Der große Selbstbetrug
Der Chefredakteur der größten Zeitung Europas sagt nicht nur klipp und klar, was in unserem Land falsch läuft. Er schreibt auch, was wir brauchen: Gesellschaftliche Prinzipien, echte Autoritäten, selbstbewusste Bürger. Vor allem aber eine Renaissance des...
Der Chefredakteur der größten Zeitung Europas sagt nicht nur klipp und klar, was in unserem Land falsch läuft. Er schreibt auch, was wir brauchen: Gesellschaftliche Prinzipien, echte Autoritäten, selbstbewusste Bürger. Vor allem aber eine Renaissance des gesunden Menschenverstandes. Damit der Selbstbetrug ein Ende hat.
Wenn jemand weiß, wie Deutschland wirklich tickt, dann der Chefredakteur der "Bild"-Zeitung. Und deshalb sagt Kai Diekmann, was Sache ist:
"Wir alle, vor allem meine Babyboomer-Generation, betrügen uns selbst. Wir wollen Reformen, aber ändern soll sich nichts. Wir erwarten ehrliche Politiker, wählen aber die mit den haltlosesten Versprechungen. Wir fordern Freiheit, scheuen jedoch Verantwortung. Das Erbe der 68er, das weit ins bürgerliche Lager reicht, hat in eine Sackgasse geführt. Es wird Zeit, dass wir dieses Erbe abschütteln und Deutschland eine echte Perspektive geben."
Denn wer sich selbst betrügt, ist besonders anfällig, betrogen zu werden: mit Pseudo-Reformen, Sprachhülsen und nicht enden wollender Bevormundung.
Der große Selbstbestrug von Kai Diekmann
LESEPROBE
Lob der Achtundsechziger
Im traditionellen Rededuell des amerikanischen Wahlkampfs stellte Ronald Reagan seinem Vorgänger Jimmy Carter 1980 eine schlichte Frage: Was eigentlich unter dessen Führung besser geworden sei? Es war eine Kinderfrage, die Carter vernichtete. Weil sie alle Sozial-, Steuer- und Investitionsvorhaben, alle innen- und außenpolitischen Erfolge, alle Sachzwänge und Vertragsbindungen zur Seite schob und alle Politik auf einen ganz einfachen Nenner brachte: Was hat es uns genutzt?
Das ist eine vollkommen legitime Frage, die man an jede Epoche und ihre Repräsentanten stellen darf und sollte. Und auch allen, die einst mit dem Willen zu großen gesellschaftlichen Änderungen angetreten sind. Insofern können auch die Achtundsechziger dieser Frage kaum ausweichen, zumal sie selbst ihren Eltern die angeblich verweigerte Abrechnung mit deren eigenem Leben stets vorgehalten hatten.
Was also ist besser geworden, was geblieben? Die vorhergehenden Kapitel haben es wohl recht deutlich gemacht: aus meiner Sicht nicht viel. Politisch ist die Generation Achtundsechzig komplett gescheitert, weit über ihre extremistischen Erscheinungen wie RAF, K-Gruppen oder SDS hinaus. Die Verhältnisse wurden nicht zum Tanzen gebracht, und die »antikapitalistische Sehnsucht« der Dutschkes und Kunzelmänner wurde so wenig gestillt wie die der Brüder Otto und Gregor Strasser, der linken Wortführer bei den Nationalsozialisten und Erfinder dieses Begriffs. Das Gewaltmonopol des Staates sowie seine Überwachungsmöglichkeiten sind bedrohlich gewachsen, nicht zuletzt unter tätiger Mithilfe einst unversöhnlicher Kritiker. Und die Bildungs- und Lebenschancen der weniger bevorzugten Schichten haben sich, das zeigen Studien, verringert - obwohl viele der Achtundsechziger später an Universitäten und Schulen tätig geworden sind. Kein großer Erfolg für eine Generation, die angetreten war, das »System« zurückzudrängen, Chancengleichheit herzustellen und den Kapitalismus zu bändigen.
Ästhetisch war Achtundsechzig ebenfalls kein Gewinn. Bücherregale aus Apfelsinenkisten, Sitzsack und Wasserpfeife, dazu nackte Glühbirnen und Wände, vielleicht ein paar Poster - die häusliche Selbstdarstellung als Kombination von Flohmarkt und Einzelzelle. Ebenso trostlos die Kleidung: Poncho, Parka, Palästinenserschal, selten gepflegt. Kein Arbeiter ist so rumgelaufen, und kaum eine Generation war in ihrer demonstrativen Geringschätzung von Konventionen und Kleidung so auf Oberflächlichkeiten fixiert wie jene, die mangelnde Hygiene als Ausdruck innerer Werte verstand. Nicht einmal die Blumenmädchen können die Bilanz aufhellen. All ihr indischer Schmuck, die Blütendiademe und Fußkettchen, die Schlangen-Ringe und Armreife bleiben letztlich Versatzstücke eines Trachtenkostüms, das allein wegen seiner Exotik attraktiv dünkte. Eleganz und Stil sind etwas anderes.
Die realsozialistische Trostlosigkeit, für die Achtundsechzig ästhetisch steht, verweist auf ein weiteres Feld des Versagens: das der Lebensfreude. Keine Generation war so muffig, verhockt, so fern jeden Humors und jeder Leichtigkeit. Während die amerikanische Verfassung den »Pursuit of Happiness«, das individuelle Streben nach Glück, als legitimes Ziel der Selbstverwirklichung benennt, verfolgte Achtundsechzig freiwillig das Gegenteil. Wer auf die Fotos dieser Zeit blickt, findet daher auch eine geradezu zwanghafte Ernsthaftigkeit: Ernst blicken nicht nur Politiker und Wirtschaftsbosse, ernst blicken auch Künstler und Schriftsteller, Journalisten und Studenten. Ernst und verbissen. Nur das Milieu ließ die Puppen tanzen, und nicht ohne Grund nahm Uschi Obermaier nach ihrer Kommunen-Erfahrung mit Rainer Langhans einen Zuhälter und Zecher zum Freund. Sie hatte wohl genug von all dem Grau der Debatten, der Wohnungen und der Kleidung, von all der blöden Solidarität mit den Kaffee-, Baumwoll- und Bananenpflückern dieser Welt.
Schließlich steht Achtundsechzig auch moralisch für Versagen. Der Stalinismus wurde kleingeredet, die 50 Millionen Opfer Maos, die verbrecherischen Regime der Khmer und Sandinisten, von Ho Chi Minh und Enver Hodscha. Und auch der DDR.
Diese Blindheit gegenüber den Verbrechen der Kommunisten birgt womöglich den Schlüssel zum Verständnis jener Generation. Entgegen dem eigenen Anspruch, der historischen Wahrheit zu ihrem Recht zu verhelfen, war Achtundsechzig vor allem geprägt von einem Hang zur Realitätsverweigerung. Man debattierte über weltweite Verstaatlichung, pazifistische Friedensordnungen und freiwilligen Konsumverzicht. Andere zogen sich zurück in Räusche und Meditationen; nicht wenige stiegen ganz aus. Überall Wolkenkuckucksheime, im Privaten wie im Öffentlichen. Mit der Realität wollte man nichts zu tun haben.
Das mag auch der Grund sein, warum die Generation der Achtundsechziger kaum eine bleibende wissenschaftliche Leistung vorweisen kann - keine bedeutende Geschichtsschreibung, kaum eine wichtige geisteswissenschaftliche Arbeit. Sie alle erfordern den Blick für Realitäten, nicht Ideologien. Anders als zuweilen behauptet steht Achtundsechzig gerade nicht für ein »Denken in Alternativen«! Die unvoreingenommene Wirklichkeitserfassung, die immer Ausgangspunkt freien Denkens ist, war gerade keine Stärke dieser Zeit.
Die Verdienste von Achtundsechzig liegen daher allein jenseits der Wirklichkeit, im tief romantischen Zugriff auf die Welt. Einige schöne Gedichte sind entstanden, einige große Songtexte. Davon abgesehen bleibt Achtundsechzig nur als gesellschaftspolitische Negativform in Erinnerung, als Wette auf das ausnahmslos falsche Pferd, ob Multikulti oder die Verachtung von Staat, Nation, Familie, Eigentum, Leistung, Fleiß, Vaterlandsliebe.
Geblieben ist auch die Öffnung des Privaten. Schon in der Kommune 1 wurden die Toilettentüren ausgehängt, und der Hang zu Selbstanalyse und Bekenntnis, zur Veröffentlichung des Intimen, zur schauprozesshaften Selbstdarstellung lebt noch heute fort. Von ihm haben vor allem die Medien profitiert, und nichts hat die Boulevardisierung der Politik so befördert wie diese Öffnung des Privatlebens. Zumindest in dieser Hinsicht bin ich daher den Achtundsechzigern zu Dank verpflichtet.
© Piper Verlag
- Autor: Kai Diekmann
- 2007, 253 Seiten, Maße: 12,9 x 20,9 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Piper Taschenbuch
- ISBN-10: 3492051227
- ISBN-13: 9783492051224
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