"Der Garten der Erinnerung" und "Das Haus der Träume"
- Der Garten der Erinnerung: Mel hat genug von London, ihren Studenten und ihrem Exfreund. Die Lösung: eine Auszeit in Cornwall, in einem verwunschenen Cottage. Als sie dort ankommt, ist es kalt und dunkel, doch das Cottage macht...
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Produktinformationen zu „"Der Garten der Erinnerung" und "Das Haus der Träume" “
- Der Garten der Erinnerung: Mel hat genug von London, ihren Studenten und ihrem Exfreund. Die Lösung: eine Auszeit in Cornwall, in einem verwunschenen Cottage. Als sie dort ankommt, ist es kalt und dunkel, doch das Cottage macht einen zauberhaften Eindruck. Ebenso das wunderschöne Bild mit der unleserlichen Signatur, das Mel sofort gefangen nimmt. Wer es wohl einst gemalt hat? Und wer hat den inzwischen verwilderten Garten angelegt, der zum Cottage gehört? Mel und ihr Vermieter Patrick wollen ihn zu neuem Leben erwecken. Sie stoßen unter dem Dickicht auf Relikte aus längst vergangenen Zeiten, auf eine Geschichte von Liebe und Leid und verbotener Leidenschaft. Und kommen sich wie verzaubert langsam näher.
- Das Haus der Träume: Für Kate scheint ein lang gehegter Traum wahr zu werden, als sie und ihr Mann Simon mit ihren zwei kleinen Kindern an die Küste von Suffolk ziehen und die Hektik der Großstadt hinter sich lassen. Monate später fragt sich Kate, ob die Entscheidung für das Landleben wirklich richtig war. Die Arbeitstage ihres Mannes werden immer länger, und auch das richtige Haus ist noch nicht gefunden - bis Kate eines Abends unverhofft vor einer wunderschönen Villa steht. Als sie deren Besitzerin, eine alte Dame, kennenlernt, stößt sie auf seltsame Gemeinsamkeiten.
Lese-Probe zu „"Der Garten der Erinnerung" und "Das Haus der Träume" “
Der Garten der Erinnerung & Das Haus der Träume von Rachel HoreWir sind hier, um Licht und Dunkelheit zu erleben. Ohne das eine kann das andere nicht sein: Schwarz betont Weiß; Violett bringt Gelb zum Leuchten; Grobes macht Zartes erst besonders.
Dame Laura Knight Oil Paint and Grease Paint (1936)
Merryn Hall, Lamorna, Cornwall, TR20 9AB
Ms. Melanie Pentreath 23 a Southcote Road Clapham London SW12 9BL
15. März 2006 Liebe Mel, ich danke Ihnen für die Übersendung des unterschriebenen Mietvertrags für das Garten-Cottage und für den Scheck. Ich lege meinem Brief eine Quittung und eine Anfahrtsbeschreibung aus Richtung Penzance bei. Ich freue mich, Sie nächsten Monat hier in Merryn Hall begrüßen zu können. Wie ich Ihnen bereits am Telefon sagte, werde ich bei Ihrer Ankunft wahrscheinlich noch in London sein, aber Irina Peric, die sich während meiner Abwesenheit um Merryn Hall kümmert, wird Ihnen den Schlüssel zum Cottage aushändigen. Vielleicht rufen Sie sie kurz vor Ihrer Abreise unter 01736 - 455836 an und geben ihr Bescheid, wann genau sie mit Ihrer Ankunft rechnen kann. Ich bin sicher, dass Sie in Lamorna die nötige Ruhe zum Arbeiten finden, es ist ganz wunderbar dort. Wie Sie vermutlich von Ihrer Schwester gehört haben, habe ich Merryn Hall erst vor Kurzem geerbt. Sowohl im Haus als auch auf dem Grundstück ist noch einiges instand zu setzen, aber Sie werden sehen, das Cottage ist schon jetzt sehr gemütlich.
Mit freundlichen Grüßen Patrick Winterton Merryn Hall, Lamorna
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Adeline Treglown Zum Blauen Anker Harbour Street Newlyn
Ostermontag 1912
Liebe Mrs Treglown, meine Köchin, Mrs Dolly Roberts, die meines Wissens Ihre Schwägerin ist, hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie eine Anstellung für Ihre Tochter suchen. Sie hat mir versichert, dass die junge Dame ehrlich, fleißig und zuverlässig ist. Ich suche ein Hausmädchen, das ich zur Zofe ausbilden kann, und Pearl scheint mir dafür geeignet. Mein Gärtner, Mr Boase, fährt an jedem Markttag mit der Kutsche nach Penzance. Er könnte Pearl am nächsten Donnerstag um zwölf Uhr mittags an der Davy Statue abholen, wenn es Ihnen recht ist. Ich kann Ihrer Tochter zwölf Guineas zahlen, muss aber sechs Pennys im Monat für ihre Uniform zurückbehalten. Es tut mir aufrichtig leid zu hören, dass Sie in solchen Schwierigkeiten sind.
Hochachtungsvoll Emily Carey
1. Kapitel
Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Mel schaltete das knisternde Autoradio aus und schaute beunruhigt durch die regennasse Windschutzscheibe. Obwohl sie im Schneckentempo fuhr, kam ihr die Fahrt über die stockfinsteren kurvenreichen Landstraßen Cornwalls vor wie eine Fahrt auf der Achterbahn. Zu beiden Seiten fiel die Böschung steil ab, und mehr als einmal bekam sie einen Riesenschreck, weil vor ihr ganz plötzlich ein Steinwall im Scheinwerferlicht auftauchte.
Eineinhalb Meilen hinter Newlyn kurz hinter der Töpferei an der Kreuzung links abbiegen, hatte Patrick auf die Kopie der Straßenkarte geschrieben, die er ihr geschickt hatte. Aber Mel hatte in der Dunkelheit keine Töpferei gesehen und war einfach an einer Kreuzung, die sie für die richtige hielt, links abgebogen. Jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, im Kreis gefahren zu sein. Wieso gab es bloß nirgends ein Straßenschild?
Schade, dass diese Reise sich zu so einem Albtraum entwickelte. Mel hatte sich so lange darauf gefreut. Seit David Bell, Senior Tutor an dem Südlondoner College, an dem sie als Dozentin für Kunstgeschichte arbeitete, ihr vorgeschlagen hatte, ein Forschungssemester zu nehmen. Seine besorgten Worte klangen ihr immer noch in den Ohren: Mel, ich fürchte, Sie werden ernsthaft krank, wenn Sie sich nicht schleunigst eine Auszeit nehmen.
Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, die Orientierung zu verlieren, dachte sie nun und lenkte den Wagen um die nächste Kurve. Was war das denn? Sie trat heftig auf die Bremse, als aus der Dunkelheit etwas auf sie zugeschossen kam. Eine Eule. Mel nahm ein Paar leuchtende Augen und einen gebogenen Schnabel wahr, ehe der Vogel in die Nacht entschwand. Einen Augenblick war sie vor Schreck wie gelähmt, dann nahm sie den Fuß von der Bremse, und der Wagen rollte weiter.
Doch schon kurz darauf bremste Mel wieder ab. Sie stand an einer T-Kreuzung. In welche Richtung nun? Mel zog die Handbremse an, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr - Viertel nach acht, für einen Aprilabend war es wirklich verdammt dunkel - und schaltete die Innenbeleuchtung ein.
Müde rieb sie sich den Nacken und versuchte, im schwachen Lichtschein auf der Karte etwas zu erkennen. Ihr Finger fuhr über das Gewirr der Straßenlinien, bis sie die richtige gefunden hatte. Sie ging zickzackförmig an Merryn Hall vorbei, ehe sie nach links durch das Dorf Lamorna führte und dann hinunter zur Bucht Lamorna Cove.
Mel kurbelte das Fenster herunter und beugte sich hinaus. Fröstelnd hielt sie Ausschau nach einem Schild oder irgendetwas, das ihr eine Orientierung gab. Nichts. Nur strömender Regen. Eigentlich konnte sie nicht mehr weit von Lamorna entfernt sein, aber wenn sie nicht aufpasste, würde sie die ganze Nacht im Kreis herumfahren. Mel zerrte ihren Seesack aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und kramte nach ihrem Handy. Als sie es endlich fand, wählte sie die Nummer, die Patrick auf die Karte gekritzelt hatte. Keine Netzverbindung stand auf dem Display.
Ich wünschte, Jake wäre hier, fuhr ihr plötzlich und ungebeten eine tückische kleine Stimme durch den Kopf. Jake hatte ein Faible für Straßenkarten und Autos, Katzen und Fernsehgeräte. Leider hatte er irgendwann kein Faible mehr für Mel gehabt. Jake war weg, und sie musste selbst sehen, wie sie aus diesem Schlamassel herauskam.
Der Gedanke gab ihr neue Energie. Ihr blieb nichts anderes übrig, sie musste zurückfahren. In der Hoffnung, dass nicht ausgerechnet in diesem Moment ein Auto um die Kurve kam, wendete Mel auf der engen Straße und fuhr in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dieses Mal hatte sie Glück. Wenige Minuten später fand sie die Abzweigung, die sie beim ersten Mal übersehen hatte.
Lamorna lag in einem Tal. Da die Straße jetzt zwischen hohen Hecken abwärtsführte, wuchs Mels Zuversicht. Der Weg wurde immer steiler und kurviger, und sie musste sich ziemlich konzentrieren, um das Auto in der Fahrspur zu halten. Wenigstens schien der Regen etwas nachzulassen.
Mel hielt Ausschau nach Anzeichen für eine menschliche Behausung, und tatsächlich ging die Hecke auf einer Seite in eine niedrige, von Bäumen gesäumte Mauer über. Ein Tor tauchte im Dunkeln auf. Sie fuhr langsamer. Konnte es das sein? Ein verwittertes Holzschild hing schief an einem der Pfosten. ERRYN HAL entzifferte sie mühsam. Erleichtert lenkte Mel den Wagen durch das Tor.
Pechschwarze Dunkelheit umgab sie. Nein, da in der Ferne, zwischen den mächtigen Baumstämmen, war ein schwaches Licht zu erkennen. Die Autoscheinwerfer beleuchteten eine von Schlaglöchern übersäte Zufahrt, die zu beiden Seiten zugewachsen war.
Glücklicherweise hatte es aufgehört zu regnen. Mel fuhr auf einen Hof. Zwischen den Pflastersteinen wucherte Unkraut. Im gelblichen Lichtschein einer Laterne sah sie die mächtigen Säulen eines georgianischen Portals, zu dem drei halbrunde Stufen hinaufführten. Die Laterne war das einzige Lebenszeichen weit und breit.
Nach kurzem Zögern parkte Mel und schaltete den Motor aus. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen. Vorsichtig schaute sie sich um und versuchte, nicht an die düsteren Horrorfilme zu denken, die sie als Teenager so oft gesehen hatte. Weibliche Hauptfigur sucht in regnerischer Nacht Zuflucht in einem verlassenen Schloss. Als sie die knarrende Eingangstür aufstößt, beginnt das wahre Grauen ...
Reiß dich zusammen, ermahnte Mel sich. In Cornwall gibt es keine Vampire.
Wer weiß das schon? Auf einmal musste sie an den Spruch ihres Bruders William denken, den er ihr als Kind oft mit drohender Stimme zugeflüstert hatte.
Unfug, beruhigte sie sich noch einmal. Wenn du irgendwann etwas zu essen und ein Bett haben willst, kannst du hier nicht ewig sitzen bleiben. Mel öffnete die Autotür.
Außer dem stetigen Tropfen des Wassers von den Blättern der Bäume und Sträucher ringsum war nichts zu hören. Das Haus stand in der feuchten Dunkelheit, in den Fensterscheiben spiegelte sich das elfenbeinfarbene Licht der Laterne. Ganz schwach konnte man hoch über dem Portal Zinnen erkennen, wie bei einem Schloss. Sie verloren sich im Nebel. Bäume und Sträucher wuchsen bis dicht an die Außenmauern, sodass man nur eine eingeschränkte Ahnung von den Ausmaßen des Gebäudes bekam. Es wirkte düster und unheimlich.
Mel verließ auch noch der letzte Rest Mut. Es war völlig sinnlos, den Türklopfer zu betätigen, offenbar war das Haus menschenleer. Niemand war da, um sie nach ihrer langen Reise in diese fremde Welt zu empfangen - lediglich dieses riesige abweisende Gebäude.
Ein leises Knacken ließ Mel erschrocken herumfahren. Sie hielt den Atem an. Das muss ein Vogel sein, sagte sie sich, aber ihr Herz pochte heftig. Schließlich befand sie sich mitten in der Nacht - so kam es ihr jedenfalls vor - allein in einer der einsamsten Gegenden Cornwalls. Und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie jemand beobachtete.
Zitternd richtete Mel den Blick wieder auf Merryn Hall. Die Einsamkeit und die bedrohliche Atmosphäre des Hauses verunsicherten sie. Aber was hatte sie erwartet? Ein romantisches Cottage inmitten eines gepflegten Anwesens? Einen herzlichen Empfang? Ländliche Gastfreundschaft? Patrick hatte ja in seinem Brief geschrieben, alles sei ein bisschen verkommen ...
Wer war dieser Patrick eigentlich? Der Bekannte eines Exfreunds ihrer Schwester Chrissie. Chrissie hatte kaum noch Kontakt zu ihm und Mel hatte ihn noch nie gesehen.
Sie musste an den Lieblings-Disney-Film ihres kleinen Neffen Rory denken. Vielleicht war sie ja die Schöne, die Zuflucht suchend vor dem Schloss des Biests stand. Aber mit ihrer abgetragenen Lederjacke, den mit Matsch bespritzten Jeans und den nassen roten Haaren war Mel eigentlich keine Idealbesetzung für die Rolle.
Entschlossen umklammerte sie ihre Tasche und ging auf das Portal zu. Von der schweren Holztür blätterte die Farbe ab. Mel lief die Stufen hinauf und wappnete sich. Dann entdeckte sie ein zusammengefaltetes Stück Papier, das hinter dem Messingtürklopfer klemmte. Als sie es auseinanderriss, sah sie, dass ihr jemand in krakeligen Großbuchstaben eine Nachricht hinterlassen hatte.
Sehr geehrte Mel, verzeihen Sie mir bitte. ich habe bis sieben Uhr gewartet, aber jetzt muss ich aufbrechen, um meine Tochter abzuholen. Wenn Sie die Straße ein Stück weiterfahren, erreichen Sie eine Abzweigung, die zum Cottage führt. Der Schlüssel befindet sich unter der Matte. Ich werde Morgen kurz bei Ihnen vorbeischauen.
Hochachtungsvoll Irina Peric
Mel betrachtete die ungelenke Handschrift und die steifen Formulierungen. Am Telefon hatte Irina mit einem osteuropäischen Akzent gesprochen. Sie hatte das R leicht gerollt und bei jedem Wort die erste Silbe betont.
Aber das war jetzt unwichtig. Jetzt musste sie schnellstens wieder ins Auto und den beschriebenen Weg zum Cottage fahren, wo endlich ein Bett auf sie wartete. Während sie in ihrer Jackentasche nach dem Autoschlüssel kramte, fiel ihr Blick zum Himmel. Ein wunderschöner Mond lugte im Nebel hinter den Wolken hervor und leuchtete ihr den Weg. Das musste ein gutes Zeichen sein.
Eine Viertelstunde später schloss Mel endlich die Tür des Garten-Cottage hinter sich. Erschöpft sah sie auf die vielen Koffer und Taschen, die sich in dem kleinen Korridor stapelten. Ihr Blick fiel auf eine Plastiktüte mit Lebensmitteln, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Das Abendessen musste noch einen Augenblick warten. Sie würde sich erst kurz umsehen, danach das auspacken, was sie für die Nacht benötigte, und dann erst etwas essen. Ihr Kopf schmerzte und sie war todmüde.
Mel atmete tief durch, dann machte sie sich an die Erkundung des Cottage. Als Erstes schaltete sie alle Lampen an. Rechts vom Korridor befand sich ein Wohnzimmer, links ein Raum mit einem auf Hochglanz polierten Esstisch und Stühlen. Dahinter war eine winzige Küche mit einem runden Kieferntisch, beigefarbenen Arbeitsflächen, einem Kühlschrank voller Milchprodukte und einer Waschmaschine. An der Decke flackerte eine grelle Neonröhre. Das Flackern ließ sich auch durch mehrmaliges Ein- und Ausschalten der Lampe nicht abstellen. Hinter der Küche befand sich ein Bad mit weißer Keramik, aber ohne Dusche.
Oben gab es zwei Schlafzimmer und ein weiteres Bad. Die Möbel waren schäbig, aber alles war sauber und ordentlich. Als Mel die steile Treppe vorsichtig wieder nach unten ging, fielen ihr der verschossene Teppich und die abblätternde Wandfarbe auf; ihr wurde klar, warum Patrick Mühe hatte, das Cottage zu vermieten. Urlauber legten heutzutage Wert auf zeitgemäße Sanitäreinrichtungen, einen frischen Anstrich und moderne Möbel. Egal, ihr reichte es für den einen Monat.
Sie würde sich auf die Spuren der Maler und Malerinnen begeben, die sich zur Jahrhundertwende in und um Lamorna und das nahe gelegene Fischerörtchen Newlyn niedergelassen hatten. Sie würde die Orte besichtigen, die sie gemalt hatten, Museen und Archive besuchen und Material für das Buch sammeln, das sie anschließend in London schreiben wollte. Sie würde sich so richtig in die Arbeit stürzen, den ganzen Frust des letzten Jahres endlich hinter sich lassen.
Mel hievte die Tüte mit den Lebensmitteln auf den Küchentisch. Das Cottage hatte etwas Vertrautes. Zu vertraut, dachte sie im nächsten Moment, als sie eine wackelige Schranktür öffnete und auf das Frühstücksgeschirr ihrer Mutter starrte: weißes Porzellan mit kleinen Streublümchen. Sie nahm eine Müslischale in die Hand. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie als Kind jeden Morgen mit dem Löffel über dieses Blümchenmuster gekratzt. Mit einem Mal sah sie sich wieder in ihrem wunderbar chaotischen Reihenhaus in einem Vorort von Hertfordshire, zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Schwester. Hastig aßen sie ihr Frühstück, während ihre Mutter Maureen im schicken Kostüm und mit Aktentasche unter dem Arm vor ihnen stand und sie antrieb, sofort ins Auto zu steigen, wenn sie nicht zu Fuß zur Schule gehen wollten.
Die Müslischalen existierten inzwischen nicht mehr, das Haus war verkauft. Der Verlust ihres Elternhauses nach dem Tod ihrer Mutter knapp ein Jahr zuvor hatte Mel zusätzlichen Schmerz bereitet. Sie stellte die Schale zurück, klappte die Schranktür zu und lehnte sich dagegen, als könnte sie ihre Erinnerungen wegschließen. Wenn es doch nur so einfach wäre ...
Wieder überkamen sie Zweifel. Vier Wochen in dieser Einöde, allein mit ihren Gedanken, und das, wo sie emotional so angeschlagen war. Wieso tat sie sich das an? Plötzlich sehnte Mel sich nach ihrem Apartment in Clapham mit dem Blick auf das liebevoll gepflegte Stück Garten, wo den ersten gelben und weißen Frühlingsboten schon bald violetter Flieder und tiefblaue Lilien folgen würden. Aber irgendwie war auch das nicht mehr wie früher. Seit Jake ausgezogen war, hatte sich ihr Apartment nicht mehr wie ein Zuhause angefühlt. Im Bücherregal gab es große Lücken, wo seine Bücher gestanden hatten, und an den Stellen, wo seine Bilder an den Wänden gehangen hatten, waren helle Flecken. Man sah sofort, dass etwas fehlte. Dass jemand fehlte. David Bell hatte recht, sie brauchte dringend einen Ortswechsel.
Drei Wochen zuvor hatte der Senior Tutor sie angesprochen, nach einem dieser endlosen Fakultätsmeetings, in denen alles diskutiert, aber nichts entschieden wurde.
»Mel, haben Sie einen Moment Zeit für mich? Vielleicht auf ein kurzes Mittagessen?« David schaute auf seine Armbanduhr. »Ich hätte Zeit bis zwei, dann habe ich das nächste Meeting.«
Durch das Meer der Studenten bahnten sie sich einen Weg zur Personalkantine. Wenig später stocherte Mel an einem Stück Quiche herum und versuchte, ihrer Stimme wenigstens einen Hauch von Enthusiasmus zu geben, während sie Davids Fragen zu ihrer Arbeit beantwortete. Er sollte nicht merken, wie schwer es ihr im Moment fiel, sich auf ihre Studenten zu konzentrieren, und wie sehr sie ihr Job anödete. Wie ausgebrannt sie war. Aber er ließ sich nicht täuschen.
»Mel«, sagte er nur. Sie versuchte, seinem forschenden Blick auszuweichen, und hoffte, dass er die tiefen Ringe unter ihren Augen nicht bemerkte.
Er lächelte. Sein freundliches Gesicht, die silbergrauen Haare und der warme Blick hatten etwas Väterliches. Man sah ihm nicht an, dass er selbst unter Druck stand. Die Anforderungen ständig wachsender Studentenzahlen, überfüllter Hörsäle und beschränkter finanzieller Mittel gingen auch an ihm nicht spurlos vorüber. Mel wusste, dass David froh war, wenn er zum Ende des Sommersemesters pensioniert wurde. Dann konnte er die Lehr- und Verwaltungstätigkeit endlich aufgeben und sich nur noch der Forschung widmen, für die ihm immer viel zu wenig Zeit geblieben war.
»Vielleicht finden Sie, dass es mich nichts angeht, aber ich habe Sie während des Meetings vorhin beobachtet. Sie sehen aus, als trügen Sie die gesamte Last der Welt auf Ihren Schultern.«
»Das lag nur an John O'Hagens Wortbeitrag«, versuchte Mel zu scherzen. Das Enfant terrible der Kunsthistorischen Fakultät hatte mal wieder versucht, Gewerkschaftsforderungen durchzusetzen. »Ich weiß, dass er prinzipiell recht hat, aber wir können nicht mit einem Arbeitskampf drohen. Wir stehen in der Verantwortung, meine Güte.« Zornig verdrehte sie die Augen.
»Jetzt gefallen Sie mir schon viel besser.« David drückte ihre zur Faust geballte Hand. »Noch vor einem Jahr hätten Sie John in Grund und Boden gestampft.«
»Das stimmt.« Mel lächelte wenig überzeugend und sackte wieder in sich zusammen. »Es tut mir leid, im Moment bin ich einfach keine gute Gesprächspartnerin.«
»Doch, das sind Sie«, widersprach David. »Ich habe bloß den Eindruck, dass Sie ein schweres Jahr hinter sich haben.«
»Es war wirklich nicht besonders toll.«
»Wie geht es Ihrer Familie?«
Mel schob sich ein Stück Quiche in den Mund und kaute, um sich Zeit zu verschaffen. »Ich habe keine Ahnung, was mein Bruder William denkt. Er kann seine Gefühle gut verdrängen und so tun, als sei nichts geschehen. Mit meiner Schwester Chrissie kann ich besser reden.« Sie zögerte einen Moment, dann sprach sie hastig weiter. »Es ist einfach nicht fair, dass der Krebs unsere Mutter so schnell besiegt hat. Mir will das nicht aus dem Kopf gehen. Ich frage mich ständig, ob wir wirklich alles getan haben, ob es nicht vielleicht doch eine Chance gegeben hätte. Vielleicht hätten wir früher erkennen müssen, wie krank sie war. Sie hatte so viel abgenommen und war ständig müde, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ...«
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, sagte David tröstend. »Die Krankheit war einfach so heimtückisch, dass man nichts mehr tun konnte.«
Mel blickte auf ihren Teller. »Das haben die Ärzte auch gesagt.«
Sie aßen eine Zeit lang schweigend, dann sagte David fast beiläufig: »Und dann war da noch die Geschichte mit Jake.«
»Und dann war da noch die Geschichte mit Jake«, wiederholte Mel. Sie griff nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck. Dabei verzog sie das Gesicht wie bei einer widerwärtig schmeckenden Medizin. David kannte Jake sehr gut. Denn Mels Exfreund arbeitete dummerweise auch am College; er war Dozent für Kreatives Schreiben. Das bedeutete, dass sie ihm ständig über den Weg lief. An der Kaffeemaschine, am Kopierer, in der Kantine. Bei dem Meeting am Morgen hatte sie sich absichtlich so hingesetzt, dass sie ihn nicht dauernd anschauen musste. Und trotzdem war sie sich die ganze Zeit seiner Anwesenheit bewusst gewesen. Sie hatte registriert, wie er etwas auf seinen DIN-A4-Block gekritzelt hatte, und seine Stimme gehört, die ihr früher ins Ohr geflüstert hatte, und seine wie immer treffenden Diskussionsbeiträge.
»Mel, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen«, sagte David auf einmal. »Wenn ich richtig informiert bin, steht Ihnen im nächsten Jahr ein Forschungssemester zu.«
»Ja, das stimmt.« Sie nickte. »Seit meinem letzten sind dann fünf Jahre vergangen.«
»Woran arbeiten Sie im Moment? Gibt es da irgendwelche Projekte?«
»Ja, die gibt es. Ich beschäftige mich mit Cornwall«, antwortete sie. »Mit der Newlyn-Malerschule und ihrer Beziehung zu den Künstlern, die sich Ende des 19. Jahrhunderts ein Stück weiter die Küste hinauf in Lamorna niedergelassen haben.«
»Du meine Güte! Stanhope Forbes - gehörte der nicht auch dazu?« David verdrehte die Augen. Er war Mittelalterspezialist, und an der Fakultät spottete man oft, dass alles, was nicht ausgegraben worden war oder von Mönchen stammte, für ihn nicht als richtige Kunst galt.
»Genau. Und seine kanadische Frau Elizabeth ebenfalls. Dann waren da noch Thomas und Caroline Gotch und Walter Langley. Das sind die Bekanntesten. Später kamen noch Harold und Laura Knight aus Lamorna dazu und Sir Alfred Munnings ...«
»Das ist doch der, der die Pferde gemalt hat?«
»So ist es. Grosvenor Press hat mir angeboten, ein Buch über die Künstler aus Newlyn und Lamorna zu schreiben. Ich werde die Recherchen dazu in den nächsten Monaten abschließen, nach dem Sommersemester für ein paar Wochen nach Cornwall fahren und anschließend mit dem Schrei ben anfangen. Das Buch soll Ende des Jahres fertig sein.«
»Klingt interessant.«
»Ist es auch. Mich faszinieren vor allem die Frauen. Einige von ihnen hatten es unglaublich schwer. Laura Knight zum Beispiel. Sie war eine völlig mittellose Waise ...« Mel stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie wild mit ihrer Gabel in der Luft herumgestikulierte. David sah ihr lächelnd zu.
»Warum nehmen Sie Ihr Forschungssemester nicht jetzt sofort?«, schlug er vor. »Warten Sie nicht bis nächstes Jahr, nutzen Sie das Sommersemester. Mit den Semesterferien haben Sie fast sechs Monate Zeit, um ungestört an Ihrem Buch arbeiten zu können.«
Mels Gesicht leuchtete für einen Moment auf, dann seufzte sie. »Klingt verlockend«, meinte sie. »Aber ich soll doch die Vorlesung über die Malerei des 19. Jahrhunderts übernehmen. Und die ›Einführung in die Moderne‹. Und wer soll sich um meine Magister-Studenten kümmern?«
»Mel, ich habe letzte Woche eine E-Mail von Rowena Stiles bekommen.« David sah, dass Mel die Stirn runzelte.
Rowena war eingesprungen, als sie sich im vergangenen Jahr wegen ihrer Mutter für einige Zeit vom College zurückgezogen hatte. Anschließend hatte man Rowena eine dauerhafte Anstellung angeboten, aber sie hatte sich entschieden, mit ihrem Mann, einem Banker, nach New York zu gehen. Mel war froh darüber gewesen; es war kein Geheimnis, dass die beiden Frauen sich nicht besonders mochten.
»Sie ist für ein paar Monate in London«, fuhr David fort. »Sie würde Sie sicher gern vertreten.«
Mel setzte sich auf. »Haben Sie sie etwa schon gefragt?«
»Nein, natürlich nicht. Sie hat sich von sich aus gemeldet, weil sie einen Job sucht, das ist alles.«
Mel überlegte kurz. Die Aussicht, für eine Weile aus allem rauszukommen, war verlockend. Die Vorstellung, dass Rowena schon wieder ihren Job übernahm, weniger. Rowena beherrschte ihren Stoff, keine Frage, aber sie hatte eine sehr autoritäre Art. Mel war stolz auf ihre gute Beziehung zu den Studenten. Ihre feuerroten Haare und die flippigen Klamotten ließen sie jung und interessant aussehen, und sie war großzügig und locker, auch dann, wenn mal jemand eine Arbeit zu spät einreichte. Rowena dagegen ließ so schnell nichts durchgehen. Und vielleicht gab sie sich dieses Mal ja nicht damit zufrieden, Mel nur eine Zeit lang zu vertreten ...
Aber ein komplettes freies Semester? Schon ab der kommenden Woche, wenn es Osterferien gab? Und danach die langen Sommerferien? Es war schon verdammt verlockend.
»Rowena macht ihre Sache ganz ausgezeichnet, Mel«, erklärte David. »Ich weiß, sie kann ziemlich ... ehrgeizig sein ...«
Aufdringlich und dominant wäre die richtige Bezeichnung, dachte Mel. Sie fragte sich, was aus dem angeblich sensationellen Job in dem Manhattaner Museum geworden war, mit dem Rowena so geprahlt hatte. Aber David hatte recht. Ihre Studenten würden sie ein Semester lang verkraften. Und den Job konnte Rowena ihr schließlich nicht stehlen.
Ein Lächeln huschte über Mels gestresstes Gesicht. »Sie versuchen ganz bestimmt nicht, mich loszuwerden?«
»Reden Sie nicht so einen Unsinn, Mel«, antwortete David. »Was ich Ihnen jetzt sage, sage ich Ihnen als Freund. Wenn Sie sich nicht schleunigst eine Auszeit nehmen, werden Sie noch richtig krank. Und das werde ich nicht zulassen. Überlegen Sie sich die Sache am Wochenende. Wir reden Montag weiter.«
Je länger Mel überlegt hatte, desto attraktiver hatte sie das Angebot gefunden. Es gab nur ein Problem.
»Ich weiß nicht, wo ich wohnen soll«, meinte sie, als sie am Sonntagabend mit ihrer Schwester telefonierte. Chrissie lebte mit ihrem Mann Rob im Norden Londons. Sie hatte zwei kleine Söhne, Rory und Freddy, und einen Teilzeitjob bei einer Fernsehproduktion. »Es sind Osterferien und ich habe nichts gebucht.«
»Moment, Rory, Schatz, ich telefoniere gerade. Entschuldige, Mel. Wo genau willst du denn hin?«
»Nach West-Cornwall. Am liebsten in die Gegend von Penzance.«
»Also in den Wilden Westen. Mum war immer gern dort.« Chrissie seufzte. Ihre Eltern hatten sich in Cornwall kennengelernt, weiter östlich in Falmouth. Kurz nach der Hochzeit waren sie nach London gezogen, weil Tom Pentreath dort eine Stelle als Assistenzarzt bekommen hatte. Es war der Beginn einer bemerkenswerten Karriere als Kardiologe gewesen. »Blöd, dass wir da unten niemanden mehr kennen, seit Tante Jean tot ist. Aber - Moment, mir fällt gerade was ein. Mel, ich habe eine Superidee. Erinnerst du dich an Patrick?«
»Welchen Patrick?«
»Patrick Winterton. Ein Bekannter von Nick.« Chrissie war mit Nick zusammen gewesen, als sie in Exeter studiert hatte. Sie hatte den Kontakt auch noch gehalten, als die Beziehung längst zu Ende war. Aber Chrissie hielt Kontakt zu jedem.
»Nein«, antwortete Mel. »Ich kenne keinen Patrick.« Chrissie tat immer so, als müsste sie jeden aus ihrem riesigen Bekanntenkreis kennen. Dabei war das wirklich unmöglich.
»Er hat damals in Exeter Geschichte studiert. Heute ist er selbstständig, ich glaube, er macht irgendwas im Internet «, meinte sie vage. »Und er hat sich kein bisschen verändert. Komisch, dass manche Leute sich nicht verändern ... Nein, Rory, hör auf damit! Du darfst gleich mit Tante Mel sprechen ... Er, also Patrick, hat mir mal erzählt, dass er von irgendeinem Großonkel einen alten Gutshof in der Nähe von Penzance geerbt hat. Ich meine, er hätte den Namen Lamorna erwähnt. Ist das nicht einer der Orte, von denen du gesprochen hast? Zu dem Anwesen muss jedenfalls auch ein Cottage gehören, das er renovieren und vermieten wollte. Ich weiß nicht, in was für einem Zustand es jetzt ist. Mel, sei so lieb und sprich kurz mit Rory, während ich Patricks E-Mail-Adresse raussuche.«
Im Schein der Wandlampen wirkte das Wohnzimmer des Cottage klein, aber gemütlich. Bis auf einen riesigen Fernseher, der wie ein Fremdkörper wirkte, war die Einrichtung mindestens so alt wie das Haus. Ein Rosshaarsofa mit Armlehnen aus Holz und zwei passende Sessel standen vor einem kleinen Kamin, in dem eine ordentlich gestapelte Pyramide aus Holzscheiten, Papier und Kleinholz auf ein Streichholz wartete. Ein Feuer würde den Raum sicher noch behaglicher machen, aber es war unsinnig, so spät noch eins anzuzünden. Mel überlegte kurz, wo sie weiteres Feuerholz finden würde. Das herauszubekommen war eine Aufgabe für den nächsten Morgen.
Sie ließ sich in einen der Sessel fallen. Er war überraschend bequem. Ihr geschulter Blick fiel auf die Bilder an der Wand. Statt billiger Drucke wie in vielen anderen Ferienhäusern hingen hier ungefähr ein halbes Dutzend gerahmte Blumenaquarelle.
Mel stand auf und sah sich eines der Bilder genauer an. Das Licht, das sich im Glas spiegelte, zwang sie, das kleine Gemälde von der Wand zu nehmen. Unter einem Zweig mit drei fein gezeichneten hellrosa Blüten standen die Worte magnolia sargentiana robusta sowie die Initialen
P. T. Mel registrierte, wie exakt die Stängel gemalt waren und wie genau der Farbverlauf der Blüten und die Textur des Holzes getroffen war. Sie hängte das Bild wieder zurück und sah sich auch die anderen Gemälde an: einen cremefarbenen rhododendron macabeanum, eine himbeerfarbene Kamelie, eine violette Iris und zwei Rosensorten. Alle waren genauso detailgetreu wie das erste. Und alle waren mit P. T. signiert. Ehe Mel auch das letzte Aquarell an die Wand zurückhängte, drehte sie es um, um nachzusehen, ob sie irgendwo eine Datierung fand. Aber die Rückseite war unbeschriftet.
Auf dem Kaminsims stand ein Wecker, der in dieser Umgebung ebenso fehl am Platz war wie der Fernseher. Es war fünf vor zehn. Mel machte sich daran, die Koffer nach oben zu schleppen.
In dem größeren der beiden Schlafzimmer stand ein Doppelbett aus Eiche. Erleichtert stellte Mel fest, dass ein richtiges Plumeau darauf lag, nicht nur eine dünne Decke. Dafür roch es ziemlich muffig. Sie stellte das Gepäck auf den Boden und fragte sich, wo sie ihren ganzen Kram verstauen sollte. Ihr Blick fiel auf eine wackelige Kommode neben der Tür. Darauf standen eine Waschschüssel und ein gesprungener Krug. Mel klemmte sich einen Stapel saubere Unterwäsche unter den Arm und fuhr stirnrunzelnd mit dem Finger über den staubigen Rand.
Mit der freien Hand zog sie an der obersten Schublade, um die Unterwäsche darin zu verstauen, aber sie klemmte und ließ sich nur ein kleines Stück öffnen. Mel versuchte hineinzuschauen.
Zwischen Schublade und Rahmen steckte eine zusammengefaltete vergilbte Zeitungsseite. Mel zog das Papier vorsichtig heraus und faltete es auseinander. Das Datum war durchgerissen, aber sie hielt die Stücke so zusammen, bis sie es lesen konnte: März 1912. Das war vor fast hundert Jahren gewesen. Mels Blick fiel auf einen kurzen Artikel über eine Gruppe arbeitsloser Minenarbeiter, die mit ihren Familien Penzance verließen, um mit dem Schiff von Southampton zum Kap zu reisen. Der Strom der Auswanderer reißt nicht ab, im Gegenteil, er ist so stark wie eh und je ... war dort zu lesen.
Mel drehte die Zeitungsseite herum. Zwischen Werbe- anzeigen für Patentrezepte und Damenmode stieß sie auf einen weiteren Bericht.
TRAGÖDIE IN NEWLYN Am Samstagabend um kurz nach zehn wurden die Gäste des Gasthofs Zum Blauen Anker (Besitzerin: Mrs Adeline Treglown) am Hafen auf einen Feuerschein im oberen Stockwerk des Gebäudes aufmerksam. Sie schlugen sofort Alarm. Das Gebäude wurde evakuiert, und die Küstenwache, ein paar Fischer sowie einige Matrosen der Mercury eilten zu Hilfe. Obwohl das Feuer schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte, fand man in den Trümmern die Leiche eines Mannes. Er wurde als Arthur Reagan, 52, aus London identifiziert. Eine genaue Untersuchung des Unglücks ist für die kommende Woche anberaumt.
Mel las den Zeitungsausschnitt zweimal und fragte sich, warum ihn wohl jemand aufbewahrt hatte. Kopfschüttelnd faltete sie ihn zusammen und steckte ihn wieder in die Schublade.
Während sie sich ein altes T-Shirt als Nachthemd überzog und sich an dem kleinen Waschbecken die Zähne putzte, dachte sie noch einmal über das nach, was sie gelesen hatte. Sie stellte sich vor, wie die Matrosen die Flammen bekämpft und versucht hatten zu retten, was zu retten war. Seltsam, wie ein Ereignis aus der Vergangenheit sie plötzlich beschäftigte. Sie hatte nach einem Platz für ihre Unterwäsche gesucht und dabei eine Geschichte gefunden.
Cornwall gehöre zu den geheimnisumwobensten Gegenden Englands, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Als Mel und Chrissie klein waren, hatte William ihnen abends im Bett oft Schauermärchen vorgelesen, von kopflosen Reitern, Meerjungfrauen und unheimlichen Lichtern, die Schiffe ins Verderben lockten. Am Ende hatten sie immer starr vor Angst in ihren Betten gelegen, bis ihre Mutter William das Buch fortgenommen und die Mädchen mit einem Gebet aus ihrer eigenen Kindheit beruhigt hatte.
Wie ging es noch gleich? Irgendetwas über den Schutz vor Geistern und Gespenstern und langbeinigen Kreaturen, die nachts Buh! machten. Auf jeden Fall endete es mit: Davor möge uns der gute Gott bewahren!
Plötzlich kam aus dem Korridor ein lautes Knarren. Mel erstarrte.
Das sind nur die Holzdielen, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und lugte in den Flur hinaus, aber nichts rührte sich dort. Langsam legte sich der Schreck, Kummer und Verzweiflung überkamen Mel. Sie schlüpfte ins Bett und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Mel fühlte sich einsam und verlassen wie ein Kind in der Dunkelheit. Wie früher verbarg sie das Gesicht in ihrem Kopfkissen. Kurz bevor sie endlich einschlief, nahm sie wieder die beruhigende Stimme ihrer Mutter wahr: Morgen früh bei Tageslicht sieht die Welt ganz anders aus, Schatz. Hoffentlich stimmte das.
Aber das Haus flüsterte seine Geheimnisse in die Nacht ...
Übersetzung: Barbara Ritterbach
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Der Garten der Erinnerung
Copyright der Originalausgabe © 2007 by Rachel Hore published by Pocket Books UK Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2008 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln Copyright der Originalausgabe © 2006 by Rachel Hore published by Pocket Books UK Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2007 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG, Bergisch Gladbach
Adeline Treglown Zum Blauen Anker Harbour Street Newlyn
Ostermontag 1912
Liebe Mrs Treglown, meine Köchin, Mrs Dolly Roberts, die meines Wissens Ihre Schwägerin ist, hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass Sie eine Anstellung für Ihre Tochter suchen. Sie hat mir versichert, dass die junge Dame ehrlich, fleißig und zuverlässig ist. Ich suche ein Hausmädchen, das ich zur Zofe ausbilden kann, und Pearl scheint mir dafür geeignet. Mein Gärtner, Mr Boase, fährt an jedem Markttag mit der Kutsche nach Penzance. Er könnte Pearl am nächsten Donnerstag um zwölf Uhr mittags an der Davy Statue abholen, wenn es Ihnen recht ist. Ich kann Ihrer Tochter zwölf Guineas zahlen, muss aber sechs Pennys im Monat für ihre Uniform zurückbehalten. Es tut mir aufrichtig leid zu hören, dass Sie in solchen Schwierigkeiten sind.
Hochachtungsvoll Emily Carey
1. Kapitel
Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Mel schaltete das knisternde Autoradio aus und schaute beunruhigt durch die regennasse Windschutzscheibe. Obwohl sie im Schneckentempo fuhr, kam ihr die Fahrt über die stockfinsteren kurvenreichen Landstraßen Cornwalls vor wie eine Fahrt auf der Achterbahn. Zu beiden Seiten fiel die Böschung steil ab, und mehr als einmal bekam sie einen Riesenschreck, weil vor ihr ganz plötzlich ein Steinwall im Scheinwerferlicht auftauchte.
Eineinhalb Meilen hinter Newlyn kurz hinter der Töpferei an der Kreuzung links abbiegen, hatte Patrick auf die Kopie der Straßenkarte geschrieben, die er ihr geschickt hatte. Aber Mel hatte in der Dunkelheit keine Töpferei gesehen und war einfach an einer Kreuzung, die sie für die richtige hielt, links abgebogen. Jetzt hatte sie plötzlich das Gefühl, im Kreis gefahren zu sein. Wieso gab es bloß nirgends ein Straßenschild?
Schade, dass diese Reise sich zu so einem Albtraum entwickelte. Mel hatte sich so lange darauf gefreut. Seit David Bell, Senior Tutor an dem Südlondoner College, an dem sie als Dozentin für Kunstgeschichte arbeitete, ihr vorgeschlagen hatte, ein Forschungssemester zu nehmen. Seine besorgten Worte klangen ihr immer noch in den Ohren: Mel, ich fürchte, Sie werden ernsthaft krank, wenn Sie sich nicht schleunigst eine Auszeit nehmen.
Es gibt eben verschiedene Möglichkeiten, die Orientierung zu verlieren, dachte sie nun und lenkte den Wagen um die nächste Kurve. Was war das denn? Sie trat heftig auf die Bremse, als aus der Dunkelheit etwas auf sie zugeschossen kam. Eine Eule. Mel nahm ein Paar leuchtende Augen und einen gebogenen Schnabel wahr, ehe der Vogel in die Nacht entschwand. Einen Augenblick war sie vor Schreck wie gelähmt, dann nahm sie den Fuß von der Bremse, und der Wagen rollte weiter.
Doch schon kurz darauf bremste Mel wieder ab. Sie stand an einer T-Kreuzung. In welche Richtung nun? Mel zog die Handbremse an, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr - Viertel nach acht, für einen Aprilabend war es wirklich verdammt dunkel - und schaltete die Innenbeleuchtung ein.
Müde rieb sie sich den Nacken und versuchte, im schwachen Lichtschein auf der Karte etwas zu erkennen. Ihr Finger fuhr über das Gewirr der Straßenlinien, bis sie die richtige gefunden hatte. Sie ging zickzackförmig an Merryn Hall vorbei, ehe sie nach links durch das Dorf Lamorna führte und dann hinunter zur Bucht Lamorna Cove.
Mel kurbelte das Fenster herunter und beugte sich hinaus. Fröstelnd hielt sie Ausschau nach einem Schild oder irgendetwas, das ihr eine Orientierung gab. Nichts. Nur strömender Regen. Eigentlich konnte sie nicht mehr weit von Lamorna entfernt sein, aber wenn sie nicht aufpasste, würde sie die ganze Nacht im Kreis herumfahren. Mel zerrte ihren Seesack aus dem Fußraum des Beifahrersitzes und kramte nach ihrem Handy. Als sie es endlich fand, wählte sie die Nummer, die Patrick auf die Karte gekritzelt hatte. Keine Netzverbindung stand auf dem Display.
Ich wünschte, Jake wäre hier, fuhr ihr plötzlich und ungebeten eine tückische kleine Stimme durch den Kopf. Jake hatte ein Faible für Straßenkarten und Autos, Katzen und Fernsehgeräte. Leider hatte er irgendwann kein Faible mehr für Mel gehabt. Jake war weg, und sie musste selbst sehen, wie sie aus diesem Schlamassel herauskam.
Der Gedanke gab ihr neue Energie. Ihr blieb nichts anderes übrig, sie musste zurückfahren. In der Hoffnung, dass nicht ausgerechnet in diesem Moment ein Auto um die Kurve kam, wendete Mel auf der engen Straße und fuhr in die Richtung, aus der sie gekommen war. Dieses Mal hatte sie Glück. Wenige Minuten später fand sie die Abzweigung, die sie beim ersten Mal übersehen hatte.
Lamorna lag in einem Tal. Da die Straße jetzt zwischen hohen Hecken abwärtsführte, wuchs Mels Zuversicht. Der Weg wurde immer steiler und kurviger, und sie musste sich ziemlich konzentrieren, um das Auto in der Fahrspur zu halten. Wenigstens schien der Regen etwas nachzulassen.
Mel hielt Ausschau nach Anzeichen für eine menschliche Behausung, und tatsächlich ging die Hecke auf einer Seite in eine niedrige, von Bäumen gesäumte Mauer über. Ein Tor tauchte im Dunkeln auf. Sie fuhr langsamer. Konnte es das sein? Ein verwittertes Holzschild hing schief an einem der Pfosten. ERRYN HAL entzifferte sie mühsam. Erleichtert lenkte Mel den Wagen durch das Tor.
Pechschwarze Dunkelheit umgab sie. Nein, da in der Ferne, zwischen den mächtigen Baumstämmen, war ein schwaches Licht zu erkennen. Die Autoscheinwerfer beleuchteten eine von Schlaglöchern übersäte Zufahrt, die zu beiden Seiten zugewachsen war.
Glücklicherweise hatte es aufgehört zu regnen. Mel fuhr auf einen Hof. Zwischen den Pflastersteinen wucherte Unkraut. Im gelblichen Lichtschein einer Laterne sah sie die mächtigen Säulen eines georgianischen Portals, zu dem drei halbrunde Stufen hinaufführten. Die Laterne war das einzige Lebenszeichen weit und breit.
Nach kurzem Zögern parkte Mel und schaltete den Motor aus. Sie blieb noch einen Augenblick sitzen. Vorsichtig schaute sie sich um und versuchte, nicht an die düsteren Horrorfilme zu denken, die sie als Teenager so oft gesehen hatte. Weibliche Hauptfigur sucht in regnerischer Nacht Zuflucht in einem verlassenen Schloss. Als sie die knarrende Eingangstür aufstößt, beginnt das wahre Grauen ...
Reiß dich zusammen, ermahnte Mel sich. In Cornwall gibt es keine Vampire.
Wer weiß das schon? Auf einmal musste sie an den Spruch ihres Bruders William denken, den er ihr als Kind oft mit drohender Stimme zugeflüstert hatte.
Unfug, beruhigte sie sich noch einmal. Wenn du irgendwann etwas zu essen und ein Bett haben willst, kannst du hier nicht ewig sitzen bleiben. Mel öffnete die Autotür.
Außer dem stetigen Tropfen des Wassers von den Blättern der Bäume und Sträucher ringsum war nichts zu hören. Das Haus stand in der feuchten Dunkelheit, in den Fensterscheiben spiegelte sich das elfenbeinfarbene Licht der Laterne. Ganz schwach konnte man hoch über dem Portal Zinnen erkennen, wie bei einem Schloss. Sie verloren sich im Nebel. Bäume und Sträucher wuchsen bis dicht an die Außenmauern, sodass man nur eine eingeschränkte Ahnung von den Ausmaßen des Gebäudes bekam. Es wirkte düster und unheimlich.
Mel verließ auch noch der letzte Rest Mut. Es war völlig sinnlos, den Türklopfer zu betätigen, offenbar war das Haus menschenleer. Niemand war da, um sie nach ihrer langen Reise in diese fremde Welt zu empfangen - lediglich dieses riesige abweisende Gebäude.
Ein leises Knacken ließ Mel erschrocken herumfahren. Sie hielt den Atem an. Das muss ein Vogel sein, sagte sie sich, aber ihr Herz pochte heftig. Schließlich befand sie sich mitten in der Nacht - so kam es ihr jedenfalls vor - allein in einer der einsamsten Gegenden Cornwalls. Und sie hatte das unangenehme Gefühl, dass sie jemand beobachtete.
Zitternd richtete Mel den Blick wieder auf Merryn Hall. Die Einsamkeit und die bedrohliche Atmosphäre des Hauses verunsicherten sie. Aber was hatte sie erwartet? Ein romantisches Cottage inmitten eines gepflegten Anwesens? Einen herzlichen Empfang? Ländliche Gastfreundschaft? Patrick hatte ja in seinem Brief geschrieben, alles sei ein bisschen verkommen ...
Wer war dieser Patrick eigentlich? Der Bekannte eines Exfreunds ihrer Schwester Chrissie. Chrissie hatte kaum noch Kontakt zu ihm und Mel hatte ihn noch nie gesehen.
Sie musste an den Lieblings-Disney-Film ihres kleinen Neffen Rory denken. Vielleicht war sie ja die Schöne, die Zuflucht suchend vor dem Schloss des Biests stand. Aber mit ihrer abgetragenen Lederjacke, den mit Matsch bespritzten Jeans und den nassen roten Haaren war Mel eigentlich keine Idealbesetzung für die Rolle.
Entschlossen umklammerte sie ihre Tasche und ging auf das Portal zu. Von der schweren Holztür blätterte die Farbe ab. Mel lief die Stufen hinauf und wappnete sich. Dann entdeckte sie ein zusammengefaltetes Stück Papier, das hinter dem Messingtürklopfer klemmte. Als sie es auseinanderriss, sah sie, dass ihr jemand in krakeligen Großbuchstaben eine Nachricht hinterlassen hatte.
Sehr geehrte Mel, verzeihen Sie mir bitte. ich habe bis sieben Uhr gewartet, aber jetzt muss ich aufbrechen, um meine Tochter abzuholen. Wenn Sie die Straße ein Stück weiterfahren, erreichen Sie eine Abzweigung, die zum Cottage führt. Der Schlüssel befindet sich unter der Matte. Ich werde Morgen kurz bei Ihnen vorbeischauen.
Hochachtungsvoll Irina Peric
Mel betrachtete die ungelenke Handschrift und die steifen Formulierungen. Am Telefon hatte Irina mit einem osteuropäischen Akzent gesprochen. Sie hatte das R leicht gerollt und bei jedem Wort die erste Silbe betont.
Aber das war jetzt unwichtig. Jetzt musste sie schnellstens wieder ins Auto und den beschriebenen Weg zum Cottage fahren, wo endlich ein Bett auf sie wartete. Während sie in ihrer Jackentasche nach dem Autoschlüssel kramte, fiel ihr Blick zum Himmel. Ein wunderschöner Mond lugte im Nebel hinter den Wolken hervor und leuchtete ihr den Weg. Das musste ein gutes Zeichen sein.
Eine Viertelstunde später schloss Mel endlich die Tür des Garten-Cottage hinter sich. Erschöpft sah sie auf die vielen Koffer und Taschen, die sich in dem kleinen Korridor stapelten. Ihr Blick fiel auf eine Plastiktüte mit Lebensmitteln, die sie von zu Hause mitgebracht hatte. Das Abendessen musste noch einen Augenblick warten. Sie würde sich erst kurz umsehen, danach das auspacken, was sie für die Nacht benötigte, und dann erst etwas essen. Ihr Kopf schmerzte und sie war todmüde.
Mel atmete tief durch, dann machte sie sich an die Erkundung des Cottage. Als Erstes schaltete sie alle Lampen an. Rechts vom Korridor befand sich ein Wohnzimmer, links ein Raum mit einem auf Hochglanz polierten Esstisch und Stühlen. Dahinter war eine winzige Küche mit einem runden Kieferntisch, beigefarbenen Arbeitsflächen, einem Kühlschrank voller Milchprodukte und einer Waschmaschine. An der Decke flackerte eine grelle Neonröhre. Das Flackern ließ sich auch durch mehrmaliges Ein- und Ausschalten der Lampe nicht abstellen. Hinter der Küche befand sich ein Bad mit weißer Keramik, aber ohne Dusche.
Oben gab es zwei Schlafzimmer und ein weiteres Bad. Die Möbel waren schäbig, aber alles war sauber und ordentlich. Als Mel die steile Treppe vorsichtig wieder nach unten ging, fielen ihr der verschossene Teppich und die abblätternde Wandfarbe auf; ihr wurde klar, warum Patrick Mühe hatte, das Cottage zu vermieten. Urlauber legten heutzutage Wert auf zeitgemäße Sanitäreinrichtungen, einen frischen Anstrich und moderne Möbel. Egal, ihr reichte es für den einen Monat.
Sie würde sich auf die Spuren der Maler und Malerinnen begeben, die sich zur Jahrhundertwende in und um Lamorna und das nahe gelegene Fischerörtchen Newlyn niedergelassen hatten. Sie würde die Orte besichtigen, die sie gemalt hatten, Museen und Archive besuchen und Material für das Buch sammeln, das sie anschließend in London schreiben wollte. Sie würde sich so richtig in die Arbeit stürzen, den ganzen Frust des letzten Jahres endlich hinter sich lassen.
Mel hievte die Tüte mit den Lebensmitteln auf den Küchentisch. Das Cottage hatte etwas Vertrautes. Zu vertraut, dachte sie im nächsten Moment, als sie eine wackelige Schranktür öffnete und auf das Frühstücksgeschirr ihrer Mutter starrte: weißes Porzellan mit kleinen Streublümchen. Sie nahm eine Müslischale in die Hand. Solange sie zurückdenken konnte, hatte sie als Kind jeden Morgen mit dem Löffel über dieses Blümchenmuster gekratzt. Mit einem Mal sah sie sich wieder in ihrem wunderbar chaotischen Reihenhaus in einem Vorort von Hertfordshire, zusammen mit ihrem Bruder und ihrer Schwester. Hastig aßen sie ihr Frühstück, während ihre Mutter Maureen im schicken Kostüm und mit Aktentasche unter dem Arm vor ihnen stand und sie antrieb, sofort ins Auto zu steigen, wenn sie nicht zu Fuß zur Schule gehen wollten.
Die Müslischalen existierten inzwischen nicht mehr, das Haus war verkauft. Der Verlust ihres Elternhauses nach dem Tod ihrer Mutter knapp ein Jahr zuvor hatte Mel zusätzlichen Schmerz bereitet. Sie stellte die Schale zurück, klappte die Schranktür zu und lehnte sich dagegen, als könnte sie ihre Erinnerungen wegschließen. Wenn es doch nur so einfach wäre ...
Wieder überkamen sie Zweifel. Vier Wochen in dieser Einöde, allein mit ihren Gedanken, und das, wo sie emotional so angeschlagen war. Wieso tat sie sich das an? Plötzlich sehnte Mel sich nach ihrem Apartment in Clapham mit dem Blick auf das liebevoll gepflegte Stück Garten, wo den ersten gelben und weißen Frühlingsboten schon bald violetter Flieder und tiefblaue Lilien folgen würden. Aber irgendwie war auch das nicht mehr wie früher. Seit Jake ausgezogen war, hatte sich ihr Apartment nicht mehr wie ein Zuhause angefühlt. Im Bücherregal gab es große Lücken, wo seine Bücher gestanden hatten, und an den Stellen, wo seine Bilder an den Wänden gehangen hatten, waren helle Flecken. Man sah sofort, dass etwas fehlte. Dass jemand fehlte. David Bell hatte recht, sie brauchte dringend einen Ortswechsel.
Drei Wochen zuvor hatte der Senior Tutor sie angesprochen, nach einem dieser endlosen Fakultätsmeetings, in denen alles diskutiert, aber nichts entschieden wurde.
»Mel, haben Sie einen Moment Zeit für mich? Vielleicht auf ein kurzes Mittagessen?« David schaute auf seine Armbanduhr. »Ich hätte Zeit bis zwei, dann habe ich das nächste Meeting.«
Durch das Meer der Studenten bahnten sie sich einen Weg zur Personalkantine. Wenig später stocherte Mel an einem Stück Quiche herum und versuchte, ihrer Stimme wenigstens einen Hauch von Enthusiasmus zu geben, während sie Davids Fragen zu ihrer Arbeit beantwortete. Er sollte nicht merken, wie schwer es ihr im Moment fiel, sich auf ihre Studenten zu konzentrieren, und wie sehr sie ihr Job anödete. Wie ausgebrannt sie war. Aber er ließ sich nicht täuschen.
»Mel«, sagte er nur. Sie versuchte, seinem forschenden Blick auszuweichen, und hoffte, dass er die tiefen Ringe unter ihren Augen nicht bemerkte.
Er lächelte. Sein freundliches Gesicht, die silbergrauen Haare und der warme Blick hatten etwas Väterliches. Man sah ihm nicht an, dass er selbst unter Druck stand. Die Anforderungen ständig wachsender Studentenzahlen, überfüllter Hörsäle und beschränkter finanzieller Mittel gingen auch an ihm nicht spurlos vorüber. Mel wusste, dass David froh war, wenn er zum Ende des Sommersemesters pensioniert wurde. Dann konnte er die Lehr- und Verwaltungstätigkeit endlich aufgeben und sich nur noch der Forschung widmen, für die ihm immer viel zu wenig Zeit geblieben war.
»Vielleicht finden Sie, dass es mich nichts angeht, aber ich habe Sie während des Meetings vorhin beobachtet. Sie sehen aus, als trügen Sie die gesamte Last der Welt auf Ihren Schultern.«
»Das lag nur an John O'Hagens Wortbeitrag«, versuchte Mel zu scherzen. Das Enfant terrible der Kunsthistorischen Fakultät hatte mal wieder versucht, Gewerkschaftsforderungen durchzusetzen. »Ich weiß, dass er prinzipiell recht hat, aber wir können nicht mit einem Arbeitskampf drohen. Wir stehen in der Verantwortung, meine Güte.« Zornig verdrehte sie die Augen.
»Jetzt gefallen Sie mir schon viel besser.« David drückte ihre zur Faust geballte Hand. »Noch vor einem Jahr hätten Sie John in Grund und Boden gestampft.«
»Das stimmt.« Mel lächelte wenig überzeugend und sackte wieder in sich zusammen. »Es tut mir leid, im Moment bin ich einfach keine gute Gesprächspartnerin.«
»Doch, das sind Sie«, widersprach David. »Ich habe bloß den Eindruck, dass Sie ein schweres Jahr hinter sich haben.«
»Es war wirklich nicht besonders toll.«
»Wie geht es Ihrer Familie?«
Mel schob sich ein Stück Quiche in den Mund und kaute, um sich Zeit zu verschaffen. »Ich habe keine Ahnung, was mein Bruder William denkt. Er kann seine Gefühle gut verdrängen und so tun, als sei nichts geschehen. Mit meiner Schwester Chrissie kann ich besser reden.« Sie zögerte einen Moment, dann sprach sie hastig weiter. »Es ist einfach nicht fair, dass der Krebs unsere Mutter so schnell besiegt hat. Mir will das nicht aus dem Kopf gehen. Ich frage mich ständig, ob wir wirklich alles getan haben, ob es nicht vielleicht doch eine Chance gegeben hätte. Vielleicht hätten wir früher erkennen müssen, wie krank sie war. Sie hatte so viel abgenommen und war ständig müde, aber ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass ...«
»Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen«, sagte David tröstend. »Die Krankheit war einfach so heimtückisch, dass man nichts mehr tun konnte.«
Mel blickte auf ihren Teller. »Das haben die Ärzte auch gesagt.«
Sie aßen eine Zeit lang schweigend, dann sagte David fast beiläufig: »Und dann war da noch die Geschichte mit Jake.«
»Und dann war da noch die Geschichte mit Jake«, wiederholte Mel. Sie griff nach ihrem Wasserglas und trank einen Schluck. Dabei verzog sie das Gesicht wie bei einer widerwärtig schmeckenden Medizin. David kannte Jake sehr gut. Denn Mels Exfreund arbeitete dummerweise auch am College; er war Dozent für Kreatives Schreiben. Das bedeutete, dass sie ihm ständig über den Weg lief. An der Kaffeemaschine, am Kopierer, in der Kantine. Bei dem Meeting am Morgen hatte sie sich absichtlich so hingesetzt, dass sie ihn nicht dauernd anschauen musste. Und trotzdem war sie sich die ganze Zeit seiner Anwesenheit bewusst gewesen. Sie hatte registriert, wie er etwas auf seinen DIN-A4-Block gekritzelt hatte, und seine Stimme gehört, die ihr früher ins Ohr geflüstert hatte, und seine wie immer treffenden Diskussionsbeiträge.
»Mel, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen«, sagte David auf einmal. »Wenn ich richtig informiert bin, steht Ihnen im nächsten Jahr ein Forschungssemester zu.«
»Ja, das stimmt.« Sie nickte. »Seit meinem letzten sind dann fünf Jahre vergangen.«
»Woran arbeiten Sie im Moment? Gibt es da irgendwelche Projekte?«
»Ja, die gibt es. Ich beschäftige mich mit Cornwall«, antwortete sie. »Mit der Newlyn-Malerschule und ihrer Beziehung zu den Künstlern, die sich Ende des 19. Jahrhunderts ein Stück weiter die Küste hinauf in Lamorna niedergelassen haben.«
»Du meine Güte! Stanhope Forbes - gehörte der nicht auch dazu?« David verdrehte die Augen. Er war Mittelalterspezialist, und an der Fakultät spottete man oft, dass alles, was nicht ausgegraben worden war oder von Mönchen stammte, für ihn nicht als richtige Kunst galt.
»Genau. Und seine kanadische Frau Elizabeth ebenfalls. Dann waren da noch Thomas und Caroline Gotch und Walter Langley. Das sind die Bekanntesten. Später kamen noch Harold und Laura Knight aus Lamorna dazu und Sir Alfred Munnings ...«
»Das ist doch der, der die Pferde gemalt hat?«
»So ist es. Grosvenor Press hat mir angeboten, ein Buch über die Künstler aus Newlyn und Lamorna zu schreiben. Ich werde die Recherchen dazu in den nächsten Monaten abschließen, nach dem Sommersemester für ein paar Wochen nach Cornwall fahren und anschließend mit dem Schrei ben anfangen. Das Buch soll Ende des Jahres fertig sein.«
»Klingt interessant.«
»Ist es auch. Mich faszinieren vor allem die Frauen. Einige von ihnen hatten es unglaublich schwer. Laura Knight zum Beispiel. Sie war eine völlig mittellose Waise ...« Mel stockte, als ihr bewusst wurde, dass sie wild mit ihrer Gabel in der Luft herumgestikulierte. David sah ihr lächelnd zu.
»Warum nehmen Sie Ihr Forschungssemester nicht jetzt sofort?«, schlug er vor. »Warten Sie nicht bis nächstes Jahr, nutzen Sie das Sommersemester. Mit den Semesterferien haben Sie fast sechs Monate Zeit, um ungestört an Ihrem Buch arbeiten zu können.«
Mels Gesicht leuchtete für einen Moment auf, dann seufzte sie. »Klingt verlockend«, meinte sie. »Aber ich soll doch die Vorlesung über die Malerei des 19. Jahrhunderts übernehmen. Und die ›Einführung in die Moderne‹. Und wer soll sich um meine Magister-Studenten kümmern?«
»Mel, ich habe letzte Woche eine E-Mail von Rowena Stiles bekommen.« David sah, dass Mel die Stirn runzelte.
Rowena war eingesprungen, als sie sich im vergangenen Jahr wegen ihrer Mutter für einige Zeit vom College zurückgezogen hatte. Anschließend hatte man Rowena eine dauerhafte Anstellung angeboten, aber sie hatte sich entschieden, mit ihrem Mann, einem Banker, nach New York zu gehen. Mel war froh darüber gewesen; es war kein Geheimnis, dass die beiden Frauen sich nicht besonders mochten.
»Sie ist für ein paar Monate in London«, fuhr David fort. »Sie würde Sie sicher gern vertreten.«
Mel setzte sich auf. »Haben Sie sie etwa schon gefragt?«
»Nein, natürlich nicht. Sie hat sich von sich aus gemeldet, weil sie einen Job sucht, das ist alles.«
Mel überlegte kurz. Die Aussicht, für eine Weile aus allem rauszukommen, war verlockend. Die Vorstellung, dass Rowena schon wieder ihren Job übernahm, weniger. Rowena beherrschte ihren Stoff, keine Frage, aber sie hatte eine sehr autoritäre Art. Mel war stolz auf ihre gute Beziehung zu den Studenten. Ihre feuerroten Haare und die flippigen Klamotten ließen sie jung und interessant aussehen, und sie war großzügig und locker, auch dann, wenn mal jemand eine Arbeit zu spät einreichte. Rowena dagegen ließ so schnell nichts durchgehen. Und vielleicht gab sie sich dieses Mal ja nicht damit zufrieden, Mel nur eine Zeit lang zu vertreten ...
Aber ein komplettes freies Semester? Schon ab der kommenden Woche, wenn es Osterferien gab? Und danach die langen Sommerferien? Es war schon verdammt verlockend.
»Rowena macht ihre Sache ganz ausgezeichnet, Mel«, erklärte David. »Ich weiß, sie kann ziemlich ... ehrgeizig sein ...«
Aufdringlich und dominant wäre die richtige Bezeichnung, dachte Mel. Sie fragte sich, was aus dem angeblich sensationellen Job in dem Manhattaner Museum geworden war, mit dem Rowena so geprahlt hatte. Aber David hatte recht. Ihre Studenten würden sie ein Semester lang verkraften. Und den Job konnte Rowena ihr schließlich nicht stehlen.
Ein Lächeln huschte über Mels gestresstes Gesicht. »Sie versuchen ganz bestimmt nicht, mich loszuwerden?«
»Reden Sie nicht so einen Unsinn, Mel«, antwortete David. »Was ich Ihnen jetzt sage, sage ich Ihnen als Freund. Wenn Sie sich nicht schleunigst eine Auszeit nehmen, werden Sie noch richtig krank. Und das werde ich nicht zulassen. Überlegen Sie sich die Sache am Wochenende. Wir reden Montag weiter.«
Je länger Mel überlegt hatte, desto attraktiver hatte sie das Angebot gefunden. Es gab nur ein Problem.
»Ich weiß nicht, wo ich wohnen soll«, meinte sie, als sie am Sonntagabend mit ihrer Schwester telefonierte. Chrissie lebte mit ihrem Mann Rob im Norden Londons. Sie hatte zwei kleine Söhne, Rory und Freddy, und einen Teilzeitjob bei einer Fernsehproduktion. »Es sind Osterferien und ich habe nichts gebucht.«
»Moment, Rory, Schatz, ich telefoniere gerade. Entschuldige, Mel. Wo genau willst du denn hin?«
»Nach West-Cornwall. Am liebsten in die Gegend von Penzance.«
»Also in den Wilden Westen. Mum war immer gern dort.« Chrissie seufzte. Ihre Eltern hatten sich in Cornwall kennengelernt, weiter östlich in Falmouth. Kurz nach der Hochzeit waren sie nach London gezogen, weil Tom Pentreath dort eine Stelle als Assistenzarzt bekommen hatte. Es war der Beginn einer bemerkenswerten Karriere als Kardiologe gewesen. »Blöd, dass wir da unten niemanden mehr kennen, seit Tante Jean tot ist. Aber - Moment, mir fällt gerade was ein. Mel, ich habe eine Superidee. Erinnerst du dich an Patrick?«
»Welchen Patrick?«
»Patrick Winterton. Ein Bekannter von Nick.« Chrissie war mit Nick zusammen gewesen, als sie in Exeter studiert hatte. Sie hatte den Kontakt auch noch gehalten, als die Beziehung längst zu Ende war. Aber Chrissie hielt Kontakt zu jedem.
»Nein«, antwortete Mel. »Ich kenne keinen Patrick.« Chrissie tat immer so, als müsste sie jeden aus ihrem riesigen Bekanntenkreis kennen. Dabei war das wirklich unmöglich.
»Er hat damals in Exeter Geschichte studiert. Heute ist er selbstständig, ich glaube, er macht irgendwas im Internet «, meinte sie vage. »Und er hat sich kein bisschen verändert. Komisch, dass manche Leute sich nicht verändern ... Nein, Rory, hör auf damit! Du darfst gleich mit Tante Mel sprechen ... Er, also Patrick, hat mir mal erzählt, dass er von irgendeinem Großonkel einen alten Gutshof in der Nähe von Penzance geerbt hat. Ich meine, er hätte den Namen Lamorna erwähnt. Ist das nicht einer der Orte, von denen du gesprochen hast? Zu dem Anwesen muss jedenfalls auch ein Cottage gehören, das er renovieren und vermieten wollte. Ich weiß nicht, in was für einem Zustand es jetzt ist. Mel, sei so lieb und sprich kurz mit Rory, während ich Patricks E-Mail-Adresse raussuche.«
Im Schein der Wandlampen wirkte das Wohnzimmer des Cottage klein, aber gemütlich. Bis auf einen riesigen Fernseher, der wie ein Fremdkörper wirkte, war die Einrichtung mindestens so alt wie das Haus. Ein Rosshaarsofa mit Armlehnen aus Holz und zwei passende Sessel standen vor einem kleinen Kamin, in dem eine ordentlich gestapelte Pyramide aus Holzscheiten, Papier und Kleinholz auf ein Streichholz wartete. Ein Feuer würde den Raum sicher noch behaglicher machen, aber es war unsinnig, so spät noch eins anzuzünden. Mel überlegte kurz, wo sie weiteres Feuerholz finden würde. Das herauszubekommen war eine Aufgabe für den nächsten Morgen.
Sie ließ sich in einen der Sessel fallen. Er war überraschend bequem. Ihr geschulter Blick fiel auf die Bilder an der Wand. Statt billiger Drucke wie in vielen anderen Ferienhäusern hingen hier ungefähr ein halbes Dutzend gerahmte Blumenaquarelle.
Mel stand auf und sah sich eines der Bilder genauer an. Das Licht, das sich im Glas spiegelte, zwang sie, das kleine Gemälde von der Wand zu nehmen. Unter einem Zweig mit drei fein gezeichneten hellrosa Blüten standen die Worte magnolia sargentiana robusta sowie die Initialen
P. T. Mel registrierte, wie exakt die Stängel gemalt waren und wie genau der Farbverlauf der Blüten und die Textur des Holzes getroffen war. Sie hängte das Bild wieder zurück und sah sich auch die anderen Gemälde an: einen cremefarbenen rhododendron macabeanum, eine himbeerfarbene Kamelie, eine violette Iris und zwei Rosensorten. Alle waren genauso detailgetreu wie das erste. Und alle waren mit P. T. signiert. Ehe Mel auch das letzte Aquarell an die Wand zurückhängte, drehte sie es um, um nachzusehen, ob sie irgendwo eine Datierung fand. Aber die Rückseite war unbeschriftet.
Auf dem Kaminsims stand ein Wecker, der in dieser Umgebung ebenso fehl am Platz war wie der Fernseher. Es war fünf vor zehn. Mel machte sich daran, die Koffer nach oben zu schleppen.
In dem größeren der beiden Schlafzimmer stand ein Doppelbett aus Eiche. Erleichtert stellte Mel fest, dass ein richtiges Plumeau darauf lag, nicht nur eine dünne Decke. Dafür roch es ziemlich muffig. Sie stellte das Gepäck auf den Boden und fragte sich, wo sie ihren ganzen Kram verstauen sollte. Ihr Blick fiel auf eine wackelige Kommode neben der Tür. Darauf standen eine Waschschüssel und ein gesprungener Krug. Mel klemmte sich einen Stapel saubere Unterwäsche unter den Arm und fuhr stirnrunzelnd mit dem Finger über den staubigen Rand.
Mit der freien Hand zog sie an der obersten Schublade, um die Unterwäsche darin zu verstauen, aber sie klemmte und ließ sich nur ein kleines Stück öffnen. Mel versuchte hineinzuschauen.
Zwischen Schublade und Rahmen steckte eine zusammengefaltete vergilbte Zeitungsseite. Mel zog das Papier vorsichtig heraus und faltete es auseinander. Das Datum war durchgerissen, aber sie hielt die Stücke so zusammen, bis sie es lesen konnte: März 1912. Das war vor fast hundert Jahren gewesen. Mels Blick fiel auf einen kurzen Artikel über eine Gruppe arbeitsloser Minenarbeiter, die mit ihren Familien Penzance verließen, um mit dem Schiff von Southampton zum Kap zu reisen. Der Strom der Auswanderer reißt nicht ab, im Gegenteil, er ist so stark wie eh und je ... war dort zu lesen.
Mel drehte die Zeitungsseite herum. Zwischen Werbe- anzeigen für Patentrezepte und Damenmode stieß sie auf einen weiteren Bericht.
TRAGÖDIE IN NEWLYN Am Samstagabend um kurz nach zehn wurden die Gäste des Gasthofs Zum Blauen Anker (Besitzerin: Mrs Adeline Treglown) am Hafen auf einen Feuerschein im oberen Stockwerk des Gebäudes aufmerksam. Sie schlugen sofort Alarm. Das Gebäude wurde evakuiert, und die Küstenwache, ein paar Fischer sowie einige Matrosen der Mercury eilten zu Hilfe. Obwohl das Feuer schnell unter Kontrolle gebracht werden konnte, fand man in den Trümmern die Leiche eines Mannes. Er wurde als Arthur Reagan, 52, aus London identifiziert. Eine genaue Untersuchung des Unglücks ist für die kommende Woche anberaumt.
Mel las den Zeitungsausschnitt zweimal und fragte sich, warum ihn wohl jemand aufbewahrt hatte. Kopfschüttelnd faltete sie ihn zusammen und steckte ihn wieder in die Schublade.
Während sie sich ein altes T-Shirt als Nachthemd überzog und sich an dem kleinen Waschbecken die Zähne putzte, dachte sie noch einmal über das nach, was sie gelesen hatte. Sie stellte sich vor, wie die Matrosen die Flammen bekämpft und versucht hatten zu retten, was zu retten war. Seltsam, wie ein Ereignis aus der Vergangenheit sie plötzlich beschäftigte. Sie hatte nach einem Platz für ihre Unterwäsche gesucht und dabei eine Geschichte gefunden.
Cornwall gehöre zu den geheimnisumwobensten Gegenden Englands, hatte ihre Mutter einmal gesagt. Als Mel und Chrissie klein waren, hatte William ihnen abends im Bett oft Schauermärchen vorgelesen, von kopflosen Reitern, Meerjungfrauen und unheimlichen Lichtern, die Schiffe ins Verderben lockten. Am Ende hatten sie immer starr vor Angst in ihren Betten gelegen, bis ihre Mutter William das Buch fortgenommen und die Mädchen mit einem Gebet aus ihrer eigenen Kindheit beruhigt hatte.
Wie ging es noch gleich? Irgendetwas über den Schutz vor Geistern und Gespenstern und langbeinigen Kreaturen, die nachts Buh! machten. Auf jeden Fall endete es mit: Davor möge uns der gute Gott bewahren!
Plötzlich kam aus dem Korridor ein lautes Knarren. Mel erstarrte.
Das sind nur die Holzdielen, versuchte sie, sich zu beruhigen. Sie nahm ihren ganzen Mut zusammen und lugte in den Flur hinaus, aber nichts rührte sich dort. Langsam legte sich der Schreck, Kummer und Verzweiflung überkamen Mel. Sie schlüpfte ins Bett und konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Mel fühlte sich einsam und verlassen wie ein Kind in der Dunkelheit. Wie früher verbarg sie das Gesicht in ihrem Kopfkissen. Kurz bevor sie endlich einschlief, nahm sie wieder die beruhigende Stimme ihrer Mutter wahr: Morgen früh bei Tageslicht sieht die Welt ganz anders aus, Schatz. Hoffentlich stimmte das.
Aber das Haus flüsterte seine Geheimnisse in die Nacht ...
Übersetzung: Barbara Ritterbach
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Autoren-Porträt von Rachel Hore
Rachel Hore, geboren in Epson, Surrey, hat lange Zeit in Londoner Verlagen gearbeitet. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen in Norwich und ist freiberufliche Dozentin und Literaturkritikerin.Mehr über die Autorin erfahren Sie unter www.rachelhore.co.uk
Bibliographische Angaben
- Autor: Rachel Hore
- 976 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863654900
- ISBN-13: 9783863654900
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