erklärt hatte, er könnte den Jungeneinfach nicht erwischen, ohne dabei selbst erwischt zu werden. Der Fotograf saßauf einem Stuhl an der hinteren Wand, mit dem Gesicht zu dem langen Tischvoller Anwälte, Anwaltsgehilfen und Jury-Experten. Er war ziemlich angeödet undhätte sich am liebsten verdrückt. Es war sieben Uhr am Freitagabend. Nummersechsundfünfzig war auf der Leinwand, hundertvierzig standen noch bevor. DasWochenende würde furchtbar werden. Er brauchte einen Drink.
Ein halbes DutzendAnwälte in zerknitterten Hemden und mit aufgerollten Ärmeln kritzelte endloseNotizen und schaute gelegentlich auf das Gesicht von Nicholas Easter dorthinter Carl. Alle möglichen Jury-Experten - Psychiater, Soziologen,Schriftanalytiker, Juraprofessoren und so weiter - hantierten mit Papieren undblätterten in daumendicken Computerausdrucken. Sie waren nicht sicher, was siemit Easter anfangen sollten. Er war ein Lügner, und er verbarg seineVergangenheit, aber auf dem Papier und auf der Leinwand sah er trotzdem okayaus.
Vielleicht log er ja auchnicht. Vielleicht war er im vergangenen Jahr Student an irgendeinem billigenJunior College im Osten von Arizona gewesen, und vielleicht war ihnen daseinfach entgangen.
Laßt es dem Jungendurchgehen, dachte der Fotograf, sprach es aber nicht aus. In diesem Zimmervoller hochgebildeter und hochbezahlter Anzugträger war er der letzte, dessenAnsicht zählte. Es war nicht sein Job, auch nur ein einziges Wort zu sagen.
© Heyne Verlag
Übersetzer: ChristelWiemken
Autoren-Porträt von John Grisham
JohnGrisham wird 1955 in Jonesboro, Arkansas, als Sohneines kleinen Bauunternehmers geboren. Er studiert Jura an der Universität vonMississippi und wird Anwalt und Strafverteidiger. 1983 wird er ins Parlamentdes Staates Mississippi gewählt. Aus Spaß beginnt er seinen ersten Roman undschreibt ihn jeden Morgen vor der Arbeit in seiner Kanzlei. 1988 erscheint seinerster Gerichstthriller Die Jury mit einer Auflage von 5000 Exemplaren. Mit seinem zweitenRoman Die Firma wird Grishamendgültig zum Bestsellerautor und hängt im Frühjahr 1991 seinen Beruf alsAnwalt und seine politischen Ämter an den Nagel, um nur noch als Schriftstellerzu arbeiten. Ihm gelingt, was noch keinem Autor bisher geglückt ist: er ist mitvier Titeln gleichzeitig in den Bestseller-Listen der New York Times Book Review vertreten, wobei ersowohl die Hardcover- als auch die Paperback-Liste anführte.
Mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt der strenggläubige Baptist inOxford, einer Kleinstadt in Tennessee (wo schon William Faulkner lebte).
- Autor: John Grisham
- 1998, 5, 544 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,5 x 18 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Christel Wiemken
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453136411
- ISBN-13: 9783453136410
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