Der Experte / Geiger Bd.2
Thriller
Geiger weiß genau, wie man einen Menschen bricht. Er zählt zu den besten Verhörexperten weltweit. Aber Geiger hat Moral. Schwache Menschen verhört er nicht + und das ist der Grund, aus dem er abgetaucht ist. Bei seinem letzten Auftrag...
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Produktinformationen zu „Der Experte / Geiger Bd.2 “
Geiger weiß genau, wie man einen Menschen bricht. Er zählt zu den besten Verhörexperten weltweit. Aber Geiger hat Moral. Schwache Menschen verhört er nicht + und das ist der Grund, aus dem er abgetaucht ist. Bei seinem letzten Auftrag hat er sich mit der Zielperson verbündet und einen gegnerischen Agenten verkrüppelt. Vielleicht hätte er den Mann besser getötet. Denn der ist ebenfalls ein Folterprofi, allerdings ohne Moral. Und ihm schießt nur ein Gedanke durch den Kopf: Geigers Tod.
Klappentext zu „Der Experte / Geiger Bd.2 “
Geiger weiß genau, wie man einen Menschen bricht. Er zählt zu den besten Verhörexperten weltweit. Aber Geiger hat Moral. Schwache Menschen verhört er nicht und das ist der Grund, aus dem er abgetaucht ist. Bei seinem letzten Auftrag hat er sich mit der Zielperson verbündet und einen gegnerischen Agenten verkrüppelt. Vielleicht hätte er den Mann besser getötet. Denn der ist ebenfalls ein Folterprofi, allerdings ohne Moral.Und ihm schießt nur ein Gedanke durch den Kopf: Geigers Tod.
Lese-Probe zu „Der Experte / Geiger Bd.2 “
Der Experte von Mark Allen SmithÜbersetzung aus dem Amerikanischen von Dietmar Schmidt
PROLOG
Im Schirm des Laptops sah er sein undeutliches Spiegelbild - ein transparentes Gesicht, gefangen hinter dem Wortdickicht. Wenn er mit dem Einfallswinkel des Lichts spielte und den Kopf um paar Grad nach vorn oder nach hinten neigte, konnte er dem Phantom räumliche Tiefe geben. Er genoss es, sein Bild entstehen und verlöschen zu lassen, sich an die Schwelle der Lebendigkeit zu holen und dann wieder an den Rand des Totenreichs zurückzusenden.
Er hob die rechte Hand und klopfte sich mit der Zeigefingerspitze auf die Mittellinie der Oberlippe, während er las, was er heute bereits geschrieben hatte.
Wir sind nicht wie andere Berufstätige. Während einer Leerlaufphase können wir kein Baseballtraining machen, um unseren Schwung zu behalten, oder Fachzeitschriften lesen, damit wir auf dem aktuellen Stand bleiben. Man verliert das Gespür für einige Dinge. Vor allem aber verliert man das Gespür für die Angst seines Gegenübers.
Hinter ihm war ein feuchter, erstickter Laut zu hören. Von jeher war er der Meinung, dass Angst die Menschen wie Tiere klingen ließ - dass es Ähnlichkeiten gab zwischen dem gepressten Schrei eines hilflosen, verängstigten Menschen und dem Jaulen eines verletzten Hundes oder eines Bären, den die Stahlzähne einer Falle packten. Er drehte sich nicht um. Er entschied, noch ein wenig zu warten.
... mehr
Wie seltsam, dachte er. Im Moment erschien alles Messbare, alles Quantifizierbare - der Anlass, seine Rolle, die notwendigen Fertigkeiten und Werkzeuge - mehr oder minder gleich geblieben, als wäre nur ein Tag verstrichen und nicht zehn Monate voller Operationen und Regeneration. Doch hier in diesem Kreuzpunkt der Zeit zu sitzen und diesen Neuanfang zu erleben ... Wenn es möglich gewesen wäre, eine Röntgenaufnahme vom Gefühlszustand eines Menschen zu machen und sie mit einer solchen Aufnahme von sich zu vergleichen, die vor den Ereignissen des 4.Juli gemacht worden war, so hätten beide, da war er sich sicher, nur wenige Ähnlichkeiten gezeigt. Aus Hügeln wären Berge geworden, aus Bächen Flüsse, aus Felsspalten Schluchten, aus der Erde ein Planet X.
Er stand auf, ging an einen alten, zerschrammten Eichentisch - für seinen Wiedereinstieg ins Leben hatte er etwas Organisches gewollt, vom Menschen geformt, aber von der Natur geschaffen - und blickte auf das Ensemble an Entsetzlichem, das er darauf ausgelegt hatte. Für den April war die Drei-Uhr-Sonne stark, die sich durch das Dachfenster des Raumes ergoss und den Instrumenten einen kupfrigen, schmelzflüssigen Glanz verlieh.
Nach den beiden rekonstruktiven Operationen hatten die Ärzte ihm eröffnet, dass weitere Eingriffe wegen der zu umfangreichen Verletzungen zwecklos seien. Als sie ihm dann die Alternative vorlegten, hatte er gespürt, wie in der schwarzen Ironie des Augenblicks die Verheißung der Perfektion ihr Haupt erhob.
Man würde ihn erneuern, und auch sein Inneres wollte er neu gestalten. Er wollte seine Grenzen erweitern und seine Beschränkungen überwinden. Kosten spielten keine Rolle. Er hatte mehr Geld auf die Seite gelegt, als er jemals ausgeben würde. Sobald seine Umwandlung abgeschlossen war, gab es keinen Schmerz mehr, der zu groß war, um ihn zu ertragen.
Er hatte den Vorgang dokumentiert, mit zwei Kameras, damit ihm kein Detail entging, und während seiner Genesung hatte er Hunderte von Stunden vor dem Video verbracht, jeden Schnitt studiert, jede Abtrennung. In den Monaten nach der Operation hatte er sich täglich nur zwei 50-mg-Fentanyl-Pflaster gestattet und sensorische Vorgänge mit solch qualvoller Intensität erlebt, dass sein Verständnis des physischen Leidens eine radikale Neuausrichtung durchlief, die dem Meisterwerk seiner Chirurgen gleichkam.
Er nahm das einteilige Skalpell von Horatio Kern aus dem Jahre 1867 vom Tisch. Er hatte die üblichen modernen Plastikausführungen mit Wechselklingen ausprobiert, doch ihr geringes Gewicht bereitete ihm Probleme. Daher hatte er einen der Männer nach etwas Massiverem suchen lassen. Der Ebenholzschaft verlieh Kerns Skalpell Gewicht und eine Griffigkeit, die ihn zufriedener stimmte.
Zuerst hatte er an Kaninchen geübt, und nach Wiedererlangen der grundlegenden Fertigkeiten hatte er sich von einem nahegelegenen Hof ein Schwein bringen lassen. Seine Chirurgen hatten ihm versichert, dass ein Schwein in Bezug auf die Dicke der Haut und der subkutanen Fettschichten den Verhältnissen beim Menschen recht ähnlich sei. Näher käme er an die Realität nicht heran.
Ein vertrautes dröhnendes Brummen ließ ihn aufblicken. Eine sehr große Hornisse, fünf Zentimeter lang, hatte sich durch das Loch im Fenstergitter einen Weg ins Zimmer gebahnt, und jetzt setzte sie sich auf die weiße Pfirsichscheibe, die er als Köder auf dem Fensterbrett platziert hatte.
Er legte das Skalpell auf den Tisch und ging zum Fenster. Er konnte das graue, schuppige Nest sehen, das größer als ein Medizinball war und draußen an der Unterseite der Dachtraufe hing, neben dem angebauten Schuppen, in dem das staubige Auto stand. Die Besuche der Insekten waren zu einem nützlichen Element seines Trainings geworden.
Als die Hornisse von dem Pfirsich kostete, senkte er die Hand, nahm vorsichtig die hauchdünnen Flügel zwischen die Spitzen seines Daumens und Zeigefingers und hob das sich wehrende, laut summende Geschöpf hoch. Im Laufe der Zeit war speziell diese Bewegung der Neuausbildung seiner Feinmotorik und seiner Auge-Hand-Koordination sehr förderlich gewesen.
In der Regel nahm er nun den dicken, gestreiften Unterleib der Hornisse zwischen zwei Fingerspitzen und drückte langsam zu, bis er platzte. Auf diese Weise erlangte er ein Gefühl für den ausgeübten Druck, das wiederherzustellen sich als recht schwer erwiesen hatte. Er hatte an Weinbeeren geübt, bis die erste Hornisse ins Zimmer flog und er entdeckte, dass belebtes Fleisch, das für seine Berührung empfindlich war und darauf reagierte, sich erheblich besser eignete als das Obst. Daher stellte er immer eine Untertasse mit einer Pfirsichscheibe auf die Fensterbank. Seit Monaten fand die Putzfrau jedes Mal, wenn sie kam, einen Haufen verschrumpelter kleiner Kadaver auf dem Fußboden.
Er sah zu, wie das Tier zuckte. Die Energie der Hornisse war unermüdlich. Wieder hörte er das feuchte Stöhnen. Es war Zeit. Zeit, neu zu beginnen. Er drehte sich um und ging durch den Raum. Die Zielperson saß auf einem hochlehnigen Stuhl, bedeckt mit einem weiten blauen OP-Kittel, der dem Körper jede Form nahm. Eine grob zugeschnittene Kapuze aus dem gleichen Material umhüllte den Kopf. Sie hatte Löcher für die Augen und den mit schwarzem Klebeband verschlossenen Mund. Plastik- schnallen fesselten den Körper an Hals, Handgelenken, Taille und Fußknöcheln an den Stuhl.
Er beugte sich zu dem Gesicht vor und runzelte die Stirn. In dem Blick dieser Augen lag nicht genug Furcht. Er hob das lärmende, zappelnde Insekt. »Riesig, nicht wahr?«
Die Lider der Augen in der Kapuze hoben sich, die Pupillen wurden weiter.
»Durch meine Ausflüge auf Google habe ich erfahren, dass es vermutlich eine Vespa mandarinia ist - die Asiatische Riesenhornisse. Sie ist die giftigste Art. Wie es heißt, kann ein Schwarm- angriff einen Menschen in Minutenschnelle töten ... durch einen anaphylaktischen Schock. Doch wenn Sie mich fragen, wie sie hierherkommt, muss ich passen.«
Er hob den Zeigefinger der freien Hand. »Passen Sie auf«, sagte er, führte den Finger an das zuckende Abdomen der Hornisse und stieß gegen die Unterseite. Augenblicklich krümmte sich das Ende des Unterleibs nach unten und innen, und der sechs Millimeter lange Stachel fuhr heraus und bohrte sich in den Finger. Er zeigte keine Reaktion - er zuckte weder zurück, noch verzog er eine Miene.
Sein Zuschauer hob verwirrt die rechte Braue.
»Der interessanteste Unterschied zwischen den Wespen, zu denen die Hornissen gehören, und den Bienen besteht darin, dass Bienen nur einmal zustechen können. Ihre Stacheln haben Widerhaken, verfangen sich im Fleisch und werden ausgerissen - die Biene stirbt daran. Hornissen haben jedoch widerhakenfreie Stacheln. Sie können immer wieder zustechen.« Mit der Fingerspitze drückte er gegen den Bauch des Insekts, und es stach ihn erneut. »Sehen Sie?« Er zog den unteren Rand der Kapuze am Hals ein Stück weit hoch. »Wir wollen Sie ein wenig lockern. Bauen wir ein wenig Adrenalin ab.« Er beobachtete, wie der Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfte, dann ließ er die Hornisse unter der Kapuze frei. »Sie sind nicht besonders aggressiv, solange man sie nicht reizt, aber Sie täten gut daran, sich nicht zu bewegen.«
Das hässliche Summen hörte plötzlich auf. Dank der Größe der Hornisse war deutlich zu sehen, wie sie unter dem Stoff die Wange entlangkrabbelte. Die Augen unter der Kapuze stierten starr nach vorn, ohne zu blinzeln, aber auch ohne etwas zu sehen. Sie ließen an jemanden denken, der vergebens versuchte, sich an einen Namen oder an das Datum eines bevorstehenden Termins zu erinnern. Dann schlossen die Lider sich langsam und bebten, und die Hornisse kroch über das linke Auge und strebte weiter nach oben.
Vor dem Fenster stand der wilde Lavendel in Blüte, ein wogendes Purpurmeer. Eine plötzliche Bewegung dort veranlasste den Mann, von seinem Gefangenen aufzublicken, und er sah Dutzende von Schlangen mit strahlenden, irisierenden Schuppen, die in eleganten, abgefederten Bögen aus dem Gebüsch sprangen und einander mit opalenen Zähnen, die bald rot glänzten, gierig verspeisten. Er beobachtete den Kampf, bis eine einzige Kreatur blutbefleckt und siegreich übrig blieb und sich ihm mit neugierigem Blick zuwandte.
»So ist es gut«, sagte er. »Komm zu Papa.«
Das Ungeheuer glitt auf ihn zu, und er schloss die Augen. Er hatte gelernt, mit den Erscheinungen umzugehen. Er besaß keine Kontrolle über ihr Auftreten, aber er hatte festgestellt, dass die Halluzinationen vergingen, wenn er die Augen fest zukniff. Soweit er wusste, handelte es sich um bildliche Manifestationen einer Art Wahnsinn.
Für ihn war die Psychopathie das Ergebnis einer bemerkenswerten katalytischen Reaktion, der graduellen Umwandlung von Qual und Leid in eine neue chemische Verbindung, die nun seinem Gehirn innewohnte wie jede andere Komponente seiner psychologischen Zusammensetzung - etwa Wonne, Angst oder Wut -, und während sie Adrenalin oder Serotonin oder Neutrophine freisetzten, löste die neue Substanz die Erscheinungen aus.
Davon hatte er viele gehabt. Er hatte gesehen, wie der Klinikkatze Stahlstacheln aus dem Fell wuchsen; er hatte beobachtet, wie Dr.Lings Gesicht zerbarst, während er über synthetische Polymere sprach; er hatte in dem geschmolzenen Gruyère auf seiner Zwiebelsuppe gestochert und in der Brühe umherflitzende neonfarbene Salmler entdeckt; er hatte einen Engel aus dem Himmel stürzen sehen, dessen Schwingen brannten und einen Rauchschweif hinter ihm zurückließen. Das war das Zeichen gewesen, dass seine Intuition keiner Wahnvorstellung entsprang und seine Nemesis trotz aller Berichte noch lebte - und dass er, sobald sie wieder aufeinandertrafen, für seine extremen Entscheidungen belohnt wurde.
Daran glaubte er fest, weil der fallende Engel Geigers Gesicht gehabt hatte.
Geiger.
Er öffnete die Augen, hob die glatten, haarlosen Hände vors Gesicht, und in seinem Kopf wiederholten sich die Ereignisse des 4. Juli. Sie waren weniger Erinnerung als vielmehr ein stets präsenter Teil seines Bewusstseins - diese Stunden, die in exquisiten Einzelheiten vor seinen Augen vorbeizogen:
Halls Anruf ... Der Anstieg seines Pulses, als er erfuhr, dass er an Geiger arbeiten sollte, von allen Menschen ausgerechnet an Geiger - der Legende, dem Meister ihrer Kunst, dem Mann, den man den Inquisitor nannte ...
Die Sitzung in Geigers eigenem Raum ... Ihn an den Rasiersessel zu fesseln, ihm die einzige Frage zu stellen, die Hall ihm mitgeteilt hatte: »Wo ist der Junge?« ... Mit einer weißglühenden Ahle in Geigers Wange einzudringen ... Ihn mit dem Baseballschläger zu bearbeiten ... Ihm den vierköpfigen Schenkelstrecker zu zerschneiden ... Und Geiger, wie er sich weigerte nachzugeben, wie er sich nicht erweichen ließ, einen Jungen zu verraten, den er kaum kannte, oder zu betteln oder auch nur zu schreien, als wäre er immun gegen die Schmerzen dieser Welt ...
Dann, wie Geiger angriff, wie er das Regiment übernahm und verkündete, dass sie beide das Foltern hinter sich hätten, dann das Zerschmettern seiner Finger und Mittelhandknochen, das trockene, laute Knacken der Knochen und der überwältigende, außerweltliche Schmerz ...
Geiger war zum Zentrum seines Universums geworden - die Sonne, die jeden Gedanken beherrschte, jede Entscheidung. Geiger hatte ihm einen neuen Sinn verliehen, etwas, das er noch nie empfunden hatte. Begonnen hatte es als winziger Same, der aufgegangen und zu einem Leuchtfeuer in ihm geworden war. Zuerst war es Rache gewesen - und nun war es zu etwas geworden, das darüber hinausging.
Die Beule unter der Kapuze bewegte sich ein wenig, knapp neben dem Ohr. Er klopfte darauf, und die Hornisse summte und zuckte - und die Zielperson verkrampfte sich in ihren Fesseln, während ein halb ersticktes Knurren ihrer Kehle entstieg. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln.
»Ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen.«
Die Augen unter der Kapuze schlossen sich, die Wangen spannten sich unwillkürlich an - und die Hornisse stach erneut zu. Der Körper zog wild an seinen Fesseln, und ein weiteres Stöhnen bahnte sich einen Weg durch das Klebeband wie ein tieferes Echo des ersten.
»Ich hatte Sie aufgefordert, sich nicht zu bewegen.«
Er riss den Arm hoch und schlug der Zielperson mit der flachen Hand gegen die Schläfe. Der Schädel erzitterte unter dem Hieb, und die Eingeweide des zerquetschten Insekts färbten den Kapuzenstoff dunkel. Er hob das alte Skalpell und beugte sich vor, bis sein Gesicht dicht vor dem der Zielperson hing.
»Dies werde ich hauptsächlich einsetzen.« Er legte der Zielperson das Instrument in die Hand. »Nur zu. Halten Sie es. Es fühlt sich angenehm an. Perfekt ausbalanciert.«
Die Augen unter der Kapuze musterten den Mann, versuchten die Tiefe seines Wahnsinns auszuloten.
»Es ist bemerkenswert, welche Karten das Schicksal austeilt. Sehen Sie - Sie und ich ... Wir haben eine ... gemeinsame Bindung, könnte man sagen.« Er packte das Oberteil der Kapuze und zog sie weg. »Es ist durchaus möglich, dass Sie bereits wissen, wer ich bin. Aber gestatten Sie mir dennoch, mich vorzustellen. Mein Name ist Dalton.«
PROFIL LEVEL ACHT
NAME: Unbekannt. Pseudonym: Geiger
KLASSE: Verhörexperte
CODENAME: Inquisitor
ALTER: Unbekannt. Vermutlich zwischen 27 und 34
URSPRÜNGL. KONTAKTPERSON: Carmine Delanotte
EINSATZ:
DATUM: 16.8.2004
FALLNAME: Black Nile
ORT: Kairo, Ägypten
VERHÖRTE(R): NARI KANEESH, 42, stellvertr. Minister - verdächtigt, Geheimtreffen mit Al-Qaida-Agenten durchgeführt zu haben
KOMMENTARE: Bewertung - 9,8. In Intellekt und Ausdauer überragend. Psychologisch orientierte Methodik (Falldetails siehe Anhang - Ermächtigungsstufe Deep Red erforderl.)
DATUM: 3.7.2011
FALLNAME: De Kooning
ORT: New York, NY
VERHÖRTE(R): EZRA MATHESON, 12, Sohn von DAVID MATHESON - Kopf von Veritas Arcana, Whistleblower-Website
KOMMENTARE: Bewertung - k.A. (Falldetails siehe Anhang - Ermächtigungsstufe Deep Red erforderl.)
Ein schlanker Daumen reckte sich zu dem Monitor und wurde fest auf das Achteck am unteren Rand des Bildschirms gedrückt. Zweimal blinkte IDENT auf, dann erschien ein neues Dokument.
FALLNAME: De Kooning
3.7.2011 - NYC: Subunternehmer (RICHARD HALL, MITCHELL CARNEY, RAYMOND BOYCE) versuchen von DAVID MATHESON (Whistleblower, Veritas Arcana) geheimes Video eines CIA-Verhörs wiederzubeschaffen. Matheson entgeht Festnahme. Hall übergibt Mathesons Sohn EZRA an GEIGER zwecks Verhör wg. Vater. Geiger flüchtet mit Kind.
4.7.2011: Geiger gefangengenommen. Verhör durch DALTON wg. Ezras Aufenthalt (ernsthafte Verletzungen zugefügt). Geiger macht Dalton (siehe Dalton-Nachbesprechung) unbrauchbar u. entkommt. Subunternehmer verfolgen Geiger, Ezra Matheson, HARRY BODDICKER (alias THOMAS JONES) u. LILY BODDICKER zum Haus von Dr. MARTIN CORLEY in Cold Spring, NY (keine weiteren Erkenntn.)
Auszug aus dem Bericht des Cold Spring PD: »Thomas Jones u. Ezra Matheson sagten aus, dass zwei Männer einen Einbruch in 29 River Lane verübten, Eigentümer Dr.Martin Corley. Während des Kampfes stürzte ein Mann von der Veranda. Todesursache: auf Rasenlampenstachel aufgespießt. 2. Mann entführte Ezra Matheson u. versuchte in Ruderboot zu entkommen. Boot kenterte. Von den Insassen keine Spur. Große Menge an Blut auf Bootssteg gefunden.«
ERGEBNIS: Video nicht wiederbeschafft. Am 29.8.2011 von D. MATHESON auf Veritas-Arcana-Website gepostet. HALL: vermisst, vermutlich tot; BOYCE: vermisst, vermutlich tot; CARNEY: tot.
3.9.2011 - Ergebnisse der Blutanalyse: Probe von Bootssteg (Cold Spring, NY) stimmt überein mit Gaze aus »Sitzungsraum « nach Verhör von GEIGER durch DALTON
GEIGER: vermisst, vermutlich tot.
ERSTER TEIL
1
Wie er durch die Nacht und den Nieselregen rannte, glich er mehr einem dunklen Phantom als jemand Lebendigem - schwarzer Pullover und schwarze Jogginghose, schwarze Ghost-GTX- Laufschuhe, das schwarze Haar braun gefärbt und kurz geschnitten. Der Bart reichte fast bis zu den hervorstehenden Jochbeinen. Die wenigen Menschen, die ihn kannten, hätten ihn kaum wiedererkannt. In seinem Kopf peitschte sich der von Mahlers Leidenschaft durchdrungene Gesang von dreißig Violinen bis zur Ekstase. Das feuchte Glitzern der Pflastersteine ließ die Straßen erscheinen, als wären sie flüssig geworden, bodenlos. Man machte vielleicht einen Schritt und stürzte, ohne dass der Fall jemals endete ...
Er erinnerte sich an den Wahnsinn unter dem Fluss, die Leiber, die sich verzweifelt aneinanderklammerten. Er erinnerte sich, wie er auf Ezras dünne Arme stieß, den Jungen aus dem Schlick zog und ihn nach oben drückte. Er erinnerte sich an Hände, die sich um seine Kehle schlossen, und an das vom Wasser erstickte Uuuf!, als seine Faust einen knochigen Teil Halls traf und er spürte, wie etwas brach und nachgab.
Er war aus dem Fluss gestiegen, hatte sich die Böschung hochgezogen und war im Nebel auf einen geduckten, dunklen Umriss zugekrochen. Der Umriss erwies sich als alter Lager- schuppen der Eisenbahn mit einer Tür, die nur noch an einer rostigen Angel hing. Als er drinnen war, riss er die Taschen aus der Jogginghose und verstopfte damit die Einschusswunde in seiner Brust und die Austrittswunde an seinem Rücken gleich unterhalb des Schulterblatts. Er hielt es für wahrscheinlich, dass er das Bewusstsein verlieren würde, und wollte dann nicht verbluten.
Die Größenordnung des Schmerzes war etwas Neues, die Präsenz ohne Grenzen, daher durchtränkte er sein Bewusstsein mit Chopins Fantaisie-Impromptu, Prélude in e-Moll, um die Schmerzen zu überlisten, um zu verhandeln, statt an mehreren Fronten, die zu lang waren, als dass man sie beherrschen konnte, einen totalen Krieg zu führen. Die ersten beiden Tage verschlief er fast ganz, und als er in der dritten Nacht hinausging, fand er in anderthalb Kilometer Entfernung ein schlafendes Städtchen - Gemüsereste in dem Müllcontainer hinter einem Imbiss sowie eine vergessene Windjacke und eine Flasche Wasser auf der Spielerbank an einem Baseballplatz. Am fünften Tag brach er in der Morgendämmerung auf und brauchte vier Stunden, um mit seinem beschädigten Bein den Highway zu erreichen, der zwei Meilen entfernt lag. Nur bei Lkws streckte er den Daumen aus, und der erste, der anhielt, nahm ihn bis in die Stadt mit.
Brooklyn war ein wirres Durcheinander aus Gebäuden, Ethnien und Schichten. Jedes Mal, wenn er um eine Ecke bog, schien es ihn zu etwas Fremdem ohne jede Verbindung zum Vorherigen zu verschlagen. Einer finsteren Reihe aus Lagerhäusern und von abgesackten Zäunen umgebenen Grundstücken folgte ein gut beleuchteter Block aus Einfamilienhäusern mit Flachbildfernsehern und vollgestopften Bücherregalen hinter den Fenstern, der wiederum in eine Ansammlung schäbiger Geschäfte und schmieriger Kneipen überging, aus denen Reggaeton auf die Straßen drang, und hinter der nächsten Ecke warteten in Gebäuden aus roten Ziegeln und Chrom Szenelokale sowie Bars, deren Neonreklame »Brooklyn Lager« verhieß.
Er hatte überlegt, in eine andere Stadt zu ziehen und neu anzufangen. Er war nach Richmond gereist, nach Brattleboro und nach Boston und je ein paar Tage geblieben - doch sie hatten ihm nichts gesagt. New York war sein Planet, dessen einzigartige Schwerkraft ihn auf seiner Bahn hielt, was bei anderen Städten nicht der Fall war. Er wäre wie ein defekter Satellit ins schwarze All davongetrieben. Außerdem ... Er hatte hier noch eine Aufgabe zu erledigen.
Monate hatte es gedauert, bis er so weit genesen war, dass er wieder rennen konnte. Es gab neue Schmerzen, ein prickelndes Brennen im linken Quadrizeps unter den frischen Narben von Daltons Schnitten. Zusammen mit den alten Problemen in Hüfte und Knöcheln raubte es ihm manchmal das Gleichgewicht, doch wie immer half die Musik dem Alchimisten in ihm, Schmerz in reine Empfindung umzuwandeln - und in Kraft.
Als die Ampel auf Grün sprang und er auf die leere Kreuzung joggte, erreichten die Streicher ihren Höhepunkt, und vor seinem inneren Auge umkreisten Klangsträhnen einander im Paarungstanz, um sich sodann in die Arme zu fallen und zu einem vielfarbigen Band zu verschmelzen. Die Musik war vollmundig. Er schmeckte grüne Minze und Erdbeere - und hörte das drängende Kreischen der Hupe eine Sekunde, ehe die schwarze, rasende Masse in sein peripheres Blickfeld eindrang und ihn dazu brachte, frontal zu dem Dodge Dakota herumzufahren, der die rote Ampel ignorierte und auf ihn zuraste. Die Straßenlaternen spiegelten sich in der Windschutzscheibe und beschienen die drei Gesichter dahinter - ihre sich weitenden Augen und dehnenden Lippen. Dann regte sich der Fahrer wieder, schlug erneut auf die Hupe und trat auf die Bremse. Das Fahrzeug ruckte auf dem feuchten Asphalt und geriet ins Schleudern.
Das Kreischen der Reifen übertönte die Streicher, und er bezwang einen inneren Tumult. Er hatte es schon erlebt - in einem Moment der Unaufmerksamkeit überrascht, wenn die Welt sich an ihn anschlich und alles zu einem exquisiten Kriechen verlangsamte. Fortlaufende Bewegungen in einzelne Segmente zerteilt, fallende Dominosteine, verbunden, aber getrennt und eigenständig. Geräusche breiteten sich aus wie Quecksilber auf einer geneigten Glasscheibe, dann verweilten sie über ihre übliche Halbwertszeit hinaus. Er streckte die Hände vor sich aus.
Im letzten Moment drang unerwartet ein Gedanke an die Oberfläche: War jemals die Leiche seines Vaters auf dem Berg entdeckt worden, unter dem Reifen des Trucks eingeklemmt, das Messer tief im Herz? Geiger spürte noch immer den Ledergriff in seiner Kinderhand, als er das Messer hineinstieß. Wahrscheinlicher war, dass die Wölfe das Fleisch verschlungen und Pumas und Füchse mit den Knochen gespielt und sie verstreut hatten. Die Sonne hatte den blutgetränkten Boden getrocknet und der Wind die dunkel verfärbte Erde hochgewirbelt und weggefegt. Von dem Mann blieb nur übrig, was Geiger mitnahm, äußerlich und innerlich - die wahnsinnigen Rituale, den eleganten Schaltkreis der Narben, die Bruderschaft des Schmerzes, die letzte Offenbarung von bleichen, blutenden Lippen: Die Welt weiß nichts von dir. Das ist mein Geschenk an dich. Du bist niemand.
Der Truck stand vor ihm. Auf dem Vordersitz hatte die junge Frau zwischen den beiden Männern die Hände vors Gesicht geschlagen. Der gequälte Schrei der Reifen erstarb, als der funkelnde silbrige Kühler auf Geigers vorgestreckte Hände traf - und stoppte. Hätte es Zeugen gegeben, hätten sie vielleicht geglaubt, er wäre eine Art Superheld, der heranrasende Fahrzeuge mit bloßen Händen zum Halten brachte.
Die Tür flog auf, und der Fahrer sprang heraus. Er sah aus, als wäre er ein paar harte Jahre über zwanzig, hielt eine Bierflasche in der Hand und trug ein Sweatshirt mit der Aufschrift: STAR SPANGLED BANGER! in roten, blauen und weißen Buchstaben. Mit der Hand fuhr er sich über die Haarstoppeln, dann spreizte er die Arme wie ein Regenmacher, der den Himmel anruft.
»Scheiße, Mann! Was machst du denn für 'ne Scheiße, hä?«
Geiger straffte den Rücken. »Sie haben eine rote Ampel überfahren«, sagte er.
Etwas an Geigers weicher, monotoner Stimme brachte den Mann zum Grinsen.
»Rote Ampel? Scheiße, wir sind hier in Brooklyn.«
»Sie sollten vorsichtiger sein. Sie haben eine Dummheit begangen. «
Der Mann grinste weiter und sah zu den anderen hin. »Er sagt, ich bin doof.«
Der andere Mann im Truck lachte auf und warf durch die offene Tür mit einer leeren Bierdose nach seinem Freund. »Da hat er recht, du blödes Arschloch!«
Der Fahrer wandte sich wieder zu Geiger und hob die Flasche. »Wegen dir hab ich mein Bier verschüttet, Mann. Sie war fast voll - mein letztes. So 'ne Scheiße!«
Seit seiner Rückkehr hatte Geiger direkte Kontakte auf ein Minimum beschränkt, doch das Gerede des Mannes befeuerte seine Sensoren, die hinter der Oberfläche aus Wörtern und Tönen nach Absichten suchten. Irgendwo beklagte eine Feuerwehrsirene eine neue Tragödie. Geiger nahm seine Ohrstöpsel heraus.
»Sie sollten wieder in den Wagen steigen.«
»Komm schon, Dougie«, sagte die Frau. »Fahren wir weiter.«
»Gleich.« Der Fahrer sah Geiger genauer an. »Du bist nicht von hier - oder? Wir, äh ... Wir fahren rum und, na, wir haben die Dinge im Auge ... und ich glaube, dich hab ich noch nie gesehen.« Er neigte den Kopf wie ein Dobermann, der Hackfleisch wittert. »He, bist du ein Mussie? Weil ... Du sieht irgendwie aus wie einer.«
Geiger spürte den Puls in seinen Schläfen pochen wie das Ticken einer Uhr. »Ich weiß nicht, was ein Mussie ist.«
»Klar weißt du das. Du weißt doch ... Mussie. Kopftuch und so. Moscheenratte.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »'n Mussie.« Er sah die beiden anderen an. »Er sieht irgendwie so aus, oder?«
»Find ich auch«, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz. »Irgendwie schon.«
»Ich bin kein Muslim«, erwiderte Geiger, »also können Sie weiterfahren.«
»Eine Sekunde.« Der Mann kam plumpvertraulich über den Asphalt schlurfend näher. Geiger begann, sich mit den Fingern gegen die Schenkel zu trommeln. Der Atem strömte heiß durch seine Nasenlöcher. Der Fahrer blieb zwei Handbreiten vor ihm stehen und hielt ihm die Flasche hin. »Dann trink was, ja? Nur damit keiner sauer ist. Ich meine, Mussies dürfen keinen Alkohol trinken - aber du bist kein Mussie, also darfst du.«
»Ich trinke keinen Alkohol.«
»Na komm schon ... Nicht mal 'n Schluck Bud?« Sein Grinsen wirkte aufgesetzt, als sei er nicht mit dem Herzen dabei. Sein Kumpel streckte den Kopf aus dem Beifahrerfenster.
»Können wir jetzt endlich weiter, Dougie, oder was?«, fragte er.
Geiger spürte die Erinnerung an Hunderte von Schicksalen, die er in den Händen gehalten hatte - der Angstschweiß auf der Haut; Muskeln, die sich erschrocken anspannten; Willen, die unter seiner Berührung zerbrachen. Sein Erbe, sein Können - die Erzeugung von Schmerz ... Der Aufbau von Leid ... Die Entwindung der Wahrheit ...
»Douglas«, sagte er, »steig in deinen Wagen und fahr weiter.«
Der allerletzte Anschein von Freundschaftlichkeit verschwand aus dem Gesicht des Mannes. »Na, wie wär's denn, wenn du dich auf dein dreckiges Kamel setzt« - er pflanzte seinen Zeigefinger auf Geigers Brust - »und ...«
Die Bewegung war so schnell, dass der Mann nicht einmal zu einem weiteren Laut kam. Geiger griff ihn beim Kragen und zog ihn zu sich heran, während er mit der anderen Hand ein Handgelenk packte, den Mann herumriss und ihm den Arm auf den Rücken bog. Die Flasche zerschellte vor ihren Füßen.
Geiger legte Dougie den rechten Arm um den Hals, und sie standen aneinandergepresst da, Brust an Rücken. Jedes Mal, wenn der Mann sich zu bewegen versuchte, zog Geiger den Arm etwas höher - bis Dougie innehielt.
Die junge Frau sprang auf die Straße. Sie trug eine taubenblaue Version des Sweatshirts, das der Fahrer anhatte. »Dougie!«
Der Fahrer wollte etwas sagen, doch Geiger drückte ihm die Kehle fester zu und brachte ihn so zum Schweigen. Dann flüsterte er dem Mann sehr leise ins Ohr: »Sag nichts. Beweg dich nicht. Entspann dich.« Die Worte hatten eine gewisse Leichtigkeit und bargen ein beinahe väterliches Versprechen: Keine Angst. Du hast nichts zu befürchten.
Der Mann auf dem Beifahrersitz stieg aus. Nervös rieb er eine Faust in der Handfläche.
»Lass ihn los!«, rief die Frau, griff zum Vordersitz und richtete sich mit einem Baseballschläger aus Aluminium in der Hand auf. An einigen Stellen war die grüne Lackierung abgeplatzt. »Sofort, du Arsch!«
Der Mann, den Geiger gepackt hielt, lachte rau auf. »Darf ich dir meine Freundin vorstellen, Abdul?«
Geiger musterte sie - die Geradheit ihres Rückgrats, die Art, wie ihre Finger eine Bewegung auf dem Griffstück des Schlägers ständig wiederholte. Sie wusste, wie er sich anfühlte. Sie hatte ihn schon benutzt.
Die Frau warf ihrem Freund einen Blick zu. »Bringen wir's hinter uns, Jamie.« Er nickte, und die beiden bewegten sich vorwärts. Fünf Schritte waren es höchstens.
Geiger beugte sich zum Ohr des Fahrers vor. »Douglas ... eine Planänderung.«
»Jetzt lässte mich laufen - richtig, Arschloch?«
Geiger verschob den Unterarm, krümmte die Finger steif und grub sie über dem Schlüsselbein in den Hals des Mannes. Dougies Gehirn erhielt augenblicklich eine Nachricht vom Brachialplexus - eine Nachricht über einen plötzlichen, massiven Schock des Nervensystems. Er verlor das Bewusstsein und erschlaffte wie eine Flickenpuppe. Geigers Unterarm bewahrte ihn vor dem Sturz. Die anderen blieben mit einem synchronisierten Zusammenzucken stehen, als wären sie in ein unsichtbares Kraftfeld gelaufen.
»Meine Fresse!«, entfuhr es dem anderen Mann.
Die Freundin hob den Baseballschläger. »Du Drecksau! Was hast du ihm angetan?«
»Douglas ist bewusstlos.« Er spürte den geschmeidigen Marsch des Blutes, sah den dunkelsten Teil seiner selbst, wie er alles beobachtete. Der Inquisitor nickte ihm zu. Schmerz lässt sich auf zahlreiche Arten anwenden. »Sie müssen beide wieder einsteigen. « Es gibt Druck, stumpfe Gewalt, Anwendung von starker Hitze und Kälte, Bearbeitung der Gelenke ... »Tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Die Frau legte den Schläger über ihre Schulter. Verwirrung und Staunen zupften an einer Augenbraue.
»Wer zum Teufel bist du?«
Geiger analysierte ihr Timbre und ihre Kadenz und entdeckte ebenso viel Angst wie Wut, was eine gute Sache war.
»Legen Sie den Schläger weg, steigen Sie ein - und schließen Sie die Türen. Wenn ich fort bin, geben Sie Douglas ein paar Klapse auf die Wangen und bewegen seinen Kopf hin und her. Dann wacht er auf.«
Der zweite Mann schüttelte den Kopf wie ein Gaffer an einer Unfallstelle.
»Haben Sie beide gehört, was ich sagte?« Geigers Stimme glich der eines geduldigen Lehrers in einem Klassenzimmer voller Rabauken, und seine Schüler blickten ihn mit einem Ausdruck an, der dem Grauen recht nahekam.
»Scheißkerl«, fauchte die Frau und warf den Schläger hin. Der zweite Mann nahm es dankbar als Stichwort, und sie gingen zum Wagen, stiegen ein und knallten die Türen zu.
Geiger zog Dougie vom Truck weg und sah ihnen zu, wie sie ihn beobachteten. Er ließ den Fahrer auf den Gehsteig sinken und lehnte ihn an einen Laternenpfahl. Er roch öligen Rauch in der Luft, der immer dichter wurde. Eine zweite Feuerwehrsirene antwortete der ersten wie ein wildes Tier, das sich paaren will. Irgendwo in der Nähe stand etwas in Flammen.
Geiger steckte sich die Ohrhörerstöpsel wieder ein und setzte seinen Lauf fort. Er nahm jedes Mal einen anderen Weg, und er hatte noch eine halbe Stunde, ehe er ankam. Dylans Sandpapierstimme klang ihm in den Ohren. »Something is happening here and you don't know what it is - do you, Mister Jones?«
2
In diesem von Staus geprägten, wild zusammengeflickten, lärmenden Teil der Stadt hätte das Krachen, das Harry Boddicker aus seinem Dösen weckte, von allem Möglichen stammen können - der Fehlzündung eines Automotors oder einem Schuss -, doch er dachte sofort an Feuerwerk, weil der Traum, in dem er gefangen gewesen war, sich wie schon so oft um den 4.Juli gedreht hatte. Er war in dem Campingstuhl eingeschlafen, der auf dem Fluchtbalkon vor seiner Wohnung im vierten Stock - ohne Aufzug - auf der Seite zur Henry Street in Chinatown stand, dem Posten, von dem aus er nunmehr das Leben auf dem Planeten Erde beobachtete. Er glich einer wasserspeienden Simsfigur, die auf den wimmelnden, freudvollen Wahnsinn hinunterstarrte.
Chinatown hatte er aus zwei Gründen zu seiner neuen Heimat gemacht: Der Trubel auf den Straßen ließ ihn hoffen, dass er in den seltenen Fällen, in denen er das Haus verließ, gute Chancen hatte, anonym zu bleiben, und sein Lieblings-DimSum- Restaurant war nur einen Block weit entfernt.
Dennoch, die Welt war zu klein geworden - so klein, dass sein Untertauchen als wenig mehr erschien als ein vergeblicher Aufschub des Unabwendbaren. Sie würden ihn finden. Sie waren andere - Hall, Mitch und Ray waren tot -, aber sie beherrschten ihren Job alle ausgezeichnet, und eines Tages würde ihm jemand auf die Schulter klopfen oder ihm einen Gummiknüppel über den Schädel ziehen, weil sie, wie Geiger gesagt hatte, niemals aufgaben. Und Geiger war einen Tag, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, tot gewesen.
Neun Monate lang durch den Verlust Geigers, seines Partners und einzigen Freundes, und Lilys, seiner Schwester, geschliffen, wies Harrys Trauer eine scharfe, dünne Kante auf. Sie glich einer Scherbe, die in ihm saß und sich bei jeder Bewegung tiefer einschnitt - schon das Atmen genügte. Sein Schlaf schenkte ihm keine Erholung. Solange er wach war, konnte er die Bilder wegschieben, wenn sie ihm vor die Augen sprangen. Aber in seinen Träumen war er hilflos und konnte nicht fliehen, wenn die Nacht des 4. Juli sich immer wieder abspielte.
Der blaugraue Himmel, punktiert vom Feuerwerk ... Geiger, der schwer verletzt und blutüberströmt am Ende des Bootsstegs stand und zusah, wie das Ruderboot mit Hall und Ezra auf den Hudson River hinaustrieb ... Dann tauchte Lily aus der Tiefe auf, hielt sich am Dollbord des Bootes fest und brachte es zum Kentern ... Alle versanken im Wasser ... und Geiger sprang hinein, während Harry hilflos, nutzlos, den Steg entlanghumpelte und die Vereinigung von Chaos und Schicksal mit ansehen musste ... Der Kampf rührte das Wasser auf - dann kam eine keuchende Seele an die Oberfläche und schwamm zum Ufer. Der Junge. Ezra. Mit der Sporttasche voller Foltervideos, die er umklammerte, als wolle er sie nie wieder loslassen ...
Ohne Geiger, der Harrys Orbit stabilisierte, ohne die Arbeit und ohne Grund, sich seiner Detailverliebtheit zu ergeben, verrann die Zeit gedankenlos. Das machte ihn verwundbar für die Nadelstiche der Erinnerung, und seine verdrängte Vergangenheit hatte ihre Chance genutzt, ihr Heer mobilisiert und die Gegenwart niedergerungen. Nun verbrachte Harry einen großen Teil seines Lebens in der Gesellschaft von Gespenstern, einer Gemeinde der Melancholie - mit jenen, die sich für das Weggehen entschieden hatten, und jenen, die in dieser Frage nicht hatten mitreden können. Sie sahen ihn an und stellten unbeantwortbare Fragen.
Drinnen summte die Klingel. Harry beugte sich über das Gelände und blickte nach unten. Der Lieferbote stand vor der Tür. Harry erhob sich ächzend und stieg durch das Fenster ins Wohnzimmer, ging zur Wohnungstür und drückte die Taste der Gegensprechanlage.
»Sind Sie das, Cheng?«
»Ja, Mr.Jones, Sir.«
Er drückte auf den Knopf. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Chaos billig war. Die Götter lagerten es im Überfluss und schleuderten es bei jeder Gelegenheit auf die Erde. Er lebte von dem Bargeld in seinem Safe bei der Citibank, war von Pepcids abhängig, kämpfte gegen einen Rückfall in seine Trunksucht aus der Zeit, bevor er Geiger kennengelernt hatte, und seit dem Massaker am Unabhängigkeitstag war er nicht mehr in seiner geliebten Zuflucht gewesen, seinem Apartment in Brooklyn Heights. Besonders weit hergeholt erschien es nicht, dass es in der Datenbank irgendeines Obermackers, der Eis statt Blut in den Adern hatte und bei der CIA oder NSA oder einem anderen tödlichen Dreibuchstabenkader arbeitete, eine Akte mit Harrys Namen und Adresse gab. Er konnte die saftigen Bäume vor sich sehen, die seine alte Straße säumten und ihre dichten Schatten warfen, und er stellte sich sofort vor, wie sich jemand unter ihnen verbarg, auf sein Fenster im ersten Stock starrte und auf seine Rückkehr wartete.
Er sehnte sich nach Gesellschaft. Zu Anfang hatte er überlegt, sich Arbeit zu suchen, sich ins Fadenkreuz des öffentlichen Auges zu begeben, nur um ein wenig Zeit mit anderen Menschen verbringen zu können, aber dann hatte er sich das Vorstellungsgespräch ausgemalt, in dem er jemandem gegenübersaß, der seinen Lebenslauf durchging.
»Sie haben einen B. A. vom CCNY, 1989 - überragende Programmierkenntnisse -; von 1991 bis 1997 haben Sie als Reporter für die New York Times gearbeitet, dann von 1997 bis 2001 in der Abteilung für Todesanzeigen. Sehr beeindruckend, Mr.Jones. Sind Sie seither beschäftigt gewesen?« Dann könnte Harry nur antworten: »Nun, durchaus. Ich war Partner in einem sehr erfolgreichen Start-up. IR.«
»IR? Dieses Geschäftsfeld ist mir unbekannt.«
»Information Retrieval. Informationsabruf. Unser Anfangskapital hatten wir von Carmine Delanotte, einem Mafiaboss. Ich war der Geschäftsführer für den größten Folterexperten der Welt. Also was ist ... krieg ich den Job jetzt?«
Harry kratzte sich am Bart - er hatte ihn zur Tarnung wachsen lassen, aber er hasste es, wie er juckte - und blickte sich mürrisch im Zimmer um: die krummen Wände, der Ost-West-Riss in der Decke, der mager gepolsterte Cordsessel, der Klapptisch mit seinem MacBook, der zerbeulte Minikühlschrank von Sears und der fleckige Zweiplattenkocher unbekannter Herkunft.
»Beschissen weit weg von Brooklyn Heights, Harry.«
Selbstgespräche waren noch so eine neue Gewohnheit. Er vermisste es, mit jemandem zu sprechen, denn gehört zu werden bedeutete, bekannt zu sein. Vor allem aber vermisste er Geiger; ihre Frühstücke im Diner zwei bis drei Mal die Woche, ihre gemeinsame obsessive Detailversessenheit, die unirdische Ruhe dieses Mannes, seine Undurchschaubarkeit bis zum Ende. Geiger war jemand, der sich genial darauf verstand, durch Folter Wahrheiten herauszubekommen, der aber zugleich sein Leben gab, um ein Kind zu retten, das er kaum kannte.
Elf Jahre.
Was sie getan hatten, ließ ihn nie los. Die Liste derjenigen, die gelitten hatten, war lang. Dass die meisten von ihnen einem Katalog der sieben Todsünden hätten entstiegen sein können und dass Geiger nie jemanden umgebracht hatte - diese Tatsachen waren nur ein schwacher Balsam auf Harrys Beschämung.
Dennoch: Hätte ihn jemand gefragt, hätte er nicht bestritten, dass er das Ritual ihrer Arbeit schmerzlich vermisste. Der Torhüter für jene zu sein, die nach Geigers Gaben verlangten. Seine eigenen einzigartigen Fertigkeiten zu nutzen, um die Dossiers über die potenziellen Klienten und Zielpersonen vorzubereiten; die dunklen Gassen des Internets auf der Suche nach Lebensfetzen zu durchstreifen und sie dann zusammenzuflicken, sodass Geiger sich ein detailliertes Bild machen konnte, mit wem er es zu tun hatte, ehe er einen Job annahm; auszuhandeln, welcher Preis sich an einem gegebenen Tag bei dem Klienten für die Wahrheit erzielen ließ; Protokolle zu den Sitzungs- DVDs zu erstellen und dabei so oft wie möglich wegzublicken, während er tippte; und seine fünfundzwanzig Prozent zu kassieren, steuerfrei ...
Es klopfte. Harry schloss die drei Schlösser auf und öffnete die Tür; die extralange Türkette, die er angebracht hatte, entriegelte er nicht. Die zusätzlichen fünf Zentimeter schufen einen Spalt, der breit genug war, dass eine Tüte mit Dim Sum hindurchpasste. Er blieb hinter der Tür, sodass man ihn nicht sehen konnte.
»Cheng?«
»Ich bin es, Mr.Jones, Sir.« Eine braune Papiertüte wurde durch die Öffnung gereicht. »Wie immer, Mr. Jones.«
Harry nahm die Tüte an, fischte einen Fünfer und einen Zehner aus seiner Tasche und hielt sie unter die Kette, und eine Hand nahm die Scheine.
»Danke sehr, Mr.Jones, Sir.«
»Gern geschehen. Also, äh ... wie geht das Geschäft, Cheng?«
»Immer liefern, Mr. Jones. Ganze Zeit. Nie Pause. Geschäft gut.«
»Das ist gut. Gut zu hören.« Harry seufzte. »Wie geht es Mr. Han?«
»Er gut.«
»Wird das Restaurant -«
»Muss jetzt gehen, Mr.Jones. Eilig. Sehr, sehr eilig. Bye.«
Harry hörte Schritte, die langsam die Treppe hinunterstiegen, und grinste. Cheng hatte es nicht eilig. Er wollte nur nicht im Flur stehen und sich mit dem schrägen Vogel unterhalten, der nie die Sperrkette öffnete. Er verriegelte die Schlösser, setzte sich an den Tisch und nahm den Styroporbehälter und die Plastikgabel aus der Tüte. Das abendliche Ritual - die Augen schließen, den Deckel heben, den Duft seines Cha siu baau einsaugen. Über gewissen Vergnügungen stand er keineswegs, so wenige es auch sein mochten.
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Wie seltsam, dachte er. Im Moment erschien alles Messbare, alles Quantifizierbare - der Anlass, seine Rolle, die notwendigen Fertigkeiten und Werkzeuge - mehr oder minder gleich geblieben, als wäre nur ein Tag verstrichen und nicht zehn Monate voller Operationen und Regeneration. Doch hier in diesem Kreuzpunkt der Zeit zu sitzen und diesen Neuanfang zu erleben ... Wenn es möglich gewesen wäre, eine Röntgenaufnahme vom Gefühlszustand eines Menschen zu machen und sie mit einer solchen Aufnahme von sich zu vergleichen, die vor den Ereignissen des 4.Juli gemacht worden war, so hätten beide, da war er sich sicher, nur wenige Ähnlichkeiten gezeigt. Aus Hügeln wären Berge geworden, aus Bächen Flüsse, aus Felsspalten Schluchten, aus der Erde ein Planet X.
Er stand auf, ging an einen alten, zerschrammten Eichentisch - für seinen Wiedereinstieg ins Leben hatte er etwas Organisches gewollt, vom Menschen geformt, aber von der Natur geschaffen - und blickte auf das Ensemble an Entsetzlichem, das er darauf ausgelegt hatte. Für den April war die Drei-Uhr-Sonne stark, die sich durch das Dachfenster des Raumes ergoss und den Instrumenten einen kupfrigen, schmelzflüssigen Glanz verlieh.
Nach den beiden rekonstruktiven Operationen hatten die Ärzte ihm eröffnet, dass weitere Eingriffe wegen der zu umfangreichen Verletzungen zwecklos seien. Als sie ihm dann die Alternative vorlegten, hatte er gespürt, wie in der schwarzen Ironie des Augenblicks die Verheißung der Perfektion ihr Haupt erhob.
Man würde ihn erneuern, und auch sein Inneres wollte er neu gestalten. Er wollte seine Grenzen erweitern und seine Beschränkungen überwinden. Kosten spielten keine Rolle. Er hatte mehr Geld auf die Seite gelegt, als er jemals ausgeben würde. Sobald seine Umwandlung abgeschlossen war, gab es keinen Schmerz mehr, der zu groß war, um ihn zu ertragen.
Er hatte den Vorgang dokumentiert, mit zwei Kameras, damit ihm kein Detail entging, und während seiner Genesung hatte er Hunderte von Stunden vor dem Video verbracht, jeden Schnitt studiert, jede Abtrennung. In den Monaten nach der Operation hatte er sich täglich nur zwei 50-mg-Fentanyl-Pflaster gestattet und sensorische Vorgänge mit solch qualvoller Intensität erlebt, dass sein Verständnis des physischen Leidens eine radikale Neuausrichtung durchlief, die dem Meisterwerk seiner Chirurgen gleichkam.
Er nahm das einteilige Skalpell von Horatio Kern aus dem Jahre 1867 vom Tisch. Er hatte die üblichen modernen Plastikausführungen mit Wechselklingen ausprobiert, doch ihr geringes Gewicht bereitete ihm Probleme. Daher hatte er einen der Männer nach etwas Massiverem suchen lassen. Der Ebenholzschaft verlieh Kerns Skalpell Gewicht und eine Griffigkeit, die ihn zufriedener stimmte.
Zuerst hatte er an Kaninchen geübt, und nach Wiedererlangen der grundlegenden Fertigkeiten hatte er sich von einem nahegelegenen Hof ein Schwein bringen lassen. Seine Chirurgen hatten ihm versichert, dass ein Schwein in Bezug auf die Dicke der Haut und der subkutanen Fettschichten den Verhältnissen beim Menschen recht ähnlich sei. Näher käme er an die Realität nicht heran.
Ein vertrautes dröhnendes Brummen ließ ihn aufblicken. Eine sehr große Hornisse, fünf Zentimeter lang, hatte sich durch das Loch im Fenstergitter einen Weg ins Zimmer gebahnt, und jetzt setzte sie sich auf die weiße Pfirsichscheibe, die er als Köder auf dem Fensterbrett platziert hatte.
Er legte das Skalpell auf den Tisch und ging zum Fenster. Er konnte das graue, schuppige Nest sehen, das größer als ein Medizinball war und draußen an der Unterseite der Dachtraufe hing, neben dem angebauten Schuppen, in dem das staubige Auto stand. Die Besuche der Insekten waren zu einem nützlichen Element seines Trainings geworden.
Als die Hornisse von dem Pfirsich kostete, senkte er die Hand, nahm vorsichtig die hauchdünnen Flügel zwischen die Spitzen seines Daumens und Zeigefingers und hob das sich wehrende, laut summende Geschöpf hoch. Im Laufe der Zeit war speziell diese Bewegung der Neuausbildung seiner Feinmotorik und seiner Auge-Hand-Koordination sehr förderlich gewesen.
In der Regel nahm er nun den dicken, gestreiften Unterleib der Hornisse zwischen zwei Fingerspitzen und drückte langsam zu, bis er platzte. Auf diese Weise erlangte er ein Gefühl für den ausgeübten Druck, das wiederherzustellen sich als recht schwer erwiesen hatte. Er hatte an Weinbeeren geübt, bis die erste Hornisse ins Zimmer flog und er entdeckte, dass belebtes Fleisch, das für seine Berührung empfindlich war und darauf reagierte, sich erheblich besser eignete als das Obst. Daher stellte er immer eine Untertasse mit einer Pfirsichscheibe auf die Fensterbank. Seit Monaten fand die Putzfrau jedes Mal, wenn sie kam, einen Haufen verschrumpelter kleiner Kadaver auf dem Fußboden.
Er sah zu, wie das Tier zuckte. Die Energie der Hornisse war unermüdlich. Wieder hörte er das feuchte Stöhnen. Es war Zeit. Zeit, neu zu beginnen. Er drehte sich um und ging durch den Raum. Die Zielperson saß auf einem hochlehnigen Stuhl, bedeckt mit einem weiten blauen OP-Kittel, der dem Körper jede Form nahm. Eine grob zugeschnittene Kapuze aus dem gleichen Material umhüllte den Kopf. Sie hatte Löcher für die Augen und den mit schwarzem Klebeband verschlossenen Mund. Plastik- schnallen fesselten den Körper an Hals, Handgelenken, Taille und Fußknöcheln an den Stuhl.
Er beugte sich zu dem Gesicht vor und runzelte die Stirn. In dem Blick dieser Augen lag nicht genug Furcht. Er hob das lärmende, zappelnde Insekt. »Riesig, nicht wahr?«
Die Lider der Augen in der Kapuze hoben sich, die Pupillen wurden weiter.
»Durch meine Ausflüge auf Google habe ich erfahren, dass es vermutlich eine Vespa mandarinia ist - die Asiatische Riesenhornisse. Sie ist die giftigste Art. Wie es heißt, kann ein Schwarm- angriff einen Menschen in Minutenschnelle töten ... durch einen anaphylaktischen Schock. Doch wenn Sie mich fragen, wie sie hierherkommt, muss ich passen.«
Er hob den Zeigefinger der freien Hand. »Passen Sie auf«, sagte er, führte den Finger an das zuckende Abdomen der Hornisse und stieß gegen die Unterseite. Augenblicklich krümmte sich das Ende des Unterleibs nach unten und innen, und der sechs Millimeter lange Stachel fuhr heraus und bohrte sich in den Finger. Er zeigte keine Reaktion - er zuckte weder zurück, noch verzog er eine Miene.
Sein Zuschauer hob verwirrt die rechte Braue.
»Der interessanteste Unterschied zwischen den Wespen, zu denen die Hornissen gehören, und den Bienen besteht darin, dass Bienen nur einmal zustechen können. Ihre Stacheln haben Widerhaken, verfangen sich im Fleisch und werden ausgerissen - die Biene stirbt daran. Hornissen haben jedoch widerhakenfreie Stacheln. Sie können immer wieder zustechen.« Mit der Fingerspitze drückte er gegen den Bauch des Insekts, und es stach ihn erneut. »Sehen Sie?« Er zog den unteren Rand der Kapuze am Hals ein Stück weit hoch. »Wir wollen Sie ein wenig lockern. Bauen wir ein wenig Adrenalin ab.« Er beobachtete, wie der Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfte, dann ließ er die Hornisse unter der Kapuze frei. »Sie sind nicht besonders aggressiv, solange man sie nicht reizt, aber Sie täten gut daran, sich nicht zu bewegen.«
Das hässliche Summen hörte plötzlich auf. Dank der Größe der Hornisse war deutlich zu sehen, wie sie unter dem Stoff die Wange entlangkrabbelte. Die Augen unter der Kapuze stierten starr nach vorn, ohne zu blinzeln, aber auch ohne etwas zu sehen. Sie ließen an jemanden denken, der vergebens versuchte, sich an einen Namen oder an das Datum eines bevorstehenden Termins zu erinnern. Dann schlossen die Lider sich langsam und bebten, und die Hornisse kroch über das linke Auge und strebte weiter nach oben.
Vor dem Fenster stand der wilde Lavendel in Blüte, ein wogendes Purpurmeer. Eine plötzliche Bewegung dort veranlasste den Mann, von seinem Gefangenen aufzublicken, und er sah Dutzende von Schlangen mit strahlenden, irisierenden Schuppen, die in eleganten, abgefederten Bögen aus dem Gebüsch sprangen und einander mit opalenen Zähnen, die bald rot glänzten, gierig verspeisten. Er beobachtete den Kampf, bis eine einzige Kreatur blutbefleckt und siegreich übrig blieb und sich ihm mit neugierigem Blick zuwandte.
»So ist es gut«, sagte er. »Komm zu Papa.«
Das Ungeheuer glitt auf ihn zu, und er schloss die Augen. Er hatte gelernt, mit den Erscheinungen umzugehen. Er besaß keine Kontrolle über ihr Auftreten, aber er hatte festgestellt, dass die Halluzinationen vergingen, wenn er die Augen fest zukniff. Soweit er wusste, handelte es sich um bildliche Manifestationen einer Art Wahnsinn.
Für ihn war die Psychopathie das Ergebnis einer bemerkenswerten katalytischen Reaktion, der graduellen Umwandlung von Qual und Leid in eine neue chemische Verbindung, die nun seinem Gehirn innewohnte wie jede andere Komponente seiner psychologischen Zusammensetzung - etwa Wonne, Angst oder Wut -, und während sie Adrenalin oder Serotonin oder Neutrophine freisetzten, löste die neue Substanz die Erscheinungen aus.
Davon hatte er viele gehabt. Er hatte gesehen, wie der Klinikkatze Stahlstacheln aus dem Fell wuchsen; er hatte beobachtet, wie Dr.Lings Gesicht zerbarst, während er über synthetische Polymere sprach; er hatte in dem geschmolzenen Gruyère auf seiner Zwiebelsuppe gestochert und in der Brühe umherflitzende neonfarbene Salmler entdeckt; er hatte einen Engel aus dem Himmel stürzen sehen, dessen Schwingen brannten und einen Rauchschweif hinter ihm zurückließen. Das war das Zeichen gewesen, dass seine Intuition keiner Wahnvorstellung entsprang und seine Nemesis trotz aller Berichte noch lebte - und dass er, sobald sie wieder aufeinandertrafen, für seine extremen Entscheidungen belohnt wurde.
Daran glaubte er fest, weil der fallende Engel Geigers Gesicht gehabt hatte.
Geiger.
Er öffnete die Augen, hob die glatten, haarlosen Hände vors Gesicht, und in seinem Kopf wiederholten sich die Ereignisse des 4. Juli. Sie waren weniger Erinnerung als vielmehr ein stets präsenter Teil seines Bewusstseins - diese Stunden, die in exquisiten Einzelheiten vor seinen Augen vorbeizogen:
Halls Anruf ... Der Anstieg seines Pulses, als er erfuhr, dass er an Geiger arbeiten sollte, von allen Menschen ausgerechnet an Geiger - der Legende, dem Meister ihrer Kunst, dem Mann, den man den Inquisitor nannte ...
Die Sitzung in Geigers eigenem Raum ... Ihn an den Rasiersessel zu fesseln, ihm die einzige Frage zu stellen, die Hall ihm mitgeteilt hatte: »Wo ist der Junge?« ... Mit einer weißglühenden Ahle in Geigers Wange einzudringen ... Ihn mit dem Baseballschläger zu bearbeiten ... Ihm den vierköpfigen Schenkelstrecker zu zerschneiden ... Und Geiger, wie er sich weigerte nachzugeben, wie er sich nicht erweichen ließ, einen Jungen zu verraten, den er kaum kannte, oder zu betteln oder auch nur zu schreien, als wäre er immun gegen die Schmerzen dieser Welt ...
Dann, wie Geiger angriff, wie er das Regiment übernahm und verkündete, dass sie beide das Foltern hinter sich hätten, dann das Zerschmettern seiner Finger und Mittelhandknochen, das trockene, laute Knacken der Knochen und der überwältigende, außerweltliche Schmerz ...
Geiger war zum Zentrum seines Universums geworden - die Sonne, die jeden Gedanken beherrschte, jede Entscheidung. Geiger hatte ihm einen neuen Sinn verliehen, etwas, das er noch nie empfunden hatte. Begonnen hatte es als winziger Same, der aufgegangen und zu einem Leuchtfeuer in ihm geworden war. Zuerst war es Rache gewesen - und nun war es zu etwas geworden, das darüber hinausging.
Die Beule unter der Kapuze bewegte sich ein wenig, knapp neben dem Ohr. Er klopfte darauf, und die Hornisse summte und zuckte - und die Zielperson verkrampfte sich in ihren Fesseln, während ein halb ersticktes Knurren ihrer Kehle entstieg. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln.
»Ich habe Ihnen einige Fragen zu stellen.«
Die Augen unter der Kapuze schlossen sich, die Wangen spannten sich unwillkürlich an - und die Hornisse stach erneut zu. Der Körper zog wild an seinen Fesseln, und ein weiteres Stöhnen bahnte sich einen Weg durch das Klebeband wie ein tieferes Echo des ersten.
»Ich hatte Sie aufgefordert, sich nicht zu bewegen.«
Er riss den Arm hoch und schlug der Zielperson mit der flachen Hand gegen die Schläfe. Der Schädel erzitterte unter dem Hieb, und die Eingeweide des zerquetschten Insekts färbten den Kapuzenstoff dunkel. Er hob das alte Skalpell und beugte sich vor, bis sein Gesicht dicht vor dem der Zielperson hing.
»Dies werde ich hauptsächlich einsetzen.« Er legte der Zielperson das Instrument in die Hand. »Nur zu. Halten Sie es. Es fühlt sich angenehm an. Perfekt ausbalanciert.«
Die Augen unter der Kapuze musterten den Mann, versuchten die Tiefe seines Wahnsinns auszuloten.
»Es ist bemerkenswert, welche Karten das Schicksal austeilt. Sehen Sie - Sie und ich ... Wir haben eine ... gemeinsame Bindung, könnte man sagen.« Er packte das Oberteil der Kapuze und zog sie weg. »Es ist durchaus möglich, dass Sie bereits wissen, wer ich bin. Aber gestatten Sie mir dennoch, mich vorzustellen. Mein Name ist Dalton.«
PROFIL LEVEL ACHT
NAME: Unbekannt. Pseudonym: Geiger
KLASSE: Verhörexperte
CODENAME: Inquisitor
ALTER: Unbekannt. Vermutlich zwischen 27 und 34
URSPRÜNGL. KONTAKTPERSON: Carmine Delanotte
EINSATZ:
DATUM: 16.8.2004
FALLNAME: Black Nile
ORT: Kairo, Ägypten
VERHÖRTE(R): NARI KANEESH, 42, stellvertr. Minister - verdächtigt, Geheimtreffen mit Al-Qaida-Agenten durchgeführt zu haben
KOMMENTARE: Bewertung - 9,8. In Intellekt und Ausdauer überragend. Psychologisch orientierte Methodik (Falldetails siehe Anhang - Ermächtigungsstufe Deep Red erforderl.)
DATUM: 3.7.2011
FALLNAME: De Kooning
ORT: New York, NY
VERHÖRTE(R): EZRA MATHESON, 12, Sohn von DAVID MATHESON - Kopf von Veritas Arcana, Whistleblower-Website
KOMMENTARE: Bewertung - k.A. (Falldetails siehe Anhang - Ermächtigungsstufe Deep Red erforderl.)
Ein schlanker Daumen reckte sich zu dem Monitor und wurde fest auf das Achteck am unteren Rand des Bildschirms gedrückt. Zweimal blinkte IDENT auf, dann erschien ein neues Dokument.
FALLNAME: De Kooning
3.7.2011 - NYC: Subunternehmer (RICHARD HALL, MITCHELL CARNEY, RAYMOND BOYCE) versuchen von DAVID MATHESON (Whistleblower, Veritas Arcana) geheimes Video eines CIA-Verhörs wiederzubeschaffen. Matheson entgeht Festnahme. Hall übergibt Mathesons Sohn EZRA an GEIGER zwecks Verhör wg. Vater. Geiger flüchtet mit Kind.
4.7.2011: Geiger gefangengenommen. Verhör durch DALTON wg. Ezras Aufenthalt (ernsthafte Verletzungen zugefügt). Geiger macht Dalton (siehe Dalton-Nachbesprechung) unbrauchbar u. entkommt. Subunternehmer verfolgen Geiger, Ezra Matheson, HARRY BODDICKER (alias THOMAS JONES) u. LILY BODDICKER zum Haus von Dr. MARTIN CORLEY in Cold Spring, NY (keine weiteren Erkenntn.)
Auszug aus dem Bericht des Cold Spring PD: »Thomas Jones u. Ezra Matheson sagten aus, dass zwei Männer einen Einbruch in 29 River Lane verübten, Eigentümer Dr.Martin Corley. Während des Kampfes stürzte ein Mann von der Veranda. Todesursache: auf Rasenlampenstachel aufgespießt. 2. Mann entführte Ezra Matheson u. versuchte in Ruderboot zu entkommen. Boot kenterte. Von den Insassen keine Spur. Große Menge an Blut auf Bootssteg gefunden.«
ERGEBNIS: Video nicht wiederbeschafft. Am 29.8.2011 von D. MATHESON auf Veritas-Arcana-Website gepostet. HALL: vermisst, vermutlich tot; BOYCE: vermisst, vermutlich tot; CARNEY: tot.
3.9.2011 - Ergebnisse der Blutanalyse: Probe von Bootssteg (Cold Spring, NY) stimmt überein mit Gaze aus »Sitzungsraum « nach Verhör von GEIGER durch DALTON
GEIGER: vermisst, vermutlich tot.
ERSTER TEIL
1
Wie er durch die Nacht und den Nieselregen rannte, glich er mehr einem dunklen Phantom als jemand Lebendigem - schwarzer Pullover und schwarze Jogginghose, schwarze Ghost-GTX- Laufschuhe, das schwarze Haar braun gefärbt und kurz geschnitten. Der Bart reichte fast bis zu den hervorstehenden Jochbeinen. Die wenigen Menschen, die ihn kannten, hätten ihn kaum wiedererkannt. In seinem Kopf peitschte sich der von Mahlers Leidenschaft durchdrungene Gesang von dreißig Violinen bis zur Ekstase. Das feuchte Glitzern der Pflastersteine ließ die Straßen erscheinen, als wären sie flüssig geworden, bodenlos. Man machte vielleicht einen Schritt und stürzte, ohne dass der Fall jemals endete ...
Er erinnerte sich an den Wahnsinn unter dem Fluss, die Leiber, die sich verzweifelt aneinanderklammerten. Er erinnerte sich, wie er auf Ezras dünne Arme stieß, den Jungen aus dem Schlick zog und ihn nach oben drückte. Er erinnerte sich an Hände, die sich um seine Kehle schlossen, und an das vom Wasser erstickte Uuuf!, als seine Faust einen knochigen Teil Halls traf und er spürte, wie etwas brach und nachgab.
Er war aus dem Fluss gestiegen, hatte sich die Böschung hochgezogen und war im Nebel auf einen geduckten, dunklen Umriss zugekrochen. Der Umriss erwies sich als alter Lager- schuppen der Eisenbahn mit einer Tür, die nur noch an einer rostigen Angel hing. Als er drinnen war, riss er die Taschen aus der Jogginghose und verstopfte damit die Einschusswunde in seiner Brust und die Austrittswunde an seinem Rücken gleich unterhalb des Schulterblatts. Er hielt es für wahrscheinlich, dass er das Bewusstsein verlieren würde, und wollte dann nicht verbluten.
Die Größenordnung des Schmerzes war etwas Neues, die Präsenz ohne Grenzen, daher durchtränkte er sein Bewusstsein mit Chopins Fantaisie-Impromptu, Prélude in e-Moll, um die Schmerzen zu überlisten, um zu verhandeln, statt an mehreren Fronten, die zu lang waren, als dass man sie beherrschen konnte, einen totalen Krieg zu führen. Die ersten beiden Tage verschlief er fast ganz, und als er in der dritten Nacht hinausging, fand er in anderthalb Kilometer Entfernung ein schlafendes Städtchen - Gemüsereste in dem Müllcontainer hinter einem Imbiss sowie eine vergessene Windjacke und eine Flasche Wasser auf der Spielerbank an einem Baseballplatz. Am fünften Tag brach er in der Morgendämmerung auf und brauchte vier Stunden, um mit seinem beschädigten Bein den Highway zu erreichen, der zwei Meilen entfernt lag. Nur bei Lkws streckte er den Daumen aus, und der erste, der anhielt, nahm ihn bis in die Stadt mit.
Brooklyn war ein wirres Durcheinander aus Gebäuden, Ethnien und Schichten. Jedes Mal, wenn er um eine Ecke bog, schien es ihn zu etwas Fremdem ohne jede Verbindung zum Vorherigen zu verschlagen. Einer finsteren Reihe aus Lagerhäusern und von abgesackten Zäunen umgebenen Grundstücken folgte ein gut beleuchteter Block aus Einfamilienhäusern mit Flachbildfernsehern und vollgestopften Bücherregalen hinter den Fenstern, der wiederum in eine Ansammlung schäbiger Geschäfte und schmieriger Kneipen überging, aus denen Reggaeton auf die Straßen drang, und hinter der nächsten Ecke warteten in Gebäuden aus roten Ziegeln und Chrom Szenelokale sowie Bars, deren Neonreklame »Brooklyn Lager« verhieß.
Er hatte überlegt, in eine andere Stadt zu ziehen und neu anzufangen. Er war nach Richmond gereist, nach Brattleboro und nach Boston und je ein paar Tage geblieben - doch sie hatten ihm nichts gesagt. New York war sein Planet, dessen einzigartige Schwerkraft ihn auf seiner Bahn hielt, was bei anderen Städten nicht der Fall war. Er wäre wie ein defekter Satellit ins schwarze All davongetrieben. Außerdem ... Er hatte hier noch eine Aufgabe zu erledigen.
Monate hatte es gedauert, bis er so weit genesen war, dass er wieder rennen konnte. Es gab neue Schmerzen, ein prickelndes Brennen im linken Quadrizeps unter den frischen Narben von Daltons Schnitten. Zusammen mit den alten Problemen in Hüfte und Knöcheln raubte es ihm manchmal das Gleichgewicht, doch wie immer half die Musik dem Alchimisten in ihm, Schmerz in reine Empfindung umzuwandeln - und in Kraft.
Als die Ampel auf Grün sprang und er auf die leere Kreuzung joggte, erreichten die Streicher ihren Höhepunkt, und vor seinem inneren Auge umkreisten Klangsträhnen einander im Paarungstanz, um sich sodann in die Arme zu fallen und zu einem vielfarbigen Band zu verschmelzen. Die Musik war vollmundig. Er schmeckte grüne Minze und Erdbeere - und hörte das drängende Kreischen der Hupe eine Sekunde, ehe die schwarze, rasende Masse in sein peripheres Blickfeld eindrang und ihn dazu brachte, frontal zu dem Dodge Dakota herumzufahren, der die rote Ampel ignorierte und auf ihn zuraste. Die Straßenlaternen spiegelten sich in der Windschutzscheibe und beschienen die drei Gesichter dahinter - ihre sich weitenden Augen und dehnenden Lippen. Dann regte sich der Fahrer wieder, schlug erneut auf die Hupe und trat auf die Bremse. Das Fahrzeug ruckte auf dem feuchten Asphalt und geriet ins Schleudern.
Das Kreischen der Reifen übertönte die Streicher, und er bezwang einen inneren Tumult. Er hatte es schon erlebt - in einem Moment der Unaufmerksamkeit überrascht, wenn die Welt sich an ihn anschlich und alles zu einem exquisiten Kriechen verlangsamte. Fortlaufende Bewegungen in einzelne Segmente zerteilt, fallende Dominosteine, verbunden, aber getrennt und eigenständig. Geräusche breiteten sich aus wie Quecksilber auf einer geneigten Glasscheibe, dann verweilten sie über ihre übliche Halbwertszeit hinaus. Er streckte die Hände vor sich aus.
Im letzten Moment drang unerwartet ein Gedanke an die Oberfläche: War jemals die Leiche seines Vaters auf dem Berg entdeckt worden, unter dem Reifen des Trucks eingeklemmt, das Messer tief im Herz? Geiger spürte noch immer den Ledergriff in seiner Kinderhand, als er das Messer hineinstieß. Wahrscheinlicher war, dass die Wölfe das Fleisch verschlungen und Pumas und Füchse mit den Knochen gespielt und sie verstreut hatten. Die Sonne hatte den blutgetränkten Boden getrocknet und der Wind die dunkel verfärbte Erde hochgewirbelt und weggefegt. Von dem Mann blieb nur übrig, was Geiger mitnahm, äußerlich und innerlich - die wahnsinnigen Rituale, den eleganten Schaltkreis der Narben, die Bruderschaft des Schmerzes, die letzte Offenbarung von bleichen, blutenden Lippen: Die Welt weiß nichts von dir. Das ist mein Geschenk an dich. Du bist niemand.
Der Truck stand vor ihm. Auf dem Vordersitz hatte die junge Frau zwischen den beiden Männern die Hände vors Gesicht geschlagen. Der gequälte Schrei der Reifen erstarb, als der funkelnde silbrige Kühler auf Geigers vorgestreckte Hände traf - und stoppte. Hätte es Zeugen gegeben, hätten sie vielleicht geglaubt, er wäre eine Art Superheld, der heranrasende Fahrzeuge mit bloßen Händen zum Halten brachte.
Die Tür flog auf, und der Fahrer sprang heraus. Er sah aus, als wäre er ein paar harte Jahre über zwanzig, hielt eine Bierflasche in der Hand und trug ein Sweatshirt mit der Aufschrift: STAR SPANGLED BANGER! in roten, blauen und weißen Buchstaben. Mit der Hand fuhr er sich über die Haarstoppeln, dann spreizte er die Arme wie ein Regenmacher, der den Himmel anruft.
»Scheiße, Mann! Was machst du denn für 'ne Scheiße, hä?«
Geiger straffte den Rücken. »Sie haben eine rote Ampel überfahren«, sagte er.
Etwas an Geigers weicher, monotoner Stimme brachte den Mann zum Grinsen.
»Rote Ampel? Scheiße, wir sind hier in Brooklyn.«
»Sie sollten vorsichtiger sein. Sie haben eine Dummheit begangen. «
Der Mann grinste weiter und sah zu den anderen hin. »Er sagt, ich bin doof.«
Der andere Mann im Truck lachte auf und warf durch die offene Tür mit einer leeren Bierdose nach seinem Freund. »Da hat er recht, du blödes Arschloch!«
Der Fahrer wandte sich wieder zu Geiger und hob die Flasche. »Wegen dir hab ich mein Bier verschüttet, Mann. Sie war fast voll - mein letztes. So 'ne Scheiße!«
Seit seiner Rückkehr hatte Geiger direkte Kontakte auf ein Minimum beschränkt, doch das Gerede des Mannes befeuerte seine Sensoren, die hinter der Oberfläche aus Wörtern und Tönen nach Absichten suchten. Irgendwo beklagte eine Feuerwehrsirene eine neue Tragödie. Geiger nahm seine Ohrstöpsel heraus.
»Sie sollten wieder in den Wagen steigen.«
»Komm schon, Dougie«, sagte die Frau. »Fahren wir weiter.«
»Gleich.« Der Fahrer sah Geiger genauer an. »Du bist nicht von hier - oder? Wir, äh ... Wir fahren rum und, na, wir haben die Dinge im Auge ... und ich glaube, dich hab ich noch nie gesehen.« Er neigte den Kopf wie ein Dobermann, der Hackfleisch wittert. »He, bist du ein Mussie? Weil ... Du sieht irgendwie aus wie einer.«
Geiger spürte den Puls in seinen Schläfen pochen wie das Ticken einer Uhr. »Ich weiß nicht, was ein Mussie ist.«
»Klar weißt du das. Du weißt doch ... Mussie. Kopftuch und so. Moscheenratte.« Der Mann zuckte mit den Schultern. »'n Mussie.« Er sah die beiden anderen an. »Er sieht irgendwie so aus, oder?«
»Find ich auch«, sagte der Mann auf dem Beifahrersitz. »Irgendwie schon.«
»Ich bin kein Muslim«, erwiderte Geiger, »also können Sie weiterfahren.«
»Eine Sekunde.« Der Mann kam plumpvertraulich über den Asphalt schlurfend näher. Geiger begann, sich mit den Fingern gegen die Schenkel zu trommeln. Der Atem strömte heiß durch seine Nasenlöcher. Der Fahrer blieb zwei Handbreiten vor ihm stehen und hielt ihm die Flasche hin. »Dann trink was, ja? Nur damit keiner sauer ist. Ich meine, Mussies dürfen keinen Alkohol trinken - aber du bist kein Mussie, also darfst du.«
»Ich trinke keinen Alkohol.«
»Na komm schon ... Nicht mal 'n Schluck Bud?« Sein Grinsen wirkte aufgesetzt, als sei er nicht mit dem Herzen dabei. Sein Kumpel streckte den Kopf aus dem Beifahrerfenster.
»Können wir jetzt endlich weiter, Dougie, oder was?«, fragte er.
Geiger spürte die Erinnerung an Hunderte von Schicksalen, die er in den Händen gehalten hatte - der Angstschweiß auf der Haut; Muskeln, die sich erschrocken anspannten; Willen, die unter seiner Berührung zerbrachen. Sein Erbe, sein Können - die Erzeugung von Schmerz ... Der Aufbau von Leid ... Die Entwindung der Wahrheit ...
»Douglas«, sagte er, »steig in deinen Wagen und fahr weiter.«
Der allerletzte Anschein von Freundschaftlichkeit verschwand aus dem Gesicht des Mannes. »Na, wie wär's denn, wenn du dich auf dein dreckiges Kamel setzt« - er pflanzte seinen Zeigefinger auf Geigers Brust - »und ...«
Die Bewegung war so schnell, dass der Mann nicht einmal zu einem weiteren Laut kam. Geiger griff ihn beim Kragen und zog ihn zu sich heran, während er mit der anderen Hand ein Handgelenk packte, den Mann herumriss und ihm den Arm auf den Rücken bog. Die Flasche zerschellte vor ihren Füßen.
Geiger legte Dougie den rechten Arm um den Hals, und sie standen aneinandergepresst da, Brust an Rücken. Jedes Mal, wenn der Mann sich zu bewegen versuchte, zog Geiger den Arm etwas höher - bis Dougie innehielt.
Die junge Frau sprang auf die Straße. Sie trug eine taubenblaue Version des Sweatshirts, das der Fahrer anhatte. »Dougie!«
Der Fahrer wollte etwas sagen, doch Geiger drückte ihm die Kehle fester zu und brachte ihn so zum Schweigen. Dann flüsterte er dem Mann sehr leise ins Ohr: »Sag nichts. Beweg dich nicht. Entspann dich.« Die Worte hatten eine gewisse Leichtigkeit und bargen ein beinahe väterliches Versprechen: Keine Angst. Du hast nichts zu befürchten.
Der Mann auf dem Beifahrersitz stieg aus. Nervös rieb er eine Faust in der Handfläche.
»Lass ihn los!«, rief die Frau, griff zum Vordersitz und richtete sich mit einem Baseballschläger aus Aluminium in der Hand auf. An einigen Stellen war die grüne Lackierung abgeplatzt. »Sofort, du Arsch!«
Der Mann, den Geiger gepackt hielt, lachte rau auf. »Darf ich dir meine Freundin vorstellen, Abdul?«
Geiger musterte sie - die Geradheit ihres Rückgrats, die Art, wie ihre Finger eine Bewegung auf dem Griffstück des Schlägers ständig wiederholte. Sie wusste, wie er sich anfühlte. Sie hatte ihn schon benutzt.
Die Frau warf ihrem Freund einen Blick zu. »Bringen wir's hinter uns, Jamie.« Er nickte, und die beiden bewegten sich vorwärts. Fünf Schritte waren es höchstens.
Geiger beugte sich zum Ohr des Fahrers vor. »Douglas ... eine Planänderung.«
»Jetzt lässte mich laufen - richtig, Arschloch?«
Geiger verschob den Unterarm, krümmte die Finger steif und grub sie über dem Schlüsselbein in den Hals des Mannes. Dougies Gehirn erhielt augenblicklich eine Nachricht vom Brachialplexus - eine Nachricht über einen plötzlichen, massiven Schock des Nervensystems. Er verlor das Bewusstsein und erschlaffte wie eine Flickenpuppe. Geigers Unterarm bewahrte ihn vor dem Sturz. Die anderen blieben mit einem synchronisierten Zusammenzucken stehen, als wären sie in ein unsichtbares Kraftfeld gelaufen.
»Meine Fresse!«, entfuhr es dem anderen Mann.
Die Freundin hob den Baseballschläger. »Du Drecksau! Was hast du ihm angetan?«
»Douglas ist bewusstlos.« Er spürte den geschmeidigen Marsch des Blutes, sah den dunkelsten Teil seiner selbst, wie er alles beobachtete. Der Inquisitor nickte ihm zu. Schmerz lässt sich auf zahlreiche Arten anwenden. »Sie müssen beide wieder einsteigen. « Es gibt Druck, stumpfe Gewalt, Anwendung von starker Hitze und Kälte, Bearbeitung der Gelenke ... »Tun Sie, was ich Ihnen sage.«
Die Frau legte den Schläger über ihre Schulter. Verwirrung und Staunen zupften an einer Augenbraue.
»Wer zum Teufel bist du?«
Geiger analysierte ihr Timbre und ihre Kadenz und entdeckte ebenso viel Angst wie Wut, was eine gute Sache war.
»Legen Sie den Schläger weg, steigen Sie ein - und schließen Sie die Türen. Wenn ich fort bin, geben Sie Douglas ein paar Klapse auf die Wangen und bewegen seinen Kopf hin und her. Dann wacht er auf.«
Der zweite Mann schüttelte den Kopf wie ein Gaffer an einer Unfallstelle.
»Haben Sie beide gehört, was ich sagte?« Geigers Stimme glich der eines geduldigen Lehrers in einem Klassenzimmer voller Rabauken, und seine Schüler blickten ihn mit einem Ausdruck an, der dem Grauen recht nahekam.
»Scheißkerl«, fauchte die Frau und warf den Schläger hin. Der zweite Mann nahm es dankbar als Stichwort, und sie gingen zum Wagen, stiegen ein und knallten die Türen zu.
Geiger zog Dougie vom Truck weg und sah ihnen zu, wie sie ihn beobachteten. Er ließ den Fahrer auf den Gehsteig sinken und lehnte ihn an einen Laternenpfahl. Er roch öligen Rauch in der Luft, der immer dichter wurde. Eine zweite Feuerwehrsirene antwortete der ersten wie ein wildes Tier, das sich paaren will. Irgendwo in der Nähe stand etwas in Flammen.
Geiger steckte sich die Ohrhörerstöpsel wieder ein und setzte seinen Lauf fort. Er nahm jedes Mal einen anderen Weg, und er hatte noch eine halbe Stunde, ehe er ankam. Dylans Sandpapierstimme klang ihm in den Ohren. »Something is happening here and you don't know what it is - do you, Mister Jones?«
2
In diesem von Staus geprägten, wild zusammengeflickten, lärmenden Teil der Stadt hätte das Krachen, das Harry Boddicker aus seinem Dösen weckte, von allem Möglichen stammen können - der Fehlzündung eines Automotors oder einem Schuss -, doch er dachte sofort an Feuerwerk, weil der Traum, in dem er gefangen gewesen war, sich wie schon so oft um den 4.Juli gedreht hatte. Er war in dem Campingstuhl eingeschlafen, der auf dem Fluchtbalkon vor seiner Wohnung im vierten Stock - ohne Aufzug - auf der Seite zur Henry Street in Chinatown stand, dem Posten, von dem aus er nunmehr das Leben auf dem Planeten Erde beobachtete. Er glich einer wasserspeienden Simsfigur, die auf den wimmelnden, freudvollen Wahnsinn hinunterstarrte.
Chinatown hatte er aus zwei Gründen zu seiner neuen Heimat gemacht: Der Trubel auf den Straßen ließ ihn hoffen, dass er in den seltenen Fällen, in denen er das Haus verließ, gute Chancen hatte, anonym zu bleiben, und sein Lieblings-DimSum- Restaurant war nur einen Block weit entfernt.
Dennoch, die Welt war zu klein geworden - so klein, dass sein Untertauchen als wenig mehr erschien als ein vergeblicher Aufschub des Unabwendbaren. Sie würden ihn finden. Sie waren andere - Hall, Mitch und Ray waren tot -, aber sie beherrschten ihren Job alle ausgezeichnet, und eines Tages würde ihm jemand auf die Schulter klopfen oder ihm einen Gummiknüppel über den Schädel ziehen, weil sie, wie Geiger gesagt hatte, niemals aufgaben. Und Geiger war einen Tag, nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, tot gewesen.
Neun Monate lang durch den Verlust Geigers, seines Partners und einzigen Freundes, und Lilys, seiner Schwester, geschliffen, wies Harrys Trauer eine scharfe, dünne Kante auf. Sie glich einer Scherbe, die in ihm saß und sich bei jeder Bewegung tiefer einschnitt - schon das Atmen genügte. Sein Schlaf schenkte ihm keine Erholung. Solange er wach war, konnte er die Bilder wegschieben, wenn sie ihm vor die Augen sprangen. Aber in seinen Träumen war er hilflos und konnte nicht fliehen, wenn die Nacht des 4. Juli sich immer wieder abspielte.
Der blaugraue Himmel, punktiert vom Feuerwerk ... Geiger, der schwer verletzt und blutüberströmt am Ende des Bootsstegs stand und zusah, wie das Ruderboot mit Hall und Ezra auf den Hudson River hinaustrieb ... Dann tauchte Lily aus der Tiefe auf, hielt sich am Dollbord des Bootes fest und brachte es zum Kentern ... Alle versanken im Wasser ... und Geiger sprang hinein, während Harry hilflos, nutzlos, den Steg entlanghumpelte und die Vereinigung von Chaos und Schicksal mit ansehen musste ... Der Kampf rührte das Wasser auf - dann kam eine keuchende Seele an die Oberfläche und schwamm zum Ufer. Der Junge. Ezra. Mit der Sporttasche voller Foltervideos, die er umklammerte, als wolle er sie nie wieder loslassen ...
Ohne Geiger, der Harrys Orbit stabilisierte, ohne die Arbeit und ohne Grund, sich seiner Detailverliebtheit zu ergeben, verrann die Zeit gedankenlos. Das machte ihn verwundbar für die Nadelstiche der Erinnerung, und seine verdrängte Vergangenheit hatte ihre Chance genutzt, ihr Heer mobilisiert und die Gegenwart niedergerungen. Nun verbrachte Harry einen großen Teil seines Lebens in der Gesellschaft von Gespenstern, einer Gemeinde der Melancholie - mit jenen, die sich für das Weggehen entschieden hatten, und jenen, die in dieser Frage nicht hatten mitreden können. Sie sahen ihn an und stellten unbeantwortbare Fragen.
Drinnen summte die Klingel. Harry beugte sich über das Gelände und blickte nach unten. Der Lieferbote stand vor der Tür. Harry erhob sich ächzend und stieg durch das Fenster ins Wohnzimmer, ging zur Wohnungstür und drückte die Taste der Gegensprechanlage.
»Sind Sie das, Cheng?«
»Ja, Mr.Jones, Sir.«
Er drückte auf den Knopf. Er war zu dem Schluss gekommen, dass Chaos billig war. Die Götter lagerten es im Überfluss und schleuderten es bei jeder Gelegenheit auf die Erde. Er lebte von dem Bargeld in seinem Safe bei der Citibank, war von Pepcids abhängig, kämpfte gegen einen Rückfall in seine Trunksucht aus der Zeit, bevor er Geiger kennengelernt hatte, und seit dem Massaker am Unabhängigkeitstag war er nicht mehr in seiner geliebten Zuflucht gewesen, seinem Apartment in Brooklyn Heights. Besonders weit hergeholt erschien es nicht, dass es in der Datenbank irgendeines Obermackers, der Eis statt Blut in den Adern hatte und bei der CIA oder NSA oder einem anderen tödlichen Dreibuchstabenkader arbeitete, eine Akte mit Harrys Namen und Adresse gab. Er konnte die saftigen Bäume vor sich sehen, die seine alte Straße säumten und ihre dichten Schatten warfen, und er stellte sich sofort vor, wie sich jemand unter ihnen verbarg, auf sein Fenster im ersten Stock starrte und auf seine Rückkehr wartete.
Er sehnte sich nach Gesellschaft. Zu Anfang hatte er überlegt, sich Arbeit zu suchen, sich ins Fadenkreuz des öffentlichen Auges zu begeben, nur um ein wenig Zeit mit anderen Menschen verbringen zu können, aber dann hatte er sich das Vorstellungsgespräch ausgemalt, in dem er jemandem gegenübersaß, der seinen Lebenslauf durchging.
»Sie haben einen B. A. vom CCNY, 1989 - überragende Programmierkenntnisse -; von 1991 bis 1997 haben Sie als Reporter für die New York Times gearbeitet, dann von 1997 bis 2001 in der Abteilung für Todesanzeigen. Sehr beeindruckend, Mr.Jones. Sind Sie seither beschäftigt gewesen?« Dann könnte Harry nur antworten: »Nun, durchaus. Ich war Partner in einem sehr erfolgreichen Start-up. IR.«
»IR? Dieses Geschäftsfeld ist mir unbekannt.«
»Information Retrieval. Informationsabruf. Unser Anfangskapital hatten wir von Carmine Delanotte, einem Mafiaboss. Ich war der Geschäftsführer für den größten Folterexperten der Welt. Also was ist ... krieg ich den Job jetzt?«
Harry kratzte sich am Bart - er hatte ihn zur Tarnung wachsen lassen, aber er hasste es, wie er juckte - und blickte sich mürrisch im Zimmer um: die krummen Wände, der Ost-West-Riss in der Decke, der mager gepolsterte Cordsessel, der Klapptisch mit seinem MacBook, der zerbeulte Minikühlschrank von Sears und der fleckige Zweiplattenkocher unbekannter Herkunft.
»Beschissen weit weg von Brooklyn Heights, Harry.«
Selbstgespräche waren noch so eine neue Gewohnheit. Er vermisste es, mit jemandem zu sprechen, denn gehört zu werden bedeutete, bekannt zu sein. Vor allem aber vermisste er Geiger; ihre Frühstücke im Diner zwei bis drei Mal die Woche, ihre gemeinsame obsessive Detailversessenheit, die unirdische Ruhe dieses Mannes, seine Undurchschaubarkeit bis zum Ende. Geiger war jemand, der sich genial darauf verstand, durch Folter Wahrheiten herauszubekommen, der aber zugleich sein Leben gab, um ein Kind zu retten, das er kaum kannte.
Elf Jahre.
Was sie getan hatten, ließ ihn nie los. Die Liste derjenigen, die gelitten hatten, war lang. Dass die meisten von ihnen einem Katalog der sieben Todsünden hätten entstiegen sein können und dass Geiger nie jemanden umgebracht hatte - diese Tatsachen waren nur ein schwacher Balsam auf Harrys Beschämung.
Dennoch: Hätte ihn jemand gefragt, hätte er nicht bestritten, dass er das Ritual ihrer Arbeit schmerzlich vermisste. Der Torhüter für jene zu sein, die nach Geigers Gaben verlangten. Seine eigenen einzigartigen Fertigkeiten zu nutzen, um die Dossiers über die potenziellen Klienten und Zielpersonen vorzubereiten; die dunklen Gassen des Internets auf der Suche nach Lebensfetzen zu durchstreifen und sie dann zusammenzuflicken, sodass Geiger sich ein detailliertes Bild machen konnte, mit wem er es zu tun hatte, ehe er einen Job annahm; auszuhandeln, welcher Preis sich an einem gegebenen Tag bei dem Klienten für die Wahrheit erzielen ließ; Protokolle zu den Sitzungs- DVDs zu erstellen und dabei so oft wie möglich wegzublicken, während er tippte; und seine fünfundzwanzig Prozent zu kassieren, steuerfrei ...
Es klopfte. Harry schloss die drei Schlösser auf und öffnete die Tür; die extralange Türkette, die er angebracht hatte, entriegelte er nicht. Die zusätzlichen fünf Zentimeter schufen einen Spalt, der breit genug war, dass eine Tüte mit Dim Sum hindurchpasste. Er blieb hinter der Tür, sodass man ihn nicht sehen konnte.
»Cheng?«
»Ich bin es, Mr.Jones, Sir.« Eine braune Papiertüte wurde durch die Öffnung gereicht. »Wie immer, Mr. Jones.«
Harry nahm die Tüte an, fischte einen Fünfer und einen Zehner aus seiner Tasche und hielt sie unter die Kette, und eine Hand nahm die Scheine.
»Danke sehr, Mr.Jones, Sir.«
»Gern geschehen. Also, äh ... wie geht das Geschäft, Cheng?«
»Immer liefern, Mr. Jones. Ganze Zeit. Nie Pause. Geschäft gut.«
»Das ist gut. Gut zu hören.« Harry seufzte. »Wie geht es Mr. Han?«
»Er gut.«
»Wird das Restaurant -«
»Muss jetzt gehen, Mr.Jones. Eilig. Sehr, sehr eilig. Bye.«
Harry hörte Schritte, die langsam die Treppe hinunterstiegen, und grinste. Cheng hatte es nicht eilig. Er wollte nur nicht im Flur stehen und sich mit dem schrägen Vogel unterhalten, der nie die Sperrkette öffnete. Er verriegelte die Schlösser, setzte sich an den Tisch und nahm den Styroporbehälter und die Plastikgabel aus der Tüte. Das abendliche Ritual - die Augen schließen, den Deckel heben, den Duft seines Cha siu baau einsaugen. Über gewissen Vergnügungen stand er keineswegs, so wenige es auch sein mochten.
Copyright © 2013 by Bastei Lübbe AG, Köln.
... weniger
Autoren-Porträt von Mark A. Smith
Mark Allen Smith has worked for many years in both film and television as a screenwriter, investigative news producer, and documentary filmmaker. He lives in New York City.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mark A. Smith
- 2013, 1. Aufl., 448 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Schmidt, Dietmar
- Übersetzer: Dietmar Schmidt
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3785760868
- ISBN-13: 9783785760864
- Erscheinungsdatum: 22.11.2013
Rezension zu „Der Experte / Geiger Bd.2 “
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