Der Freund und der Fremde
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Benno Ohnesorg, 1967 auf der Anti-Schah-Demonstration in Berlin erschossen, war Uwe Timms Freund und Gefährte, als beide Anfang der sechziger Jahre am Braunschweig-Kolleg das Abitur nachholten. Uwe Timm erzählt von dieser gewaltsam beendeten frühen Freundschaft, von den Erfahrungen einer Generation und vom Aufbruch eines Schriftstellers.
Er liegt am Boden, eine junge Frau kniet neben ihm und hält den Kopf des Sterbenden, ein schmaler, junger Mann, den Blick zur Seite gerichtet. Das Bild wird zur Ikone, es wird Hunderttausende auf die Straße treiben, aber wer ist dieser junge Mann, wer hätte er sein können?
Benno Ohnesorg, geboren 1940 und am 2. Juni 1967 auf der Anti-Schah-Demonstration in Berlin erschossen, war der Freund und Gefährte Uwe Timms, als beide Anfang der sechziger Jahre am Braunschweig-Kolleg das Abitur nachholten. Ein eigenwilliger, zurückhaltender, auf eine stille Art entschlossener junger Mann, der malt und die Werke der französischen Moderne liest, selbst Gedichte schreibt und zum ersten Leser Uwe Timms wird.
Mit ihm zusammen entdeckt Timm Apollinaire und Beckett, Camus und Ionesco, entdeckt auch, dass das Schreiben nicht nur ein einsamer Akt ist, dass man über Texte sprechen, sie verändern, sie verbessern kann, dass Nähe und radikaler Eigensinn gleichzeitig möglich sind.
Nach den Römischen Aufzeichnungen und Am Beispiel meines Bruders schreibt Uwe Timm in seinem dritten autobiographischen Buch wiederum ein Requiem, das mit poetischer Intensität nicht nur die Geschichte einer großen, gewaltsam beendeten Freundschaft, sondern auch die seiner ersten Lieben und des Aufbruchs eines Schriftstellers erzählt. Der Freund und der Fremde erzählt auch, wie eine Generation aus dem Existentialismus zur politischen Rebellion kommt und wie auf geheimnisvolle Weise jenseits der Generationserfahrung Freundschaften und Liebesbeziehungen ein Netz der Korrespondenzen schaffen, das man erst spät als sein eigenes Lebensmuster erkennt.
Der Freundund der Fremde von Uwe Timm
LESEPROBE
Dieser erste Blick. Unten der Fluß, der ruhig und grün dahinfließt, die
Steinbrücke, auf deren Mauer er sitzt, ein Bein über das andere
geschlagen, so schaut er zum anderen Ufer, ein paar Büsche und Weiden
stehen dort, dahinter öffnen sich die Wiesen und Felder. Ein Tag im
Juni, frühmorgens, noch mit der Frische der Nacht, der Himmel ist
wolkenlos und wird wieder die trockene Hitze des gestrigen Tages
bringen.
So, versunken in sich, sah ich ihn sitzen, als ich den Weg durch den
Park des Kollegs hinunter zur Oker ging und zögerte, ob ich nicht
umkehren sollte, dachte dann aber, er könnte mich schon bemerkt haben
und vermuten, ich wolle ihm aus dem Weg gehen. Am Abend zuvor hatte ich
auf ihn eingeredet, mit uns nach Hannover zu fahren. Dort, so hieß es,
gebe es samstags Partys, in Villen, exzessiv werde da gefeiert, sogar
das Wort Orgie war gefallen. Er war, trotz der phantastischen
Erzählungen und obwohl er sonst oft nach Hannover fuhr, nicht
mitgekommen.
Ein wenig überrascht, ja erschrocken blickte er hoch, als ich zu ihm
trat. Ich erzählte ihm von dieser Nacht und dem Gelage bis in den
Morgen und der Fahrt im Auto, das mich eben zurückgebracht hatte. Ich
sagte ihm, er habe etwas versäumt, denn ich glaubte, mein
Erlebnishunger müsse auch der seine sein. Noch lebten und lernten wir
erst wenige Wochen zusammen in dem Kolleg.
Aufgefallen war er mir, als wir zum ersten Mal im Klassenraum
zusammenkamen und unsere Plätze an den Tischen suchten. Lärmende
Erwachsene, die nach Jahren der Berufstätigkeit wieder Schüler geworden
waren. Sechzehn junge Männer und zwei Frauen. Er war, glaube ich, der
Jüngste, zwanzig Jahre alt, sah aber noch jünger aus. Er hielt sich in
den ersten Tagen ein wenig, doch jeden demonstrativen Gestus
vermeidend, von den sich bildenden Gruppen fern. Aus diesem
Insichgekehrten sprach nichts Verdrucktes, Zaghaftes, sondern etwas
selbstverständlich Unabhängiges. Das weckte meine Neugier, und so
suchte ich seine Nähe. In den folgenden Wochen hatten wir ein paarmal
miteinander geredet, über die Städte, aus denen wir kamen, Hannover und
Hamburg, über die Stadt Braunschweig, in der wir jetzt lebten, über
unsere früheren Berufe, er hatte Dekorateur gelernt und ich Kürschner,
vor allem aber hatten wir sehr bald über Bücher, die wir gerade lasen,
gesprochen, er über den Molloy von Beckett, und er hatte mireinige
Stellen vorgelesen, deren Wortwitz ihm besonders gefiel.
Unsere Freundschaft begann als Gespräch über Literatur. Aber bis zu
diesem Morgen im Juni hatten wir noch nicht über unsere Wünsche, über
unsere Pläne gesprochen. Und das ist eine der bildgenauen Erinnerungen:
Neben ihm stehend und über die Oker blickend, dehnte sich das Schweigen
und gab dem Gefühl, ihn gestört zu haben, immer mehr Raum, und so
fragte ich ihn, um überhaupt etwas zu sagen, was er denn da mache.
Nach einem kurzen Zögern zeigte er mir das kleine Notizbuch. Ich
schreibe.
Und was?
Für mich.
Auch ich schrieb für mich.
So begann es, daß wir einander unser Geschriebenes zeigten und er mein
erster Leser wurde.
Sechs Jahre später, Anfang Juni, 1967, in Paris, nachts, es war
ungewöhnlich heiß, saß ich und schrieb, hörte Musik, klassische, aus
dem Radio, leise, durch das weit geöffnete Fenster war das Rauschen des
Verkehrs vom Périphérique zu hören, der hier unter der Maison de
lAllemagne in eine Unterführung mündete. Ich hatte in den letzten
Wochen nur wenig geschlafen, meist bis in die Nacht hinein gearbeitet,
wachte jeden Morgen früh auf von dem Lärm der Stadtautobahn und der
Hitze, die sich in dem nach Südwesten gehenden Zimmer staute und auch
nachts nicht wich. Ich schrieb an einer Arbeit, mit der ich in
Philosophie promovieren wollte, über Das Problem der Absurdität bei
Camus. So eingehüllt in die Geräuscheder Nacht, kamen die Nachrichten,
de Gaulles Waffenembargo für den Nahen Osten, das blieb im Gedächtnis,
und dann die Meldung, am Vortag sei es in Berlin anläßlich des
Schahbesuchs zu Ausschreitungen und schweren Unruhen gekommen, ein
Student sei erschossen worden. Auch der Name fiel, aber ich war nicht
sicher, ob ich richtig gehört hatte. Nach einem Anruf in Deutschland
gab es keinen Zweifel mehr, er war es, der Freund. Ich war wie durch
einen Schnitt getrennt von all meinen Formulierungen, Überlegungen,
starrte auf die beschriebenen Seiten, auf meine Handschrift, und sie
erschien mir plötzlich merkwürdig fremd. Ich ging hinunter, lief durch
den Park, ging hinüber zum Boulevard Jourdan, vorbei an den noch
dunklen Cafés und Restaurants, an den Platanen, deren helldunkel
gefleckte Stämme im Licht der Straßenlaternen leuchteten, ich ging und
versuchte meine Gedanken zu ordnen, indem ich mich auf das Gehen
konzentrierte, auf die Bewegung, die Schritte bewußt setzte, im Kopf
ein Gemenge von Bildern, Situationen, Sätzen - Erinnerungsfetzen, in
denen er auftauchte, auch jetzt, wie er in einem Freibad auf einem
Handtuch liegend liest, wie er in London etwas skizziert, wie er sitzt
und zuhört, sein Lachen, seine Gesten und wahrscheinlich auch dieser
Augenblick, als ich ihn an der Oker sitzen sah, als wir zum ersten Mal
über unser Schreiben sprachen.
Nachdem ich einige Zeit durch die Straßen gelaufen war, ging ich
zurück in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch, stapelte die
handgeschriebenen Seiten des Kapitels, an dem ich arbeitete,
aufeinander, schob sie zusammen und legte sie in das Regal. Ich wußte,
in den nächsten Tagen würde ich daran nicht mehr weiterschreiben
können.
Am Morgen darauf rief ich eine Freundin in Deutschland an und hörte von
der Demonstration vor der Berliner Oper, in der das Schahpaar mit dem
Bundespräsidenten und dem Berliner Bürgermeister Albertz gesessen
hatte, sie erzählte von Wasserwerfern und einem Knüppeleinsatz der
Polizei, zahlreiche Verletzte habe es gegeben, die Demonstranten seien
auseinandergetrieben und verfolgt worden, dabei sei er in einem Hof von
einem Polizisten in Zivil erschossen worden. All das erschien so fern,
zu unwirklich, um es mit ihm in Verbindung zu bringen. Vier Jahre war
es her, daß wir uns zuletzt gesehen hatten.
Einige Tage danach sah ich sein Foto in einer Zeitschrift, und dieses
Wiedersehen war wie ein Schock. Er liegt am Boden, sofort erkennbar
sein Gesicht, die Haare, die Hände, die langen, dünnen Arme und Beine.
Er liegt auf dem Asphalt, bekleidet mit einer Khakihose, einem
langärmeligen Hemd, der Arm ausgestreckt, die Hand entspannt geöffnet,
die Augen geschlossen, als schliefe er. Neben ihm kniet eine junge Frau
in einem schwarzen Kleid oder Umhang. Die Frau könnte eben aus der Oper
gekommen sein, dachte ich, vielleicht eine Ärztin. Sie blickt nach
oben, so als wolle sie etwas fragen oder eine Anweisung geben, und
hält, eine zärtliche Geste, seinen Kopf im Nacken. Deutlich ist das
Blut am Kopf und am Boden zu sehen. Es hätte in diesem Schwarzweiß eine
Einstellung aus dem Film Der Tod des Orpheus von Cocteau seinkönnen,
das war mein erster Gedanke beim Betrachten des Fotos, diese
Verwandlung. Es war einer seiner Lieblingsfilme. Ich saß in der
Bibliothek über die Zeitschrift gebeugt und sah ihn, und in dem Moment
wurde aus dem abstrakten Wissen um den Verlust eine körperlich spürbare
Empfindung - ein Schmerz -, eine Empfindung, die jetzt, in diesem
Augenblick, keine Empörung, keinenHaß, keine Wut kannte. All das kam
erst danach, in den folgenden Tagen und Wochen, als ich versuchte, über
ihn zu schreiben. Ich wollte mir, ich wollte allen verständlich machen,
wen man getötet hatte. Wer uns für immer verloren war. Mehrere Anfänge,
die ich jedesmal wieder verwarf, weil die Sprache formelhaft blieb und
meine hilflose Wut ins Deklamatorische verwandelte.
Wäre er infolge einer Krankheit oder eines Unfalls gestorben, wäre
Trauer um ihn möglich gewesen, so aber war sein Tod ein Skandal, der in
Kommentaren, Erklärungen und Gegenerklärungen abgehandelt wurde, und
ich selbst mußte bei jedem Bericht, bei jeder Diskussion, auch vor mir
selbst, immer wieder dazu Stellung nehmen. Politische Erklärungen
schoben sich vor jeden Versuch, sich seiner zu erinnern. Das
Sensationelle seines Todes verhinderte in den ersten Wochen und Monaten
ein einfühlsames Erinnern. Empörung verformte jede teilnehmende
Annäherung durch Fragen nach den Umständen, nach dem Hergang, nach den
Hintergründen. Ich fand keine Sprache für ihn, jeder Satz bekam einen
aggressiven, abstrakt politischen Ton - einen Ton, der nie der seine
gewesen war.
Danach verfolgte ich eine Zeitlang den Plan, über diese drei Menschen
zu schreiben, über ihn, den Freund, über den Zivilfahnder Kurras, der
den Fliehenden erschossen hatte, und über die unbekannte Frau auf dem
Foto, die ich ausfindig zu machen suchte. Ich wollte etwas über die
drei Menschen erfahren, die ein Zufall zusammengeführt hatte: einen
Täter, ein Opfer, eine Helferin - und die auf eine nicht beabsichtigte,
zufällige Weise Geschichte gemacht hatten. Eines von vielenProjekten,
die sich in Notizen und Anmerkungen verstreuten und schließlich
aufgegeben wurden. Es blieb aber der Vorsatz, mehr noch, die
Verpflichtung, über ihn zu schreiben. Ein Erzählen, das nur gelingen
konnte - und diese Einsicht mußte erst wachsen -, wenn ich auch über
mich erzählte. Wenn es mir gelingen würde, den Horizont der Erinnerung
abzuschreiten, der sich dabei zugleich weiter verschieben würde, nicht
aufhören würde, Horizont zu sein, räumlich und zeitlich, mit den
Erinnerungen an Erlebtes und Gedachtes, an Gebärden und Symbole, an
Imagination und Abstraktion.
Es war eine ungetrübte, ganz auf das Lesen und das Schreiben
ausgerichtete Freundschaft gewesen, so schien es mir, bis ich vor fünf
Jahren, als ich in einem Jahrbuch des Braunschweig-Kollegs etwas über
ihn geschrieben hatte, von seiner Witwe, Christa Ohnesorg, der ich nie
begegnet bin und die damals in einer Klinik lag, einen Brief bekam, in
dem sie mir schrieb, er habe mit mir nach unserem Abschied gehadert.
Eine Nachricht, die mich verstörte und mit ein Grund war, über ihn,
über uns zu schreiben.
Als wir uns 1963 nach zwei Jahren in Braunschweig getrennt hatten, er
zum Studium nach Berlin, ich nach München ging, war ich davon
überzeugt, eines Tages von ihm zu hören, zu lesen, Gedichte, Prosa oder
Essays. Es war für mich eine Gewißheit, er werde einmal durch sein
Schreiben von sich reden machen.
Nie war mir der Gedanke gekommen, von ihm in einem politischen
Zusammenhang zu hören. Nun war er gerade zu einem politischen Fall
geworden. Sein Tod wurde als Beweis für autoritäre und faschistische
Tendenzen der Staatsmacht genommen. Ich las, er habe keiner politischen
Gruppierung angehört. Er sei keiner der Krawallbrüder gewesen. Das
verstärkte sein Bild als Opfer. Die Öffentlichkeit erfuhr: Er war
verheiratet, seine Frau erwartete ein Kind, vor allem, er war Student
und politisch nicht engagiert, das war geradezu die Voraussetzung, ihn
zum politischen Exempel zu machen. Es war eine merkwürdigeVerkehrung
seiner Existenz.
Was und wie von ihm geschrieben wurde, war ein so grundsätzlich
anderes als das, was er selbst geschrieben hatte, hatte schreiben
wollen.
Schreiben zu wollen war für uns beide der Beweggrund gewesen, uns am
Braunschweig-Kolleg zu bewerben. Das Schreiben und die Neugierde, ein
Wissensdurst, alles schien verlockend, Geschichte, Sprachen, Chemie,
Physik, nach den Jahren, in denen er das Dekorieren, das
Schaufenstergestalten, und ichdas Anfertigen von Pelzmänteln, Stolen
und Capes gelernt hatte. Erst jetzt, dieses schreibend, fällt mir auf,
was doch offenbar ist, daß unsere erlernten Berufe aufeinander bezogen
waren, beide hatten mit Ästhetik zu tun, einer sehr zweckgebundenen,
der Herstellung und Ausstellung des schönen, wechselhaften Scheins, der
Mode. Beide hatten wir uns von dieser Tätigkeit entfernt. Er hatte sich
ein Jahr früher als ich am Braunschweig-Kolleg beworben, einer
Begabtenförderung - man konnte in zwei Jahren ganztägigen Unterrichts
das Abitur nachholen.
In einem Brief an den Direktor des Braunschweig-Kollegs, den er über
seinen älteren Bruder kannte, der an dem Kolleg bereits sein Abitur
gemacht hatte, bewarb er sich um die Aufnahme. Hannover - 5. 11. 59
Sehr geehrter Herr Oberstudiendirektor Raßmann!
Wir sind vier Jungen. Meine Eltern konnten uns nur den Besuch der
Mittelschule, nicht aber den der Oberschule ermöglichen. Der Beruf des
Schaufenstergestalters, den ich nach Abschluß der Mittl. Reife ergriff,
befriedigt mich nicht. Ich habe den Wunsch, Kunsterzieher zu werden; um
dieses Ziel zu erreichen, ist der erste Schritt das Abitur.
Ich beschäftige mich hauptsächlich »bildend«: ich male, zeichne und
mache Linolschnitte und Plastiken. Ich besuche die Ausstellungen der
Kestner-Gesellschaft, des Kunstvereins und der Galerie Seide in
Hannover.
Andere Interessengebiete sind Literatur und Musik. In der Literatur
bevorzuge ich die moderne Lyrik (seit Baudelaire) und das Drama
(Griechen, Shakespeare, Drama der Gegenwart). Ich höre literarische
Vorträge und die Konzerte der Kammermusikgemeinde und der Reihe
»Meister am Klavier«. Seit Januar 1959 lese ich die »Deutsche Zeitung
für Kunst und Literatur: Panorama«.
Auf allen Gebieten der Kunst bemühe ich mich um das Verständnis für das
gegenwärtige Schaffen.
Hochachtungsvoll
Benno Ohnesorg
© Verlag Kiepenheuer & Witsch
- Autor: Uwe Timm
- 2005, 3. Aufl., 176 Seiten, Maße: 12 x 19,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462036092
- ISBN-13: 9783462036091
- Erscheinungsdatum: 19.08.2005
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