Das verlorene Labyrinth
Die Wissenschaftlerin Alice stößt in Südfrankreich auf eine Höhle mit der geheimnisvollen Zeichnung eines Labyrinths an der Wand. Alice spürt, dass an diesem Ort etwas Unheilvolles auf sie lauert.
800 Jahre zuvor: Die junge Alais soll in Carcassonne das...
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Die Wissenschaftlerin Alice stößt in Südfrankreich auf eine Höhle mit der geheimnisvollen Zeichnung eines Labyrinths an der Wand. Alice spürt, dass an diesem Ort etwas Unheilvolles auf sie lauert.
800 Jahre zuvor: Die junge Alais soll in Carcassonne das Erbe einer Geheimgesellschaft bewahren: drei Bücher, deren Inhalt die Welt aus den Angeln heben würde.
Achthundert Jahre zuvor erhält die junge Alaïs am selben Ort ein Buch mit fremdartigen Zeichen, deren schicksalhafte Bedeutung sie kennt. Sie weiß, dass sie das Geheimnis des Buches hüten muss um jeden Preis.
Verlust, Intrige, Gewalt und Leidenschaft prägen fortan das Leben beider Frauen. Und immer wieder werden ihrer beider Schicksale durch das Labyrinth auf geheimnisvolle Weise miteinander verknüpft
Das verloreneLabyrinth von Kate Mosse
LESEPROBE
Südwestfrankreich, 4.Juli 2005
Das Thermometer zeigteknapp unter dreiunddreißig Grad im Schatten an. Alice saß unter dem Sonnenzelt,geschützt vor der sengenden Hitze. Die Wunde auf der Innenseite ihres Ellbogenswar desinfiziert und frisch verbunden worden.
Die Polizei war vor einerhalben Stunde eingetroffen. Alice hatte angenommen, dass sie sich zuerst mitihr unterhalten würden, doch sie hatten sich nur vergewissert, dass siediejenige war, die die Skelette gefunden hatte, und sie dann mit dem Hinweis,sie später befragen zu müssen, zurückgelassen. Alice griff in ihren Rucksackund holte einen Stift und ihren Zeichenblock heraus. Sie begann zu zeichnen.Sie arbeitete schnell, jetzt, wo sie die Dimensionen des Raumes im Kopf hatte.Tunnel, Öffnung, Kammer. Auf einem zweiten Blatt zeichnete sie den unterenBereich, von den Stufen zum Altar und die beiden Skelette auf halber Streckedazwischen. Neben die Skizze vom Grab schrieb sie eine Liste mit denGegenständen: Messer, Lederbeutel, Stoffreste, Ring. Der Ring war auf derOberseite ganz glatt und eben gewesen, erstaunlich dick, mit einer schmalenRille in der Mitte. Seltsam, dass die Gravur auf der Unterseite war, wo niemandsie sehen konnte. Nur sein Träger wusste von ihr. Eine Miniaturreplik desLabyrinths, das in die Wand hinter dem Altar gemeißelt war.
Alice lehnte sich zurück,irgendwie widerstrebte es ihr, das Bild zu Papier zu bringen. Wie groß? Wieviele Umläufe? Sie zeichnete einen Kreis, der fast das gesamte Blatt einnahm,dann hielt sie inne. Wie viele Linien? Alice wusste, dass sie das Muster wiedererkennenwürde, wenn sie es sah, aber sie hatte den Ring nur für wenige Sekunden in derHand gehalten und das in die Wand gemeißelte Labyrinth nur aus einigerEntfernung in dem dunklen Raum gesehen.
Irgendwo in denverwinkelten Räumen ihrer Erinnerung war das Wissen, das sie brauchte.Geschichts- und Lateinunterricht in der Schule, in ihrem Zimmer ein kleinesHolzregal mit ihrem Lieblingsbuch auf dem untersten Brett. Eine illustrierteEnzyklopädie alter Mythen.
Da war ein Bild von einemLabyrinth.
Vor ihrem geistigen Augeschlug Alice die richtige Seite auf.
Aber es war anders. Sielegte die Bilder nebeneinander, wie bei einem Fehlersuchspiel in der Zeitung.
Sie griff nach dem Stiftund versuchte es erneut. Entschlossen, sich nicht so leicht entmutigen zulassen, zeichnete sie einen zweiten Kreis in den ersten und versuchte, diebeiden zu verbinden. Vergeblich. Auch ihr nächster Versuch kam der Sache nichtnäher, der danach genauso wenig. Ihr wurde klar, dass es nicht allein daraufankam, wie viele Ringe sich auf das Zentrum zubewegten, sondern dass mit ihremEntwurf irgendwas grundsätzlich nicht stimmte. Alice versuchte es weiter, dochihre anfängliche Begeisterung machte dumpfer Frustration Platz.
Alice sank müde in ihrenSessel zurück und blickte aus dem Zelt hinaus. Ganz kurz sah sie ganz kurzeinen großen Mann in Zivil. Ihr stockte der Atem und sie spürte ein Prickelnder Beklommenheit.
Der Mann fiel nicht nurdurch seine Kleidung und Haltung auf. Selbst auf diese Entfernung konnte Aliceseine starke Persönlichkeit, sein Charisma spüren. Sein Gesicht war blass undhager, was durch sein dunkles, glatt aus der hohen Stirn gekämmtes Haar nochbetont wurde. Er hatte etwas Klösterliches an sich. Er kam ihr bekannt vor.
Sei nicht albern. Wohersolltest du ihn kennen?
Sie konnte sich nichterklären, warum, aber ihre Handflächen waren vor Angst schweißnass. Ihrsträubten sich die Nackenhaare, genau wie in dem Augenblick, als sie in derKammer das Geräusch gehört hatte. Sie konnte kaum atmen.
Das ist alles deineSchuld. Du hast ihn hierher geführt.
Alice riss sich zusammen.Was redest du dir da ein? Aber die Stimme in ihrem Kopf wollte nicht schweigen.
Du hast ihn hierhergeführt.
Ihre Augen kehrten wiemagnetisch angezogen zum Höhleneingang zurück. Sie konnte sich nicht dagegenwehren. Der Gedanke, dass er dort drin war, nach allem, was getan worden war,um das Labyrinth verborgen zu halten.
Er wird es finden.
»Was denn finden?«,murmelte sie vor sich hin. Sie wusste es nicht.
Aber sie wünschte, siehätte den Ring an sich genommen.
Ein hartnäckiges Klingelnin den Ohren riss Alice aus dem Schlaf.
Wo bin ich? Das beigeTelefon auf dem Regal über dem Bett klingelte weiter.
Ach so, natürlich. IhrHotelzimmer in Foix. Sie war von der Ausgrabung zurückgekommen, hatte ein weniggepackt und dann geduscht. Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass siesich nur für fünf Minuten aufs Bett gelegt hatte.
Alice tastete nach demHörer. »Oui. Allô?«
Die Hotelbesitzerin,Madame Annaud erklärte, dass unten am Empfang jemand auf Alice wartete.
»Okay«, seufzte sie. »Jarrive.«
Der Empfangsbereich warmenschenleer. Sie spähte in das Halbdunkel und erwartete, Madame Annaud dorthinter der hohen Holztheke sitzen zu sehen, aber sie war nicht da. Alice warfeinen Blick in die Besucherecke. Doch es saß weder jemand auf den alten, etwasverstaubten Korbsesseln noch auf den beiden großen Ledersofas, die im rechtenWinkel vor dem Kamin standen, den Pferdeplaketten und Souvenirs von ehemaligenGästen schmückten. Ein schiefes Postkartenrondell rührte sich nicht.
Alice ging zurück zurEmpfangstheke und schlug auf die Klingel. Der Perlenvorhang im Türdurchgangklimperte, als Monsieur Annaud aus den Privaträumen der Familie erschien.
»Il y a quelquunpour moi?«
Er kam hinter der Thekehervor, sah selbst nach und zuckte dann überrascht mit den Schultern. »Dehors?«Draußen? Er ahmte einen rauchenden Mann nach.
Alice schaute draußennach links und rechts, doch es schien niemand auf sie zu warten. Verwundertwollte sie wieder hineingehen, als ein Mann aus einem Türeingang trat. Er warAnfang zwanzig und trug einen hellen Sommeranzug. Sein volles schwarzes Haarwar adrett kurz geschnitten, und seine Augen verbargen sich hinter einerdunklen Brille. Er hielt eine Zigarette in der Hand.
»Dr. Tanner.«
»Oui«, sagte sievorsichtig.
Er griff in seineBrusttasche. »Pour vous. Tenez«, sagte er und hielt ihr einen Umschlag hin. Erblickte die ganze Zeit hektisch hin und her, fürchtete offensichtlich, vonjemandem gesehen zu werden. Plötzlich erkannte Alice in ihm den jungenuniformierten Beamten wieder, der Inspektor Noubel begleitet hatte.
Er wechselte die Sprache.»Bitte«, sagte er drängend. »Nehmen Sie das.«
»Vous êtes avec InspecteurNoubel?«, hakte sie nach.
Winzige Schweißperlenstanden ihm auf der Stirn. Er überrumpelte Alice, indem er ihre Hand packte undden Umschlag hineinschob.
»He!«, wehrte sie sich.»Was ist das?«
Aber er war schon ineinem der vielen Gässchen verschwunden, die zur Burg hinaufführten.
Einen Moment lang starrteAlice die leere Stelle auf der Straße an und überlegte halbherzig, ob sie ihmfolgen sollte. Dann entschied sie sich dagegen. Die Wahrheit war, er hatte ihrAngst eingejagt. Sie beäugte den Brief in ihrer Hand, als wäre er eine Bombe,die jeden Moment hochgeht, dann atmete sie tief durch und schob den Fingerunter die Lasche. In dem Umschlag war ein Blatt billiges Schreibpapier, auf demin kindlichen Großbuchstaben APPELEZ. Bitte anrufen! stand. Darunter war eineTelefonnummer: 02 68 72 31 26.
Alice runzelte die Stirn.Es war keine hiesige Nummer. Die Vorwahl für die Ariège war 05.
Sie drehte das Blatt um,aber die Rückseite war leer. Sie wollte den Zettel in den nächsten Abfalleimerwerfen, überlegte es sich jedoch anders. Ich kann ihn ja erst einmal behalten.Sie schob ihn in die Tasche, warf den Umschlag in den vor Eispapierüberquellenden Mülleimer und ging dann verwirrt wieder hinein.
Den Mann, der aus demEingang zu dem Café gegenüber trat, sah sie nicht. Als er in den Mülleimergriff, um den Umschlag herauszuholen, war sie schon wieder in ihrem Zimmer.
Das Adrenalin rauschteihm durch die Adern, als Yves Biau endlich aufhörte zu rennen und erschöpftstehen blieb. Er beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und rang nachLuft. Biau wusste, dass er verfolgt wurde. Sie - wer immer sie waren - hattengar nicht erst versucht, unbemerkt zu bleiben. Seine Hand glitt zu der Pistoleunter seinem Jackett. Wenn er es jetzt über die Grenze nach Andorra schaffte,ehe sie merkten, dass er weg war, würde ihm vielleicht nichts passieren. Biauhatte eingesehen, dass es zu spät war, die Ereignisse aufzuhalten, die erselbst mit in Gang gesetzt hatte. Er hatte alles getan, was sie ihm gesagthatten, aber sie kam immer wieder. Was auch immer er tat, es würde nie genugsein.
Das Päckchen war mit derletzten Post an seine Großmutter abgegangen. Sie würde wissen, was damit zu tunwar. Es war das Einzige, was ihm einfiel, um wieder gutzumachen, was er getanhatte.
Biau blickte die Straßehinauf und hinunter. Es war niemand zu sehen.
Er ging los, näherte sichseiner Wohnung auf einem umständlichen Umweg. Für den Fall, dass sie dortbereits auf ihn warteten. Denn wenn er aus dieser Richtung kam, sah er sievielleicht, bevor sie ihn entdeckten. Als er über den überdachten Markt ging,registrierte sein Unterbewusstsein den silberfarbenen Mercedes auf der Place Saint-Volusien,aber er achtete nicht weiter darauf. Er hörte nicht das leise Hüsteln desMotors im Leerlauf, hörte nicht, wie ein Gang eingelegt wurde und der Wagensich allmählich in Bewegung setzte, leise über das Kopfsteinpflaster dermittelalterlichen Altstadt rollte.
Als Biau vom Trottoirtrat, um die Straße zu überqueren, beschleunigte der Wagen jäh, schoss nachvorn wie ein Flugzeug auf der Startbahn. Biau fuhr herum, das Gesicht vorSchreck erstarrt. Ein dumpfer Aufprall, und seine Beine wurden unter ihmweggerissen, als sein plötzlich schwereloser Körper gegen die Windschutzscheibeschlug und dann darüber hinwegflog. Für den Bruchteil einer Sekunde schien Biauzu schweben, ehe er mit voller Wucht gegen einen der gusseisernen Pfostenkrachte, die das Schrägdach des Marktes stützten.
Der Mercedes hielt nichtan.
Zuerst schenkte Alice demGeräusch keine Beachtung. Doch das lauter werdende Sirenengeheul lockte auchsie schließlich ans Fenster.
Das hat nichts mit dir zutun.
Es bestand kein Grund,sich einzumischen. Und doch, ohne selbst recht zu wissen, warum, verließ Alicedas Hotel und ging Richtung Marktplatz.
Ein Polizeiauto mitlautlos rotierendem Blaulicht sperrte die kleine Straße ab, die auf eine Eckedes Platzes stieß. Direkt auf der anderen Seite hatten Menschen einen Halbkreisum irgendetwas oder irgendjemanden auf dem Boden gebildet.
Alice böse Vorahnungwurde stärker, je näher sie kam. Der Gedanke, was sie dort vielleichterwartete, war fast unerträglich, und doch konnte sie nicht stehen bleiben.Gesichter wandten sich um, das Dickicht aus Armen und Beinen und Leibernöffnete sich gerade lange genug, dass Alice den Körper auf dem Boden sehenkonnte. Heller Anzug, schwarzes Haar, daneben eine Sonnenbrille mit braunenGläsern und Goldbügeln.
Das kann er nicht sein.
Alice drängte sich durchdie Menge, stieß Leute beiseite, bis sie ganz vorn war. Der junge Mann lagreglos auf dem Boden. Unwillkürlich griff ihre Hand nach dem Blatt Papier inihrer Tasche.
Das kann kein Zufallsein.
Carcassonne, Juli 1209
Zweige und Blätterraschelten, als Alaïs sich bewegte.
Sie hatte den sattenGeruch von Moos, Flechten und Erde in der Nase, im Mund. Etwas Spitzes bohrtesich in ihren Handrücken, ein winzig kleiner Stich, der sofort anfing zubrennen. Eine Mücke oder Ameise. Sie konnte spüren, wie das Gift in ihr Blutdrang. Alaïs wollte das Insekt wegwischen. Von der Bewegung wurde ihr übel.
Wo bin ich?
Die Antwort, wie einEcho. Defòra. Draußen.
Sie lag mit dem Gesichtnach unten auf der Erde. Ihre Haut war klamm und ein wenig kalt vom Tau.Tagesanbruch oder Abenddämmerung? Ihre Kleidung war ein einziges feuchtesKnäuel um sie herum. Ganz behutsam gelang es Alaïs, sich in eine sitzendePosition zu hieven und sich mit dem Rücken gegen den Stamm einer Buche zulehnen.
Doçament. Langsam,vorsichtig.
Durch die Bäume oben amHang konnte sie sehen, dass der Himmel weiß war und zum Horizont hin eine rosaFärbung annahm. Flache Wolken trieben wie ruhige Schiffe dahin. Sie erkanntedie schwarzen Umrisse von Trauerweiden. Hinter ihr waren Birnen- undApfelbäume, so spät im Jahr gelbbraun und blass.
Also Morgendämmerung. Alaïskonzentrierte sich auf ihre Umgebung. Alles kam ihr sehr grell und blendendvor, obwohl die Sonne noch nicht am Himmel stand. Sie hörte Wasser irgendwo inder Nähe, das flach und gemächlich über Steine plätscherte. Weiter weg dastypische Kwäck-Kwäck einer Adlereule, die von ihrer nächtlichen Jagdzurückkehrte.
Alaïs blickte auf ihreArme, die mit kleinen, leuchtend roten Stichen übersät waren. Sie untersuchteauch die Kratzer und Risse an den Beinen. Abgesehen von den Insektenstichenhatte sie Ringe aus getrocknetem Blut um die Fußknöchel. Sie hob die Händedicht vors Gesicht. Die Fingerknöchel waren blutunterlaufen und aufgeschürft.Rostrote Streifen zwischen den Fingern.
Eine Erinnerung. Wie siean den Füßen über den Boden geschleift wurde.
Nein, noch davor.
Der Weg durch den Hof.Lichter in den oberen Fenstern.
Angst kribbelte ihr imNacken. Schritte im Dunkeln, die schwielige Hand auf ihrem Mund, dann der Schlag.
Perilhòs. Gefahr.
Sie hob die Hand an denKopf und zuckte zusammen, als ihre Finger die klebrige Masse aus Blut undHaaren hinter dem Ohr berührten. Sie schloss fest die Augen, versuchte dieErinnerung an die Hände auszublenden, die wie Ratten über sie hinwegkrochen.Zwei Männer. Ein alltäglicher Geruch, nach Pferden, Bier und Stroh.
Hatten sie den merelgefunden?
Alaïs wollte aufstehen.Sie musste ihrem Vater erzählen, was geschehen war. Er wollte nach Montpellier,das wusste sie noch. Sie musste ihn vorher sprechen. Sie versuchte sichaufzurichten, doch ihre Beine trugen sie nicht. Wieder drehte sich alles, undsie fiel, fiel, glitt zurück in einen schwerelosen Schlaf. Sie wollte dagegenankämpfen und bei Bewusstsein bleiben, doch vergeblich. Vergangenheit undGegenwart und Zukunft waren jetzt nur Teil einer unendlichen Zeit, die sichweiß vor ihr erstreckte. Farbe und Klang und Licht verloren jede Bedeutung.
Alaïs erwachte, als dasMorgengrauen ins Zimmer schlich. Irgendwann während der langen Stunden zwischenMitternacht und Tagesanbruch war sie zu einer Entscheidung gelangt. Sie konntenicht tatenlos dasitzen und auf die Rückkehr ihres Vaters warten. Als er vonseiner heiligen Pflicht gegenüber der Noublesso de los Seres und dem Geheimnis,das sie hüteten, gesprochen hatte, war ihr deutlich geworden, dass seine Ehreund sein Stolz von seiner Fähigkeit abhingen, seinen Schwur zu erfüllen. IhrePflicht war es jetzt, ihn zu suchen, ihm zu erzählen, was alles geschehen war,und das Ganze wieder in seine Hände zu legen.
Handeln ist in jedem Fallbesser als Nichtstun.
Alaïs befühlte die Beulean ihrem Hinterkopf, der Beweis, dass jemand ihr etwas antun wollte. Wenn sieschon sterben musste, dann doch lieber mit dem Schwert in der Hand. Sie wolltenicht einfach abwarten, bis ihre Feinde erneut zuschlugen.
Um keine Zeit zuvergeuden, machte Alaïs sich gleich an die Arbeit. Wenn ihr Plan gelingensollte, musste sie jedermann davon überzeugen, sie sei zu schwach, um sich weitvon zu Hause fortzuwagen. Niemand am Hof durfte wissen, dass sie nachMontpellier wollte.
Sie holte ihr Schwert ausseinem Versteck unter dem Bett hervor.
Zu Alaïs Erleichterungwar nur Amiel im Stall, der älteste Sohn des Hufschmieds. Amiel sah nach, obdie Hufe und Hufeisen der Stute in Ordnung waren, dann warf er dem Tier eineSatteldecke über und sattelte es mit einem normalen Reitsattel. Schließlichzäumte er die Stute auf. Alaïs spürte die Anspannung in ihrer Brust. Bei jedemnoch so leisen Geräusch im Hof zuckte sie zusammen und fuhr herum, wenn sieeine Stimme hörte.
Erst als Amiel fertigwar, holte Alaïs ihr Schwert unter dem Mantel hervor.
»Die Klinge ist stumpf«,sagte sie.
Ihre Blicke trafen sich.Ohne ein Wort nahm Amiel das Schwert und ging damit zum Amboss in der Schmiede.
»Das ist ein gutesSchwert, Dame Alaïs«, sagte er ruhig. »Es wird Euch gute Dienste tun,obwohl Ich bete zu Gott, dass Ihr es nicht gebrauchen müsst.«
Sie lächelte. »Ieu tanben.«Ich auch.
»Gott sei mit Euch, Dame Alaïs«,flüsterte Amiel, als Alaïs ihm einen sol in die Hand drückte. Die Wachenöffneten das Tor, und Alaïs trieb Tatou mit pochendem Herzen hinaus, über dieBrücke und auf die frühmorgendlichen Straßen von Caracassonne.
Kaum hatte Alaïs diePorte Narbonnaise hinter sich gelassen, ließ sie Tatou losgaloppieren.
Libertat. Freiheit.
Alaïs empfand ein tiefesGefühl der Harmonie mit der Natur, als sie der aufgehenden Sonne entgegenritt.Der Wind wehte ihr die Haare aus dem Gesicht und färbte ihre Wangen. Während Tatoudurch das weite Land galoppierte, fragte sie sich, ob sich so vielleicht dieSeele fühlte, wenn sie den Körper verließ und ihre viertägige Reise zum Himmelantrat. Dieses Gespür für Gottes Gnade, dieses Zurücklassen aller niederenDiesseitigkeit, das Wegfallen des Körperlichen, bis nur noch Geist übrig blieb?
Alaïs lächelte. Die parfaitspredigten, dass eine Zeit kommen würde, da alle Seelen errettet und alle Fragenim Himmel beantwortet würden. Doch vorläufig wollte sie lieber noch warten. Esgab hier auf Erden noch zu viel zu tun, als dass sie jetzt schon daran denkenwollte, sie zu verlassen.
Ihr Schatten reckte sichlang hinter ihr, und alle Gedanken an den Hof, alle Ängste verblassten. Sie warfrei.
© DroemerKnaur Verlag
Übersetzung: Klaus Timmermannund Ulrike Wasel
1
- Autor: Kate Mosse
- 2006, 751 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Ulrike Wasel, Klaus Timmermann
- Verlag: Droemer/Knaur
- ISBN-10: 342663161X
- ISBN-13: 9783426631614
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