Dem Land geht es schlecht
Ein Traktat über unsere Unzufriedenheit
Das Vermächtnis des einflussreichen Intellektuellen und Historikers
Die Krise der Banken hat die Risiken eines entfesselten Marktes deutlich genug gezeigt. In seiner letzten großen Rede an der New York University warnte der bekannte Historiker Tony Judt...
Die Krise der Banken hat die Risiken eines entfesselten Marktes deutlich genug gezeigt. In seiner letzten großen Rede an der New York University warnte der bekannte Historiker Tony Judt...
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Produktinformationen zu „Dem Land geht es schlecht “
Klappentext zu „Dem Land geht es schlecht “
Das Vermächtnis des einflussreichen Intellektuellen und HistorikersDie Krise der Banken hat die Risiken eines entfesselten Marktes deutlich genug gezeigt. In seiner letzten großen Rede an der New York University warnte der bekannte Historiker Tony Judt davor, Ideale wie Gerechtigkeit und Chancengleichheit der sogenannten Logik des Marktes zu opfern.
"Eine Anleitung dafür, anders zu denken und zu handeln."
Der Tagesspiegel
"Diese knapp 200 Seiten sind eine Wucht, eine Weltverbesserungswucht."
Deutschlandfunk
Lese-Probe zu „Dem Land geht es schlecht “
Dem Land geht es schlecht von Tony JudtVorwort
Ein Wegweiser für Ratlose
»Ich befürchte, dass die Menschen einen Punkt erreichen, wo sie jede neue Theorie als Gefahr ansehen, jede Neuerung als ärgerliche Anstrengung, jeden sozialen Fortschritt als ersten Schritt zur Revolution, und dass sie sich vielleicht überhaupt nicht mehr bewegen wollen.«
Alexis de Tocqueville
Irgendetwas ist grundfalsch an der Art und Weise, wie wir heutzutage leben. Seit dreißig Jahren verherrlichen wir eigennütziges Gewinnstreben. Wenn unsere Gesellschaft überhaupt ein Ziel hat, dann ist es diese Jagd nach dem Profit. Wir wissen, was die Dinge kosten, aber wir wissen nicht, was sie wert sind. Bei einem Gerichtsurteil oder einem Gesetz fragen wir nicht, ob es gut ist. Ob es gerecht und vernünftig ist. Ob es zu einer besseren Gesellschaft, zu einer besseren Welt beitragen wird. Früher waren das die entscheidenden politischen Fragen, auch wenn es keine einfachen Antworten gab. Wir müssen wieder lernen, diese Fragen zu stellen.
Die materialistische und eigennützige Lebensart, der wir heute begegnen, ist nicht zwingend im Menschen angelegt. Was heute so selbstverständlich scheint, hat sich in den achtziger Jahren herausgebildet: die Jagd nach Geld, der Kult um Privatisierung und Kapitalismus, die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm. Und vor allem die dazugehörige Sprache: unkritisches Lob für den uneingeschränkten Markt, Verachtung für den öffentlichen Sektor, die Illusion unaufhörlichen Wachstums.
... mehr
So können wir nicht weiterleben. Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, dass der unregulierte Kapitalismus sich selbst der schlimmste Feind ist. Früher oder später wird er Opfer seiner Exzesse werden und den Staat um Hilfe bitten. Wenn wir aber nach dieser Krise zum Alltag zurückkehren und so weitermachen wie bisher, sollten wir uns auf größere Katastrophen gefasst machen.
Und doch sind wir anscheinend unfähig, uns Alternativen vorzustellen. Auch das ist neu. Noch in der jüngsten Vergangenheit fand das öffentliche Leben in unseren Demokratien im Schatten einer Debatte statt, die zwischen den Verteidigern des »Kapitalismus « und seinen Kritikern geführt wurde, die meist einen »Sozialismus « der einen oder anderen Form vertraten. In den siebziger Jahren war diese Debatte schon einigermaßen abgenutzt, aber das »Links-Rechts«-Schema diente noch einem bestimmten Zweck: Es lieferte einen Orientierungspunkt in politischen Streitfragen.
Auf der Linken war der Marxismus attraktiv für Generationen junger Leute, und sei es nur, dass man so auf Distanz zu den herrschenden Verhältnissen gehen konnte. Ähnliches galt für den klassischen Konservatismus, der mit seiner fundierten Kritik an übereiltem Wandel all jenen eine Heimat bot, die ihre traditionelle Lebensweise nicht aufgeben wollten. Heute haben weder Linke noch Rechte sicheren Boden unter den Füßen.
Seit dreißig Jahren klagen meine Studenten, wie einfach es für mich doch gewesen sei, meine Generation habe noch Ideale gehabt, wir hätten an etwas geglaubt, hätten etwas verändern können. Sie dagegen - die Kinder der achtziger, neunziger, der »nuller « Jahre - hätten überhaupt nichts. In vielerlei Hinsicht haben meine Studenten recht. Es war tatsächlich einfach für uns, so wie es, in diesem Sinne, für die Generation vor uns einfach gewesen war. Ähnlich frustriert über die Leere ihres Lebens und die Sinnlosigkeit des Daseins war die Jugend zuletzt in den zwanziger Jahren. Nicht umsonst hat man sie als die »verlorene Generation« bezeichnet.
Wenn junge Leute heutzutage ratlos sind, dann nicht, weil es keine Ziele gäbe. In jedem Gespräch mit Studenten oder Schülern kommt eine beeindruckende Sorgenliste zusammen. Ihre Sorgen gelten der Welt, die sie übernehmen werden. Und dazu kommt ein allgemeines Gefühl, das vielleicht folgendes ausdrückt: wir wissen, dass etwas nicht stimmt. Und es gibt vieles, was uns nicht gefällt. Aber woran können wir noch glauben? Was sollen wir tun?
Ironischerweise ist dies das Gegenteil der Einstellung der Achtundsechziger. Damals, in jener Zeit linker Dogmen, waren junge Leute alles andere als ratlos. Überbordender Optimismus prägte diese Jahre: wir wussten, wie die Welt auszusehen hatte. Diese Arroganz erklärt auch teilweise die spätere rechte Gegenbewegung. Wenn die Linke wieder etwas zu sagen haben will, wäre ein wenig Bescheidenheit nicht falsch. Trotzdem muss man ein Problem benennen können, wenn man es lösen will.
Das vorliegende Buch habe ich für junge Leute beiderseits des Atlantiks geschrieben. Amerikanischen Lesern wird auffallen, wie oft ich von Sozialdemokratie spreche. In den Vereinigten Staaten ist dieser Begriff ungebräuchlich. Journalisten und Kommentatoren, die staatliche Gelder für soziale Projekte fordern, bezeichnen sich eher als »liberal« und werden von ihren Kritikern auch als solche bezeichnet. Doch das verwirrt. »Liberal« ist ein ehrwürdiges, angesehenes Etikett, das jeder mit Stolz tragen sollte. Aber wie ein gutgeschnittener Anzug verbirgt es mehr, als es zeigt.
Liberale sind gegen jede Form von Bevormundung und Einmischung. Sie tolerieren andere Meinungen und unkonventionelles Verhalten. Der Mensch soll möglichst viel Freiraum haben, sein Leben nach eigenen Vorstellungen einzurichten. In extremer Ausprägung wird diese Haltung heutzutage gern als »libertär« bezeichnet, aber dieser Begriff ist eigentlich redundant. Wahre Liberale lassen andere Menschen in Ruhe und machen ihnen keine Vorschriften.
Sozialdemokraten sind gewissermaßen Mischlinge. Sie treten, wie die Liberalen, für kulturelle und religiöse Toleranz ein. Politisch halten sie aber vor allem das Gemeinwohl hoch. Wie die meisten Liberalen sind Sozialdemokraten für progressive Steuern zur Finanzierung staatlicher und anderer Dienstleistungen, die sich der Einzelne nicht leisten kann. Während viele Liberale derartige Steuern oder öffentliche Dienste als notwendiges Übel betrachten, sieht die sozialdemokratische Vision einer guten Gesellschaft grundsätzlich eine größere Rolle für den Staat und den staatlichen Sektor vor.
Verständlich also, dass die Sozialdemokratie in Amerika wenig attraktiv ist. Ich möchte zeigen, dass der Staat eine stärkere Rolle in unserem Leben spielen kann, ohne dass dies automatisch unsere Freiheit bedroht. Und da uns der Staat noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird, sollten wir darüber nachdenken, was für einen Staat wir haben wollen. All das, was bei uns im Laufe des
20. Jahrhunderts an gesetzgeberischen und sozialpolitischen Maßnahmen eingeführt wurde - und nun im Namen von Effizienz und »weniger Staat« abgeschafft werden soll -, entspricht praktisch dem, was in Europa »Sozialdemokratie« heißt. Unser Problem ist nicht die Frage, was zu tun ist, sondern wie wir darüber reden. Die Europäer haben ein etwas anderes Problem. In vielen europäischen Staaten wird seit langem eine Politik praktiziert, die mehr oder weniger sozialdemokratisch ist, aber niemand redet mehr über die Bedeutung des Sozialstaats. Die Sozialdemokraten von heute agieren defensiv und apologetisch. Kritiker konnten unwidersprochen behaupten, dass das europäische Modell zu teuer oder unwirtschaftlich sei. Doch in der Bevölkerung genießt der Sozialstaat weiterhin hohes Ansehen: Nirgendwo in Europa fordert jemand die Abschaffung des staatlichen Gesundheitswesens und der staatlichen Schulen, den Abbau des öffentlichen Personenverkehrs und anderer wichtiger Dienstleistungen.
Ich wende mich gegen die üblichen Ansichten beiderseits des Atlantiks. Gewiss, man hört nicht mehr so scharfe Töne. Zu Beginn unseres Jahrhunderts herrschte der »Washingtoner Konsens «. Ständig gab es irgendwelche »Experten«, die auf die Vorzüge von Deregulierung, möglichst wenig Staat und niedrigen Steuern hinwiesen. Alles, was der Staat unternahm, konnte die private Hand angeblich viel besser.
Die Washingtoner Doktrin wurde überall von ideologischen Marktschreiern begrüßt - von den Nutznießern des »irischen Wunders« (der Immobilienblase des keltischen Tigers) bis zu den Ultrakapitalisten im ehemaligen kommunistischen Osteuropa. Selbst »alte Europäer« haben sich anstecken lassen. Die sogenannte Lissabon-Agenda der EU, die Privatisierungspläne in Frankreich und Deutschland - all das zeugte von dem neuen Denken.
Inzwischen ist man hier und da aufgewacht. Zwecks Abwendung von Staatsbankrott und Bankenkollaps rudern Regierungen und Zentralbanken zurück. Zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität werden großzügig staatliche Mittel bereitgestellt, zahlungsunfähige Unternehmen werden ohne viel Federlesens unter staatliche Aufsicht gestellt. Erstaunlich viele Wirtschaftsliberale, Anhänger Milton Friedmans und der Chicagoer Schule, gehen in Sack und Asche und schwören auf John Maynard Keynes.
Das alles ist gut. Aber es ist schwerlich ein radikaler Sinneswandel. Ganz im Gegenteil. Die Reaktion der amerikanischen Regierung zeigt, dass die Rückbesinnung auf Keynes ein taktisches Manöver ist. Gleiches gilt für New Labour, die dem Privatunternehmertum und dem Finanzplatz London nach wie vor verpflichtet ist. Zwar hat sich die Begeisterung der Europäer für das »angloamerikanische Modell« im Gefolge der Krise etwas gelegt, aber die Nutznießer sind genau jene Mitte-Rechts-Parteien, die früher so erpicht darauf waren, Washington nachzuahmen.
Starke Interventionsstaaten sind notwendig. Das bezweifelt niemand, aber niemand denkt den Staat neu. Es bleibt die deutliche Abneigung, im Interesse des Gemeinwohls oder aus Prinzip für den öffentlichen Sektor einzutreten. Mehrere sozialdemokratische Parteien in Europa haben bei Wahlen nach der Finanzkrise schlecht abgeschnitten. Auf das wirtschaftliche Debakel wussten sie kaum eine Antwort.
Wenn die Linke wieder ernst genommen werden will, muss sie ihre Stimme finden. Grund für Empörung gibt es genug - wachsende Einkommensdisparitäten, mangelnde Bildungschancen, soziale Benachteiligung, wirtschaftliche Ausbeutung im In-und Ausland, Korruption und Geld und Privilegien verstopfen die Arterien der Demokratie. Aber es reicht nicht mehr, die Mängel des »Systems« anzuprangern und dann die Hände in den Schoß zu legen. Die verantwortungslose Effekthascherei vergangener Jahrzehnte ist der Linken nicht gut bekommen.
Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten - wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. Dass das weitgehend unbemerkt geschehen ist, ist kein Trost. 1914 sahen nur wenige den Zusammenbruch der Welt und die anschließenden wirtschaftlichen und politischen Katastrophen voraus. Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst - Angst vor Veränderung, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt - zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht.
Jede Veränderung bringt Unruhe. Wie wir gesehen haben, kann schon das Gespenst des Terrorismus stabile Demokratien aus dem Gleichgewicht bringen. Der Klimawandel wird noch dramatischere Auswirkungen haben. Die Menschen werden auf die Ressourcen des Staates zurückgeworfen sein. Schutzsuchend werden sie sich an die Politik wenden. Offene Gesellschaften werden sich wieder abschotten, ihre Freiheit der »Sicherheit« opfern. Die Alternative lautet dann nicht mehr Staat oder Marktwirtschaft, sondern dieser oder jener Staat. Wir müssen daher die Rolle des Staates neu definieren. Wenn wir es nicht tun, werden andere es tun.
Die folgenden Überlegungen habe ich im Dezember 2009 in einem Beitrag für die New York Review of Books skizziert. Anschließend erreichten mich viele interessante Kommentare und Vorschläge, darunter diese nachdenkliche Anmerkung einer jungen Kollegin: »Bemerkenswert an dem, was Sie sagen, ist nicht so sehr der Inhalt, sondern die Form. Sie sprechen von Ihrem Zorn auf unsere politische Untätigkeit. Sie schreiben, dass wir von unserer ökonomistischen Denkweise wegkommen und zu einer ethisch fundierten politischen Debatte zurückfinden müssen. So spricht niemand mehr.« Daher dieses Buch.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
So können wir nicht weiterleben. Die Finanzkrise von 2008 hat gezeigt, dass der unregulierte Kapitalismus sich selbst der schlimmste Feind ist. Früher oder später wird er Opfer seiner Exzesse werden und den Staat um Hilfe bitten. Wenn wir aber nach dieser Krise zum Alltag zurückkehren und so weitermachen wie bisher, sollten wir uns auf größere Katastrophen gefasst machen.
Und doch sind wir anscheinend unfähig, uns Alternativen vorzustellen. Auch das ist neu. Noch in der jüngsten Vergangenheit fand das öffentliche Leben in unseren Demokratien im Schatten einer Debatte statt, die zwischen den Verteidigern des »Kapitalismus « und seinen Kritikern geführt wurde, die meist einen »Sozialismus « der einen oder anderen Form vertraten. In den siebziger Jahren war diese Debatte schon einigermaßen abgenutzt, aber das »Links-Rechts«-Schema diente noch einem bestimmten Zweck: Es lieferte einen Orientierungspunkt in politischen Streitfragen.
Auf der Linken war der Marxismus attraktiv für Generationen junger Leute, und sei es nur, dass man so auf Distanz zu den herrschenden Verhältnissen gehen konnte. Ähnliches galt für den klassischen Konservatismus, der mit seiner fundierten Kritik an übereiltem Wandel all jenen eine Heimat bot, die ihre traditionelle Lebensweise nicht aufgeben wollten. Heute haben weder Linke noch Rechte sicheren Boden unter den Füßen.
Seit dreißig Jahren klagen meine Studenten, wie einfach es für mich doch gewesen sei, meine Generation habe noch Ideale gehabt, wir hätten an etwas geglaubt, hätten etwas verändern können. Sie dagegen - die Kinder der achtziger, neunziger, der »nuller « Jahre - hätten überhaupt nichts. In vielerlei Hinsicht haben meine Studenten recht. Es war tatsächlich einfach für uns, so wie es, in diesem Sinne, für die Generation vor uns einfach gewesen war. Ähnlich frustriert über die Leere ihres Lebens und die Sinnlosigkeit des Daseins war die Jugend zuletzt in den zwanziger Jahren. Nicht umsonst hat man sie als die »verlorene Generation« bezeichnet.
Wenn junge Leute heutzutage ratlos sind, dann nicht, weil es keine Ziele gäbe. In jedem Gespräch mit Studenten oder Schülern kommt eine beeindruckende Sorgenliste zusammen. Ihre Sorgen gelten der Welt, die sie übernehmen werden. Und dazu kommt ein allgemeines Gefühl, das vielleicht folgendes ausdrückt: wir wissen, dass etwas nicht stimmt. Und es gibt vieles, was uns nicht gefällt. Aber woran können wir noch glauben? Was sollen wir tun?
Ironischerweise ist dies das Gegenteil der Einstellung der Achtundsechziger. Damals, in jener Zeit linker Dogmen, waren junge Leute alles andere als ratlos. Überbordender Optimismus prägte diese Jahre: wir wussten, wie die Welt auszusehen hatte. Diese Arroganz erklärt auch teilweise die spätere rechte Gegenbewegung. Wenn die Linke wieder etwas zu sagen haben will, wäre ein wenig Bescheidenheit nicht falsch. Trotzdem muss man ein Problem benennen können, wenn man es lösen will.
Das vorliegende Buch habe ich für junge Leute beiderseits des Atlantiks geschrieben. Amerikanischen Lesern wird auffallen, wie oft ich von Sozialdemokratie spreche. In den Vereinigten Staaten ist dieser Begriff ungebräuchlich. Journalisten und Kommentatoren, die staatliche Gelder für soziale Projekte fordern, bezeichnen sich eher als »liberal« und werden von ihren Kritikern auch als solche bezeichnet. Doch das verwirrt. »Liberal« ist ein ehrwürdiges, angesehenes Etikett, das jeder mit Stolz tragen sollte. Aber wie ein gutgeschnittener Anzug verbirgt es mehr, als es zeigt.
Liberale sind gegen jede Form von Bevormundung und Einmischung. Sie tolerieren andere Meinungen und unkonventionelles Verhalten. Der Mensch soll möglichst viel Freiraum haben, sein Leben nach eigenen Vorstellungen einzurichten. In extremer Ausprägung wird diese Haltung heutzutage gern als »libertär« bezeichnet, aber dieser Begriff ist eigentlich redundant. Wahre Liberale lassen andere Menschen in Ruhe und machen ihnen keine Vorschriften.
Sozialdemokraten sind gewissermaßen Mischlinge. Sie treten, wie die Liberalen, für kulturelle und religiöse Toleranz ein. Politisch halten sie aber vor allem das Gemeinwohl hoch. Wie die meisten Liberalen sind Sozialdemokraten für progressive Steuern zur Finanzierung staatlicher und anderer Dienstleistungen, die sich der Einzelne nicht leisten kann. Während viele Liberale derartige Steuern oder öffentliche Dienste als notwendiges Übel betrachten, sieht die sozialdemokratische Vision einer guten Gesellschaft grundsätzlich eine größere Rolle für den Staat und den staatlichen Sektor vor.
Verständlich also, dass die Sozialdemokratie in Amerika wenig attraktiv ist. Ich möchte zeigen, dass der Staat eine stärkere Rolle in unserem Leben spielen kann, ohne dass dies automatisch unsere Freiheit bedroht. Und da uns der Staat noch eine ganze Weile erhalten bleiben wird, sollten wir darüber nachdenken, was für einen Staat wir haben wollen. All das, was bei uns im Laufe des
20. Jahrhunderts an gesetzgeberischen und sozialpolitischen Maßnahmen eingeführt wurde - und nun im Namen von Effizienz und »weniger Staat« abgeschafft werden soll -, entspricht praktisch dem, was in Europa »Sozialdemokratie« heißt. Unser Problem ist nicht die Frage, was zu tun ist, sondern wie wir darüber reden. Die Europäer haben ein etwas anderes Problem. In vielen europäischen Staaten wird seit langem eine Politik praktiziert, die mehr oder weniger sozialdemokratisch ist, aber niemand redet mehr über die Bedeutung des Sozialstaats. Die Sozialdemokraten von heute agieren defensiv und apologetisch. Kritiker konnten unwidersprochen behaupten, dass das europäische Modell zu teuer oder unwirtschaftlich sei. Doch in der Bevölkerung genießt der Sozialstaat weiterhin hohes Ansehen: Nirgendwo in Europa fordert jemand die Abschaffung des staatlichen Gesundheitswesens und der staatlichen Schulen, den Abbau des öffentlichen Personenverkehrs und anderer wichtiger Dienstleistungen.
Ich wende mich gegen die üblichen Ansichten beiderseits des Atlantiks. Gewiss, man hört nicht mehr so scharfe Töne. Zu Beginn unseres Jahrhunderts herrschte der »Washingtoner Konsens «. Ständig gab es irgendwelche »Experten«, die auf die Vorzüge von Deregulierung, möglichst wenig Staat und niedrigen Steuern hinwiesen. Alles, was der Staat unternahm, konnte die private Hand angeblich viel besser.
Die Washingtoner Doktrin wurde überall von ideologischen Marktschreiern begrüßt - von den Nutznießern des »irischen Wunders« (der Immobilienblase des keltischen Tigers) bis zu den Ultrakapitalisten im ehemaligen kommunistischen Osteuropa. Selbst »alte Europäer« haben sich anstecken lassen. Die sogenannte Lissabon-Agenda der EU, die Privatisierungspläne in Frankreich und Deutschland - all das zeugte von dem neuen Denken.
Inzwischen ist man hier und da aufgewacht. Zwecks Abwendung von Staatsbankrott und Bankenkollaps rudern Regierungen und Zentralbanken zurück. Zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität werden großzügig staatliche Mittel bereitgestellt, zahlungsunfähige Unternehmen werden ohne viel Federlesens unter staatliche Aufsicht gestellt. Erstaunlich viele Wirtschaftsliberale, Anhänger Milton Friedmans und der Chicagoer Schule, gehen in Sack und Asche und schwören auf John Maynard Keynes.
Das alles ist gut. Aber es ist schwerlich ein radikaler Sinneswandel. Ganz im Gegenteil. Die Reaktion der amerikanischen Regierung zeigt, dass die Rückbesinnung auf Keynes ein taktisches Manöver ist. Gleiches gilt für New Labour, die dem Privatunternehmertum und dem Finanzplatz London nach wie vor verpflichtet ist. Zwar hat sich die Begeisterung der Europäer für das »angloamerikanische Modell« im Gefolge der Krise etwas gelegt, aber die Nutznießer sind genau jene Mitte-Rechts-Parteien, die früher so erpicht darauf waren, Washington nachzuahmen.
Starke Interventionsstaaten sind notwendig. Das bezweifelt niemand, aber niemand denkt den Staat neu. Es bleibt die deutliche Abneigung, im Interesse des Gemeinwohls oder aus Prinzip für den öffentlichen Sektor einzutreten. Mehrere sozialdemokratische Parteien in Europa haben bei Wahlen nach der Finanzkrise schlecht abgeschnitten. Auf das wirtschaftliche Debakel wussten sie kaum eine Antwort.
Wenn die Linke wieder ernst genommen werden will, muss sie ihre Stimme finden. Grund für Empörung gibt es genug - wachsende Einkommensdisparitäten, mangelnde Bildungschancen, soziale Benachteiligung, wirtschaftliche Ausbeutung im In-und Ausland, Korruption und Geld und Privilegien verstopfen die Arterien der Demokratie. Aber es reicht nicht mehr, die Mängel des »Systems« anzuprangern und dann die Hände in den Schoß zu legen. Die verantwortungslose Effekthascherei vergangener Jahrzehnte ist der Linken nicht gut bekommen.
Wir sind in ein Zeitalter der Unsicherheit eingetreten - wirtschaftliche Unsicherheit, physische Unsicherheit, politische Unsicherheit. Dass das weitgehend unbemerkt geschehen ist, ist kein Trost. 1914 sahen nur wenige den Zusammenbruch der Welt und die anschließenden wirtschaftlichen und politischen Katastrophen voraus. Unsicherheit erzeugt Angst. Und Angst - Angst vor Veränderung, Angst vor sozialem Abstieg, Angst vor Fremden und einer fremden Welt - zerfrisst das wechselseitige Vertrauen, auf dem die Bürgergesellschaft beruht.
Jede Veränderung bringt Unruhe. Wie wir gesehen haben, kann schon das Gespenst des Terrorismus stabile Demokratien aus dem Gleichgewicht bringen. Der Klimawandel wird noch dramatischere Auswirkungen haben. Die Menschen werden auf die Ressourcen des Staates zurückgeworfen sein. Schutzsuchend werden sie sich an die Politik wenden. Offene Gesellschaften werden sich wieder abschotten, ihre Freiheit der »Sicherheit« opfern. Die Alternative lautet dann nicht mehr Staat oder Marktwirtschaft, sondern dieser oder jener Staat. Wir müssen daher die Rolle des Staates neu definieren. Wenn wir es nicht tun, werden andere es tun.
Die folgenden Überlegungen habe ich im Dezember 2009 in einem Beitrag für die New York Review of Books skizziert. Anschließend erreichten mich viele interessante Kommentare und Vorschläge, darunter diese nachdenkliche Anmerkung einer jungen Kollegin: »Bemerkenswert an dem, was Sie sagen, ist nicht so sehr der Inhalt, sondern die Form. Sie sprechen von Ihrem Zorn auf unsere politische Untätigkeit. Sie schreiben, dass wir von unserer ökonomistischen Denkweise wegkommen und zu einer ethisch fundierten politischen Debatte zurückfinden müssen. So spricht niemand mehr.« Daher dieses Buch.
Copyright © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
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Autoren-Porträt von Tony Judt
Tony Judt (1948-2010) studierte in Cambridge und Paris und lehrte in Cambridge, Oxford und Berkeley. Seit 1995 war er Erich-Maria-Remarque-Professor für Europäische Studien in New York. Er starb am 6. August 2010 in New York. Er war Mitglied der Royal Historical Society, der American Academy of Arts and Sciences und der John Simon Guggenheim Memorial Foundation. Seine »Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart« (Bd. 18031) gilt als Klassiker der Geschichtsschreibung. Im Fischer Taschenbuch ist ebenfalls lieferbar: »Das vergessene 20. Jahrhundert« (Bd. 19186).Literaturpreise:2006: Bruno-Kreisky-Preis2007: Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis2007: Hannah-Arendt-Preis
Bibliographische Angaben
- Autor: Tony Judt
- 2014, 1. Auflage, 192 Seiten, Maße: 12,3 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Fienbork, Matthias
- Übersetzer: Matthias Fienbork
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596194385
- ISBN-13: 9783596194384
- Erscheinungsdatum: 22.01.2014
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