Das Weihnachtswunder
Die luxusverwöhnte Meg steht mit ihrer Familie vor dem finanziellen Ruin. Und das kurz vor Weihnachten. Sie beschließen, zum Fest zu Megs Eltern zu fahren. Doch ein Unfall führt sie auf den Hof einer Amisch-Familie, die ein einfaches Leben...
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Produktinformationen zu „Das Weihnachtswunder “
Die luxusverwöhnte Meg steht mit ihrer Familie vor dem finanziellen Ruin. Und das kurz vor Weihnachten. Sie beschließen, zum Fest zu Megs Eltern zu fahren. Doch ein Unfall führt sie auf den Hof einer Amisch-Familie, die ein einfaches Leben führen. Und dadurch erkennt Meg wieder, was wirklich wichtig ist im Leben.
Lese-Probe zu „Das Weihnachtswunder “
Das Weihnachtswunder von Cynthia Keller1
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Mama, du siehst echt traurig aus.«
Meg schreckte aus ihrer Tagträumerei auf, als ihre Tochter Lizzie die Küche betrat. Sie hatte da gestanden, beide Ellbogen auf die Arbeitsfläche gestützt, und auf das große Tablett mit Plätzchen gestarrt, die unberührt vor ihr lagen. Sie griff nach oben, um den hohen Hexenhut abzunehmen, den sie die letzten zwei Stunden getragen hatte, und legte ihn neben das Tablett.
»So niedliche Plätzchen, findest du nicht?«, fragte Meg ihre Tochter mit wehmütiger Stimme. »Und dieses Jahr ist noch nicht ein einziger Halloween-Besucher gekommen, ich kann es gar nicht glauben.«
Lizzie, die ihren Laptop unter dem Arm trug, blieb stehen und sah sich das Werk ihrer Mutter genauer an. »Ja sag mal, Alte, wie lange hast du denn bloß gebraucht, um die alle zu machen? Ist ja der Wahnsinn!«
»Sag nicht immer Alte zu mir«, antwortete ihre Mutter automatisch. »Ich wollte mal was anderes ausprobieren, einfach so zum Spaß. War gar keine große Sache.«
Es kam natürlich überhaupt nicht in Frage, dass sie ihrer fünfzehnjährigen Tochter gestand, wie lange das Ganze gedauert hatte. Nachdem sie endlich die richtigen Schokoladenkekse ausfindig gemacht hatte - die mit der Vertiefung in der Mitte -, hatte sie mit Zuckerguss Schokoladenküsschen mit der Spitze nach oben aufgeklebt und dann mit einer winzigen Tube rotem Guss noch Hutbänder und Bogen aufgemalt. So waren viele, viele Reihen kleiner Hexenhüte entstanden. Bewundernswert. Und wo würden sie enden? In unergründlichen Tiefen. Oder anders gesagt: in den Mägen ihres dreizehnjährigen Sohnes Will und seiner Freunde.
»Ehrlich, ich verstehe nicht, warum du dir so viel Mühe machst«, hörte sie Lizzies gedämpfte Stimme aus der Speisekammer. Meg wusste, ihre Tochter machte sich gerade über ihren Lieblings-Abendsnack her, Pop Tarts direkt aus der Packung. »Das weiß doch kein Mensch zu schätzen. So was Dämliches.«
Meg seufzte leise. Schon möglich, dass es dämlich war, die Gespenster aus Papiertaschentüchern an den Bäumen im Vorgarten aufzuhängen. Vielleicht war es auch dämlich, eine Kürbislaterne zu schnitzen und in die Mitte der Dekoration am Eingang zu setzen, mit Heu, Zierkürbissen, einer ausgestopften Vogelscheuche und allem Drum und Dran. Und vermutlich waren Lizzie und Will inzwischen zu alt für die riesigen Figuren von Hexen und Gnomen, die sie an die Fenster geklebt hatte. Lizzie war gerade in diesem schwierigen Zwischenstadium - zu cool, um noch mit den Freundinnen durch die Nachbarschaft zu ziehen und Süßigkeiten zu erbetteln, aber insgeheim voller Vorfreude auf nächstes Jahr, wenn einige der Jugendlichen vielleicht schon den Führerschein hatten. Dann würde es Partys geben, vermutete Meg, und sicher nicht ohne Alkohol. Will hatte sich in diesem Jahr auch zum ersten Mal geweigert, von Haus zu Haus zu ziehen. Er zog es vor, mit seinen Kumpels in irgendeiner Einfahrt um den Basketballkorb herumzulungern. Aber sie hatte gedacht, vielleicht würde Sam, ihr Neunjähriger, noch Spaß an den Dekorationen haben. Falsch gedacht. Er schien sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und hatte lustlos an ein paar Haustüren geklingelt, bevor er erklärt hatte, es reiche ihm jetzt mit diesem blöden Feiertag.
Was in aller Welt war mit Halloween passiert? Als sie ein Kind gewesen war, hatten sie so viel Unfug getrieben! Wussten diese Kinder heutzutage nicht mehr, wie man einen Feiertag genoss? Im Übrigen hatte sie sich dieses Jahr schon sehr zurückgehalten; früher hatte sie Stunden und Aber-stunden damit zugebracht, Plätzchen für die Nachbarskinder zu backen. Dieses Jahr hatte sie nur fertige Zutaten zusammenmontiert.
Als Lizzie, mit ihrem Snack versorgt, die Küche verließ, war das scharrende Geräusch der Garagentür zu hören: Megs Mann kam nach Hause. Sie beobachtete James, wie er das Haus betrat und seine Aktentasche im Windfang abstellte, bevor er zu ihr in die Küche kam. Er sah erschöpft aus. Als leitender Justiziar einer großen Softwarefirma verdiente er sein Geld mehr als sauer. Irgendwie war es ihm aber immer gelungen, mit dem endlosen Druck umzugehen, stets erreichbar zu sein und eine Krise nach der anderen mit kühlem Kopf zu managen. Wobei das noch lange nicht alle Anforderungen seines Jobs waren.
Er zog sein Jackett aus und gab Meg einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Happy Halloween«, sagte Meg fröhlich.
»Mmmm.« Seine Aufmerksamkeit galt bereits der Post, die er am gewohnten Platz auf dem Küchenschrank vorgefunden hatte. Als er die Umschläge durchblätterte, verzog er das Gesicht.
»Was Schlimmes dabei?«
»Zu viele Rechnungen, Meg.« Er klang verärgert. »Zu viele Rechnungen. Das muss endlich aufhören.«
Sie gab keine Antwort. In den achtzehn Jahren ihrer Ehe hatte sich James nur selten über die Rechnungen beklagt. Natürlich war er nicht gerade glücklich über die Gebühren, die die Privatschule der Kinder kostete, aber es war schließlich ihre gemeinsame Entscheidung gewesen, die drei dorthin zu schicken. Außerdem wussten sie beide und alle ihre Freunde, dass seine Frau die Sparsame war. Er war derjenige, der gern Geld ausgab.
Meg hatte immer Verständnis dafür gehabt, dass materieller Besitz und Statussymbole ihrem Mann so wichtig waren. Er hatte die Designeranzüge, die ausgefallenen Armbanduhren, den teuren Schmuck gekauft. Er hatte die teuren Urlaubsreisen gebucht. Tatsächlich war es auch er gewesen, der dieses riesige Haus ausgesucht hatte. Ja, gewiss, sie hatten drei Kinder, aber Meg begriff bis heute nicht, wozu sie 1.600 Quadratmeter Grund brauchten, und das in einer der teuersten Wohngegenden von Charlotte.
James war in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen, und das hatte ganz offensichtlich seelische Wunden hinterlassen, die er mit materiellem Wohlstand zuzupflastern versuchte. Sie war nicht glücklich darüber, aber sie hatte Verständnis. Er brauchte das, um sich wohlzufühlen. Und schließlich rieb er seinen Erfolg nicht jedermann unter die Nase, er war kein Aufschneider. Aber er schien immer noch mehr von allem zu brauchen, nur um das Gefühl zu haben, mit den anderen mithalten zu können.
In letzter Zeit schien er sich allerdings dramatisch verändert zu haben. Er beklagte sich immer wieder über die Ausgaben, die sie und die Kinder verursachten.
»Willst du was essen?« Meg ging zum Kühlschrank.
Er klatschte den Poststapel zurück auf die Arbeitsfläche. »Lenk nicht vom Thema ab, ich meine das ernst! Diese ganzen Ausgaben müssen aufhören! Wir müssen den Gürtel enger schnallen.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Du hast ja recht«, sagte sie beruhigend. »Wir werden den Gürtel enger schnallen. Und jetzt sag mir, was du essen willst.«
»Ich will nichts«, schnauzte er sie an. »Ich bin in meinem Arbeitszimmer.«
Meg sah ihm ratlos hinterher. Abgesehen von seiner plötzlichen finanziellen Vorsicht, war er schon seit einiger Zeit ungewöhnlich reizbar. Und in allerletzter Zeit war es eher schlimmer geworden, nicht besser. Sie hörte, wie die Tür zu seinem Arbeitszimmer krachend ins Schloss fiel. Normalerweise war James sehr ruhig und besonnen, selbst in Krisensituationen. Gerade in Krisensituationen, korrigierte sie sich. Sie hatte diese Charaktereigenschaft immer geliebt.
Sie und James hatten sich im zweiten Studienjahr an der Universität von Illinois kennengelernt, in einem Seminar über die Amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts. Meg hatte irgendwann zu Anfang des Semesters zufällig neben ihm gesessen, und er hatte sie zum Lachen gebracht, indem er mit einem Stift, einem Schreibblock und einer leeren Coladose jonglierte. Ihr Interesse war gestiegen, als sie festgestellt hatte, dass er sich mit sämtlichen wichtigen Schlachten des Bürgerkriegs auskannte, noch bevor die Referatthemen verteilt worden waren.
Am Anfang waren sie eigentlich nur Freunde gewesen. Kleine Frotzeleien hier und da, irgendwann waren sie auch mal Kaffee trinken gegangen, dann zum Pizzaessen. Das war während der Vorbereitung auf die Prüfung am Ende des Semesters gewesen. Ihre Beziehung war erst langsam gewachsen und intensiver geworden. James hatte ihr gutgetan, er übte einen stabilisierenden Einfluss auf sie aus. Bis dahin war sie eher flatterhaft und ein wenig orientierungslos gewesen, und sie hatte seine Stärke bewundert. Er hatte so etwas Solides, nicht unbedingt in körperlicher Hinsicht, aber er hatte ihr immer ein Gefühl der Sicherheit gegeben, das Gefühl, dass er sich um sie kümmerte und für sie sorgte. Natürlich hatte es sie auch nicht wirklich gestört, dass er groß und kräftig gebaut war, erinnerte sie sich mit einem Lächeln. Er hatte dichtes blondes Haar und große, dunkle Augen, deren intensiver Blick ihr immer das Gefühl gab, der wichtigste Mensch weit und breit zu sein.
Am Ende des dritten Studienjahres waren sie sich beide darüber im Klaren gewesen, dass sie gleich nach den Abschlussprüfungen heiraten würden. Er führte sein Jurastudium weiter, während sie die erste gemeinsame Wohnung einrichtete und mit einem langweiligen, aber gut bezahlten Job als Sekretärin das Geld verdiente. Eigentlich hatten sie immer geplant, dass Meg ebenfalls Jura studieren sollte, sobald James fertig war und eine Stelle hatte. Aber irgendwann war Lizzie unterwegs gewesen, und dann hatten sie das Thema zu den Akten gelegt. Sie war auch immer gut damit zurechtgekommen, denn sie hätte keinen Augenblick mit ihren Kindern missen mögen. Außerdem wäre es sehr schwierig für sie gewesen, eine eigene berufliche Karriere voranzutreiben, denn in den folgenden Jahren hatten sie wegen James' Arbeit dreimal nicht nur den Wohnort, sondern gleich den Bundesstaat gewechselt. Seine Energie und sein schneller beruflicher Erfolg hatten ihr ein mehr als bequemes Leben ermöglicht. Sie und die Kinder hatten alles, was sie brauchten, und noch viel mehr.
Vielleicht zu viel.
Sie hörte ihren älteren Sohn die Treppe herunterkommen. Wie immer stampften seine Füße so schnell, dass man es nicht mehr als Gehen bezeichnen konnte. Seine Stimme wurde lauter, als er näher kam. »Das ist sowas von krank, echt!«
Meg verdrehte die Augen. Bei Will bedeutete dieser Begriff derzeit höchstes Lob, für was auch immer. Sie rief nach ihm.
Er steckte den Kopf zur Küchentür herein. Er war schlank und groß, ziemlich groß für einen Achtklässler, und sah seinem Vater bemerkenswert ähnlich. Im Moment war sein Gesicht allerdings fast vollständig von der Kapuze eines dunkelgrauen Sweatshirts verdeckt. »Moment mal«, sagte er zu einem unsichtbaren Gesprächspartner. »Meine Mutter, ja.«
Offenbar sprach er in sein Handy hinein, zweifellos das neueste, kleinste und technisch ausgefeilteste Gerät, das derzeit zu haben war. Sie hätte schwören können, dass sie die Hälfte der Zeit nicht wusste, ob ihre Kinder mit ihr sprachen (oder ihr zuhörten) oder miteinander oder mit irgendjemand vollkommen anderem, der am anderen Ende einer Telefon- oder Computerleitung saß. Zu ihrem großen Missfallen unterstützte ihr Mann die Wünsche ihrer Kinder in dieser Hinsicht voll und ganz, sodass immer die neuesten elektronischen Spielereien im Haus waren. Jede Woche tauchte etwas Neues auf, oder doch zumindest ein Update. Das Zeug veränderte sich ständig, veraltete innerhalb von Wochen, aber niemand außer ihr schien daran Anstoß zu nehmen. Obwohl auch das sich in letzter Zeit geändert hatte. Die übliche Parade neuer Geräte schien auszubleiben. Vielleicht hatte James endlich auf ihren Protest gehört.
»Will, wie sieht es mit dem Naturwissenschaft-Projekt aus?«, fragte sie ihren Sohn, bemüht um eine gewisse Leichtigkeit in ihrer Stimme. Bloß kein nörgelnder Unterton! »Und ich würde gern sehen, was du morgen für das Klassenfoto anziehst. Kein Rockband-T-Shirt bitte.«
Er sah sie nur an, als wäre er entsetzt über die Unterbrechung seines Gesprächs, dann verschwand er, und sie hörte seine Stimme draußen in der Diele. »Zweihundert? Ja, ist doch kein Problem, oder?«
»So, mein Freund, dich habe ich jedenfalls ausgebremst«, murmelte sie vor sich hin. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie war spät dran, wenn sie dafür sorgen wollte, dass ihr Jüngster zu einer einigermaßen vernünftigen Zeit ins Bett kam. Er trödelte immer lange und versuchte, die Sache hinauszuzögern, so weit er nur konnte. Heute Abend war er zuerst ein wenig in der Nachbarschaft unterwegs gewesen, dann hatte er unendlich viel Zeit damit zugebracht, die erbeuteten Süßigkeiten zu bewundern und zu sortieren. Und dann hatte er sich ganz allmählich an die Hausaufgaben gemacht. Geduscht hatte er jedenfalls garantiert noch nicht, sodass die Reste der grünen Theaterschminke von seiner Zombie-Verkleidung mit Sicherheit immer noch zu sehen waren. Also musste sie sich sputen. Meg stapelte die Plätzchen in einen großen Plastikbehälter und verzog das Gesicht, als sie die Treppe hinaufeilte. Sie würde später noch eine Runde durch die Küche machen, um aufzuräumen.
Ihr jüngster Sprössling saß am Schreibtisch, den Stift in der Hand, und beugte sich über sein Mathematikbuch. Er hatte kaum Platz genug für das Buch, denn sein Tisch war voll mit Papieren, allen möglichen Objekten und Stücken von wer weiß was. Er sammelte. Alles. Er war einfach von Natur aus ein Sammler. Meg wusste nicht, woher das kam, aber Tatsache war, Sam konnte an keinem Stück Papier, keiner zerrissenen Eintrittskarte, keinem Souvenir vorübergehen, ohne es innig ins Herz zu schließen. Glasmurmeln, Spielzeugautos, Actionfiguren, Aufkleber, kleine Plastiktiere und Figuren aus Radiergummi - sie alle wurden hoch in Ehren gehalten.
Seine Sammlung beschränkte sich in ihrem Platzbedarf aber nicht auf den Schreibtisch oder die Schränke. Überall in seinem Zimmer befanden sich Schachteln und Plastikbehälter verschiedener Größe, die von Gegenständen nur so überquollen. Gelegentlich sammelte Meg auf, was auf dem Boden herumlag. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele gefüllte Plastiktüten noch in den hinteren Ecken seines Schrankes oder auf den obersten Regalbrettern lagen. Ein Glück, dass er sich wenigstens auf so kleine Schätze beschränkte. Wenn er elektrische Eisenbahnen oder Raketenmodelle gesammelt hätte, wäre daraus irgendwann ein echtes Problem geworden.
»Schätzchen«, murmelte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es ist schon spät.«
Er sah sie an und lächelte. Dieses Lächeln ließ sie jedes Mal dahinschmelzen. Will sah aus wie James, und Lizzie mit ihrem kastanienbraunen Haar und ihren rehbraunen Augen ähnelte Meg, aber Sam war irgendwie - ganz anders. Er hatte glänzendes, fast schwarzes Haar, und seine braunen Augen waren so dunkel, dass sie ebenfalls fast schwarz erschienen. Er war eher klein für sein Alter, zart gebaut und hellhäutig, ein Kind mit einer stark ausgeprägten Wissbegierde, wie sie niemand sonst in der Familie zeigte.
Auch vom Charakter her war er vollkommen anders als die anderen. Zum Beispiel neigte er viel eher zu Furchtsamkeit als seine Geschwister. Er machte sich Gedanken und Sorgen darüber, was in seinem Leben wohl passieren oder auch nicht passieren würde, in dem Land, in dem er lebte, auf der ganzen Welt. Er konnte endlos Fragen stellen, die berühmten »Was-wäre-wenn«-Fragen, wie sie nur Sam sich ausdenken konnte. Zum Beispiel über den Umgang mit allen möglichen Katastrophen, die plötzlich über sie hereinbrechen könnten. Hurrikan, Feuer, Raubüberfälle, Epidemien, Giftstoffe im Trinkwasser - Meg kämpfte nur allzu oft mit Erklärungen, was sie tun würden, um den seltsamsten Unglücksfällen zu entgehen. Sam war ihr Sensibelchen. Die anderen beiden hatten solche Ängste nie gehabt, auch nicht, als sie deutlich jünger gewesen waren. Jahrelang hatte er sich geweigert, irgendwo hinzugehen, wenn ihm die Bezeichnung bedrohlich vorkam. Das hatte angefangen, als er vier gewesen war. Es konnte ein Kindergeburtstag sein oder der Strand oder der Zoo ... Wenn er sich so etwas einmal in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn kein noch so gut gemeinter Beruhigungsversuch wieder davon abbringen.
Diese Phase war zum Glück vorübergegangen, aber wenn er sich abends ins Bett legte, blieb Meg immer noch ein paar Minuten bei ihm sitzen und hielt ihn einfach nur fest im Arm. Sie wusste, wenigstens dann fühlte er sich vollkommen entspannt und sicher.
Sam klappte sein Mathematikbuch zu und stand auf. Bleiche Streifen grüner Farbe zogen sich nicht nur über sein Gesicht, sondern auch über die Arme und das T-Shirt. Unten war Geschrei zu hören - Lizzie und Will stritten sich heute wohl schon zum fünfzigsten Mal. Sowohl Meg als auch Sam ignorierten die vertrauten Töne.
»Muss ich unbedingt duschen?«
»Ja, mein Herz, unbedingt, und es muss schnell gehen.« Sie lächelte, als sie ihn in den Arm nahm und mit ihm ins Bad hinüberging.
Es war fast halb zwölf, als die Kinder endlich alle im Bett lagen und die Küche aufgeräumt und sauber war. Meg war ziemlich erschöpft, aber wie an jedem Abend zog sie ihr Nachthemd an und legte sich mit ihrem rosafarbenen Familienkalender ins Bett. Sie hatte das Teil vor zwei Jahren von James zum Muttertag bekommen und machte ihre Einträge mit Stiften in fünf verschiedenen Farben, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie auf diese Weise leichter behalten konnte, welches Familienmitglied wann wo sein musste.
Sie stopfte sich zwei Kissen in den Rücken und lehnte sich zurück. Wie sie dieses Zimmer liebte! Die beruhigenden Farben, blassgrün und beige, die weichen Daunenbetten mit der Baumwollbettwäsche, das gedämpfte Licht. Tiefster Friede herrschte in diesem Zimmer. James war immer noch nicht wieder aus seinem Arbeitszimmer aufgetaucht. Normalerweise lag er um diese Zeit schon im Bett, las eine Zeitung oder ein Wirtschaftsmagazin und wartete auf sie.
Sie schlug den Terminkalender auf und genoss wie immer das weiche Leder und das dicke cremefarbene Papier. Ihre eigenen Termine waren in Rot eingetragen. Morgen ging es mit einem Vorbereitungstreffen für die Frühjahrsspendenaktion der Highschool los, danach musste sie ihren BMW in die Werkstatt bringen, Inspektion und Ölwechsel waren fällig. Sie machte sich eine Notiz, dass sie für die Wartezeit ihren Monatsband aus dem Buchclub mitnehmen wollte.
Dann würde sie für die kleine Essenseinladung einkaufen, die sie am Samstagabend hatten, damit sie schon ein paar Tage früher mit den Vorbereitungen anfangen konnte. Sie würde James' Anzug aus der Reinigung mitnehmen und die Perlenkette beim Juwelier abholen, die sie als Geschenk für Lizzie neu hatte aufziehen lassen. Ein Geschenk, das sich ihre Tochter nicht gewünscht hatte, das wusste sie wohl.
Aber eben auch ein Geschenk, das in ein paar Jahren hoch geschätzt werden würde. Dann war es Zeit für die Chauffeurdienste. Lizzie (eine wie immer protestierende Lizzie, lila Stift) musste zum Klavierunterricht, Sam (blauer Stift) brauchte neue Sportschuhe. Auf dem Rückweg würden sie Lizzie wieder einsammeln und dann Will (grüner Stift) an der Schule vom Basketballtraining abholen. Nach Hause, Abendessen vorbereiten. Am späteren Abend, notierte sie, würde sie sich um die Rechnungen kümmern und einige Papiere abheften.
Sie blätterte weiter zu ihrer To-Do-Liste, einem wahren Regenbogen von Aufgaben. Die Liste war ganz vorn in ihrem Kalender einsortiert. Lizzie musste zur Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt. Meg fügte den Eintrag in lila Farbe der Liste hinzu. Gleichgültig, was sie tat, irgendwie wurde diese Liste immer nur länger, als kämen für jeden Punkt, den sie erledigte, zwei neue dazu. Einige weniger dringende Aufgaben tauchten jeden Monat wieder auf und verursachten ihr ein schlechtes Gewissen, als ginge sie nachlässig mit ihren Pflichten um. Dabei fragte sie sich oft, wie viel da wohl zusammenkam. Ob es wohl einen Preis für den Menschen gab, der die meisten Aufgaben an einem Tag erledigte? Vielleicht war es ja auch so: An dem Tag, an dem die Liste vollständig abgearbeitet war, musste sie sterben. Dann war es vielleicht sogar eine gute Idee, immer ein paar Sachen stehen zu lassen. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.
Sie klappte den Terminkalender zu und legte ihn gerade auf ihren Nachttisch, als James hereinkam. Nachdem sie ihn den ganzen Abend in Ruhe gelassen hatte, erwartete Meg, dass sich seine schlechte Laune in Luft aufgelöst haben würde, aber ein Blick sagte ihr, dass es nicht so war. Im Gegenteil, seine Stimmung war womöglich noch düsterer geworden.
»Schatz«, begann sie.
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Nicht jetzt«, sagte er und knöpfte mit heftigen Bewegungen sein Hemd auf.
»James, was um alles in der Welt ist denn los?« Sie würde dieses Spiel nicht länger mitspielen.
»Ich sagte: Nicht jetzt!«, schnauzte er sie an. Als sich ihre Blicke trafen, wurde er weicher, und seine Schultern sackten ein wenig nach vorn. »Es tut mir leid, Meg, ich hätte nicht ... es tut mir wirklich leid.«
Sie beugte sich ein wenig nach vorn. »Warum willst du mir nicht sagen, was los ist?«
»Gar nichts ist los.« James atmete langsam aus. »Es war einfach nur ein mieser Tag. Ich hätte es nicht an dir auslassen dürfen.«
»Du hast nicht mal den Kindern Guten Abend gesagt. Erzähl mir doch bitte, was dir fehlt.«
Er setzte sich auf ihre Bettkante und küsste sie auf den Mund. »Es tut mir leid, dass ich mich so blöd benommen habe, aber ich schwöre, es ist wirklich nichts.« Er lächelte und versuchte, das Thema zu wechseln. »Und ein fröhliches Halloween habe ich dir auch noch nicht gewünscht. Ich will doch sehr hoffen, dass Sam mir ein paar Süßigkeiten übrig gelassen hat. «
»Du kennst doch unseren Sam«, erwiderte Meg in dem Bemühen, einen leichteren Ton anzuschlagen, der zu seinem Stimmungswechsel passte. »Er hat einen Schokoriegel und ein paar m&m's gegessen, und dann hat er den Rest weggepackt, um in den nächsten Tagen immer wieder ein bisschen zu naschen.«
James schüttelte den Kopf. »Von mir hat er das nicht, das kannst du mir glauben. Meine Freunde und ich, wir haben uns an Halloween immer so lange vollgestopft, bis uns schlecht wurde.«
»Die schlichten Freuden der Kinderzeit.«
Er stand auf. »Ich gehe jetzt ins Bad, Zähneputzen und so weiter. Dann können wir reden. Du erzählst mir alles über deinen Tag und über die Kinder, und ich verspreche dir, du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
»Wunderbar.« Meg lächelte ihm zu.
Er beugte sich über sie, küsste ihr den Scheitel und ging dann lächelnd ins Badezimmer. Sie hörte das Wasser laufen, dann sang er mit übertrieben kratziger Stimme einen alten Bob-Dylan-Song. Man hätte meinen können, dass er alle unangenehmen Gedanken aus seinem Kopf verbannt hatte. Aber sie glaubte ihm nicht.
...
Übersetzung: Marie Henriksen
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011
by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Mama, du siehst echt traurig aus.«
Meg schreckte aus ihrer Tagträumerei auf, als ihre Tochter Lizzie die Küche betrat. Sie hatte da gestanden, beide Ellbogen auf die Arbeitsfläche gestützt, und auf das große Tablett mit Plätzchen gestarrt, die unberührt vor ihr lagen. Sie griff nach oben, um den hohen Hexenhut abzunehmen, den sie die letzten zwei Stunden getragen hatte, und legte ihn neben das Tablett.
»So niedliche Plätzchen, findest du nicht?«, fragte Meg ihre Tochter mit wehmütiger Stimme. »Und dieses Jahr ist noch nicht ein einziger Halloween-Besucher gekommen, ich kann es gar nicht glauben.«
Lizzie, die ihren Laptop unter dem Arm trug, blieb stehen und sah sich das Werk ihrer Mutter genauer an. »Ja sag mal, Alte, wie lange hast du denn bloß gebraucht, um die alle zu machen? Ist ja der Wahnsinn!«
»Sag nicht immer Alte zu mir«, antwortete ihre Mutter automatisch. »Ich wollte mal was anderes ausprobieren, einfach so zum Spaß. War gar keine große Sache.«
Es kam natürlich überhaupt nicht in Frage, dass sie ihrer fünfzehnjährigen Tochter gestand, wie lange das Ganze gedauert hatte. Nachdem sie endlich die richtigen Schokoladenkekse ausfindig gemacht hatte - die mit der Vertiefung in der Mitte -, hatte sie mit Zuckerguss Schokoladenküsschen mit der Spitze nach oben aufgeklebt und dann mit einer winzigen Tube rotem Guss noch Hutbänder und Bogen aufgemalt. So waren viele, viele Reihen kleiner Hexenhüte entstanden. Bewundernswert. Und wo würden sie enden? In unergründlichen Tiefen. Oder anders gesagt: in den Mägen ihres dreizehnjährigen Sohnes Will und seiner Freunde.
»Ehrlich, ich verstehe nicht, warum du dir so viel Mühe machst«, hörte sie Lizzies gedämpfte Stimme aus der Speisekammer. Meg wusste, ihre Tochter machte sich gerade über ihren Lieblings-Abendsnack her, Pop Tarts direkt aus der Packung. »Das weiß doch kein Mensch zu schätzen. So was Dämliches.«
Meg seufzte leise. Schon möglich, dass es dämlich war, die Gespenster aus Papiertaschentüchern an den Bäumen im Vorgarten aufzuhängen. Vielleicht war es auch dämlich, eine Kürbislaterne zu schnitzen und in die Mitte der Dekoration am Eingang zu setzen, mit Heu, Zierkürbissen, einer ausgestopften Vogelscheuche und allem Drum und Dran. Und vermutlich waren Lizzie und Will inzwischen zu alt für die riesigen Figuren von Hexen und Gnomen, die sie an die Fenster geklebt hatte. Lizzie war gerade in diesem schwierigen Zwischenstadium - zu cool, um noch mit den Freundinnen durch die Nachbarschaft zu ziehen und Süßigkeiten zu erbetteln, aber insgeheim voller Vorfreude auf nächstes Jahr, wenn einige der Jugendlichen vielleicht schon den Führerschein hatten. Dann würde es Partys geben, vermutete Meg, und sicher nicht ohne Alkohol. Will hatte sich in diesem Jahr auch zum ersten Mal geweigert, von Haus zu Haus zu ziehen. Er zog es vor, mit seinen Kumpels in irgendeiner Einfahrt um den Basketballkorb herumzulungern. Aber sie hatte gedacht, vielleicht würde Sam, ihr Neunjähriger, noch Spaß an den Dekorationen haben. Falsch gedacht. Er schien sie gar nicht zur Kenntnis zu nehmen und hatte lustlos an ein paar Haustüren geklingelt, bevor er erklärt hatte, es reiche ihm jetzt mit diesem blöden Feiertag.
Was in aller Welt war mit Halloween passiert? Als sie ein Kind gewesen war, hatten sie so viel Unfug getrieben! Wussten diese Kinder heutzutage nicht mehr, wie man einen Feiertag genoss? Im Übrigen hatte sie sich dieses Jahr schon sehr zurückgehalten; früher hatte sie Stunden und Aber-stunden damit zugebracht, Plätzchen für die Nachbarskinder zu backen. Dieses Jahr hatte sie nur fertige Zutaten zusammenmontiert.
Als Lizzie, mit ihrem Snack versorgt, die Küche verließ, war das scharrende Geräusch der Garagentür zu hören: Megs Mann kam nach Hause. Sie beobachtete James, wie er das Haus betrat und seine Aktentasche im Windfang abstellte, bevor er zu ihr in die Küche kam. Er sah erschöpft aus. Als leitender Justiziar einer großen Softwarefirma verdiente er sein Geld mehr als sauer. Irgendwie war es ihm aber immer gelungen, mit dem endlosen Druck umzugehen, stets erreichbar zu sein und eine Krise nach der anderen mit kühlem Kopf zu managen. Wobei das noch lange nicht alle Anforderungen seines Jobs waren.
Er zog sein Jackett aus und gab Meg einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
»Happy Halloween«, sagte Meg fröhlich.
»Mmmm.« Seine Aufmerksamkeit galt bereits der Post, die er am gewohnten Platz auf dem Küchenschrank vorgefunden hatte. Als er die Umschläge durchblätterte, verzog er das Gesicht.
»Was Schlimmes dabei?«
»Zu viele Rechnungen, Meg.« Er klang verärgert. »Zu viele Rechnungen. Das muss endlich aufhören.«
Sie gab keine Antwort. In den achtzehn Jahren ihrer Ehe hatte sich James nur selten über die Rechnungen beklagt. Natürlich war er nicht gerade glücklich über die Gebühren, die die Privatschule der Kinder kostete, aber es war schließlich ihre gemeinsame Entscheidung gewesen, die drei dorthin zu schicken. Außerdem wussten sie beide und alle ihre Freunde, dass seine Frau die Sparsame war. Er war derjenige, der gern Geld ausgab.
Meg hatte immer Verständnis dafür gehabt, dass materieller Besitz und Statussymbole ihrem Mann so wichtig waren. Er hatte die Designeranzüge, die ausgefallenen Armbanduhren, den teuren Schmuck gekauft. Er hatte die teuren Urlaubsreisen gebucht. Tatsächlich war es auch er gewesen, der dieses riesige Haus ausgesucht hatte. Ja, gewiss, sie hatten drei Kinder, aber Meg begriff bis heute nicht, wozu sie 1.600 Quadratmeter Grund brauchten, und das in einer der teuersten Wohngegenden von Charlotte.
James war in sehr einfachen Verhältnissen aufgewachsen, und das hatte ganz offensichtlich seelische Wunden hinterlassen, die er mit materiellem Wohlstand zuzupflastern versuchte. Sie war nicht glücklich darüber, aber sie hatte Verständnis. Er brauchte das, um sich wohlzufühlen. Und schließlich rieb er seinen Erfolg nicht jedermann unter die Nase, er war kein Aufschneider. Aber er schien immer noch mehr von allem zu brauchen, nur um das Gefühl zu haben, mit den anderen mithalten zu können.
In letzter Zeit schien er sich allerdings dramatisch verändert zu haben. Er beklagte sich immer wieder über die Ausgaben, die sie und die Kinder verursachten.
»Willst du was essen?« Meg ging zum Kühlschrank.
Er klatschte den Poststapel zurück auf die Arbeitsfläche. »Lenk nicht vom Thema ab, ich meine das ernst! Diese ganzen Ausgaben müssen aufhören! Wir müssen den Gürtel enger schnallen.«
Sie drehte sich zu ihm um. »Du hast ja recht«, sagte sie beruhigend. »Wir werden den Gürtel enger schnallen. Und jetzt sag mir, was du essen willst.«
»Ich will nichts«, schnauzte er sie an. »Ich bin in meinem Arbeitszimmer.«
Meg sah ihm ratlos hinterher. Abgesehen von seiner plötzlichen finanziellen Vorsicht, war er schon seit einiger Zeit ungewöhnlich reizbar. Und in allerletzter Zeit war es eher schlimmer geworden, nicht besser. Sie hörte, wie die Tür zu seinem Arbeitszimmer krachend ins Schloss fiel. Normalerweise war James sehr ruhig und besonnen, selbst in Krisensituationen. Gerade in Krisensituationen, korrigierte sie sich. Sie hatte diese Charaktereigenschaft immer geliebt.
Sie und James hatten sich im zweiten Studienjahr an der Universität von Illinois kennengelernt, in einem Seminar über die Amerikanische Geschichte des 19. Jahrhunderts. Meg hatte irgendwann zu Anfang des Semesters zufällig neben ihm gesessen, und er hatte sie zum Lachen gebracht, indem er mit einem Stift, einem Schreibblock und einer leeren Coladose jonglierte. Ihr Interesse war gestiegen, als sie festgestellt hatte, dass er sich mit sämtlichen wichtigen Schlachten des Bürgerkriegs auskannte, noch bevor die Referatthemen verteilt worden waren.
Am Anfang waren sie eigentlich nur Freunde gewesen. Kleine Frotzeleien hier und da, irgendwann waren sie auch mal Kaffee trinken gegangen, dann zum Pizzaessen. Das war während der Vorbereitung auf die Prüfung am Ende des Semesters gewesen. Ihre Beziehung war erst langsam gewachsen und intensiver geworden. James hatte ihr gutgetan, er übte einen stabilisierenden Einfluss auf sie aus. Bis dahin war sie eher flatterhaft und ein wenig orientierungslos gewesen, und sie hatte seine Stärke bewundert. Er hatte so etwas Solides, nicht unbedingt in körperlicher Hinsicht, aber er hatte ihr immer ein Gefühl der Sicherheit gegeben, das Gefühl, dass er sich um sie kümmerte und für sie sorgte. Natürlich hatte es sie auch nicht wirklich gestört, dass er groß und kräftig gebaut war, erinnerte sie sich mit einem Lächeln. Er hatte dichtes blondes Haar und große, dunkle Augen, deren intensiver Blick ihr immer das Gefühl gab, der wichtigste Mensch weit und breit zu sein.
Am Ende des dritten Studienjahres waren sie sich beide darüber im Klaren gewesen, dass sie gleich nach den Abschlussprüfungen heiraten würden. Er führte sein Jurastudium weiter, während sie die erste gemeinsame Wohnung einrichtete und mit einem langweiligen, aber gut bezahlten Job als Sekretärin das Geld verdiente. Eigentlich hatten sie immer geplant, dass Meg ebenfalls Jura studieren sollte, sobald James fertig war und eine Stelle hatte. Aber irgendwann war Lizzie unterwegs gewesen, und dann hatten sie das Thema zu den Akten gelegt. Sie war auch immer gut damit zurechtgekommen, denn sie hätte keinen Augenblick mit ihren Kindern missen mögen. Außerdem wäre es sehr schwierig für sie gewesen, eine eigene berufliche Karriere voranzutreiben, denn in den folgenden Jahren hatten sie wegen James' Arbeit dreimal nicht nur den Wohnort, sondern gleich den Bundesstaat gewechselt. Seine Energie und sein schneller beruflicher Erfolg hatten ihr ein mehr als bequemes Leben ermöglicht. Sie und die Kinder hatten alles, was sie brauchten, und noch viel mehr.
Vielleicht zu viel.
Sie hörte ihren älteren Sohn die Treppe herunterkommen. Wie immer stampften seine Füße so schnell, dass man es nicht mehr als Gehen bezeichnen konnte. Seine Stimme wurde lauter, als er näher kam. »Das ist sowas von krank, echt!«
Meg verdrehte die Augen. Bei Will bedeutete dieser Begriff derzeit höchstes Lob, für was auch immer. Sie rief nach ihm.
Er steckte den Kopf zur Küchentür herein. Er war schlank und groß, ziemlich groß für einen Achtklässler, und sah seinem Vater bemerkenswert ähnlich. Im Moment war sein Gesicht allerdings fast vollständig von der Kapuze eines dunkelgrauen Sweatshirts verdeckt. »Moment mal«, sagte er zu einem unsichtbaren Gesprächspartner. »Meine Mutter, ja.«
Offenbar sprach er in sein Handy hinein, zweifellos das neueste, kleinste und technisch ausgefeilteste Gerät, das derzeit zu haben war. Sie hätte schwören können, dass sie die Hälfte der Zeit nicht wusste, ob ihre Kinder mit ihr sprachen (oder ihr zuhörten) oder miteinander oder mit irgendjemand vollkommen anderem, der am anderen Ende einer Telefon- oder Computerleitung saß. Zu ihrem großen Missfallen unterstützte ihr Mann die Wünsche ihrer Kinder in dieser Hinsicht voll und ganz, sodass immer die neuesten elektronischen Spielereien im Haus waren. Jede Woche tauchte etwas Neues auf, oder doch zumindest ein Update. Das Zeug veränderte sich ständig, veraltete innerhalb von Wochen, aber niemand außer ihr schien daran Anstoß zu nehmen. Obwohl auch das sich in letzter Zeit geändert hatte. Die übliche Parade neuer Geräte schien auszubleiben. Vielleicht hatte James endlich auf ihren Protest gehört.
»Will, wie sieht es mit dem Naturwissenschaft-Projekt aus?«, fragte sie ihren Sohn, bemüht um eine gewisse Leichtigkeit in ihrer Stimme. Bloß kein nörgelnder Unterton! »Und ich würde gern sehen, was du morgen für das Klassenfoto anziehst. Kein Rockband-T-Shirt bitte.«
Er sah sie nur an, als wäre er entsetzt über die Unterbrechung seines Gesprächs, dann verschwand er, und sie hörte seine Stimme draußen in der Diele. »Zweihundert? Ja, ist doch kein Problem, oder?«
»So, mein Freund, dich habe ich jedenfalls ausgebremst«, murmelte sie vor sich hin. Dann warf sie einen Blick auf die Uhr. Sie war spät dran, wenn sie dafür sorgen wollte, dass ihr Jüngster zu einer einigermaßen vernünftigen Zeit ins Bett kam. Er trödelte immer lange und versuchte, die Sache hinauszuzögern, so weit er nur konnte. Heute Abend war er zuerst ein wenig in der Nachbarschaft unterwegs gewesen, dann hatte er unendlich viel Zeit damit zugebracht, die erbeuteten Süßigkeiten zu bewundern und zu sortieren. Und dann hatte er sich ganz allmählich an die Hausaufgaben gemacht. Geduscht hatte er jedenfalls garantiert noch nicht, sodass die Reste der grünen Theaterschminke von seiner Zombie-Verkleidung mit Sicherheit immer noch zu sehen waren. Also musste sie sich sputen. Meg stapelte die Plätzchen in einen großen Plastikbehälter und verzog das Gesicht, als sie die Treppe hinaufeilte. Sie würde später noch eine Runde durch die Küche machen, um aufzuräumen.
Ihr jüngster Sprössling saß am Schreibtisch, den Stift in der Hand, und beugte sich über sein Mathematikbuch. Er hatte kaum Platz genug für das Buch, denn sein Tisch war voll mit Papieren, allen möglichen Objekten und Stücken von wer weiß was. Er sammelte. Alles. Er war einfach von Natur aus ein Sammler. Meg wusste nicht, woher das kam, aber Tatsache war, Sam konnte an keinem Stück Papier, keiner zerrissenen Eintrittskarte, keinem Souvenir vorübergehen, ohne es innig ins Herz zu schließen. Glasmurmeln, Spielzeugautos, Actionfiguren, Aufkleber, kleine Plastiktiere und Figuren aus Radiergummi - sie alle wurden hoch in Ehren gehalten.
Seine Sammlung beschränkte sich in ihrem Platzbedarf aber nicht auf den Schreibtisch oder die Schränke. Überall in seinem Zimmer befanden sich Schachteln und Plastikbehälter verschiedener Größe, die von Gegenständen nur so überquollen. Gelegentlich sammelte Meg auf, was auf dem Boden herumlag. Sie wollte gar nicht darüber nachdenken, wie viele gefüllte Plastiktüten noch in den hinteren Ecken seines Schrankes oder auf den obersten Regalbrettern lagen. Ein Glück, dass er sich wenigstens auf so kleine Schätze beschränkte. Wenn er elektrische Eisenbahnen oder Raketenmodelle gesammelt hätte, wäre daraus irgendwann ein echtes Problem geworden.
»Schätzchen«, murmelte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Es ist schon spät.«
Er sah sie an und lächelte. Dieses Lächeln ließ sie jedes Mal dahinschmelzen. Will sah aus wie James, und Lizzie mit ihrem kastanienbraunen Haar und ihren rehbraunen Augen ähnelte Meg, aber Sam war irgendwie - ganz anders. Er hatte glänzendes, fast schwarzes Haar, und seine braunen Augen waren so dunkel, dass sie ebenfalls fast schwarz erschienen. Er war eher klein für sein Alter, zart gebaut und hellhäutig, ein Kind mit einer stark ausgeprägten Wissbegierde, wie sie niemand sonst in der Familie zeigte.
Auch vom Charakter her war er vollkommen anders als die anderen. Zum Beispiel neigte er viel eher zu Furchtsamkeit als seine Geschwister. Er machte sich Gedanken und Sorgen darüber, was in seinem Leben wohl passieren oder auch nicht passieren würde, in dem Land, in dem er lebte, auf der ganzen Welt. Er konnte endlos Fragen stellen, die berühmten »Was-wäre-wenn«-Fragen, wie sie nur Sam sich ausdenken konnte. Zum Beispiel über den Umgang mit allen möglichen Katastrophen, die plötzlich über sie hereinbrechen könnten. Hurrikan, Feuer, Raubüberfälle, Epidemien, Giftstoffe im Trinkwasser - Meg kämpfte nur allzu oft mit Erklärungen, was sie tun würden, um den seltsamsten Unglücksfällen zu entgehen. Sam war ihr Sensibelchen. Die anderen beiden hatten solche Ängste nie gehabt, auch nicht, als sie deutlich jünger gewesen waren. Jahrelang hatte er sich geweigert, irgendwo hinzugehen, wenn ihm die Bezeichnung bedrohlich vorkam. Das hatte angefangen, als er vier gewesen war. Es konnte ein Kindergeburtstag sein oder der Strand oder der Zoo ... Wenn er sich so etwas einmal in den Kopf gesetzt hatte, konnte ihn kein noch so gut gemeinter Beruhigungsversuch wieder davon abbringen.
Diese Phase war zum Glück vorübergegangen, aber wenn er sich abends ins Bett legte, blieb Meg immer noch ein paar Minuten bei ihm sitzen und hielt ihn einfach nur fest im Arm. Sie wusste, wenigstens dann fühlte er sich vollkommen entspannt und sicher.
Sam klappte sein Mathematikbuch zu und stand auf. Bleiche Streifen grüner Farbe zogen sich nicht nur über sein Gesicht, sondern auch über die Arme und das T-Shirt. Unten war Geschrei zu hören - Lizzie und Will stritten sich heute wohl schon zum fünfzigsten Mal. Sowohl Meg als auch Sam ignorierten die vertrauten Töne.
»Muss ich unbedingt duschen?«
»Ja, mein Herz, unbedingt, und es muss schnell gehen.« Sie lächelte, als sie ihn in den Arm nahm und mit ihm ins Bad hinüberging.
Es war fast halb zwölf, als die Kinder endlich alle im Bett lagen und die Küche aufgeräumt und sauber war. Meg war ziemlich erschöpft, aber wie an jedem Abend zog sie ihr Nachthemd an und legte sich mit ihrem rosafarbenen Familienkalender ins Bett. Sie hatte das Teil vor zwei Jahren von James zum Muttertag bekommen und machte ihre Einträge mit Stiften in fünf verschiedenen Farben, nachdem sie festgestellt hatte, dass sie auf diese Weise leichter behalten konnte, welches Familienmitglied wann wo sein musste.
Sie stopfte sich zwei Kissen in den Rücken und lehnte sich zurück. Wie sie dieses Zimmer liebte! Die beruhigenden Farben, blassgrün und beige, die weichen Daunenbetten mit der Baumwollbettwäsche, das gedämpfte Licht. Tiefster Friede herrschte in diesem Zimmer. James war immer noch nicht wieder aus seinem Arbeitszimmer aufgetaucht. Normalerweise lag er um diese Zeit schon im Bett, las eine Zeitung oder ein Wirtschaftsmagazin und wartete auf sie.
Sie schlug den Terminkalender auf und genoss wie immer das weiche Leder und das dicke cremefarbene Papier. Ihre eigenen Termine waren in Rot eingetragen. Morgen ging es mit einem Vorbereitungstreffen für die Frühjahrsspendenaktion der Highschool los, danach musste sie ihren BMW in die Werkstatt bringen, Inspektion und Ölwechsel waren fällig. Sie machte sich eine Notiz, dass sie für die Wartezeit ihren Monatsband aus dem Buchclub mitnehmen wollte.
Dann würde sie für die kleine Essenseinladung einkaufen, die sie am Samstagabend hatten, damit sie schon ein paar Tage früher mit den Vorbereitungen anfangen konnte. Sie würde James' Anzug aus der Reinigung mitnehmen und die Perlenkette beim Juwelier abholen, die sie als Geschenk für Lizzie neu hatte aufziehen lassen. Ein Geschenk, das sich ihre Tochter nicht gewünscht hatte, das wusste sie wohl.
Aber eben auch ein Geschenk, das in ein paar Jahren hoch geschätzt werden würde. Dann war es Zeit für die Chauffeurdienste. Lizzie (eine wie immer protestierende Lizzie, lila Stift) musste zum Klavierunterricht, Sam (blauer Stift) brauchte neue Sportschuhe. Auf dem Rückweg würden sie Lizzie wieder einsammeln und dann Will (grüner Stift) an der Schule vom Basketballtraining abholen. Nach Hause, Abendessen vorbereiten. Am späteren Abend, notierte sie, würde sie sich um die Rechnungen kümmern und einige Papiere abheften.
Sie blätterte weiter zu ihrer To-Do-Liste, einem wahren Regenbogen von Aufgaben. Die Liste war ganz vorn in ihrem Kalender einsortiert. Lizzie musste zur Vorsorgeuntersuchung beim Zahnarzt. Meg fügte den Eintrag in lila Farbe der Liste hinzu. Gleichgültig, was sie tat, irgendwie wurde diese Liste immer nur länger, als kämen für jeden Punkt, den sie erledigte, zwei neue dazu. Einige weniger dringende Aufgaben tauchten jeden Monat wieder auf und verursachten ihr ein schlechtes Gewissen, als ginge sie nachlässig mit ihren Pflichten um. Dabei fragte sie sich oft, wie viel da wohl zusammenkam. Ob es wohl einen Preis für den Menschen gab, der die meisten Aufgaben an einem Tag erledigte? Vielleicht war es ja auch so: An dem Tag, an dem die Liste vollständig abgearbeitet war, musste sie sterben. Dann war es vielleicht sogar eine gute Idee, immer ein paar Sachen stehen zu lassen. Bei diesem Gedanken musste sie lächeln.
Sie klappte den Terminkalender zu und legte ihn gerade auf ihren Nachttisch, als James hereinkam. Nachdem sie ihn den ganzen Abend in Ruhe gelassen hatte, erwartete Meg, dass sich seine schlechte Laune in Luft aufgelöst haben würde, aber ein Blick sagte ihr, dass es nicht so war. Im Gegenteil, seine Stimmung war womöglich noch düsterer geworden.
»Schatz«, begann sie.
Er warf ihr einen finsteren Blick zu. »Nicht jetzt«, sagte er und knöpfte mit heftigen Bewegungen sein Hemd auf.
»James, was um alles in der Welt ist denn los?« Sie würde dieses Spiel nicht länger mitspielen.
»Ich sagte: Nicht jetzt!«, schnauzte er sie an. Als sich ihre Blicke trafen, wurde er weicher, und seine Schultern sackten ein wenig nach vorn. »Es tut mir leid, Meg, ich hätte nicht ... es tut mir wirklich leid.«
Sie beugte sich ein wenig nach vorn. »Warum willst du mir nicht sagen, was los ist?«
»Gar nichts ist los.« James atmete langsam aus. »Es war einfach nur ein mieser Tag. Ich hätte es nicht an dir auslassen dürfen.«
»Du hast nicht mal den Kindern Guten Abend gesagt. Erzähl mir doch bitte, was dir fehlt.«
Er setzte sich auf ihre Bettkante und küsste sie auf den Mund. »Es tut mir leid, dass ich mich so blöd benommen habe, aber ich schwöre, es ist wirklich nichts.« Er lächelte und versuchte, das Thema zu wechseln. »Und ein fröhliches Halloween habe ich dir auch noch nicht gewünscht. Ich will doch sehr hoffen, dass Sam mir ein paar Süßigkeiten übrig gelassen hat. «
»Du kennst doch unseren Sam«, erwiderte Meg in dem Bemühen, einen leichteren Ton anzuschlagen, der zu seinem Stimmungswechsel passte. »Er hat einen Schokoriegel und ein paar m&m's gegessen, und dann hat er den Rest weggepackt, um in den nächsten Tagen immer wieder ein bisschen zu naschen.«
James schüttelte den Kopf. »Von mir hat er das nicht, das kannst du mir glauben. Meine Freunde und ich, wir haben uns an Halloween immer so lange vollgestopft, bis uns schlecht wurde.«
»Die schlichten Freuden der Kinderzeit.«
Er stand auf. »Ich gehe jetzt ins Bad, Zähneputzen und so weiter. Dann können wir reden. Du erzählst mir alles über deinen Tag und über die Kinder, und ich verspreche dir, du hast meine ungeteilte Aufmerksamkeit.«
»Wunderbar.« Meg lächelte ihm zu.
Er beugte sich über sie, küsste ihr den Scheitel und ging dann lächelnd ins Badezimmer. Sie hörte das Wasser laufen, dann sang er mit übertrieben kratziger Stimme einen alten Bob-Dylan-Song. Man hätte meinen können, dass er alle unangenehmen Gedanken aus seinem Kopf verbannt hatte. Aber sie glaubte ihm nicht.
...
Übersetzung: Marie Henriksen
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2011
by Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Cynthia Keller
- 2011, 1, 253 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868007792
- ISBN-13: 9783868007794
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