Das Wesen
Psychothriller. Originalausgabe
Ein kleines Mädchen stirbt und der Hauptverdächtige geht in den Knast. 15 Jahre später verschwindet wieder ein Kind. Die Ermittler Seifert und Menkhoff sind überrascht: Der Vater des Kindes ist der vor 15 Jahren verurteilte Mörder....
lieferbar
versandkostenfrei
Buch (Kartoniert)
10.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Das Wesen “
Ein kleines Mädchen stirbt und der Hauptverdächtige geht in den Knast. 15 Jahre später verschwindet wieder ein Kind. Die Ermittler Seifert und Menkhoff sind überrascht: Der Vater des Kindes ist der vor 15 Jahren verurteilte Mörder. Ein erbittertes Psychoduell um Schuld und Rache.
Klappentext zu „Das Wesen “
Ein kleines Mädchen stirbt, und der Hauptverdächtige wandert in den Knast - unschuldig? 15 Jahre später: Wieder verschwindet ein Kind, und der Albtraum beginnt von vorn - für die Ermittler und den Täter von damals.
Ein verurteilter Psychiater und ein besessener Kommissar - ein erbittertes Psychoduell um Schuld und Rache
Lese-Probe zu „Das Wesen “
Das Wesen von Arno StrobelProlog
7. April 2007
... mehr
Er machte fünf, sechs Schritte, dann blieb er stehen. Sekundenlang verharrte er, den Blick auf die gelbe Häuserfront gegenüber gerichtet, ohne sie wahrzunehmen. Die Sonne war schon kräftig, er spürte die Wärme auf seinem Gesicht. Mehrmals setzte er an, sich umzudrehen, doch der Befehl aus den Synapsen seines Gehirns verpuffte auf dem Weg zu den Muskeln im Nichts. Er kannte diese Vorgänge genau, wusste, was ihn blockierte, und konnte doch nichts dagegen tun. Erst als ihn das Monster hinter seinem Rücken zu verbrennen drohte, löste sich die Starre, und er stellte sich dem Anblick.
Das vierstöckige weiße Gebäude mit den roten Dachziegeln sah gar nicht so aus, wie er das aus Filmen kannte. Zumindest nicht von vorne. Kein großes, schmutzig graues Eisentor, das auf quietschenden Rollen langsam von einem Motor zur Seite gezogen wurde, wenn sie einen rausließen. Die Kunststofftür mit dem bogenförmigen Überdach aus grünlichem Glas hätte auch der Eingang zu einem Elektrogroßhandel sein können. Nur der Schriftzug über den Fenstern daneben passte nicht dazu: JUSTIZVOLLZUGSANSTALT.
Dreizehn Jahre, ein Monat und zehn Tage. Er las ihn zum letzten Mal. Vorbei.
Mehrmals schon hatte er die JVA Hagen in den letzten Monaten verlassen. Als Freigänger, um sich langsam wieder an das Leben ohne Gitter zu gewöhnen. Und spätestens um 19.00 Uhr wieder einzufahren. Vorbei.
Jetzt.
Er wandte sich ab und ging los. Weg vom Knast, raus aus der Gerichtsstraße, auf die Bülowstraße zu. Dort würde er in einen Bus steigen und zum Bahnhoffahren. Dann mit dem Zug zwei Stunden bis Aachen. Er hatte den Freigang genutzt, hatte eine Wohnung gefunden. Die Stadt hatte sich kaum verändert in den letzten dreizehn Jahren. Er schon.
Tief sog er die Luft in seine Lungen. Frei. Und doch - er war nicht glücklich, wollte nicht glücklich sein.
Dreizehn Jahre.
Und die Wut war wieder da.
1
22. Juli 2009
Kriminalhauptkommissar Bernd Menkhoffs Handy klingelte, als wir nur noch wenige Meter von der Garagenauffahrt seines Einfamilienhauses im Aachener Stadtteil Brand entfernt waren. Während er umständlich sein Telefon aus der Hosentasche fingerte, lenkte ich den A6 an den Straßenrand. Seit 16Jahren waren wir Partner, und meistens setzte ich ihn nach Dienstschluss zu Hause ab und nahm ihn am nächsten Tag wieder mit.
»Ja«, meldete sich Menkhoff knapp und senkte den Kopf ein wenig, während er dem Anrufer zuhörte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Hoffentlich nichts Dienstliches mehr. Den Motor des Audis ließ ich laufen, die Klimaanlage blies angenehm kühle Luft in den Innenraum. Draußen war es drückend.
»Ja, der bin ich«, sagte Menkhoff neben mir mürrisch. »Woher haben Sie diese Nummer?« Er hörte wieder eine Zeitlang zu, dann kniff er die Augen zusammen. »Was?«
Es war etwas Dienstliches.
»Aha. Und wie kommen Sie darauf?« Menkhoffs Stimme hatte einen unpersönlichen Klang angenommen. »Sagen Sie mir bitte erst mal Ihren Namen.« Es vergingen weitere Sekunden, dann ließ er das Handy sinken. »Aufgelegt.«
»Anonym?«
»Ja. Eine Männerstimme. Hat was erzählt von einem kleinen Mädchen, das angeblich seit mehreren Tagen verschwunden ist. In der Zeppelinstraße.«
»Nicht gerade die feinste Gegend. Und?«
»Was und? Sonst nichts.«
Er öffnete die Beifahrertür und sagte beim Aussteigen: »Bin gleich wieder da.«
Ich sah ihm nach, wie er über die Auffahrt zur Haustür ging, aufschloss und im Inneren verschwand.
Schon nach sieben. Melanie wartete zu Hause auf mich. Ich sah die herrlichen Rinderhüftsteaks vor mir, die ich an diesem Abend für uns beide zubereiten wollte. Es sollte ein romantisches Essen werden, mit Rotwein und Kerzen, eine kleine Entschädigung dafür, dass es in letzter Zeit oft sehr spät geworden war. Seit meiner Beförderung zum Hauptkommissar ein paar Monate zuvor ...
Die Beifahrertür wurde geöffnet, und Menkhoff ließ sich wieder in den Sitz fallen. »Alles in Ordnung, Frau Christ bleibt da und passt weiter auf Luisa auf.« Er deutete mit dem Kopf nach vorne. »Na komm, fahr los.«
Ich dachte an die Steaks und legte mit einem Seufzer den Gang ein. Vielleicht war der Anrufer ja nur ein Spinner, das kam öfter vor. Vielleicht würden wir in zwanzig Minuten wieder zurück sein.
Als ich vor einer Ampel an der Trierer Straße anhalten musste, sah ich zu Menkhoff herüber, der sein Handy in das Ablagefach der Mittelkonsole warf. »Keine Nummer, klar.« Er strich sich eine Strähne seiner von silbernen Fäden durchsetzten schwarzen Haare aus der Stirn. »Unterdrückt.«
Zehn Minuten später standen wir vor einem Mehrfamilienhaus, dessen Außenfassade dringend einen Anstrich nötig gehabt hätte.
»Im ersten Stock links, hat der Kerl gesagt«, erklärte Menkhoff. Ich betrachtete die Reihe verwitterter Holzfenster, die zur ersten Etage gehören musste, und stieg aus.
Die Haustür hatte kein Schloss, das Treppenhaus war ähnlich heruntergekommen wie die Fassade. Die meisten Kanten der ausgetretenen Betonstufen waren abgebrochen, hingekritzelte Klosprüche und Fäkalausdrücke bedeckten die Wände. Die wenigen nackten Glühbirnen ließen ihr diffuses, abweisendes Licht auf uns fallen.
Die Wohnungstür im ersten Stock links war an mehreren Stellen beschädigt und sah aus, als hätte vor langer Zeit jemand versucht, sie einzutreten. Ein Namensschild gab es weder auf dem braunen Holz noch an dem schmutzigen Klingelknopf daneben. Mit angewidertem Gesichtsausdruck drückte Menkhoff auf die Klingel, woraufhin hinter der Tür ein schrilles Läuten zu hören war.
Eine Zeitlang geschah nichts, und mein Partner hatte schon die Hand gehoben, um nochmal zu klingeln, als Schritte zu hören waren und das Schloss klackte.
Die Tür öffnete sich nur einen Spalt weit, das Gesicht eines Mannes tauchte auf, und mir stockte der Atem.
2
28. Januar 1994
Juliane wohnte mit ihren Eltern am Ende einer Sackgasse in Aachen-Steinebrück, gleich neben einem kleinen Spielplatz. Petra Körprich hatte sich nichts dabei gedacht, ihre vierjährige Tochter draußen spielen zu lassen, während sie das Mittagessen zubereitete. Die kurze Straße wurde fast ausschließlich von den wenigen Anwohnern benutzt, außerdem konnte sie den Spielplatz vom Küchenfenster aus einsehen. Als sie die Spülmaschine eingeräumt hatte und wieder einen Blick nach draußen warf, war Juliane verschwunden. Nach zehn Minuten rief sie ihren Mann im Büro an, eine Stunde später informierte der die Polizei.
Drei Tage lang suchten wir mit Hundertschaften der Bereitschaftspolizei die gesamte Umgebung ab, bis der schreckliche Verdacht zur Gewissheit wurde: Die Kollegen fanden das Mädchen in einem Gebüsch im Aachener Wald, nicht weit von der Monschauer Straße und nur ein paar hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Jemand hatte Juliane erwürgt, den kleinen Körper dann in einen blauen Plastiksack gesteckt und ihn im Wald entsorgt wie Müll, den man unbeobachtet loswerden wollte.
Seit einem knappen halben Jahr gehörte ich zur MK2, der zweiten Mordkommission des Aachener Kriminalkommissariats 11, und es war der erste Mordfall, an dem ich als Junior-Partner von Oberkommissar Bernd Menkhoff mitarbeitete. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir der Anblick eines Mordopfers noch erspart geblieben. Als ich dann dieses weiße Gesicht im Dreck liegen sah mit den dunklen Flecken auf den eingefallenen Wangen, eingerahmt von einer Flut aus blonden, schmutzverklebten Locken, als ich meinen Blick nicht von den hässlichen, blauschwarzen Würgemalen an ihrem zarten Kinderhals abwenden konnte, da hätte ich weinen können vor Schmerz und gleichzeitig schreien vor Wut. »Reißen Sie sich zusammen!«, raunte der Oberkommissar mir zu, der mir angesehen haben musste, wie sehr ich gegen einen Gefühlsausbruch ankämpfte.
Als ich später den Wagen über den schmalen Pfad aus dem Wald herauslenkte, fragte Menkhoff mich: »Wie alt sind Sie nochmal, Herr Seifert? Vierundzwanzig?«
»Dreiundzwanzig«, antwortete ich kleinlaut.
»Das ist alt genug, um sich etwas hinter die Ohren zu schreiben, Herr Kriminalkommissar: Niemals, hören Sie, absolut niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen. Wenn so ein kleines Mädchen von einem Dreckschwein getötet wird, dann ist das entsetzlich, aber auch wenn es unmenschlich klingt - die Kleine ist tot, und sie ist ein Fall, den wir aufklären müssen, kapiert? Wir können dem Kind nicht mehr helfen, aber wir können dafür sorgen, dass dieser Abschaum so was nicht nochmal tun kann.« Menkhoffschlug kurz mit der flachen Hand gegen das Handschuhfach. »Verdammt, wenn Sie Gefühle zulassen, verlieren Sie den neutralen Blick, Sie übersehen Details. Sie müssen lernen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Darauf will ich mich verlassen können, verstanden?«
Ich verstand, musste in den folgenden Tagen aber immer wieder feststellen, dass Verstehen und Umsetzen zwei grundsätzlich unterschiedliche Dinge waren. Jedes Mal, wenn sich wieder ein Hinweis als wertlos herausstellte, überkam mich eine tiefe Niedergeschlagenheit, weil wir dieses Monster vielleicht nie fassen würden, und Wut und Angst, weil vielleicht noch ein Kind sterben würde, während wir vollkommen ahnungslos waren.
Niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
Er machte fünf, sechs Schritte, dann blieb er stehen. Sekundenlang verharrte er, den Blick auf die gelbe Häuserfront gegenüber gerichtet, ohne sie wahrzunehmen. Die Sonne war schon kräftig, er spürte die Wärme auf seinem Gesicht. Mehrmals setzte er an, sich umzudrehen, doch der Befehl aus den Synapsen seines Gehirns verpuffte auf dem Weg zu den Muskeln im Nichts. Er kannte diese Vorgänge genau, wusste, was ihn blockierte, und konnte doch nichts dagegen tun. Erst als ihn das Monster hinter seinem Rücken zu verbrennen drohte, löste sich die Starre, und er stellte sich dem Anblick.
Das vierstöckige weiße Gebäude mit den roten Dachziegeln sah gar nicht so aus, wie er das aus Filmen kannte. Zumindest nicht von vorne. Kein großes, schmutzig graues Eisentor, das auf quietschenden Rollen langsam von einem Motor zur Seite gezogen wurde, wenn sie einen rausließen. Die Kunststofftür mit dem bogenförmigen Überdach aus grünlichem Glas hätte auch der Eingang zu einem Elektrogroßhandel sein können. Nur der Schriftzug über den Fenstern daneben passte nicht dazu: JUSTIZVOLLZUGSANSTALT.
Dreizehn Jahre, ein Monat und zehn Tage. Er las ihn zum letzten Mal. Vorbei.
Mehrmals schon hatte er die JVA Hagen in den letzten Monaten verlassen. Als Freigänger, um sich langsam wieder an das Leben ohne Gitter zu gewöhnen. Und spätestens um 19.00 Uhr wieder einzufahren. Vorbei.
Jetzt.
Er wandte sich ab und ging los. Weg vom Knast, raus aus der Gerichtsstraße, auf die Bülowstraße zu. Dort würde er in einen Bus steigen und zum Bahnhoffahren. Dann mit dem Zug zwei Stunden bis Aachen. Er hatte den Freigang genutzt, hatte eine Wohnung gefunden. Die Stadt hatte sich kaum verändert in den letzten dreizehn Jahren. Er schon.
Tief sog er die Luft in seine Lungen. Frei. Und doch - er war nicht glücklich, wollte nicht glücklich sein.
Dreizehn Jahre.
Und die Wut war wieder da.
1
22. Juli 2009
Kriminalhauptkommissar Bernd Menkhoffs Handy klingelte, als wir nur noch wenige Meter von der Garagenauffahrt seines Einfamilienhauses im Aachener Stadtteil Brand entfernt waren. Während er umständlich sein Telefon aus der Hosentasche fingerte, lenkte ich den A6 an den Straßenrand. Seit 16Jahren waren wir Partner, und meistens setzte ich ihn nach Dienstschluss zu Hause ab und nahm ihn am nächsten Tag wieder mit.
»Ja«, meldete sich Menkhoff knapp und senkte den Kopf ein wenig, während er dem Anrufer zuhörte. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Hoffentlich nichts Dienstliches mehr. Den Motor des Audis ließ ich laufen, die Klimaanlage blies angenehm kühle Luft in den Innenraum. Draußen war es drückend.
»Ja, der bin ich«, sagte Menkhoff neben mir mürrisch. »Woher haben Sie diese Nummer?« Er hörte wieder eine Zeitlang zu, dann kniff er die Augen zusammen. »Was?«
Es war etwas Dienstliches.
»Aha. Und wie kommen Sie darauf?« Menkhoffs Stimme hatte einen unpersönlichen Klang angenommen. »Sagen Sie mir bitte erst mal Ihren Namen.« Es vergingen weitere Sekunden, dann ließ er das Handy sinken. »Aufgelegt.«
»Anonym?«
»Ja. Eine Männerstimme. Hat was erzählt von einem kleinen Mädchen, das angeblich seit mehreren Tagen verschwunden ist. In der Zeppelinstraße.«
»Nicht gerade die feinste Gegend. Und?«
»Was und? Sonst nichts.«
Er öffnete die Beifahrertür und sagte beim Aussteigen: »Bin gleich wieder da.«
Ich sah ihm nach, wie er über die Auffahrt zur Haustür ging, aufschloss und im Inneren verschwand.
Schon nach sieben. Melanie wartete zu Hause auf mich. Ich sah die herrlichen Rinderhüftsteaks vor mir, die ich an diesem Abend für uns beide zubereiten wollte. Es sollte ein romantisches Essen werden, mit Rotwein und Kerzen, eine kleine Entschädigung dafür, dass es in letzter Zeit oft sehr spät geworden war. Seit meiner Beförderung zum Hauptkommissar ein paar Monate zuvor ...
Die Beifahrertür wurde geöffnet, und Menkhoff ließ sich wieder in den Sitz fallen. »Alles in Ordnung, Frau Christ bleibt da und passt weiter auf Luisa auf.« Er deutete mit dem Kopf nach vorne. »Na komm, fahr los.«
Ich dachte an die Steaks und legte mit einem Seufzer den Gang ein. Vielleicht war der Anrufer ja nur ein Spinner, das kam öfter vor. Vielleicht würden wir in zwanzig Minuten wieder zurück sein.
Als ich vor einer Ampel an der Trierer Straße anhalten musste, sah ich zu Menkhoff herüber, der sein Handy in das Ablagefach der Mittelkonsole warf. »Keine Nummer, klar.« Er strich sich eine Strähne seiner von silbernen Fäden durchsetzten schwarzen Haare aus der Stirn. »Unterdrückt.«
Zehn Minuten später standen wir vor einem Mehrfamilienhaus, dessen Außenfassade dringend einen Anstrich nötig gehabt hätte.
»Im ersten Stock links, hat der Kerl gesagt«, erklärte Menkhoff. Ich betrachtete die Reihe verwitterter Holzfenster, die zur ersten Etage gehören musste, und stieg aus.
Die Haustür hatte kein Schloss, das Treppenhaus war ähnlich heruntergekommen wie die Fassade. Die meisten Kanten der ausgetretenen Betonstufen waren abgebrochen, hingekritzelte Klosprüche und Fäkalausdrücke bedeckten die Wände. Die wenigen nackten Glühbirnen ließen ihr diffuses, abweisendes Licht auf uns fallen.
Die Wohnungstür im ersten Stock links war an mehreren Stellen beschädigt und sah aus, als hätte vor langer Zeit jemand versucht, sie einzutreten. Ein Namensschild gab es weder auf dem braunen Holz noch an dem schmutzigen Klingelknopf daneben. Mit angewidertem Gesichtsausdruck drückte Menkhoff auf die Klingel, woraufhin hinter der Tür ein schrilles Läuten zu hören war.
Eine Zeitlang geschah nichts, und mein Partner hatte schon die Hand gehoben, um nochmal zu klingeln, als Schritte zu hören waren und das Schloss klackte.
Die Tür öffnete sich nur einen Spalt weit, das Gesicht eines Mannes tauchte auf, und mir stockte der Atem.
2
28. Januar 1994
Juliane wohnte mit ihren Eltern am Ende einer Sackgasse in Aachen-Steinebrück, gleich neben einem kleinen Spielplatz. Petra Körprich hatte sich nichts dabei gedacht, ihre vierjährige Tochter draußen spielen zu lassen, während sie das Mittagessen zubereitete. Die kurze Straße wurde fast ausschließlich von den wenigen Anwohnern benutzt, außerdem konnte sie den Spielplatz vom Küchenfenster aus einsehen. Als sie die Spülmaschine eingeräumt hatte und wieder einen Blick nach draußen warf, war Juliane verschwunden. Nach zehn Minuten rief sie ihren Mann im Büro an, eine Stunde später informierte der die Polizei.
Drei Tage lang suchten wir mit Hundertschaften der Bereitschaftspolizei die gesamte Umgebung ab, bis der schreckliche Verdacht zur Gewissheit wurde: Die Kollegen fanden das Mädchen in einem Gebüsch im Aachener Wald, nicht weit von der Monschauer Straße und nur ein paar hundert Meter von ihrem Elternhaus entfernt. Jemand hatte Juliane erwürgt, den kleinen Körper dann in einen blauen Plastiksack gesteckt und ihn im Wald entsorgt wie Müll, den man unbeobachtet loswerden wollte.
Seit einem knappen halben Jahr gehörte ich zur MK2, der zweiten Mordkommission des Aachener Kriminalkommissariats 11, und es war der erste Mordfall, an dem ich als Junior-Partner von Oberkommissar Bernd Menkhoff mitarbeitete. Bis zu diesem Zeitpunkt war mir der Anblick eines Mordopfers noch erspart geblieben. Als ich dann dieses weiße Gesicht im Dreck liegen sah mit den dunklen Flecken auf den eingefallenen Wangen, eingerahmt von einer Flut aus blonden, schmutzverklebten Locken, als ich meinen Blick nicht von den hässlichen, blauschwarzen Würgemalen an ihrem zarten Kinderhals abwenden konnte, da hätte ich weinen können vor Schmerz und gleichzeitig schreien vor Wut. »Reißen Sie sich zusammen!«, raunte der Oberkommissar mir zu, der mir angesehen haben musste, wie sehr ich gegen einen Gefühlsausbruch ankämpfte.
Als ich später den Wagen über den schmalen Pfad aus dem Wald herauslenkte, fragte Menkhoff mich: »Wie alt sind Sie nochmal, Herr Seifert? Vierundzwanzig?«
»Dreiundzwanzig«, antwortete ich kleinlaut.
»Das ist alt genug, um sich etwas hinter die Ohren zu schreiben, Herr Kriminalkommissar: Niemals, hören Sie, absolut niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen. Wenn so ein kleines Mädchen von einem Dreckschwein getötet wird, dann ist das entsetzlich, aber auch wenn es unmenschlich klingt - die Kleine ist tot, und sie ist ein Fall, den wir aufklären müssen, kapiert? Wir können dem Kind nicht mehr helfen, aber wir können dafür sorgen, dass dieser Abschaum so was nicht nochmal tun kann.« Menkhoffschlug kurz mit der flachen Hand gegen das Handschuhfach. »Verdammt, wenn Sie Gefühle zulassen, verlieren Sie den neutralen Blick, Sie übersehen Details. Sie müssen lernen, einen kühlen Kopf zu bewahren. Darauf will ich mich verlassen können, verstanden?«
Ich verstand, musste in den folgenden Tagen aber immer wieder feststellen, dass Verstehen und Umsetzen zwei grundsätzlich unterschiedliche Dinge waren. Jedes Mal, wenn sich wieder ein Hinweis als wertlos herausstellte, überkam mich eine tiefe Niedergeschlagenheit, weil wir dieses Monster vielleicht nie fassen würden, und Wut und Angst, weil vielleicht noch ein Kind sterben würde, während wir vollkommen ahnungslos waren.
Niemals dürfen Sie bei einem Mordfall Gefühle an sich heranlassen.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
... weniger
Autoren-Porträt von Arno Strobel
Arno Strobel liebt Grenzerfahrungen und teilt sie gern mit seinen Leserinnen und Lesern. Deshalb sind seine Thriller wie spannende Entdeckungsreisen zu den dunklen Winkeln der menschlichen Seele und machen auch vor den größten Urängsten nicht Halt.Seine Themen spürt er dabei meist im Alltag auf und erst, wenn ihn eine Idee nicht mehr loslässt und er den Hintergründen sofort mit Hilfe seines Netzwerks aus Experten auf den Grund gehen will, weiß er, dass der Grundstein für seinen nächsten Roman gelegt ist. Alle seine bisherigen Thriller waren Bestseller.Arno Strobel lebt als freier Autor in der Nähe von Trier.
Bibliographische Angaben
- Autor: Arno Strobel
- 2010, 5. Aufl., Maße: 12,4 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596186323
- ISBN-13: 9783596186327
Kommentare zu "Das Wesen"
0 Gebrauchte Artikel zu „Das Wesen“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 16Schreiben Sie einen Kommentar zu "Das Wesen".
Kommentar verfassen