Der Augentäuscher
Es war nichts als eine dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Zahl 1673 geritzt war. Aber der Fund war spektakulär. Die Reste eines Photos aus dem 17. Jahrhundert? Obwohl die Photographie erst im 19. erfunden wurde? Humbug, völlig unmöglich. Niemand...
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Produktinformationen zu „Der Augentäuscher “
Es war nichts als eine dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Zahl 1673 geritzt war. Aber der Fund war spektakulär. Die Reste eines Photos aus dem 17. Jahrhundert? Obwohl die Photographie erst im 19. erfunden wurde? Humbug, völlig unmöglich. Niemand glaubt dem verkrachten Wissenschaftler. Im Jahr 2002 jedoch, bei den Aufräumarbeiten nach dem Elbhochwasser in Dresden, stößt er auf einen Druckbogen im Bleisatz, dessen verklebte Seiten er löst und: das zweite Glied einer großartigen Beweiskette entdeckt. Schilderungen über einen gewissen Silvius Schwarz, hochbegabter Stillleben-Maler, Libertin und Atheist, der in Dresden aus einer Camera obscura ein künstliches Auge gebaut hat. Seine Geliebte, die wilde, schöne Sophie von Schlosser, berühmte Mathematikerin und Gambenvirtuosin, war ebenso Anlass für Neid und Missgunst wie Silvius Erfindung: die Eins-zu-eins-Wiedergabe der Natur. Nur wenigen gewährt er einen Blick auf seine Kunst, und dann nur flüchtig,bei Kerzenschein Bald als Magier und Blasphemiker gejagt,wird Silvius auch noch verdächtigt, mit den geheimnisumwobenen Ritualmorden zu tun zu haben, die die höfische Welt erschüttern.
Klappentext zu „Der Augentäuscher “
Es war nichts als eine dunkel angelaufene Metallplatte, in die die Zahl 1673 geritzt war. Aber der Fund war spektakulär. Die Reste eines Photos aus dem 17. Jahrhundert? Obwohl die Photographie erst im 19. erfunden wurde? Humbug, völlig unmöglich. Niemand glaubt dem verkrachten Wissenschaftler. Im Jahr 2002 jedoch, bei den Aufräumarbeiten nach dem Elbhochwasser in Dresden, stößt er auf einen Druckbogen im Bleisatz, dessen verklebte Seiten er löst und: das zweite Glied einer großartigen Beweiskette entdeckt. Schilderungen über einen gewissen Silvius Schwarz, hochbegabter Stillleben-Maler, Libertin und Atheist, der in Dresden aus einer Camera obscura ein künstliches Auge gebaut hat. Seine Geliebte, die wilde, schöne Sophie von Schlosser, berühmte Mathematikerin und Gambenvirtuosin, war ebenso Anlass für Neid und Missgunst wie Silvius' Erfindung: die Eins-zu-eins-Wiedergabe der Natur. Nur wenigen gewährt er einen Blick auf seine Kunst, und dann nur flüchtig,bei Kerzenschein ... Bald als Magier und Blasphemiker gejagt,wird Silvius auch noch verdächtigt, mit den geheimnisumwobenen Ritualmorden zu tun zu haben, die die höfische Welt erschüttern ...
Lese-Probe zu „Der Augentäuscher “
Der Augentäuscher von Mathias GatzaVORWORT DES HERAUSGEBERS
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Verehrter Leser, Ihr freundliches Interesse an der faszinierenden Früchtestilllebenmalerei auf dem Territorium des Kurfürstentums Sachsen zwischen 1673 und 1680, übrigens mein Spezialgebiet, führte Sie zu mir.
Ich muss zunächst einige Sätze darüber verlieren, warum Sie diesen wissenschaftlich fundierten Text nicht als gedrucktes Buch, als book on demand oder als e-book in einem Wissenschaftsverlag erwerben können. Sondern ihn unentgeltlich von meiner Homepage herunterladen durften. Der Text kommt, obwohl als kunsthistorische Quellenstudie und Monografie über einen Maler angelegt, außerdem ohne jegliche Abbildungen aus. Dessen ungeachtet habe ich auf der Homepage angekündigt, dass mein Text das Bild des deutschen Barocks, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt verändern wird. Sie sind eingeladen, dies lesend zu bestätigen.
Der Autor ist kein Professor, nicht einmal den Doktortitel trägt er! Dabei habe ich in den letzten Jahrzehnten durchaus Anläufe genommen, ihn zu erringen. Zuerst bei Professor Kampendonk, damals in den Achtzigerjahren noch in Hamburg, heute Berlin. Ich legte ihm eine Arbeit mit dem Titel Die Optik und ihr Einfluss auf die sächsische Stilllebenmalerei vor.
»Schon bekannt!«, schrieb er zurück - ein Standardbrief -, lehnte meine Dissertation also ab. Ich verfasste danach mehrere Monografien von Blumenillustratoren und reichte sie bei verschiedenen Gelehrten ein, allesamt Koryphäen ihres Fachs. Uneingeschränkt wurde die umfassende Materialbeschaffung bewundert. Eine eigenständige wissenschaftliche Leistung wollte indes keiner der Herren Professoren erkennen.
Einmal versuchte ich es noch. Ich arbeitete jahrelang über einen vollkommen unbekannten sächsischen Maler, von dem nur zwei Bilder existierten, die auch nicht sicher zuzuschreiben waren. Mittlerweile forschte ich auf eigenes Risiko, da all meine Gespräche mit Professoren bisher frustrierend verlaufen waren und sich eine leichte Kontakthemmung in mein Leben einschlich. Man bescheinigte mir (wiederum Professor Kampendonk, nun schon lange in Berlin) eine bewundernswerte Hartnäckigkeit. Seine Ablehnung war diesmal immerhin nicht als Standardschreiben verfasst, er formulierte sogar einen Vorschlag: »Da können Sie gleich eine Arbeit über Schwarz schreiben!«, empfahl er mir.
Ich hatte alles in allem fast 14 000 Seiten wissenschaftlicher Recherchen vorgelegt. Und war derweil in ein Alter gekommen, in dem eine wissenschaftliche Karriere in immer weitere Ferne rückte. Was brauchte ich da noch die Ratschläge von Herrn Professor Kampendonk? Einen barocken Maler mit dem Namen Schwarz kannte ich nicht. Also durchforstete ich die Archive - zuerst nur, um dem Professor nachzuweisen, dass es da nichts zu holen gab. Ein Sammler, ein Bienengeist, wie ich es bin, forscht noch in den entlegensten Winkeln. Und in den unbezahltesten. Bei der mir eigenen Zurückhaltung kam es mir zugute, dass meine Forschung immer von soliden Partnerinnen begleitet wurde. Nach Monaten fruchtloser Recherchen, in der Zeit war ich gerade mit der enorm kurzsichtigen Papeterieverkäuferin Beate zusammen, fand ich in einer - wahrscheinlich Houbraken zuzuschreibenden - Handschrift einen Hinweis auf einen barocken Stilllebenmaler namens Silvius Schwarz. Nun, so hatte ich wenigstens den Vornamen schon gefunden, kein dissertationswürdiges Thema, aber immerhin.
Silvius Schwarz war von nun an ein schmerzhafter Stachel. Es gab diesen Maler, war meine erste, sehr allgemeine Hypothese. In meinen mit Kärtchen voller Querverweise gespickten, moirébezogenen Karteikästen blieb das Register Silvius Schwarz dann jedoch jahrelang leer. Beate war derweil so kurzsichtig geworden, dass sie mir bei der Sortierarbeit kaum noch helfen konnte, sie verließ mich.
Ich brach das offizielle Studium stillschweigend ab, besuchte aber weiter die kunsthistorischen Kongresse in Berlin, und manchmal, wenn die Verbindungen preiswert waren oder Mitfahrgelegenheiten sich anboten, kam ich sogar bis Braunschweig und Wolfenbüttel. Offiziell lautete mein Forschungsthema: Veränderungen der Muffenfaltendarstellung in der Feinmalerei des Bielefelder Barock um 1670. So trat ich vor meine erfolgreicheren Kollegen, um nach ihren Vorträgen, gleich zu welchem Thema, immer wieder mit derselben Aussage zu brillieren: »Silvius Schwarz hat das auch schon so gemacht, und zwar bedeutend besser!« Ich wollte ihr Wissen abklopfen, sie aus der Reserve locken. Aber niemand hatte je von ihm gehört.
Ich ging nun auf die schwierigen fünfzig zu (»vierzig plus« heißt das heute). Meiner nunmehrigen Lebensgefährtin Gesine, eine Rollsiegelspezialistin an der Universität mit C1-Besoldung, hatte ich in den zwei Jahren vor der Jahrtausendwende, in denen sie meine Forschungen bedingungslos unterstützte, nie etwas von meinen wissenschaftlichen Gedanken mitgeteilt. Bis sie mir eines Abends - ich hatte damals ein Glas Wein getrunken - auf die Erwähnung des Namens Silvius Schwarz in Verbindung mit meiner desaströsen Dissertationshistorie erklärte: Das sei ein bekannter Kampendonk'scher Witz. Der Name sei unter Kunsthistorikern ein fester Begriff. Er stehe als Synonym dafür, dass ein Student über ein Thema schreibe, das in eine Sackgasse führe. Schwarz sei ein Phantom.
Das war einer der furchtbarsten Einschnitte in meinem Leben. Ich fing an zu streiten und wurde eifersüchtig, begann im Schlaf zu reden und Gesine zu beschimpfen. Ich verfluchte ihr selbst gebackenes, nach Kuhfladen riechendes Sauerteigbrot, das ich jahrelang aß, sie warf mir am nächsten Tag eine Packung Toast an den Kopf. Endlich mobilisierte ich meine ganze Recherchekraft und war zum Schluss felsenfest davon überzeugt, dass meine zarte Rollsiegelexpertin ein Verhältnis mit Professor Kampendonk hatte. Bald war ich auf mich allein gestellt, zum ersten Mal in meinem Leben, und verarmte zusehends. Aber ich blieb an Silvius Schwarz dran, jetzt erst recht!
Dabei wollte ich nie originell und arm sein. Ich hatte es mir nie zum Ziel gemacht, originäre Gedanken aufzuschreiben. Eher entsprach es meinem Charakter, die Fußnoten der Kollegen auszuwerten. Der Vergangenheit kommen wir Historiker auch mit einer solchen Genauigkeit nicht auf die Schliche, viel eher unseren Doktorandenkollegen. Theoretische Arbeiten aber lagen mir ebenfalls nicht, wie mir der Ästhetikprofessor Christoph Menke einmal bescheinigte. Ich sammelte lieber. Und also stieg ich tiefer in die Archive hinab. Ich recherchierte mich grauhaarig, Silvius wurde mein Verderben. Mein bisheriges Leben war begleitet von Frauen, die mich dafür bewunderten, das war nun vorbei. Irgendwann fand ich mich während des Elbhochwassers 2002 in Dresden als Sozialhilfeempfänger in einer Aufräumkolonne wieder. Ich war dem Einsatzgebiet Pillnitz zugeordnet. Wir Akademiker schleppten keine Sandsäcke, sondern fischten mit Stangen aus den Depotkellern nach oben gespülte Zettel aus dem Wasser. Meist waren es billige Regionalia, alte DDR-Zeitungen oder Stasiakten. Am Abend lag ich - nun bald »vierzig exitus« - in der Gemeinschaftsunterkunft, den Geruch von fauligem Papier und Kloake in der Nase, und schaute mir die Funde an, die mir interessant erschienen. Es war deprimierend.
Nach drei Tagen in Pillnitz jedoch fischte ich einen Lumpenbogen feinster Qualität aus dem Gitter einer Kläranlage. Ein einzelner Bogen, sehr schön gesetzt, das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Nur die erste und die letzte Seite waren lesbar, die übrigen verklebt. Ein - wie ich, die Seiten vorsichtig aufbiegend, entziffern konnte - stummer Setzer namens Leopold hatte diesen Bogen gesetzt. Da er nicht mit der Hand schreiben konnte - erklärte er selbst -, habe er seine Gedanken nur so ausdrücken können. Ich beschloss, den Bogen mit nach Berlin zu bringen, ihn dort zu trocknen und zu restaurieren. Die Frage, ob ich ihn überhaupt an mich nehmen durfte, habe ich mir nicht gestellt. Die Leute im Zug schauten mich abschätzig an, da es aus meinem Rucksack, in den ich den Bogen gepackt hatte, nach Urin roch.
Tagelang war ich damit beschäftigt, die Blätter mit Seidenpapier und Schneidemesser zu trennen und zu waschen. Ich arbeitete konzentriert und langsam, doch passierte es einige Male, dass einzelne Stücke sich von der Papierstruktur ablösten. Ich musste sie also wieder auf den Bogen einbringen. Das war eine langwierige Arbeit mit dem Okular, die mir eine Jugendfreundin, die Restauratorin war, beigebracht hatte. Als ich vollkommen übermüdet durch das Okular schaute, erschienen in meinem Kopf die Worte »Silvius Schwarz«. Fantasierte ich? War ich von den Chemikalien, die ich bei meiner Arbeit benutzte, benebelt? Ich schüttelte den Kopf und öffnete das Fenster. Dann nahm ich noch einmal das Okular: Es waren ohne Zweifel genau diese beiden Worte. Jetzt las ich den vollständig auseinandergefalteten Bogen. Der Drucker Leopold erzählte von einem Maler namens Silvius Schwarz! Ich war fassungslos. Und glücklich. Ein zeitgenössischer Druck berichtete von Schwarz! Ich kann es heute sogar zweifelsfrei sagen: aus den Jahren zwischen 1672 und 1678. Denn es handelt sich um Thüringer Papier von derartiger Qualität, wie sie nur in dieser Zeit von der Mühle Gotha hergestellt wurde.
Ich ging allen Spuren nach, die auf diesen Seiten ausgebreitet waren. Tatsächlich fand ich wenig später Berichte über einen Lustmörder, der genau zu dieser Zeit, 1673, Dresden heimsuchte und insgesamt dreizehn Menschen getötet haben soll. Der Bericht musste echt sein, und es gab nur ein einziges Exemplar dieses Bogens.
Sonderbarerweise blieb Silvius Schwarz, trotz der vielen Anknüpfungspunkte aus diesem ersten Bogen, in anderen Quellen der Zeit unauffindbar. Als hätte tatsächlich, wie vom Setzer angedeutet, der Teufel seine Finger im Spiel: Silvius Schwarz, ein Maler, der von seiner Zeit getilgt werden musste, sei es durch höhere oder niedere Mächte.
Aber da erinnerte sich die Jagdgöttin Diana ihres treuen Archivars. Ich arbeitete erstmals durchgehend an der frischen Luft, was in meinem Alter der Gesundheit äußerst förderlich war, und zwar in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Gartenbauamts. Da ich mich zu dieser Zeit mit Teerosen und anderen, zumeist englischen, Rosengewächsen beschäftigte, ließ ich mich dem Berliner Tiergarten zuteilen. Damals zeigte der Rosengarten noch weitgehend unverändert die Pflanzungen von Knobelsdorff. Hier konnte ich ungestört meinen Forschungen nachgehen. Ein erbärmlich aussehender greiser Engländer hielt jeden Tag die schönste Bank im Rosengarten besetzt. Ich bot ihm täglich um neunzehn Uhr, wenn der Rosengarten von mir abgeschlossen werden sollte, freundlich meinen Arm an, um ihn hinauszugeleiten. So lernten wir uns kennen. Früher war er Depotmeister der Kunstsammlung des englischen Königshauses in Buckingham Palace. Er schwärmte von Blumenstillleben, besonders Heem hatte es ihm angetan. Ich konnte nicht anders: »Ja gewiss, Heem war bedeutend, aber Silvius Schwarz konnte das besser, und zwar bedeutend.«
Der bald hundertjährige Mann hatte ein Gedächtnis, wie ich es bei keinem der Herren Professoren bisher erlebt hatte. Es gab in Buckingham Palace historische Listen aller jemals erworbenen und deponierten Gemälde. Zuerst stammelte er erschreckend undeutlich, doch dann verstand ich, dass auf den Depotlisten aus dem 17. Jahrhundert sechsunddreißig Bilder eines Deutschen namens Silvius Schwarz verzeichnet waren - teils mit Einkaufspreisen beziffert, erhebliche Summen, teils war sogar das Bildsujet benannt. Einige Bilder sollen pornografischen Inhalts gewesen sein, was ich der senilen Fantasie des Depotmeisters zurechnete. Die Regale, in denen die Bilder lagern sollten, waren jedoch alle leer. Nur die Rahmen seien noch zu finden gewesen, erklärte er mir, und man habe diese bei einer anstehenden Inventur vernichtet. Ich habe dann die Depotlisten, auf denen Silvius Schwarz vorkommt, tatsächlich aus England geschickt bekommen. Es waren Beschreibungen dabei, die sonderbare sexuelle Modi zum Inhalt hatten. Selbst darin hatte sich der Greis also nicht getäuscht.
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Verehrter Leser, Ihr freundliches Interesse an der faszinierenden Früchtestilllebenmalerei auf dem Territorium des Kurfürstentums Sachsen zwischen 1673 und 1680, übrigens mein Spezialgebiet, führte Sie zu mir.
Ich muss zunächst einige Sätze darüber verlieren, warum Sie diesen wissenschaftlich fundierten Text nicht als gedrucktes Buch, als book on demand oder als e-book in einem Wissenschaftsverlag erwerben können. Sondern ihn unentgeltlich von meiner Homepage herunterladen durften. Der Text kommt, obwohl als kunsthistorische Quellenstudie und Monografie über einen Maler angelegt, außerdem ohne jegliche Abbildungen aus. Dessen ungeachtet habe ich auf der Homepage angekündigt, dass mein Text das Bild des deutschen Barocks, die gesamte Bildgeschichte und die Kunstgeschichte überhaupt verändern wird. Sie sind eingeladen, dies lesend zu bestätigen.
Der Autor ist kein Professor, nicht einmal den Doktortitel trägt er! Dabei habe ich in den letzten Jahrzehnten durchaus Anläufe genommen, ihn zu erringen. Zuerst bei Professor Kampendonk, damals in den Achtzigerjahren noch in Hamburg, heute Berlin. Ich legte ihm eine Arbeit mit dem Titel Die Optik und ihr Einfluss auf die sächsische Stilllebenmalerei vor.
»Schon bekannt!«, schrieb er zurück - ein Standardbrief -, lehnte meine Dissertation also ab. Ich verfasste danach mehrere Monografien von Blumenillustratoren und reichte sie bei verschiedenen Gelehrten ein, allesamt Koryphäen ihres Fachs. Uneingeschränkt wurde die umfassende Materialbeschaffung bewundert. Eine eigenständige wissenschaftliche Leistung wollte indes keiner der Herren Professoren erkennen.
Einmal versuchte ich es noch. Ich arbeitete jahrelang über einen vollkommen unbekannten sächsischen Maler, von dem nur zwei Bilder existierten, die auch nicht sicher zuzuschreiben waren. Mittlerweile forschte ich auf eigenes Risiko, da all meine Gespräche mit Professoren bisher frustrierend verlaufen waren und sich eine leichte Kontakthemmung in mein Leben einschlich. Man bescheinigte mir (wiederum Professor Kampendonk, nun schon lange in Berlin) eine bewundernswerte Hartnäckigkeit. Seine Ablehnung war diesmal immerhin nicht als Standardschreiben verfasst, er formulierte sogar einen Vorschlag: »Da können Sie gleich eine Arbeit über Schwarz schreiben!«, empfahl er mir.
Ich hatte alles in allem fast 14 000 Seiten wissenschaftlicher Recherchen vorgelegt. Und war derweil in ein Alter gekommen, in dem eine wissenschaftliche Karriere in immer weitere Ferne rückte. Was brauchte ich da noch die Ratschläge von Herrn Professor Kampendonk? Einen barocken Maler mit dem Namen Schwarz kannte ich nicht. Also durchforstete ich die Archive - zuerst nur, um dem Professor nachzuweisen, dass es da nichts zu holen gab. Ein Sammler, ein Bienengeist, wie ich es bin, forscht noch in den entlegensten Winkeln. Und in den unbezahltesten. Bei der mir eigenen Zurückhaltung kam es mir zugute, dass meine Forschung immer von soliden Partnerinnen begleitet wurde. Nach Monaten fruchtloser Recherchen, in der Zeit war ich gerade mit der enorm kurzsichtigen Papeterieverkäuferin Beate zusammen, fand ich in einer - wahrscheinlich Houbraken zuzuschreibenden - Handschrift einen Hinweis auf einen barocken Stilllebenmaler namens Silvius Schwarz. Nun, so hatte ich wenigstens den Vornamen schon gefunden, kein dissertationswürdiges Thema, aber immerhin.
Silvius Schwarz war von nun an ein schmerzhafter Stachel. Es gab diesen Maler, war meine erste, sehr allgemeine Hypothese. In meinen mit Kärtchen voller Querverweise gespickten, moirébezogenen Karteikästen blieb das Register Silvius Schwarz dann jedoch jahrelang leer. Beate war derweil so kurzsichtig geworden, dass sie mir bei der Sortierarbeit kaum noch helfen konnte, sie verließ mich.
Ich brach das offizielle Studium stillschweigend ab, besuchte aber weiter die kunsthistorischen Kongresse in Berlin, und manchmal, wenn die Verbindungen preiswert waren oder Mitfahrgelegenheiten sich anboten, kam ich sogar bis Braunschweig und Wolfenbüttel. Offiziell lautete mein Forschungsthema: Veränderungen der Muffenfaltendarstellung in der Feinmalerei des Bielefelder Barock um 1670. So trat ich vor meine erfolgreicheren Kollegen, um nach ihren Vorträgen, gleich zu welchem Thema, immer wieder mit derselben Aussage zu brillieren: »Silvius Schwarz hat das auch schon so gemacht, und zwar bedeutend besser!« Ich wollte ihr Wissen abklopfen, sie aus der Reserve locken. Aber niemand hatte je von ihm gehört.
Ich ging nun auf die schwierigen fünfzig zu (»vierzig plus« heißt das heute). Meiner nunmehrigen Lebensgefährtin Gesine, eine Rollsiegelspezialistin an der Universität mit C1-Besoldung, hatte ich in den zwei Jahren vor der Jahrtausendwende, in denen sie meine Forschungen bedingungslos unterstützte, nie etwas von meinen wissenschaftlichen Gedanken mitgeteilt. Bis sie mir eines Abends - ich hatte damals ein Glas Wein getrunken - auf die Erwähnung des Namens Silvius Schwarz in Verbindung mit meiner desaströsen Dissertationshistorie erklärte: Das sei ein bekannter Kampendonk'scher Witz. Der Name sei unter Kunsthistorikern ein fester Begriff. Er stehe als Synonym dafür, dass ein Student über ein Thema schreibe, das in eine Sackgasse führe. Schwarz sei ein Phantom.
Das war einer der furchtbarsten Einschnitte in meinem Leben. Ich fing an zu streiten und wurde eifersüchtig, begann im Schlaf zu reden und Gesine zu beschimpfen. Ich verfluchte ihr selbst gebackenes, nach Kuhfladen riechendes Sauerteigbrot, das ich jahrelang aß, sie warf mir am nächsten Tag eine Packung Toast an den Kopf. Endlich mobilisierte ich meine ganze Recherchekraft und war zum Schluss felsenfest davon überzeugt, dass meine zarte Rollsiegelexpertin ein Verhältnis mit Professor Kampendonk hatte. Bald war ich auf mich allein gestellt, zum ersten Mal in meinem Leben, und verarmte zusehends. Aber ich blieb an Silvius Schwarz dran, jetzt erst recht!
Dabei wollte ich nie originell und arm sein. Ich hatte es mir nie zum Ziel gemacht, originäre Gedanken aufzuschreiben. Eher entsprach es meinem Charakter, die Fußnoten der Kollegen auszuwerten. Der Vergangenheit kommen wir Historiker auch mit einer solchen Genauigkeit nicht auf die Schliche, viel eher unseren Doktorandenkollegen. Theoretische Arbeiten aber lagen mir ebenfalls nicht, wie mir der Ästhetikprofessor Christoph Menke einmal bescheinigte. Ich sammelte lieber. Und also stieg ich tiefer in die Archive hinab. Ich recherchierte mich grauhaarig, Silvius wurde mein Verderben. Mein bisheriges Leben war begleitet von Frauen, die mich dafür bewunderten, das war nun vorbei. Irgendwann fand ich mich während des Elbhochwassers 2002 in Dresden als Sozialhilfeempfänger in einer Aufräumkolonne wieder. Ich war dem Einsatzgebiet Pillnitz zugeordnet. Wir Akademiker schleppten keine Sandsäcke, sondern fischten mit Stangen aus den Depotkellern nach oben gespülte Zettel aus dem Wasser. Meist waren es billige Regionalia, alte DDR-Zeitungen oder Stasiakten. Am Abend lag ich - nun bald »vierzig exitus« - in der Gemeinschaftsunterkunft, den Geruch von fauligem Papier und Kloake in der Nase, und schaute mir die Funde an, die mir interessant erschienen. Es war deprimierend.
Nach drei Tagen in Pillnitz jedoch fischte ich einen Lumpenbogen feinster Qualität aus dem Gitter einer Kläranlage. Ein einzelner Bogen, sehr schön gesetzt, das konnte ich auf den ersten Blick sehen. Nur die erste und die letzte Seite waren lesbar, die übrigen verklebt. Ein - wie ich, die Seiten vorsichtig aufbiegend, entziffern konnte - stummer Setzer namens Leopold hatte diesen Bogen gesetzt. Da er nicht mit der Hand schreiben konnte - erklärte er selbst -, habe er seine Gedanken nur so ausdrücken können. Ich beschloss, den Bogen mit nach Berlin zu bringen, ihn dort zu trocknen und zu restaurieren. Die Frage, ob ich ihn überhaupt an mich nehmen durfte, habe ich mir nicht gestellt. Die Leute im Zug schauten mich abschätzig an, da es aus meinem Rucksack, in den ich den Bogen gepackt hatte, nach Urin roch.
Tagelang war ich damit beschäftigt, die Blätter mit Seidenpapier und Schneidemesser zu trennen und zu waschen. Ich arbeitete konzentriert und langsam, doch passierte es einige Male, dass einzelne Stücke sich von der Papierstruktur ablösten. Ich musste sie also wieder auf den Bogen einbringen. Das war eine langwierige Arbeit mit dem Okular, die mir eine Jugendfreundin, die Restauratorin war, beigebracht hatte. Als ich vollkommen übermüdet durch das Okular schaute, erschienen in meinem Kopf die Worte »Silvius Schwarz«. Fantasierte ich? War ich von den Chemikalien, die ich bei meiner Arbeit benutzte, benebelt? Ich schüttelte den Kopf und öffnete das Fenster. Dann nahm ich noch einmal das Okular: Es waren ohne Zweifel genau diese beiden Worte. Jetzt las ich den vollständig auseinandergefalteten Bogen. Der Drucker Leopold erzählte von einem Maler namens Silvius Schwarz! Ich war fassungslos. Und glücklich. Ein zeitgenössischer Druck berichtete von Schwarz! Ich kann es heute sogar zweifelsfrei sagen: aus den Jahren zwischen 1672 und 1678. Denn es handelt sich um Thüringer Papier von derartiger Qualität, wie sie nur in dieser Zeit von der Mühle Gotha hergestellt wurde.
Ich ging allen Spuren nach, die auf diesen Seiten ausgebreitet waren. Tatsächlich fand ich wenig später Berichte über einen Lustmörder, der genau zu dieser Zeit, 1673, Dresden heimsuchte und insgesamt dreizehn Menschen getötet haben soll. Der Bericht musste echt sein, und es gab nur ein einziges Exemplar dieses Bogens.
Sonderbarerweise blieb Silvius Schwarz, trotz der vielen Anknüpfungspunkte aus diesem ersten Bogen, in anderen Quellen der Zeit unauffindbar. Als hätte tatsächlich, wie vom Setzer angedeutet, der Teufel seine Finger im Spiel: Silvius Schwarz, ein Maler, der von seiner Zeit getilgt werden musste, sei es durch höhere oder niedere Mächte.
Aber da erinnerte sich die Jagdgöttin Diana ihres treuen Archivars. Ich arbeitete erstmals durchgehend an der frischen Luft, was in meinem Alter der Gesundheit äußerst förderlich war, und zwar in einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme des Gartenbauamts. Da ich mich zu dieser Zeit mit Teerosen und anderen, zumeist englischen, Rosengewächsen beschäftigte, ließ ich mich dem Berliner Tiergarten zuteilen. Damals zeigte der Rosengarten noch weitgehend unverändert die Pflanzungen von Knobelsdorff. Hier konnte ich ungestört meinen Forschungen nachgehen. Ein erbärmlich aussehender greiser Engländer hielt jeden Tag die schönste Bank im Rosengarten besetzt. Ich bot ihm täglich um neunzehn Uhr, wenn der Rosengarten von mir abgeschlossen werden sollte, freundlich meinen Arm an, um ihn hinauszugeleiten. So lernten wir uns kennen. Früher war er Depotmeister der Kunstsammlung des englischen Königshauses in Buckingham Palace. Er schwärmte von Blumenstillleben, besonders Heem hatte es ihm angetan. Ich konnte nicht anders: »Ja gewiss, Heem war bedeutend, aber Silvius Schwarz konnte das besser, und zwar bedeutend.«
Der bald hundertjährige Mann hatte ein Gedächtnis, wie ich es bei keinem der Herren Professoren bisher erlebt hatte. Es gab in Buckingham Palace historische Listen aller jemals erworbenen und deponierten Gemälde. Zuerst stammelte er erschreckend undeutlich, doch dann verstand ich, dass auf den Depotlisten aus dem 17. Jahrhundert sechsunddreißig Bilder eines Deutschen namens Silvius Schwarz verzeichnet waren - teils mit Einkaufspreisen beziffert, erhebliche Summen, teils war sogar das Bildsujet benannt. Einige Bilder sollen pornografischen Inhalts gewesen sein, was ich der senilen Fantasie des Depotmeisters zurechnete. Die Regale, in denen die Bilder lagern sollten, waren jedoch alle leer. Nur die Rahmen seien noch zu finden gewesen, erklärte er mir, und man habe diese bei einer anstehenden Inventur vernichtet. Ich habe dann die Depotlisten, auf denen Silvius Schwarz vorkommt, tatsächlich aus England geschickt bekommen. Es waren Beschreibungen dabei, die sonderbare sexuelle Modi zum Inhalt hatten. Selbst darin hatte sich der Greis also nicht getäuscht.
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Autoren-Porträt von Mathias Gatza
Mathias Gatza, geboren 1963 in Berlin, begann seine Verlagskarriere bei Wagenbach. 1990 gründete er den Mathias Gatza Verlag, in dem er vor allem deutschsprachige Gegenwartsliteratur verlegte. Dies setzte er ab 1996 als "Gatza bei Eichborn" fort; danach als Lektor beim Berlin Verlag und bei Suhrkamp. Sein erstes Buch <em>Der Schatten der Tiere </em>(Rowohlt 2008) pries die<em> FAZ</em> als schönsten Debütroman der Saison.
Autoren-Interview mit Mathias Gatza
Autoren-Interview mit Mathias GatzaWie sind Sie ins barocke Dresden des Jahres 1673 geraten?
Gatza: Ich interessiere mich schon immer für die Zeit des Barock, denn das ist die Gelenkstelle der Moderne. Die Grundlagen der modernen Naturwissenschaften wurden im 17. Jahrhundert geschaffen. Schon in meinem ersten Roman „Der Schatten der Tiere" ging es um Mathematik - und ein Stillleben des Barockmalers Flegel zierte das Cover. Die Naturwissenschaft ist eine meiner Passionen, die ich mit einer anderen, der Malerei des Barock, verbinden wollte. Und dann muss ich offen gestehen: Eine Mantel- und Degengeschichte zu schreiben, eine Abenteuergeschichte, das war ein Kindheitstraum von mir. Wahrscheinlich ist es ein verborgener Traum, den jeder Schriftsteller einmal hat, denn ist das Spiel mit Masken und Verkleidung nicht der früheste Impuls, zu erzählen? Eine Geschichte, in der Leute Perücken aufhaben und mit dem Degen fechten! Wer, der als Kind sich täglich in einen Piraten, einen Ritter oder einen Indianer verwandelt hat, kann dem widerstehen?
Als die Idee zu dem Roman da war...
Gatza: ... habe ich einfach mal mein Bewusstsein ins 17. Jahrhundert zurückkatapultiert! Habe zwei Jahre lang fast ausschließlich recherchiert, bis ins Abseitigste hinein. Die Frühe Neuzeit ist ein Zauberreich, das in den letzten Jahren immer mehr zugänglich geworden ist. Man kann so vieles im Internet lesen, man kann große Bestände aus Wolfenbüttel durchforsten und sich ausdrucken. Man kommt in die amerikanischen Bibliotheken hinein, es ist unfassbar viel digitalisiert worden. Und ich habe mir vorgenommen: Ich lese nur von 1620 bis 1690, Schnitt! Nichts danach, nichts davor. Einfach, um mich hineinzudenken in die Wahrnehmungswelt, in die Art, wie gesehen und gefühlt wurde. Nach
diesen zwei Jahren Recherche, das muss ich gestehen, war ich
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unfähig, noch einen Satz zu schreiben... Ich hatte tausend Seiten Exzerpte, aber dann habe ich mir gesagt: Das darf nur untergründig in den Roman einfließen. Wissenschaft ist Wissenschaft, Mantel- und Degengeschichte ist Mantel- und Degengeschichte.
Die Hauptfigur ist Silvius Schwarz, ein Maler von Stillleben, der aber auch fotografische Experimente durchführt. Wie kamen Sie auf diese Verbindung?
Gatza: Ich mochte Stillleben-Malerei bereits als Jugendlicher und habe mich als Autodidakt viel damit beschäftigt. Die meisten Leute finden Stillleben eher langweilig. Es ist lange Zeit ein eher missachtetes Genre gewesen. Man denkt schnell: Blumen und Totenschädel: hübsch, aber was soll das? Mich hat das immer interessiert, denn das Stillleben ist die Schnittlinie zwischen Philosophie und Weltentdeckung. Wenn man sich in die Bilder hineindenkt, erkennt man: Sie haben viel mehr mit der Natur der Dinge, mit Zeit, mit dem Augenblick, mit dem Sehen zu tun, als mit symbolisch verschlüsselten Glaubenslehren. In ihnen werden existentielle Sachen abgehandelt. Als nächstes brauchte ich - ich wollte ja keinen reinen historischen Roman schreiben - ein Nadelöhr, ein modernes Objektiv in diese Zeit des 17. Jahrhunderts. Das ist die Fotografie.
Gibt es ein reales Vorbild für Silvius?
Gatza: Ja, das war Johannes Torrentius in Amsterdam, er lebte fünfzig Jahre früher als meine Figur und brachte mich auf die Idee. Von ihm gibt es im Rijksmuseum nur ein einziges Bild. Aber man kann nachweisen, dass in den Depots des englischen und des schwedischen Königs 39 Bilder verzeichnet waren. Keines existiert mehr. Torrentius war ein hochberühmter Mann, er erzielte die höchsten Marktpreise im Goldenen Zeitalter der Niederlande. Er hat nur stillstehende Gegenstände gemalt. Und die so täuschend, dass die Menschen in Schwindel gerieten. Es ist nachzuweisen, dass er bei einer Vorführung einer Camera obscura dabei war. Er soll arrogant gesagt haben, dass er dies alles schon kennen würde. Er wurde wegen Gotteslästerung und Unzucht angeklagt und zum Tode verurteilt, ist aber dann vom englischen König freigekauft worden. Was Torrentius vor Gericht sagt - es gibt 1400 Seiten Gerichtsakten - ist erstaunlich: „Ich male ohne Pinsel". Oder er sagt, dass die Bildplatte auf dem Boden liegen würde. Er hat einen Mythos um sich gebaut, galt als Rosenkreuzer. Ihn habe ich zum ersten Fotografen weitergedacht. Tatsächlich ist es ja ganz unwahrscheinlich, dass all die teuren Bilder verschwunden sind, ich erkläre mir das damit, dass er mit Verfahren arbeitete, die nicht haltbar waren. Da hatte ich die Stilllebenmalerei, den Barock und ein modernes Medium, die Fotografie - das ist in meinem Kopf zusammengekommen. Das war ein faszinierender, historisch spannender Ansatz, um sich in eine Zeit hineinzubegeben.
Was ist mit dem titelgebenden Begriff „Augentäuscher" gemeint?
Gatza: Das ist ein Begriff der Zeit: Er bezeichnet Leute, die eine Sache so abbilden können, dass man die Hand ausstrecken und sie nehmen will. Jemand, der etwas täuschend echt darstellen, der die Augen täuschen kann. Es gab damals den Ehrgeiz, das Sehen selbst abzubilden. Es ist eine Zeit der Augenlust. Das ist einer der entscheidenden Gelenkpunkte der Geschichte, dass die Augen, das Sehen, entdeckt wurden. Die Bilder davor sollten auf religiöse, metaphysische Welten verweisen. Dürer oder van Dyck waren zwar auch sehr genau in ihren Darstellungen, aber ihnen ist zum Beispiel nicht klar gewesen, dass das Auge nie scharf sieht. Die dachten zwar: „so sieht die Welt aus", aber in Wirklichkeit waren ihre Gemälde eine Erzählung von der Welt. Das brechen erst die Stilllebenmaler auf. Sie sind die ersten Konzeptkünstler: Man sieht ein Fensterkreuz, einen Teil der Staffelei winzig in einem Glaspokal gespiegelt ... So kommt der Maler in das Bild. Es wird zwar tote Natur gezeigt, aber es kommt viel mehr Mensch ins Bild ... der Blick des Malers. Das ist extrem intim: Der Maler versucht, den Augen-Blick zu bannen. Und es stammen aus dieser Zeit die ersten künstlichen Augen, das Mikroskop, das Fernrohr! Das sind ja alles unfassbare Erschütterungen.
Wie kann man sich Dresden um 1670 vorstellen?
Gatza: Vollkommen anders, als es heute ist! Nicht so pittoresk. Das Dresden, das wir heute kennen, ist ja erst dreißig, vierzig Jahre später entstanden. Damals war es eine kleine Residenz, noch längst nicht so bedeutend wie unter August dem Starken. Viel militärischer, nicht so prächtig wie später. Es gab noch eine große Wehranlage rund um Dresden, schwere Mauern, die dann aber geschliffen wurden. Die Gassen waren noch mittelalterlich, es begann gerade der Bauboom; Dresden war eine Baustelle, die nach außen ausfranste. Erstaunlich, dass eines der bedeutendsten Opernhäuser Europas dort stand und wichtige Musiker an den Dresdner Hof zogen.
Ist die Serie der Morde an den Kastratensängern der Oper frei erfunden?
Gatza: Ich glaube, ja, wahrscheinlich. Ich weiß jedenfalls gar nicht mehr, welche Quelle mich darauf brachte. Die Morde haben ja das zur Fotografie passende Motiv, dass die gekreuzigten Leichen umgedreht sind, auf den Kopf gestellt sind. Man muss sich klarmachen, dass es an vielen Stellen eine abergläubische, eine barbarische Zeit war.
Die Nachwirkungen des 30-jährigen Krieges sind immer noch spürbar.
Gatza: Ja. Das ist eine spannende Zeit. Deutschland hat zwei Traumata erlebt, das eine im 20. Jahrhundert, das andere im 17. Der Wandel und der Bruch in der Gesellschaft, aber auch in der Literatur, hängen eng mit dem 30-jährigen Krieg zusammen. Das Aufbrechen und Zerbrechen des alten Weltbildes. Das ist fast eine Parallelführung mit meiner eigenen Biografie: Silvius ist ungefähr im selben Abstand zum 30-jährigen Krieg geboren wie ich in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Er und seine Cousine Sophie haben, wie ich, noch zentrale Kontaktfiguren, die die Barbarei erlebt haben, sind aber selbst schon entfernt.
Dem Genre des historischen Kriminalromans wollten Sie sich nicht vollständig ausliefern, oder?
Gatza: Nun ja, ich wollte das Buch auf verschiedenen Ebenen unterhaltsam und spannend machen. Ein Spannungsmoment liefert der moderne Herausgeber, der sich in einem ganz eigenen Kosmos bewegt. Er balanciert auf der Kante zwischen Wissenschaft, Wahn und Witzenschaft. Etwa, wenn er die Fotos in der „Gala" als barocke Embleme liest. Aber finden Sie nicht, dass ich immer wieder, gestiefelt und gespornt, tapfer in Richtung des historischen Romans gehe? Es gibt einen Detektiv, das ist Muhammad, der mit seinem arabischen Denken deutlich tiefer blickt, als die anderen.
Ist das große Feuerwerk zu Anfang des Romans verbürgt?
Gatza: Das ist so beschrieben in einem historischen Bericht. Aber ich habe immer auch etwas dazu erfunden. Ich hatte großen Spaß daran, dass die ersten Leser des Manuskripts für wahr hielten, was ich erfunden hatte, und umgekehrt für meine Erfindung hielten, was in Quellen belegbar ist. Den barocken Mondflug, das kann ich gestehen, habe ich erfunden - glaube ich zumindest.
Wie steht es mit den Briefen aus China, die Sophies Mann schickt?
Gatza: Da habe ich ein reales Vorbild: den großen Briefwechsel von Leibniz mit dem Jesuitenmönch Grimaldi, der in China war. Das ist auch eine interessante Koinzidenz mit der Jetztzeit: China war unendlich wichtig in dieser Zeit. Leibniz hat quasi wöchentlich Briefe nach China geschrieben - die aber zwei Jahre unterwegs waren, wenn sie überhaupt ankamen, falls also nicht wieder ein Schiff gekentert war. Man war der Auffassung, dass man den Chinesen die moderne Algebra bringen würde, aber sie hatten das bessere Schießpulver und eine Erfahrungswissenschaft von vielen tausend Jahren. Es gibt lange Fragenkataloge von Leibniz an seinen Briefpartner, es ging um Bergbau, Landwirtschaft, Züchtungsmethoden, die Seidenraupe, das Porzellan. Um industrielle Fragen. Solche Geheimnisse waren hochbrisant in der Zeit.
Als Chronist fungiert ein stummer Setzer namens Leopold, der dem Herausgeber quasi die historische Romanhandlung gedruckt hinterlässt. Wie sind Sie auf den gekommen?
Gatza: Ich habe Originalberichte gefunden über die Bleikrankheit, unter der viele Setzer der Zeit litten, die mit Laudanum (eine Opiumtinktur) behandelt wurde. Und Hinweise, dass viele nicht mit der Hand schreiben, sondern nur mit dem Setzkasten arbeiten konnten. An Leopold reizte mich, dass er das Medium herstellt, das meinen historischen Einstieg in die Zeit markiert. Das heißt, ich las vor allem Texte, die in den Druckereien dieser Zeit gesetzt wurden. Weil sie für mich ohne Klang und Stimme waren, ist auch Leopold stumm. Das ist mein Abstand zum Barock: Ich kann nicht mehr darüber wissen, als ich im Sonderlesesaal der Bibliothek an Buchstaben sehe.
Sie sind auch Musiker, spielen klassische Gitarre - was bedeutet Ihnen die Musik jener Zeit?
Gatza: Die Musik ist der Bereich der Kunst des Barock, der uns heute noch ständig umgibt. Es gibt jeden Abend im Fernsehen Werbespots mit Barockmusik. Diesen Bereich, den leichtesten und schönsten, wollte ich nicht ausgespart wissen, ich habe ihn aber ins Perverse gedreht.
Wie haben Sie sich der Sprache des 17. Jahrhunderts genähert - und welche Distanz wollten Sie schließlich wieder zu ihr nehmen?
Gatza: Eine historisierende Sprache wird ganz schnell zum Kunstgewerbe. Man kann sich im Deutschen natürlich mit Grimmelshausen, Reuter oder Gryphius durch die Zeit schreiben. Das wollte ich nicht. Außerdem wäre es auch historisch nicht richtig, da es viele Menschen gab, die ein unerträgliches Deutsch schrieben und im Lateinischen brillante Stilisten waren, der frühe Leibniz zum Beispiel. Mir ist der Geist in diesem Fall wichtiger als der Buchstabe. Wenn ich etwas stilistisch übernahm, dann eher von nicht-literarischen Texten der Zeit, aus anatomischen oder medizinischen Schriften, Texten über Bergbau etc. Die Menschen damals konnten zum Beispiel intensiv in Widersprüchen denken, zwei Dinge in einem Satz. Ich täusche die Sprache der Zeit also eher an, doch so, dass immer wieder klar wird: Das hier ist zwar nur Theater, aber, lieber Leser, du kannst ruhig weiterträumen, denn es ist schön. Ich streue ein paar Wörter, die einen modernen Klang haben, aber damals möglich gewesen wären. Ich habe eher darauf geachtet, dass die Figuren bestimmte Sachen nicht fühlen dürfen und können, dass sie den Raum anders empfinden, dass die Dinge anders zusammenhängen, die Gefühle, die Gedanken.
Die schönste und gewitzteste Figur ist wohl Sophie von Schlosser, die Geliebte von Silvius. Sie ist in ihren Briefen von extremen Gefühlen angetrieben. Woher kommt dieses pralle Selbstbewusstsein?
Gatza: Ja, sie ist bezaubernd, das finde ich auch, zum Verlieben. Für Frauen war das Briefeschreiben der Weg, sich zu erfinden. Der Briefroman entstand ja in dieser Epoche. Sophie ist mit einem homosexuellen Grafen verheiratet und genießt vollständige Freiheiten. Das 17. Jahrhundert ist die erste Zeit, in der einige adlige Frauen machen konnten, was sie wollten, weil das Liebeskonzept ihnen erlaubte, ihr Begehren auszuleben. Und es war Frauen erstmals auch möglich, Wissenschaftlerin zu sein, zum Beispiel Mathematikerin wie Sophie.
Von zarter Empfindsamkeit ist jedenfalls keine Spur.
Gatza: Eher von intensiven Gefühlslagen, ja. Die Figuren meines Romans sind Gestalten des Umbruchs: Einige sind unsicher, andere freudig-manisch oder voller Angst, die Mönche verwahrlost. Es ist die erste große Globalisierungswelle, die diese Leute erleben. Es ist im 30-jährigen Krieg vieles auseinandergebrochen, Amerika rückt ins Bewusstsein, Kolonien werden gegründet, die Einheit der Kirche zerbricht, es kommen unendlich viele bislang unbekannte Waren nach Deutschland. Verunsicherungen, wie wir sie heute erleben, kamen damals zum ersten Mal auf. Zeiten der Zusammenbrüche und des Wandels sind gute Zeiten für Schriftsteller. Ich hoffe, es ist, trotz dieser Erschütterungen, ein Mantel- und Degenroman geworden, ein Buch, das Spaß macht.
Die Hauptfigur ist Silvius Schwarz, ein Maler von Stillleben, der aber auch fotografische Experimente durchführt. Wie kamen Sie auf diese Verbindung?
Gatza: Ich mochte Stillleben-Malerei bereits als Jugendlicher und habe mich als Autodidakt viel damit beschäftigt. Die meisten Leute finden Stillleben eher langweilig. Es ist lange Zeit ein eher missachtetes Genre gewesen. Man denkt schnell: Blumen und Totenschädel: hübsch, aber was soll das? Mich hat das immer interessiert, denn das Stillleben ist die Schnittlinie zwischen Philosophie und Weltentdeckung. Wenn man sich in die Bilder hineindenkt, erkennt man: Sie haben viel mehr mit der Natur der Dinge, mit Zeit, mit dem Augenblick, mit dem Sehen zu tun, als mit symbolisch verschlüsselten Glaubenslehren. In ihnen werden existentielle Sachen abgehandelt. Als nächstes brauchte ich - ich wollte ja keinen reinen historischen Roman schreiben - ein Nadelöhr, ein modernes Objektiv in diese Zeit des 17. Jahrhunderts. Das ist die Fotografie.
Gibt es ein reales Vorbild für Silvius?
Gatza: Ja, das war Johannes Torrentius in Amsterdam, er lebte fünfzig Jahre früher als meine Figur und brachte mich auf die Idee. Von ihm gibt es im Rijksmuseum nur ein einziges Bild. Aber man kann nachweisen, dass in den Depots des englischen und des schwedischen Königs 39 Bilder verzeichnet waren. Keines existiert mehr. Torrentius war ein hochberühmter Mann, er erzielte die höchsten Marktpreise im Goldenen Zeitalter der Niederlande. Er hat nur stillstehende Gegenstände gemalt. Und die so täuschend, dass die Menschen in Schwindel gerieten. Es ist nachzuweisen, dass er bei einer Vorführung einer Camera obscura dabei war. Er soll arrogant gesagt haben, dass er dies alles schon kennen würde. Er wurde wegen Gotteslästerung und Unzucht angeklagt und zum Tode verurteilt, ist aber dann vom englischen König freigekauft worden. Was Torrentius vor Gericht sagt - es gibt 1400 Seiten Gerichtsakten - ist erstaunlich: „Ich male ohne Pinsel". Oder er sagt, dass die Bildplatte auf dem Boden liegen würde. Er hat einen Mythos um sich gebaut, galt als Rosenkreuzer. Ihn habe ich zum ersten Fotografen weitergedacht. Tatsächlich ist es ja ganz unwahrscheinlich, dass all die teuren Bilder verschwunden sind, ich erkläre mir das damit, dass er mit Verfahren arbeitete, die nicht haltbar waren. Da hatte ich die Stilllebenmalerei, den Barock und ein modernes Medium, die Fotografie - das ist in meinem Kopf zusammengekommen. Das war ein faszinierender, historisch spannender Ansatz, um sich in eine Zeit hineinzubegeben.
Was ist mit dem titelgebenden Begriff „Augentäuscher" gemeint?
Gatza: Das ist ein Begriff der Zeit: Er bezeichnet Leute, die eine Sache so abbilden können, dass man die Hand ausstrecken und sie nehmen will. Jemand, der etwas täuschend echt darstellen, der die Augen täuschen kann. Es gab damals den Ehrgeiz, das Sehen selbst abzubilden. Es ist eine Zeit der Augenlust. Das ist einer der entscheidenden Gelenkpunkte der Geschichte, dass die Augen, das Sehen, entdeckt wurden. Die Bilder davor sollten auf religiöse, metaphysische Welten verweisen. Dürer oder van Dyck waren zwar auch sehr genau in ihren Darstellungen, aber ihnen ist zum Beispiel nicht klar gewesen, dass das Auge nie scharf sieht. Die dachten zwar: „so sieht die Welt aus", aber in Wirklichkeit waren ihre Gemälde eine Erzählung von der Welt. Das brechen erst die Stilllebenmaler auf. Sie sind die ersten Konzeptkünstler: Man sieht ein Fensterkreuz, einen Teil der Staffelei winzig in einem Glaspokal gespiegelt ... So kommt der Maler in das Bild. Es wird zwar tote Natur gezeigt, aber es kommt viel mehr Mensch ins Bild ... der Blick des Malers. Das ist extrem intim: Der Maler versucht, den Augen-Blick zu bannen. Und es stammen aus dieser Zeit die ersten künstlichen Augen, das Mikroskop, das Fernrohr! Das sind ja alles unfassbare Erschütterungen.
Wie kann man sich Dresden um 1670 vorstellen?
Gatza: Vollkommen anders, als es heute ist! Nicht so pittoresk. Das Dresden, das wir heute kennen, ist ja erst dreißig, vierzig Jahre später entstanden. Damals war es eine kleine Residenz, noch längst nicht so bedeutend wie unter August dem Starken. Viel militärischer, nicht so prächtig wie später. Es gab noch eine große Wehranlage rund um Dresden, schwere Mauern, die dann aber geschliffen wurden. Die Gassen waren noch mittelalterlich, es begann gerade der Bauboom; Dresden war eine Baustelle, die nach außen ausfranste. Erstaunlich, dass eines der bedeutendsten Opernhäuser Europas dort stand und wichtige Musiker an den Dresdner Hof zogen.
Ist die Serie der Morde an den Kastratensängern der Oper frei erfunden?
Gatza: Ich glaube, ja, wahrscheinlich. Ich weiß jedenfalls gar nicht mehr, welche Quelle mich darauf brachte. Die Morde haben ja das zur Fotografie passende Motiv, dass die gekreuzigten Leichen umgedreht sind, auf den Kopf gestellt sind. Man muss sich klarmachen, dass es an vielen Stellen eine abergläubische, eine barbarische Zeit war.
Die Nachwirkungen des 30-jährigen Krieges sind immer noch spürbar.
Gatza: Ja. Das ist eine spannende Zeit. Deutschland hat zwei Traumata erlebt, das eine im 20. Jahrhundert, das andere im 17. Der Wandel und der Bruch in der Gesellschaft, aber auch in der Literatur, hängen eng mit dem 30-jährigen Krieg zusammen. Das Aufbrechen und Zerbrechen des alten Weltbildes. Das ist fast eine Parallelführung mit meiner eigenen Biografie: Silvius ist ungefähr im selben Abstand zum 30-jährigen Krieg geboren wie ich in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg. Er und seine Cousine Sophie haben, wie ich, noch zentrale Kontaktfiguren, die die Barbarei erlebt haben, sind aber selbst schon entfernt.
Dem Genre des historischen Kriminalromans wollten Sie sich nicht vollständig ausliefern, oder?
Gatza: Nun ja, ich wollte das Buch auf verschiedenen Ebenen unterhaltsam und spannend machen. Ein Spannungsmoment liefert der moderne Herausgeber, der sich in einem ganz eigenen Kosmos bewegt. Er balanciert auf der Kante zwischen Wissenschaft, Wahn und Witzenschaft. Etwa, wenn er die Fotos in der „Gala" als barocke Embleme liest. Aber finden Sie nicht, dass ich immer wieder, gestiefelt und gespornt, tapfer in Richtung des historischen Romans gehe? Es gibt einen Detektiv, das ist Muhammad, der mit seinem arabischen Denken deutlich tiefer blickt, als die anderen.
Ist das große Feuerwerk zu Anfang des Romans verbürgt?
Gatza: Das ist so beschrieben in einem historischen Bericht. Aber ich habe immer auch etwas dazu erfunden. Ich hatte großen Spaß daran, dass die ersten Leser des Manuskripts für wahr hielten, was ich erfunden hatte, und umgekehrt für meine Erfindung hielten, was in Quellen belegbar ist. Den barocken Mondflug, das kann ich gestehen, habe ich erfunden - glaube ich zumindest.
Wie steht es mit den Briefen aus China, die Sophies Mann schickt?
Gatza: Da habe ich ein reales Vorbild: den großen Briefwechsel von Leibniz mit dem Jesuitenmönch Grimaldi, der in China war. Das ist auch eine interessante Koinzidenz mit der Jetztzeit: China war unendlich wichtig in dieser Zeit. Leibniz hat quasi wöchentlich Briefe nach China geschrieben - die aber zwei Jahre unterwegs waren, wenn sie überhaupt ankamen, falls also nicht wieder ein Schiff gekentert war. Man war der Auffassung, dass man den Chinesen die moderne Algebra bringen würde, aber sie hatten das bessere Schießpulver und eine Erfahrungswissenschaft von vielen tausend Jahren. Es gibt lange Fragenkataloge von Leibniz an seinen Briefpartner, es ging um Bergbau, Landwirtschaft, Züchtungsmethoden, die Seidenraupe, das Porzellan. Um industrielle Fragen. Solche Geheimnisse waren hochbrisant in der Zeit.
Als Chronist fungiert ein stummer Setzer namens Leopold, der dem Herausgeber quasi die historische Romanhandlung gedruckt hinterlässt. Wie sind Sie auf den gekommen?
Gatza: Ich habe Originalberichte gefunden über die Bleikrankheit, unter der viele Setzer der Zeit litten, die mit Laudanum (eine Opiumtinktur) behandelt wurde. Und Hinweise, dass viele nicht mit der Hand schreiben, sondern nur mit dem Setzkasten arbeiten konnten. An Leopold reizte mich, dass er das Medium herstellt, das meinen historischen Einstieg in die Zeit markiert. Das heißt, ich las vor allem Texte, die in den Druckereien dieser Zeit gesetzt wurden. Weil sie für mich ohne Klang und Stimme waren, ist auch Leopold stumm. Das ist mein Abstand zum Barock: Ich kann nicht mehr darüber wissen, als ich im Sonderlesesaal der Bibliothek an Buchstaben sehe.
Sie sind auch Musiker, spielen klassische Gitarre - was bedeutet Ihnen die Musik jener Zeit?
Gatza: Die Musik ist der Bereich der Kunst des Barock, der uns heute noch ständig umgibt. Es gibt jeden Abend im Fernsehen Werbespots mit Barockmusik. Diesen Bereich, den leichtesten und schönsten, wollte ich nicht ausgespart wissen, ich habe ihn aber ins Perverse gedreht.
Wie haben Sie sich der Sprache des 17. Jahrhunderts genähert - und welche Distanz wollten Sie schließlich wieder zu ihr nehmen?
Gatza: Eine historisierende Sprache wird ganz schnell zum Kunstgewerbe. Man kann sich im Deutschen natürlich mit Grimmelshausen, Reuter oder Gryphius durch die Zeit schreiben. Das wollte ich nicht. Außerdem wäre es auch historisch nicht richtig, da es viele Menschen gab, die ein unerträgliches Deutsch schrieben und im Lateinischen brillante Stilisten waren, der frühe Leibniz zum Beispiel. Mir ist der Geist in diesem Fall wichtiger als der Buchstabe. Wenn ich etwas stilistisch übernahm, dann eher von nicht-literarischen Texten der Zeit, aus anatomischen oder medizinischen Schriften, Texten über Bergbau etc. Die Menschen damals konnten zum Beispiel intensiv in Widersprüchen denken, zwei Dinge in einem Satz. Ich täusche die Sprache der Zeit also eher an, doch so, dass immer wieder klar wird: Das hier ist zwar nur Theater, aber, lieber Leser, du kannst ruhig weiterträumen, denn es ist schön. Ich streue ein paar Wörter, die einen modernen Klang haben, aber damals möglich gewesen wären. Ich habe eher darauf geachtet, dass die Figuren bestimmte Sachen nicht fühlen dürfen und können, dass sie den Raum anders empfinden, dass die Dinge anders zusammenhängen, die Gefühle, die Gedanken.
Die schönste und gewitzteste Figur ist wohl Sophie von Schlosser, die Geliebte von Silvius. Sie ist in ihren Briefen von extremen Gefühlen angetrieben. Woher kommt dieses pralle Selbstbewusstsein?
Gatza: Ja, sie ist bezaubernd, das finde ich auch, zum Verlieben. Für Frauen war das Briefeschreiben der Weg, sich zu erfinden. Der Briefroman entstand ja in dieser Epoche. Sophie ist mit einem homosexuellen Grafen verheiratet und genießt vollständige Freiheiten. Das 17. Jahrhundert ist die erste Zeit, in der einige adlige Frauen machen konnten, was sie wollten, weil das Liebeskonzept ihnen erlaubte, ihr Begehren auszuleben. Und es war Frauen erstmals auch möglich, Wissenschaftlerin zu sein, zum Beispiel Mathematikerin wie Sophie.
Von zarter Empfindsamkeit ist jedenfalls keine Spur.
Gatza: Eher von intensiven Gefühlslagen, ja. Die Figuren meines Romans sind Gestalten des Umbruchs: Einige sind unsicher, andere freudig-manisch oder voller Angst, die Mönche verwahrlost. Es ist die erste große Globalisierungswelle, die diese Leute erleben. Es ist im 30-jährigen Krieg vieles auseinandergebrochen, Amerika rückt ins Bewusstsein, Kolonien werden gegründet, die Einheit der Kirche zerbricht, es kommen unendlich viele bislang unbekannte Waren nach Deutschland. Verunsicherungen, wie wir sie heute erleben, kamen damals zum ersten Mal auf. Zeiten der Zusammenbrüche und des Wandels sind gute Zeiten für Schriftsteller. Ich hoffe, es ist, trotz dieser Erschütterungen, ein Mantel- und Degenroman geworden, ein Buch, das Spaß macht.
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Bibliographische Angaben
- Autor: Mathias Gatza
- 2012, 384 Seiten, Maße: 13,7 x 21,2 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Graf Verlag
- ISBN-10: 3862200094
- ISBN-13: 9783862200092
Rezension zu „Der Augentäuscher “
"Gatzas Roman ist Thriller, Abenteuerroman und Wissenschaftssatire.", NDR 1 Niedersachsen, Margarethe von Schwarzkopf, 15.05.2012
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