Der falsche Messias
Autor Nick Page auf den Lebensspuren des Nazareners: Harmloser Wanderprediger oder gefährlicher Aufrührer? Aufsässiges Handwerkerskind oder Sohn Gottes?
Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Er hatte den falschen...
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Produktinformationen zu „Der falsche Messias “
Autor Nick Page auf den Lebensspuren des Nazareners: Harmloser Wanderprediger oder gefährlicher Aufrührer? Aufsässiges Handwerkerskind oder Sohn Gottes?
Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Er hatte den falschen Beruf und die falschen Freunde. Und er trat für Überzeugungen ein, die alles andere als populär waren. Wie konnte jener Mann aus Galiläa da der so lange erwartete Messias sein? Schon wenige Jahre nach seinem gewaltsamen Tod wurden seine Anhänger Christen genannt, der Beginn einer zweitausendjährigen Weltreligion. Nick Page schiebt Mythen und Legenden beiseite und enthüllt die "wahre Geschichte des Jesus von Nazareth": von der Geburt in Bethlehem bis zum Tode am Kreuz.
Klappentext zu „Der falsche Messias “
Er wurde am falschen Ort geboren, hatte den falschen Beruf und sprach den falschen Dialekt. Er umgab sich mit den falschen Menschen, setzte sich für die falschen Dinge ein und hatte die falschen Anhänger. Alles war falsch an diesem Mann aus Galiläa wie konnte er dann der so lange erwartete Messias sein? In den Augen der Mächtigen war er ein gefährlicher Aufrührer, für die scheinheiligen Pharisäer war er auf eine skandalöse Weise unorthodox, und selbst seine Familie glaubte, er sei verrückt. Doch seine Anhänger, die schon wenige Jahre nach seinem Tod Christen genannt wurden, waren davon überzeugt, dass er der Erlöser ist, der Gesalbte Gottes. Nick Page versucht herauszufinden, worauf diese Überzeugung gründete. Er schiebt jahrhundertealte Traditionen und Mythen beiseite und zeichnet das lebendige Porträt des Mannes, der nach seinem Tod zu einer der bedeutendsten Gestalten wurde, die die Welt je gesehen hat: Jesus von Nazareth.
Lese-Probe zu „Der falsche Messias “
Der falsche Messias von Nick Page... mehr
Einleitung
Der richtige Messias Auf meinem Schreibtisch steht ein Spielzeug-Jesus. Er ist aus Plastik, etwa 13 Zentimeter groß und besitzt »bewegliche Arme, die er gen Himmel erheben kann, und Räder im Fußteil, mit denen er sanft dahingleitet«. Ich habe ihn aus zweierlei Gründen dort hingestellt: Erstens bieten seine beweglichen Arme eine ausgezeichnete Ablage für meinen Bleistift, und zweitens erinnert er mich beständig daran, was ich mir vorgenommen habe. Das Bild, das vielen von uns in den Sinn kommt, wenn sie an Jesus denken, ist ein bisschen seltsam, ein bisschen künstlich. Wir haben uns an den Jesus aus dem Religionsunterricht gewöhnt, an einen sanftmütigen, freundlichen Jesus, der im Nachthemd durch Galiläa wandelte und nett zu den Menschen war. Viele Elemente seiner Geschichte - Weihnachten, seine Wunder, sein Tod und seine Wiederauferstehung - sind Teil der Ikonographie unserer Kultur geworden. Wir tragen Kruzifi xe um den Hals. Die Taufe unserer Kinder ist eine Nachahmung (wenngleich keine besonders gute) dessen, was Jesu Mentor Johannes der Täufer getan hat. Einzelne Worte der Geschichte bevölkern unsere Alltagssprache: Fußballfans schreien »Judas!«, wenn ein Spieler zu einer gegnerischen Mannschaft wechselt (in der Regel für weit mehr als 30 Silberlinge). Politiker, die bei den nächsten Wahlen mit einer Katastrophe rechnen, sagen: »Man wird uns kreuzigen.« Und schließlich ist der Name des Religionsstifters selbst zu einem weitverbreiteten Fluch geworden. Fast 2000 Jahre nach seinem Tod ist Jesus allgegenwärtig. Und doch ist so vieles, was wir für gesichert halten, schlicht und einfach falsch. Der Jesus, der Gemälde und Kirchenfenster ziert, und sogar der Jesus im Fernsehen ist ein weißer, langhaariger, blasser Typ, kein kleiner, dunkelhäutiger Palästinenser aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Die goldenen Kreuze, die sich die Rapstars so gern um den Hals hängen, sind eine bizarre Parodie der zwei grob behauenen, durch regelmäßigen Gebrauch blutbefleckten und rissig gewordenen Balken, an denen Jesus gekreuzigt wurde. Sogar der Name, den wir gebrauchen - Jesus -, ist ein Name, mit dem man ihn zu Lebzeiten nie gerufen hätte. Der echte Jesus war leidenschaftlich, zornig, aufbrausend und bewusst provokativ. Er war weder Aristokrat noch Krieger; er war in seinem Glauben nicht orthodox; er war kein Priester, sondern ein Handwerker »aus dem Norden«. Er war ein Heiler, ein Unruhestifter, ein Aufrührer. Er erzählte Geschichten, die so pointiert waren, dass sie die Menschen zu Gewaltausschreitungen anstifteten. Er hieß die Ausgestoßenen willkommen, berührte die Unberührbaren, bewirkte scheinbar Unmögliches und ermunterte dann jedermann, es ebenfalls zu versuchen. »Für wen halten mich die Leute eigentlich?«, fragte Jesus einmal seine Jünger (Mk 8,27). Gute Frage. Lassen wir den Leser entscheiden! Ein paar Dinge, bevor wir beginnen. Dieses Buch ist die Fortsetzung - oder in gewissem Sinne der Vorgänger - meines Werkes Die letzten Tage Jesu, einer sorgfältigen historischen Analyse der letzten Woche in Jesu Leben. Wer also findet, Kapitel 9 sei nicht detailliert genug, dem sei die Lektüre von Die letzten Tage Jesu empfohlen, um die Lücke zu schließen. Darin behaupte ich, das exakte Datum der Kreuzigung sei Freitag, der 3. April 33 n. Chr. 1 Sämtliche Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus an einem Sabbat während des Passahfestes getötet wurde. Da Passah bei Vollmond gefeiert wird, lassen sich mögliche Kandidaten leicht ausmachen. Am Ende bleiben zwei übrig: entweder das Jahr 30 n. Chr. oder das Jahr 33 n. Chr. Ich habe mich für 33 n. Chr. entschieden, da dies vor dem Hintergrund von Pilatus' Situation wesentlich mehr Sinn ergibt. Vor diesem Datum brauchte er im Grunde keinerlei Zugeständnisse an die Juden zu machen; dagegen war er im Jahre 33 politisch verwundbar, wie wir noch sehen werden. Für dieses Datum spricht Lukas' Schilderung, dass Johannes der Täufer seine Arbeit im 15. Jahr der Herrschaft des Tiberius aufgenommen habe. Um Jesu Leben zu erforschen, musste ich eine chronologische Harmonie der Evangelien voraussetzen. Das ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, da die Evangelien keine Geschichtsschreibung im herkömmlichen Sinne darstellen: In erster Linie sind sie Ausdruck des Glaubens und dienen dazu, die Geschichte von Jesus, deren Höhepunkt die Wiederauferstehung ist, zu erzählen, zu erklären und weiterzugeben. Freilich soll das nicht heißen, dass sie keine geschichtlichen Informationen enthielten, doch sind diese eben in der Regel auf unterschiedliche Weise angeordnet. In allen Evangelien werden die Elemente der Geschichte arrangiert: Manchmal sind bestimmte Geschichten und Aussagen thematisch zusammengefasst. Manchmal wird etwas, von dem nicht ganz klar ist, wann es sich zugetragen hat, einfach dort plaziert, wo es am besten passt. Matthäus, Markus und Lukas werden als synoptische Evangelien (von syn = »zusammen« und optisch = »gesehen«) betrachtet. Mit anderen Worten: Sie sehen das Ganze auf ein und dieselbe Weise. Wenn ich also von den synoptischen Evangelien spreche, meine ich die Berichte dieser drei Evangelisten. Johannes hingegen weicht etwas ab. Er sieht Jesu Werk aus der Perspektive Jerusalems. Diese vier Evangelien zu einem stimmigen Bericht zu kombinieren ist daher nicht ganz einfach. Es gibt Schlüsselszenen und Angelpunkte, in denen alle vier Evangelien inhaltlich übereinstimmen. Daneben findet sich eine Fülle historischer Informationen: Daten, Orte, Personen, Ereignisse. Es ist jedoch unvermeidbar, auch Unterstellungen und Kompromisse zuzulassen. Ich will keinesfalls behaupten, ich hätte sämtliche Probleme gelöst, aber ich habe es zumindest versucht, weil ich der Auffassung bin, dass sich die synoptische Schilderung von Jesu Leben und Johannes' Version nicht grundlegend widersprechen. Es gibt Unterschiede in den einzelnen Berichten, aber im Großen und Ganzen halte ich die Evangelien für historisch zuverlässige Quellen - zumindest ebenso zuverlässig wie all die anderen Quellen, die oft angeführt werden, um sie zu widerlegen. Mit diesem Buch versuche ich aufzuzeigen, dass sie ein stimmiges, glaubwürdiges Bild des Jesus von Nazareth zeichnen. Zuverlässig bedeutet nicht dasselbe wie objektiv. Objektivität ist ein in der Geschichtsschreibung relativ neuer Gedanke, der obendrein illusorisch ist. Die Evangelien sind nicht wertneutral. Sie wurden verfasst, um Jesus als Messias darzustellen. Doch gerade das macht sie interessant! Wenn man ein wertneutrales Buch lesen will, muss man zum Telefonbuch greifen. In jedem Fall sind die Evangelien nicht unsere einzigen Quellen, um das Leben Jesu zu erforschen. Es gibt darüber hinaus die Erkenntnisse der Archäologie, frühe jüdische Schriften wie die Mischna und natürlich die Werke von Josephus, einem berühmten Historiker aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Wenn es um Jesus als Messias geht, ist Josephus kein schlechter Ausgangspunkt.
Jesus-den-sie-den-Messias-nennen Flavius Josephus war ein Soldat, der während des großen jüdischen Aufstandes zwischen 66 und 70 n. Chr. zunächst gegen Rom kämpfte, dann die Seiten wechselte und sich schließlich sogar in Rom niederließ. Er wurde um das Jahr 37 / 38 n. Chr. geboren und erreichte ein hohes Alter. Auf jeden Fall starb er erst nach dem Jahre 100 n. Chr. Sein jüdischer Name ist Josef ben Matthias, doch ist er besser bekannt als »Flavius«; diesen Namen trug er zu Ehren der flavischen Kaiser Vespasian, Titus und Domitian, seinen Beschützern und Gönnern. Es ist etwa so, als würde man Samuel Pepys »Karl Samuel« oder Shakespeare »Jakob William« nennen. Josephus' erstes Buch war Die Geschichte des Jüdischen Krieges, geschrieben vermutlich im Jahre 79 n. Chr., ein Bericht über den Aufstand aus dem Blickwinkel von jemandem, der ausstieg, solange es noch möglich war. (Josephus wurde zunächst gefangen genommen, doch als er prophezeite, dass der römische General, der ihn gefangen nahm - Vespasianus - später Kaiser werde, ließ man ihn am Leben und setzte ihn als Vermittler ein. Als Vespasianus dann tatsächlich Kaiser wurde, hatte es Josephus geschafft.) Etwa 20 Jahre später schrieb er Jüdische Altertümer, eine zwanzigbändige Geschichte des jüdischen Volkes. In diesem Werk finden sich zwei signifikante Hinweise auf Jesus. Der erste steht in Band 18, wo Josephus schreibt: Etwa zu dieser Zeit gab es einen Mann namens Jesus, einen weisen Mann [wenn es denn recht ist, ihn einen Mann zu nennen], der Wunder vollbrachte, einen Lehrer von Menschen, welche die Wahrheit mit Freuden erfahren. Er scharte sowohl viele Juden als auch viele Heiden um sich. [Er war der Christus ...] und als ihn Pilatus auf Drängen der bedeutendsten Männer unter uns zum Tod am Kreuze verurteilte, verließen ihn diejenigen, die ihn liebten, auch dann nicht [denn ihnen erschien er am dritten Tage lebendig, wie die göttlichen Propheten dies und zehntausend andere Wunderdinge über ihn vorhergesagt hatten]. Und der Stamm der Christen, die nach ihm benannt sind, besteht bis zum heutigen Tage.
2
Über diese Passage wird heftig diskutiert. Offensichtlich hat sich ein späterer christlicher Geschichtsschreiber des Textes angenommen und ein paar Elemente hinzugefügt - die ich hier in eckige Klammern gesetzt habe. Doch wenn man sie herausnimmt, erhält man einen vollkommen stimmigen Bericht über Jesus aus der Sicht eines Mannes, der nicht zu seinem Gefolge gehörte. Dieser bestätigt die Grundzüge der Geschichte, wie wir sie aus frühchristlichen Glaubensbekenntnissen und den Evangelien kennen: Jesus war ein weiser, wundertätiger Mann, der Juden wie Nichtjuden gleichermaßen um sich scharte und auf Drängen der jüdischen Aristokratie von Pilatus hingerichtet wurde. Trotz seines Todes am Kreuz halten seine Anhänger bis heute zu ihm.
3
Warum aber hielten sie zu ihm? Nun, das erklärt eine zweite Stelle, wo Josephus auf Jesus Bezug nimmt. In Band 20 beschreibt er den Tod eines relativ unbedeutenden Religionsvertreters im Vorfeld der Revolution. Während eines Machtvakuums in der Stadt lässt der Hohepriester Ananus einen Mann namens Jakobus hinrichten: Da er eine derartige Person [z. B. ein Sadduzäer] war, dachte Ananus, ihm biete sich nun eine günstige Gelegenheit, denn Festus war tot und Albinius immer noch unterwegs. Also berief er eine Versammlung von Richtern ein, auf der er den Bruder von Jesus-den-sie-den-Messias-nennen, Jakobus mit Namen, und einige andere vorführen ließ. Er hatte ihnen vorgeworfen, das Gesetz übertreten zu haben, und übergab sie der Steinigung.
4
Jakobus ist eine derart unbedeutende Figur, dass er über seinen Bruder identifi ziert werden muss. Und das ist der Punkt: Sein Bruder war eben keine unbedeutende Figur. Zu Josephus' Zeit glaubten viele, Jakobus' Bruder Jesus sei der »sogenannte Messias«. Das Wort »Messias« stammt vom hebräischen masiah (2. Sam 22,51; 23,1), das für jemanden steht, der geweiht und mit Öl gesalbt wird. Die griechische Variante, Christos, kommt vom griechischen Verb chriein, das »weihen « bedeutet. Daher haben also die Christen ihren Namen. Josephus selbst ist von der Idee eines Messias nicht überzeugt. Er distanziert sich davon und bezeichnet den Gedanken an einer Stelle als »mehrdeutiges Orakel ..., das sich in ihren heiligen Schriften fi ndet und besagt, dass einer der Ihren eines Tages Beherrscher der Welt werde«. 5 Als sich das Christentum immer weiter ausbreitete, war Jesus für Josephus also vor allem deshalb von Bedeutung, weil ihn seine Anhänger für den Messias hielten. Freilich glaubte er, dass sie sich irrten. »Sehet! Hier ist der Messias!« Wenn Jesus der falsche Messias war, stellt sich die Frage: »Wie sah dann der richtige Messias aus? Welche Art von Messias erwarteten sie denn?« Das hängt davon ab, wer mit »sie« gemeint ist, da es im 1. Jahrhundert n. Chr. kein monolithisches, orthodoxes Judentum gab. Vielmehr existierten mehrere verschiedene »Judentümer«. Josephus zum Beispiel erwähnt vier Richtungen: die Sadduzäer, die Pharisäer, die Essener und eine, die er vage als »vierte Art« beschreibt. Doch selbst innerhalb dieser Gruppierungen gibt es Unterschiede. So existierten beispielsweise verschiedene »Schulen« pharisäischen Denkens. (Im Neuen Testament finden sich sowohl die Extremisten als auch jene, die man als gemäßigte Pharisäer bezeichnen könnte. Jemand 16 wie Nikodemus jedenfalls, dem Jesus in Jerusalem begegnete, war sicherlich nicht dieselbe Art Pharisäer wie jene, die Jesus aufhalten oder sogar umbringen lassen wollten.) Darüber hinaus schreibt Josephus für ein römisches Publikum und vereinfacht das Ganze ein wenig. Im gesamten römischen Reich gab es Juden, deren Gedanken und Theologien teilweise voneinander abwichen. Dazu kamen noch alle möglichen apokalyptischen Sekten. Ganz zu schweigen von den vielen Juden, die, konfrontiert mit den oben aufgeführten Kategorien, das Kästchen »keine der genannten« angekreuzt hätten. Freilich gab es auch eine beachtliche Schnittmenge. Ganz egal, welcher Art von Judentum man angehörte, die Thora bildete die eherne Grundlage (auch als Gesetz bezeichnet; die ersten fünf Bücher der Bibel - die Bücher Mose, der Pentateuch usw.). Es gab Gruppen, die sagten, das Judentum sei mehr als die Thora, aber niemand behauptete, das Judentum sei weniger als die Thora. Daneben teilte man einen monotheistischen Gottesbegriff sowie andere gemeinsame Vorstellungen, etwa von der Einzigartigkeit Israels, wenn diese auch mitunter unterschiedlich ausgelegt wurden. Es gab außerdem bestimmte Praktiken, die allen Gruppierungen gemein waren, etwa die Einhaltung des Sabbats, Ernährungsvorschriften und den jüdischen Feiertagskalender. Ausnahmslos wurden alle männlichen Juden beschnitten, selbst diejenigen, die erst später in ihrem Leben zum Judentum konvertierten. Abgesehen davon existierte jedoch eine breite Palette religiöser Ansichten und Glaubensrichtungen. Manche Juden glaubten an ein Leben nach dem Tod, andere nicht; manche sagten, alle Abbildungen belebter Dinge seien profan, andere hatten Bilder von Pfl anzen und Tieren an der Wand (allerdings nicht von Menschen). Die meisten glaubten an die rituellen Waschungen; doch manche waren der Ansicht, es müsse fl ießendes Wasser sein, während andere sich auch mit stehendem Wasser zufriedengaben. Manche glaubten an mystische Dämonen, an das böse Auge oder an den Zodiac. Es gab viele unterschiedliche Juden und viele verschiedene Judentümer. Die Jünger Jesu und all die anderen Menschen, die ihm zuhörten und folgten, dachten daher auch nicht, dass sie nun »Christen« seien - der Begriff wurde erst etwa 20 Jahre später erfunden. Sie waren der Ansicht, dass sie sich einer neuen Form des Judentums angeschlossen hätten. Zu den Dingen, über die zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen Uneinigkeit herrschte, gehörte das Wesen des Messias. Die Annahme, dass alle Juden auf den Messias warteten, trifft nicht zu. Einige warteten; im römisch besetzten Palästina vielleicht sogar viele. Andernorts hatte der Messias dagegen eine weit geringere Bedeutung. Philo, ein jüdischer Autor und Philosoph im Ägypten des 1. Jahrhunderts n. Chr., erwähnt den Messias überhaupt nicht. Selbst unter jenen, die auf den Messias hofften, hatten einzelne Gruppierungen ganz unterschiedliche Vorstellungen von ihm. So glaubte man beispielsweise in der Gemeinde Qumran, aus der die Schriftrollen vom Toten Meer stammen, dass die messianische Aufgabe von zwei Personen übernommen würde: einem davidsgleichen, königlichen Messias und einem Hohepriester. Andere jüdische Schriften etwa aus derselben Zeit stellen den Messias als Krieger, als geweihten Priester, als König oder gar als Weisen dar. 6 Man sieht das in den Evangelien: Bei Johannes in Kapitel 7 streitet die Menge darüber, ob Jesus der Messias ist. Einige sagen, es sei unmöglich, weil er aus Galiläa stammt, wo doch jeder wisse, dass der Messias aus Bethlehem kommen müsse. Andere halten mit dem Argument dagegen, dass, wenn der Messias komme, niemand wisse, woher er sei (Joh 7,27). Was also erwarteten sie? Wie stellten sie sich den Messias vor? Darüber lässt sich Folgendes sagen: Der Messias war ein Mensch. Er mochte zwar Gottes Werk tun, aber er war nicht Gott. An einigen Stellen im jüdischen Schrifttum verschwimmen die Grenzen ein wenig (etwa in 18 Ps 45,7 oder in Hes 34), doch ging man allgemein davon aus, dass der Messias ein Mensch war. Wenn Petrus zu Jesus sagt, er sei der Christus, sagt er damit nicht, er sei Gott. Diese Auslegung kam erst später. Der Messias war ein König. Was das im Einzelnen bedeutete, war eine Frage der Interpretation, doch Messias bedeutete jedenfalls »König der Juden«. Man nahm an, dass der Messias, der wahre, von Gott gesandte König, die irdischen Dynastien der Hasmonäer oder Herodianer ersetzen würde. Der Messias würde ein neues Zeitalter einläuten. Er wäre die Person, durch die Gott eine neue Ära von Frieden und Wohlstand über die Menschen brächte, eine Rückkehr aus dem Exil, einen neuen Exodus. Der Messias würde den Tempel erneuern. Der Tempel wurde mit David assoziiert, dem ersten großen König. Das Buch von Sacharja, das selbst viele messianische Prophezeiungen enthält, befasst sich auch detailliert mit jenen, die nach dem Exil den Tempel wieder aufbauen. Der Messias würde die Feinde Israels besiegen. In einem von Jesus zitierten messianischen Psalm heißt es: »Gott sprach zu meinem Herrn: ›Setze dich auf den Ehrenplatz an meiner rechten Seite, bis ich dir alle deine Feinde unterworfen habe, bis du deinen Fuß auf ihren Nacken setzt!‹« (Ps 110,1; Lk 20,43). In den Psalmen Salomons, einem etwa zwischen 63 v. Chr. und 70 n. Chr. verfassten jüdischen Text, heißt es, der Messias werde Jerusalem »von den Heiden reinigen«, die »Sünder aus dem Erbe vertreiben«, »die Arroganz der Sünder wie einen tönernen Topf zerschmettern« und sie »mit einem eisernen Stab zertrümmern«. 7 Sieg in der Schlacht war für den Messias unabdingbar. 8 Der Messias musste erfolgreich sein. Ein Messias, der versagte, wäre ein Widerspruch in sich. Ein Messias, der besiegt würde, wäre nicht der Messias, sondern ein Betrüger oder, wie es N. T. Wright formuliert: »Die Kategorie eines besiegten, aber dennoch verehrten Messias ... existierte nicht.« 9 Genau hier müssen wir ansetzen - denn Jesus passt schließlich kaum in eine dieser Kategorien. Er starb als erfolgloser Revolutionsführer. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er war kein König, und als die Menschen versuchten, ihn zum König zu machen, lief er davon. Er zerschmetterte die Feinde Israels nicht, sondern sagte vielmehr, dass man sie lieben und nicht einmal beschimpfen sollte. Nach seinem Tode änderte sich nicht viel, außer dass der Fischer, der ihm gefolgt war, einen Kult ins Leben rief. Es brach kein neues Zeitalter an. Nüchtern betrachtet, war Jesus ein Versager auf der ganzen Linie. (Außer darin, dass er tatsächlich ein Mensch war. Nach christlichem Glauben erreichte er allerdings auch hier nur 50 Prozentpunkte.) In den Augen seiner Gegner hatte Jesus keine der Qualifikationen, über die ein Messias verfügen sollte. Für sie war er ein Weichei, das sich in schlechter Gesellschaft befand, keinen Respekt vor der Tradition hatte und schließlich den ehrlosesten Tod erlitt, der überhaupt in Frage kam. Wie falsch kann ein Messias denn noch sein? Und doch sahen jene, die ihm folgten und denen man etwa 15 Jahre nach seinem Tod den Spitznamen »Christen« verpasste, in Jesus den Messias. Sie glaubten, dass genau derjenige, der nicht ins Schema passte - der Grundstein, den die Baumeister ablehnten - , Christus war: der von Gott geweihte Messias. Sie waren felsenfest überzeugt, dass er der Richtige war. Dieses Buch ist ein Versuch herauszufinden, warum.
Übersetzung: Henning Dedekind und Enrico Heinemann Pattloch
© 2012 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG, München
Einleitung
Der richtige Messias Auf meinem Schreibtisch steht ein Spielzeug-Jesus. Er ist aus Plastik, etwa 13 Zentimeter groß und besitzt »bewegliche Arme, die er gen Himmel erheben kann, und Räder im Fußteil, mit denen er sanft dahingleitet«. Ich habe ihn aus zweierlei Gründen dort hingestellt: Erstens bieten seine beweglichen Arme eine ausgezeichnete Ablage für meinen Bleistift, und zweitens erinnert er mich beständig daran, was ich mir vorgenommen habe. Das Bild, das vielen von uns in den Sinn kommt, wenn sie an Jesus denken, ist ein bisschen seltsam, ein bisschen künstlich. Wir haben uns an den Jesus aus dem Religionsunterricht gewöhnt, an einen sanftmütigen, freundlichen Jesus, der im Nachthemd durch Galiläa wandelte und nett zu den Menschen war. Viele Elemente seiner Geschichte - Weihnachten, seine Wunder, sein Tod und seine Wiederauferstehung - sind Teil der Ikonographie unserer Kultur geworden. Wir tragen Kruzifi xe um den Hals. Die Taufe unserer Kinder ist eine Nachahmung (wenngleich keine besonders gute) dessen, was Jesu Mentor Johannes der Täufer getan hat. Einzelne Worte der Geschichte bevölkern unsere Alltagssprache: Fußballfans schreien »Judas!«, wenn ein Spieler zu einer gegnerischen Mannschaft wechselt (in der Regel für weit mehr als 30 Silberlinge). Politiker, die bei den nächsten Wahlen mit einer Katastrophe rechnen, sagen: »Man wird uns kreuzigen.« Und schließlich ist der Name des Religionsstifters selbst zu einem weitverbreiteten Fluch geworden. Fast 2000 Jahre nach seinem Tod ist Jesus allgegenwärtig. Und doch ist so vieles, was wir für gesichert halten, schlicht und einfach falsch. Der Jesus, der Gemälde und Kirchenfenster ziert, und sogar der Jesus im Fernsehen ist ein weißer, langhaariger, blasser Typ, kein kleiner, dunkelhäutiger Palästinenser aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Die goldenen Kreuze, die sich die Rapstars so gern um den Hals hängen, sind eine bizarre Parodie der zwei grob behauenen, durch regelmäßigen Gebrauch blutbefleckten und rissig gewordenen Balken, an denen Jesus gekreuzigt wurde. Sogar der Name, den wir gebrauchen - Jesus -, ist ein Name, mit dem man ihn zu Lebzeiten nie gerufen hätte. Der echte Jesus war leidenschaftlich, zornig, aufbrausend und bewusst provokativ. Er war weder Aristokrat noch Krieger; er war in seinem Glauben nicht orthodox; er war kein Priester, sondern ein Handwerker »aus dem Norden«. Er war ein Heiler, ein Unruhestifter, ein Aufrührer. Er erzählte Geschichten, die so pointiert waren, dass sie die Menschen zu Gewaltausschreitungen anstifteten. Er hieß die Ausgestoßenen willkommen, berührte die Unberührbaren, bewirkte scheinbar Unmögliches und ermunterte dann jedermann, es ebenfalls zu versuchen. »Für wen halten mich die Leute eigentlich?«, fragte Jesus einmal seine Jünger (Mk 8,27). Gute Frage. Lassen wir den Leser entscheiden! Ein paar Dinge, bevor wir beginnen. Dieses Buch ist die Fortsetzung - oder in gewissem Sinne der Vorgänger - meines Werkes Die letzten Tage Jesu, einer sorgfältigen historischen Analyse der letzten Woche in Jesu Leben. Wer also findet, Kapitel 9 sei nicht detailliert genug, dem sei die Lektüre von Die letzten Tage Jesu empfohlen, um die Lücke zu schließen. Darin behaupte ich, das exakte Datum der Kreuzigung sei Freitag, der 3. April 33 n. Chr. 1 Sämtliche Evangelien stimmen darin überein, dass Jesus an einem Sabbat während des Passahfestes getötet wurde. Da Passah bei Vollmond gefeiert wird, lassen sich mögliche Kandidaten leicht ausmachen. Am Ende bleiben zwei übrig: entweder das Jahr 30 n. Chr. oder das Jahr 33 n. Chr. Ich habe mich für 33 n. Chr. entschieden, da dies vor dem Hintergrund von Pilatus' Situation wesentlich mehr Sinn ergibt. Vor diesem Datum brauchte er im Grunde keinerlei Zugeständnisse an die Juden zu machen; dagegen war er im Jahre 33 politisch verwundbar, wie wir noch sehen werden. Für dieses Datum spricht Lukas' Schilderung, dass Johannes der Täufer seine Arbeit im 15. Jahr der Herrschaft des Tiberius aufgenommen habe. Um Jesu Leben zu erforschen, musste ich eine chronologische Harmonie der Evangelien voraussetzen. Das ist eine äußerst schwierige Angelegenheit, da die Evangelien keine Geschichtsschreibung im herkömmlichen Sinne darstellen: In erster Linie sind sie Ausdruck des Glaubens und dienen dazu, die Geschichte von Jesus, deren Höhepunkt die Wiederauferstehung ist, zu erzählen, zu erklären und weiterzugeben. Freilich soll das nicht heißen, dass sie keine geschichtlichen Informationen enthielten, doch sind diese eben in der Regel auf unterschiedliche Weise angeordnet. In allen Evangelien werden die Elemente der Geschichte arrangiert: Manchmal sind bestimmte Geschichten und Aussagen thematisch zusammengefasst. Manchmal wird etwas, von dem nicht ganz klar ist, wann es sich zugetragen hat, einfach dort plaziert, wo es am besten passt. Matthäus, Markus und Lukas werden als synoptische Evangelien (von syn = »zusammen« und optisch = »gesehen«) betrachtet. Mit anderen Worten: Sie sehen das Ganze auf ein und dieselbe Weise. Wenn ich also von den synoptischen Evangelien spreche, meine ich die Berichte dieser drei Evangelisten. Johannes hingegen weicht etwas ab. Er sieht Jesu Werk aus der Perspektive Jerusalems. Diese vier Evangelien zu einem stimmigen Bericht zu kombinieren ist daher nicht ganz einfach. Es gibt Schlüsselszenen und Angelpunkte, in denen alle vier Evangelien inhaltlich übereinstimmen. Daneben findet sich eine Fülle historischer Informationen: Daten, Orte, Personen, Ereignisse. Es ist jedoch unvermeidbar, auch Unterstellungen und Kompromisse zuzulassen. Ich will keinesfalls behaupten, ich hätte sämtliche Probleme gelöst, aber ich habe es zumindest versucht, weil ich der Auffassung bin, dass sich die synoptische Schilderung von Jesu Leben und Johannes' Version nicht grundlegend widersprechen. Es gibt Unterschiede in den einzelnen Berichten, aber im Großen und Ganzen halte ich die Evangelien für historisch zuverlässige Quellen - zumindest ebenso zuverlässig wie all die anderen Quellen, die oft angeführt werden, um sie zu widerlegen. Mit diesem Buch versuche ich aufzuzeigen, dass sie ein stimmiges, glaubwürdiges Bild des Jesus von Nazareth zeichnen. Zuverlässig bedeutet nicht dasselbe wie objektiv. Objektivität ist ein in der Geschichtsschreibung relativ neuer Gedanke, der obendrein illusorisch ist. Die Evangelien sind nicht wertneutral. Sie wurden verfasst, um Jesus als Messias darzustellen. Doch gerade das macht sie interessant! Wenn man ein wertneutrales Buch lesen will, muss man zum Telefonbuch greifen. In jedem Fall sind die Evangelien nicht unsere einzigen Quellen, um das Leben Jesu zu erforschen. Es gibt darüber hinaus die Erkenntnisse der Archäologie, frühe jüdische Schriften wie die Mischna und natürlich die Werke von Josephus, einem berühmten Historiker aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. Wenn es um Jesus als Messias geht, ist Josephus kein schlechter Ausgangspunkt.
Jesus-den-sie-den-Messias-nennen Flavius Josephus war ein Soldat, der während des großen jüdischen Aufstandes zwischen 66 und 70 n. Chr. zunächst gegen Rom kämpfte, dann die Seiten wechselte und sich schließlich sogar in Rom niederließ. Er wurde um das Jahr 37 / 38 n. Chr. geboren und erreichte ein hohes Alter. Auf jeden Fall starb er erst nach dem Jahre 100 n. Chr. Sein jüdischer Name ist Josef ben Matthias, doch ist er besser bekannt als »Flavius«; diesen Namen trug er zu Ehren der flavischen Kaiser Vespasian, Titus und Domitian, seinen Beschützern und Gönnern. Es ist etwa so, als würde man Samuel Pepys »Karl Samuel« oder Shakespeare »Jakob William« nennen. Josephus' erstes Buch war Die Geschichte des Jüdischen Krieges, geschrieben vermutlich im Jahre 79 n. Chr., ein Bericht über den Aufstand aus dem Blickwinkel von jemandem, der ausstieg, solange es noch möglich war. (Josephus wurde zunächst gefangen genommen, doch als er prophezeite, dass der römische General, der ihn gefangen nahm - Vespasianus - später Kaiser werde, ließ man ihn am Leben und setzte ihn als Vermittler ein. Als Vespasianus dann tatsächlich Kaiser wurde, hatte es Josephus geschafft.) Etwa 20 Jahre später schrieb er Jüdische Altertümer, eine zwanzigbändige Geschichte des jüdischen Volkes. In diesem Werk finden sich zwei signifikante Hinweise auf Jesus. Der erste steht in Band 18, wo Josephus schreibt: Etwa zu dieser Zeit gab es einen Mann namens Jesus, einen weisen Mann [wenn es denn recht ist, ihn einen Mann zu nennen], der Wunder vollbrachte, einen Lehrer von Menschen, welche die Wahrheit mit Freuden erfahren. Er scharte sowohl viele Juden als auch viele Heiden um sich. [Er war der Christus ...] und als ihn Pilatus auf Drängen der bedeutendsten Männer unter uns zum Tod am Kreuze verurteilte, verließen ihn diejenigen, die ihn liebten, auch dann nicht [denn ihnen erschien er am dritten Tage lebendig, wie die göttlichen Propheten dies und zehntausend andere Wunderdinge über ihn vorhergesagt hatten]. Und der Stamm der Christen, die nach ihm benannt sind, besteht bis zum heutigen Tage.
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Über diese Passage wird heftig diskutiert. Offensichtlich hat sich ein späterer christlicher Geschichtsschreiber des Textes angenommen und ein paar Elemente hinzugefügt - die ich hier in eckige Klammern gesetzt habe. Doch wenn man sie herausnimmt, erhält man einen vollkommen stimmigen Bericht über Jesus aus der Sicht eines Mannes, der nicht zu seinem Gefolge gehörte. Dieser bestätigt die Grundzüge der Geschichte, wie wir sie aus frühchristlichen Glaubensbekenntnissen und den Evangelien kennen: Jesus war ein weiser, wundertätiger Mann, der Juden wie Nichtjuden gleichermaßen um sich scharte und auf Drängen der jüdischen Aristokratie von Pilatus hingerichtet wurde. Trotz seines Todes am Kreuz halten seine Anhänger bis heute zu ihm.
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Warum aber hielten sie zu ihm? Nun, das erklärt eine zweite Stelle, wo Josephus auf Jesus Bezug nimmt. In Band 20 beschreibt er den Tod eines relativ unbedeutenden Religionsvertreters im Vorfeld der Revolution. Während eines Machtvakuums in der Stadt lässt der Hohepriester Ananus einen Mann namens Jakobus hinrichten: Da er eine derartige Person [z. B. ein Sadduzäer] war, dachte Ananus, ihm biete sich nun eine günstige Gelegenheit, denn Festus war tot und Albinius immer noch unterwegs. Also berief er eine Versammlung von Richtern ein, auf der er den Bruder von Jesus-den-sie-den-Messias-nennen, Jakobus mit Namen, und einige andere vorführen ließ. Er hatte ihnen vorgeworfen, das Gesetz übertreten zu haben, und übergab sie der Steinigung.
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Jakobus ist eine derart unbedeutende Figur, dass er über seinen Bruder identifi ziert werden muss. Und das ist der Punkt: Sein Bruder war eben keine unbedeutende Figur. Zu Josephus' Zeit glaubten viele, Jakobus' Bruder Jesus sei der »sogenannte Messias«. Das Wort »Messias« stammt vom hebräischen masiah (2. Sam 22,51; 23,1), das für jemanden steht, der geweiht und mit Öl gesalbt wird. Die griechische Variante, Christos, kommt vom griechischen Verb chriein, das »weihen « bedeutet. Daher haben also die Christen ihren Namen. Josephus selbst ist von der Idee eines Messias nicht überzeugt. Er distanziert sich davon und bezeichnet den Gedanken an einer Stelle als »mehrdeutiges Orakel ..., das sich in ihren heiligen Schriften fi ndet und besagt, dass einer der Ihren eines Tages Beherrscher der Welt werde«. 5 Als sich das Christentum immer weiter ausbreitete, war Jesus für Josephus also vor allem deshalb von Bedeutung, weil ihn seine Anhänger für den Messias hielten. Freilich glaubte er, dass sie sich irrten. »Sehet! Hier ist der Messias!« Wenn Jesus der falsche Messias war, stellt sich die Frage: »Wie sah dann der richtige Messias aus? Welche Art von Messias erwarteten sie denn?« Das hängt davon ab, wer mit »sie« gemeint ist, da es im 1. Jahrhundert n. Chr. kein monolithisches, orthodoxes Judentum gab. Vielmehr existierten mehrere verschiedene »Judentümer«. Josephus zum Beispiel erwähnt vier Richtungen: die Sadduzäer, die Pharisäer, die Essener und eine, die er vage als »vierte Art« beschreibt. Doch selbst innerhalb dieser Gruppierungen gibt es Unterschiede. So existierten beispielsweise verschiedene »Schulen« pharisäischen Denkens. (Im Neuen Testament finden sich sowohl die Extremisten als auch jene, die man als gemäßigte Pharisäer bezeichnen könnte. Jemand 16 wie Nikodemus jedenfalls, dem Jesus in Jerusalem begegnete, war sicherlich nicht dieselbe Art Pharisäer wie jene, die Jesus aufhalten oder sogar umbringen lassen wollten.) Darüber hinaus schreibt Josephus für ein römisches Publikum und vereinfacht das Ganze ein wenig. Im gesamten römischen Reich gab es Juden, deren Gedanken und Theologien teilweise voneinander abwichen. Dazu kamen noch alle möglichen apokalyptischen Sekten. Ganz zu schweigen von den vielen Juden, die, konfrontiert mit den oben aufgeführten Kategorien, das Kästchen »keine der genannten« angekreuzt hätten. Freilich gab es auch eine beachtliche Schnittmenge. Ganz egal, welcher Art von Judentum man angehörte, die Thora bildete die eherne Grundlage (auch als Gesetz bezeichnet; die ersten fünf Bücher der Bibel - die Bücher Mose, der Pentateuch usw.). Es gab Gruppen, die sagten, das Judentum sei mehr als die Thora, aber niemand behauptete, das Judentum sei weniger als die Thora. Daneben teilte man einen monotheistischen Gottesbegriff sowie andere gemeinsame Vorstellungen, etwa von der Einzigartigkeit Israels, wenn diese auch mitunter unterschiedlich ausgelegt wurden. Es gab außerdem bestimmte Praktiken, die allen Gruppierungen gemein waren, etwa die Einhaltung des Sabbats, Ernährungsvorschriften und den jüdischen Feiertagskalender. Ausnahmslos wurden alle männlichen Juden beschnitten, selbst diejenigen, die erst später in ihrem Leben zum Judentum konvertierten. Abgesehen davon existierte jedoch eine breite Palette religiöser Ansichten und Glaubensrichtungen. Manche Juden glaubten an ein Leben nach dem Tod, andere nicht; manche sagten, alle Abbildungen belebter Dinge seien profan, andere hatten Bilder von Pfl anzen und Tieren an der Wand (allerdings nicht von Menschen). Die meisten glaubten an die rituellen Waschungen; doch manche waren der Ansicht, es müsse fl ießendes Wasser sein, während andere sich auch mit stehendem Wasser zufriedengaben. Manche glaubten an mystische Dämonen, an das böse Auge oder an den Zodiac. Es gab viele unterschiedliche Juden und viele verschiedene Judentümer. Die Jünger Jesu und all die anderen Menschen, die ihm zuhörten und folgten, dachten daher auch nicht, dass sie nun »Christen« seien - der Begriff wurde erst etwa 20 Jahre später erfunden. Sie waren der Ansicht, dass sie sich einer neuen Form des Judentums angeschlossen hätten. Zu den Dingen, über die zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen Uneinigkeit herrschte, gehörte das Wesen des Messias. Die Annahme, dass alle Juden auf den Messias warteten, trifft nicht zu. Einige warteten; im römisch besetzten Palästina vielleicht sogar viele. Andernorts hatte der Messias dagegen eine weit geringere Bedeutung. Philo, ein jüdischer Autor und Philosoph im Ägypten des 1. Jahrhunderts n. Chr., erwähnt den Messias überhaupt nicht. Selbst unter jenen, die auf den Messias hofften, hatten einzelne Gruppierungen ganz unterschiedliche Vorstellungen von ihm. So glaubte man beispielsweise in der Gemeinde Qumran, aus der die Schriftrollen vom Toten Meer stammen, dass die messianische Aufgabe von zwei Personen übernommen würde: einem davidsgleichen, königlichen Messias und einem Hohepriester. Andere jüdische Schriften etwa aus derselben Zeit stellen den Messias als Krieger, als geweihten Priester, als König oder gar als Weisen dar. 6 Man sieht das in den Evangelien: Bei Johannes in Kapitel 7 streitet die Menge darüber, ob Jesus der Messias ist. Einige sagen, es sei unmöglich, weil er aus Galiläa stammt, wo doch jeder wisse, dass der Messias aus Bethlehem kommen müsse. Andere halten mit dem Argument dagegen, dass, wenn der Messias komme, niemand wisse, woher er sei (Joh 7,27). Was also erwarteten sie? Wie stellten sie sich den Messias vor? Darüber lässt sich Folgendes sagen: Der Messias war ein Mensch. Er mochte zwar Gottes Werk tun, aber er war nicht Gott. An einigen Stellen im jüdischen Schrifttum verschwimmen die Grenzen ein wenig (etwa in 18 Ps 45,7 oder in Hes 34), doch ging man allgemein davon aus, dass der Messias ein Mensch war. Wenn Petrus zu Jesus sagt, er sei der Christus, sagt er damit nicht, er sei Gott. Diese Auslegung kam erst später. Der Messias war ein König. Was das im Einzelnen bedeutete, war eine Frage der Interpretation, doch Messias bedeutete jedenfalls »König der Juden«. Man nahm an, dass der Messias, der wahre, von Gott gesandte König, die irdischen Dynastien der Hasmonäer oder Herodianer ersetzen würde. Der Messias würde ein neues Zeitalter einläuten. Er wäre die Person, durch die Gott eine neue Ära von Frieden und Wohlstand über die Menschen brächte, eine Rückkehr aus dem Exil, einen neuen Exodus. Der Messias würde den Tempel erneuern. Der Tempel wurde mit David assoziiert, dem ersten großen König. Das Buch von Sacharja, das selbst viele messianische Prophezeiungen enthält, befasst sich auch detailliert mit jenen, die nach dem Exil den Tempel wieder aufbauen. Der Messias würde die Feinde Israels besiegen. In einem von Jesus zitierten messianischen Psalm heißt es: »Gott sprach zu meinem Herrn: ›Setze dich auf den Ehrenplatz an meiner rechten Seite, bis ich dir alle deine Feinde unterworfen habe, bis du deinen Fuß auf ihren Nacken setzt!‹« (Ps 110,1; Lk 20,43). In den Psalmen Salomons, einem etwa zwischen 63 v. Chr. und 70 n. Chr. verfassten jüdischen Text, heißt es, der Messias werde Jerusalem »von den Heiden reinigen«, die »Sünder aus dem Erbe vertreiben«, »die Arroganz der Sünder wie einen tönernen Topf zerschmettern« und sie »mit einem eisernen Stab zertrümmern«. 7 Sieg in der Schlacht war für den Messias unabdingbar. 8 Der Messias musste erfolgreich sein. Ein Messias, der versagte, wäre ein Widerspruch in sich. Ein Messias, der besiegt würde, wäre nicht der Messias, sondern ein Betrüger oder, wie es N. T. Wright formuliert: »Die Kategorie eines besiegten, aber dennoch verehrten Messias ... existierte nicht.« 9 Genau hier müssen wir ansetzen - denn Jesus passt schließlich kaum in eine dieser Kategorien. Er starb als erfolgloser Revolutionsführer. Er stammte aus ärmlichen Verhältnissen. Er war kein König, und als die Menschen versuchten, ihn zum König zu machen, lief er davon. Er zerschmetterte die Feinde Israels nicht, sondern sagte vielmehr, dass man sie lieben und nicht einmal beschimpfen sollte. Nach seinem Tode änderte sich nicht viel, außer dass der Fischer, der ihm gefolgt war, einen Kult ins Leben rief. Es brach kein neues Zeitalter an. Nüchtern betrachtet, war Jesus ein Versager auf der ganzen Linie. (Außer darin, dass er tatsächlich ein Mensch war. Nach christlichem Glauben erreichte er allerdings auch hier nur 50 Prozentpunkte.) In den Augen seiner Gegner hatte Jesus keine der Qualifikationen, über die ein Messias verfügen sollte. Für sie war er ein Weichei, das sich in schlechter Gesellschaft befand, keinen Respekt vor der Tradition hatte und schließlich den ehrlosesten Tod erlitt, der überhaupt in Frage kam. Wie falsch kann ein Messias denn noch sein? Und doch sahen jene, die ihm folgten und denen man etwa 15 Jahre nach seinem Tod den Spitznamen »Christen« verpasste, in Jesus den Messias. Sie glaubten, dass genau derjenige, der nicht ins Schema passte - der Grundstein, den die Baumeister ablehnten - , Christus war: der von Gott geweihte Messias. Sie waren felsenfest überzeugt, dass er der Richtige war. Dieses Buch ist ein Versuch herauszufinden, warum.
Übersetzung: Henning Dedekind und Enrico Heinemann Pattloch
© 2012 Pattloch Verlag GmbH & Co. KG, München
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Autoren-Porträt von Nick Page
Nick Page ist freiberuflicher Autor und hat mehr als 60 Bücher zu Themen aus der Welt der Bibel verfasst. Er ist besonders auf geschichtliche und archäologische Fragestellungen spezialisiert.Henning Dedekind, geboren im Krautrock-Jahr 1968, beschäftigt sich seit frühester Jugend mit Musik. Nach diversen eigenen Tonträgerveröffentlichungen begann er Mitte der Neunziger, hauptberuflich über die Rock- und Popszene zu schreiben. Er arbeitet heute als freier Autor für verschiedene deutschsprachige Medien. Zahlreiche seiner Übersetzungen sind im Hannibal-Verlag erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Nick Page
- 2012, 431 Seiten, 10 Schwarz-Weiß-Abbildungen, mit Abbildungen, Maße: 15,1 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Aus d. Engl. v. Henning Dedekind u. Enrico Heinemann
- Übersetzer: Enrico Heinemann, Henning Dedekind
- Verlag: Pattloch
- ISBN-10: 3629130003
- ISBN-13: 9783629130006
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