Der Himmel ist ein Fluss
Roman
"Berauschend, tragisch, groß." Leipziger Volkszeitung
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Produktinformationen zu „Der Himmel ist ein Fluss “
"Berauschend, tragisch, groß." Leipziger Volkszeitung
Klappentext zu „Der Himmel ist ein Fluss “
"Meine masurische Großmutter konnte ich nicht kennen, weil sie im Januar 1945 erschossen wurde. Ich habe nie ein Foto gesehen, lange wusste ich nicht einmal ihren Vornamen. Es gibt keinen Kirchenbucheintrag, keinen Grabstein. Es ist, als hätte es sie nicht gegeben."Anna Kaleri erzählt eine berührende Liebesgeschichte aus dunkler Zeit, wie sie sich zugetragen haben könnte. Eine poetische Annäherung an ein tragisches Kapitel deutscher Geschichte.
Lese-Probe zu „Der Himmel ist ein Fluss “
Der Himmel ist ein Fluss von Anna Kaleri1
Laufen, laufen, laufen. Bis der Mohn mit dem Korn und dem Kornblumenblau zu einem unscharfen Streifen verschmolz und sich die Stadt zu einem Punkt zusammenzog und hinter dem Hügel wegsank. Laufen, bis die Beine nicht mehr zu spüren waren, bis das Hämmern und Sägen, das Bellen und Läuten, sogar das Lerchengeträller überbraust wurde vom eigenen Atmen, vom dumpfen Herzschlag in den Ohren. Laufen, bis der Weg abbrach. Ein letzter Zweifel, und schon sah sie den Schatten unter sich, auf und ab die Arme, sah den graustaubigen Weg zu einer Schlange werden, Büsche und Baumkronen, die Kühe wie schwarzweiße Blümchen über die Wiese verteilt. Es jubelte in ihr. Von den Schultern ausgehend, spürte sie die Bewegung, die Arme und Hände pendelten mit, als hingen sie an Fäden. Die Luft trug sie wie ein festes Element. Es wurde zugig, der Fluss kam in Sicht, die Ränder unscharf begrenzt von Grün. Grün sah sie und das dünne Blau des Himmels, wenn sie den Kopf neigte.
»Minna, hörst du mich!« Die Stimme der Mutter klang, obwohl sie durch die Zimmerdecke und die Dielen gedämpft wurde, scharf. Minna klappte einen Fensterflügel um, schob den Riegel darüber, kämmte sich die Haare und ging hinunter.
Die Mutter nahm den Topf mit dem brodelnden Wasser vom Herd und stellte ihn auf den Holzschemel, der vom Abstellen heißer Töpfe braune Abdrücke trug. Durch die Spalten rund um die Herdplatten glimmte das Feuer. »Der Vater ist noch rasch auf dem Dach. Mal sehen, ob er diesmal die Stelle erwischt«, sagte die Mutter. Ihre hoch liegenden Wangenknochen warfen merkwürdige Schatten.
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Sie legte die kalte Hand in Minnas Nacken, und Minna senkte den Kopf. Die Haarsträhnen ringelten sich schwarz auf dem Boden der Zinkbadewanne. Sie hörte, wie die Mutter mit dem Emaillebecher heißes Wasser schöpfte und kaltes aus dem Brunnenkrug hinzugoss. Sie würde den Zeigefinger kurz hineintauchen, um die Temperatur zu prüfen. Im Zeigefinger hatte sie nicht viel Gespür.
»Wie lang willst du dir die Haare noch wachsen lassen?«
Die Mutter geriet nie außer sich. Sie war stolz darauf, wie gut sie sich im Griff hatte. Sie stammte schließlich aus einer gesitteten Familie.
»Binde sie wenigstens zusammen. Siehst du nicht, wie dir die Männer nachgaffen?«
Auch der zweite Guss versengte Minna fast die Kopfhaut. Seife schäumte auf. Von oben klopfte es unrhythmisch.
»Am Anfang machen alle schöne Worte. Was meinst du, was danach kommt?«
»-«
»Sieh nur deinen Vater an.« Es wummerte ein letztes Mal, dann schien er von der Leiter zu steigen.
Während die Mutter im Haus waltete wie eine Fürstin, die vom Eierhandel leben musste, kam der Vater nie über sein Dasein ins Hadern. Am Morgen saß er schweigend, doch gut gelaunt am Tisch und sammelte sich für die Aufgaben des Tages. Selten vergaß er ein Werkzeug. Das Material berechnete er im Kopf, und weil die Rechnung meistens aufging, wurde er als Handwerker geschätzt.
Der Vater trat unter anschwellendem Hühnergegacker ein.
»Der Schuster hat die schlechtesten Leisten«, meinte die Mutter.
»Gibt es nichts Warmes?«, fragte der Vater. Der Deckel des Kochtopfs klapperte.
»Beim Pochalla wird es ordentlich was geben. Nimm dir Brot, wenn es sein muss.«
Die Wanne drückte auf Minnas Schoß. Die Mutter packte die Haare, und es spritzte und klatschte, als wringe sie einen Scheuerlappen aus. Dann goss sie das restliche Brunnenwasser über Minnas Kopf.
Die Poren der Kopfhaut zogen sich zusammen. Ein Stechen wie von Nadelspitzen. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Das Trudchen muss auch noch ran.« Minna sah durch die nassen Strähnen hindurch, wie die Mutter mit spitzen Ellenbogen am Herd hantierte.
Minna wrang die Haare aus. Dann umklammerte sie die Wannengriffe. Die Wasserfläche kam träge ins Schwanken, wurde aber mit dem Abstellen auf dem Boden zitternd zur Ruhe gebracht. Der Vater hatte sich eine dicke Brotscheibe abgeschnitten und saß mit der Zeitung am Tisch.
»Großdeutsches Reich«, sagte er stark betont. »Ob das wohl den Polen gefällt.«
»Das haben doch alle gewollt«, erwiderte die Mutter und legte ein Holzscheit nach. Der Widerschein des Feuers flackerte auf ihrem Gesicht.
»Was hat wer gewollt?«
Die Mutter schloss die Ofenklappe, hinter der das Feuer in Fahrt geriet.
»Alle wollen endlich echte Deutsche sein. Deine Schwester, wie sie es bewundert, wenn Kerle Schmackes haben.«
»Du wohl nicht?«
»Ich?«, gab die Mutter unschuldig zurück.
»Dann ist ja gut«, brummelte der Vater.
Minna wickelte ihr Haar in ein Leinentuch und schob das Ende unter den straffen Rand. Sie betrat den gleißend hellen Hof. Die Kleine ließ ihre Schippe fallen, rief: »Nein, nein!« und lief mit ihrem flatternden Kleidchen durch die aufstiebenden Hühner. Minna packte sie von hinten, trug sie in das Halbdunkel der Küche, hob sie auf den Stuhl und zog ihr die Haarklammern aus dem blonden, in der Mitte gescheitelten Haar.
Der Vater hatte in der Zwischenzeit die gute Hose angezogen. Er stand mit dem Rücken zur Mutter, die Hose in seinen Kniekehlen, und atmete schwer.
»Knöpfst du dem Vater die Hosenträger an?«, fragte die Mutter, ohne aufzusehen.
Die Kleine presste ihre Handballen in die Augenhöhlen und wimmerte im Voraus. Sie wusste, dass ihr früher oder später Seifenwasser in die Augen laufen würde.
Minna zupfte dem Vater den Kragen seines Hemdes zurecht. Der leicht beißende Geruch, der sonst von ihm ausging, war vom Rasierwasser übertüncht, das er nur an Feiertagen auftrug und das schon lange in der Flasche stand.
»Geh dich fertig machen, Minna«, sagte die Mutter. Wenn die Kohle im Plätteisen nicht mehr heiß ist, nimm neue aus dem Ofen.«
»Ja, Mutter.«
Auf dem Hof der Brautfamilie standen unterschiedlich hohe Tische aneinandergereiht und wackelten trotz der untergelegten Keile. Weiße, gestärkte Laken überspannten die Höhenunterschiede. Efeu umschlängelte die Kaffeekannen, die aus vielen Haushalten stammten. Um das Haus und die Tanzbühne leuchteten die Stämme junger Birken, die man zu allen Anlässen abschlug und mit farbigen Kreppbändern schmückte. Ein Bogen mit Tannengrün und roten Rosen spannte sich über den Ehrenplätzen. Die beiden Stühle darunter waren leer. Die Braut zu entführen sollte irgendwo im Reich der neueste Brauch sein. Die Gäste waren wenig begeistert. Die Neuigkeiten, die man mit den Angereisten austauschen konnte, hielten nicht lange vor.
»Was ist mit dem alten Jedamski?«, fragte Tante Helene, »hat ihn keiner eingeladen?« Sie trug eine hellblaue Bluse, die das Grau ihrer Haare silbern erscheinen ließ. Über dem Halsgrübchen baumelte ein kleines Kreuz.
»Doch, natürlich«, antwortete Tante Auguste über den Tisch hinweg, »aber er wollte nicht.« Es zog Minnas Blick zu den ungleich langen Haaren, die aus einer Warze an Augustes Oberlippe ragten. Unwillkürlich strich Minna sich über die Stelle an ihrer eigenen Lippe.
»Was heißt, er wollte nicht«, sagte Tante Helene ruhig, »auf jeder Hochzeit hat er eine Rede gehalten. Wer in Ciemnowo kann denn sonst kluge Dinge formulieren?«
»Über die Ehe, von der er selbst verschont geblieben ist«, erwiderte Auguste. Ihr Unterton zielte nicht gegen den Lehrer, sondern gegen Helene, die ihr bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass ihre Familie schon seit dem 15. Jahrhundert in Ciemnowo lebte. Augustes Familie war erst im 18. Jahrhundert aus Salzburg zugezogen. Auguste ihrerseits machte nie einen Hehl daraus, dass sie die angeheiratete Familie ihres Bruders nicht besonders schätzte und dass es dafür Gründe gab, die nicht ausgeführt zu werden brauchten.
»Ein Foto«, rief der Fotograf und nahm ein paar Meter Abstand.
»Rücken Sie zusammen, die Damen.«
Rüschen wurden zurechtgezogen, Lächeln ausprobiert, der Sitz der Haare mit einer nervösen Geste kontrolliert, nachgerutscht, gelächelt, stillgehalten und: »Danke, die Damen.«
Der Fotograf zog zum nächsten Flügel.
Kleine Mädchen ließen sich von älteren Jungen, die sie heimlich anhimmelten, über den Hof jagen. Eines schaffte es hinter den Rücken der Mutter, wagte von dort einen frechen Spruch gegen den Jungen und bekam zu hören, es solle die Gespräche der Erwachsenen nicht stören.
»Er ist heiser, der Alte«, sagte Minnas Mutter, obwohl man längst zu einem anderen Thema hätte übergehen können.
»Der hat sich die Stimmbänder ruiniert bei den Gören. Ist selber schuld, wenn er sich keinen Respekt verschafft«, sagte Auguste. Sie schwenkte ihr Kinn in Richtung des Männerflügels. Zwei von Minnas Cousins flegelten dort im Braunhemd, die Füße in den gewienerten Stiefeln ausgestreckt. Unter dem Blick ihrer Mutter richteten sie sich wie zufällig auf.
»Ich habe schließlich fünf Jungens groß gezogen «, sagte Auguste.
Selbst wenn es stimmt, dachte Minna, dass der alte Lehrer sich gegenüber den Schülern immer weniger durchsetzen konnte, war die Schule doch sein Leben. Die Kinder wussten, wie sie ihn aus der Reserve locken konnten, im Guten wie im Bösen. Manchmal schrieben sie an die Tafel: »Der Storch ist gekommen und hat die Bücher weggenommen.« Bereitwillig erzählte er dann eine seiner Geschichten, die alle längst kannten und gern immer wieder hörten und dem Schreiben und Rechnen vorzogen. In Minnas letztem Jahr war die Junglehrerin aus Braunschweig gekommen. Sie ließ kein Wort durchgehen, das nicht Deutsch war. Jedamski hatte gesagt: »Das Fräulein wird euch ab heute unterrichten. « Er hatte den Blick durch den weiß gekalkten Raum schweifen lassen, an den Landkarten entlang und über die Köpfe der Schüler hinweg, als wollte er prüfen, was er mitnehmen müsste. Dann ging er zur Garderobenleiste, an der seine Schiffermütze hing, nahm sie ab und kehrte dem Raum den Rücken.
Über die Hügel näherte sich ein hohles Knattern, das sich am Waldrand brach.
Copyright © List TB (Verlag)
Sie legte die kalte Hand in Minnas Nacken, und Minna senkte den Kopf. Die Haarsträhnen ringelten sich schwarz auf dem Boden der Zinkbadewanne. Sie hörte, wie die Mutter mit dem Emaillebecher heißes Wasser schöpfte und kaltes aus dem Brunnenkrug hinzugoss. Sie würde den Zeigefinger kurz hineintauchen, um die Temperatur zu prüfen. Im Zeigefinger hatte sie nicht viel Gespür.
»Wie lang willst du dir die Haare noch wachsen lassen?«
Die Mutter geriet nie außer sich. Sie war stolz darauf, wie gut sie sich im Griff hatte. Sie stammte schließlich aus einer gesitteten Familie.
»Binde sie wenigstens zusammen. Siehst du nicht, wie dir die Männer nachgaffen?«
Auch der zweite Guss versengte Minna fast die Kopfhaut. Seife schäumte auf. Von oben klopfte es unrhythmisch.
»Am Anfang machen alle schöne Worte. Was meinst du, was danach kommt?«
»-«
»Sieh nur deinen Vater an.« Es wummerte ein letztes Mal, dann schien er von der Leiter zu steigen.
Während die Mutter im Haus waltete wie eine Fürstin, die vom Eierhandel leben musste, kam der Vater nie über sein Dasein ins Hadern. Am Morgen saß er schweigend, doch gut gelaunt am Tisch und sammelte sich für die Aufgaben des Tages. Selten vergaß er ein Werkzeug. Das Material berechnete er im Kopf, und weil die Rechnung meistens aufging, wurde er als Handwerker geschätzt.
Der Vater trat unter anschwellendem Hühnergegacker ein.
»Der Schuster hat die schlechtesten Leisten«, meinte die Mutter.
»Gibt es nichts Warmes?«, fragte der Vater. Der Deckel des Kochtopfs klapperte.
»Beim Pochalla wird es ordentlich was geben. Nimm dir Brot, wenn es sein muss.«
Die Wanne drückte auf Minnas Schoß. Die Mutter packte die Haare, und es spritzte und klatschte, als wringe sie einen Scheuerlappen aus. Dann goss sie das restliche Brunnenwasser über Minnas Kopf.
Die Poren der Kopfhaut zogen sich zusammen. Ein Stechen wie von Nadelspitzen. Tränen schossen ihr in die Augen.
»Das Trudchen muss auch noch ran.« Minna sah durch die nassen Strähnen hindurch, wie die Mutter mit spitzen Ellenbogen am Herd hantierte.
Minna wrang die Haare aus. Dann umklammerte sie die Wannengriffe. Die Wasserfläche kam träge ins Schwanken, wurde aber mit dem Abstellen auf dem Boden zitternd zur Ruhe gebracht. Der Vater hatte sich eine dicke Brotscheibe abgeschnitten und saß mit der Zeitung am Tisch.
»Großdeutsches Reich«, sagte er stark betont. »Ob das wohl den Polen gefällt.«
»Das haben doch alle gewollt«, erwiderte die Mutter und legte ein Holzscheit nach. Der Widerschein des Feuers flackerte auf ihrem Gesicht.
»Was hat wer gewollt?«
Die Mutter schloss die Ofenklappe, hinter der das Feuer in Fahrt geriet.
»Alle wollen endlich echte Deutsche sein. Deine Schwester, wie sie es bewundert, wenn Kerle Schmackes haben.«
»Du wohl nicht?«
»Ich?«, gab die Mutter unschuldig zurück.
»Dann ist ja gut«, brummelte der Vater.
Minna wickelte ihr Haar in ein Leinentuch und schob das Ende unter den straffen Rand. Sie betrat den gleißend hellen Hof. Die Kleine ließ ihre Schippe fallen, rief: »Nein, nein!« und lief mit ihrem flatternden Kleidchen durch die aufstiebenden Hühner. Minna packte sie von hinten, trug sie in das Halbdunkel der Küche, hob sie auf den Stuhl und zog ihr die Haarklammern aus dem blonden, in der Mitte gescheitelten Haar.
Der Vater hatte in der Zwischenzeit die gute Hose angezogen. Er stand mit dem Rücken zur Mutter, die Hose in seinen Kniekehlen, und atmete schwer.
»Knöpfst du dem Vater die Hosenträger an?«, fragte die Mutter, ohne aufzusehen.
Die Kleine presste ihre Handballen in die Augenhöhlen und wimmerte im Voraus. Sie wusste, dass ihr früher oder später Seifenwasser in die Augen laufen würde.
Minna zupfte dem Vater den Kragen seines Hemdes zurecht. Der leicht beißende Geruch, der sonst von ihm ausging, war vom Rasierwasser übertüncht, das er nur an Feiertagen auftrug und das schon lange in der Flasche stand.
»Geh dich fertig machen, Minna«, sagte die Mutter. Wenn die Kohle im Plätteisen nicht mehr heiß ist, nimm neue aus dem Ofen.«
»Ja, Mutter.«
Auf dem Hof der Brautfamilie standen unterschiedlich hohe Tische aneinandergereiht und wackelten trotz der untergelegten Keile. Weiße, gestärkte Laken überspannten die Höhenunterschiede. Efeu umschlängelte die Kaffeekannen, die aus vielen Haushalten stammten. Um das Haus und die Tanzbühne leuchteten die Stämme junger Birken, die man zu allen Anlässen abschlug und mit farbigen Kreppbändern schmückte. Ein Bogen mit Tannengrün und roten Rosen spannte sich über den Ehrenplätzen. Die beiden Stühle darunter waren leer. Die Braut zu entführen sollte irgendwo im Reich der neueste Brauch sein. Die Gäste waren wenig begeistert. Die Neuigkeiten, die man mit den Angereisten austauschen konnte, hielten nicht lange vor.
»Was ist mit dem alten Jedamski?«, fragte Tante Helene, »hat ihn keiner eingeladen?« Sie trug eine hellblaue Bluse, die das Grau ihrer Haare silbern erscheinen ließ. Über dem Halsgrübchen baumelte ein kleines Kreuz.
»Doch, natürlich«, antwortete Tante Auguste über den Tisch hinweg, »aber er wollte nicht.« Es zog Minnas Blick zu den ungleich langen Haaren, die aus einer Warze an Augustes Oberlippe ragten. Unwillkürlich strich Minna sich über die Stelle an ihrer eigenen Lippe.
»Was heißt, er wollte nicht«, sagte Tante Helene ruhig, »auf jeder Hochzeit hat er eine Rede gehalten. Wer in Ciemnowo kann denn sonst kluge Dinge formulieren?«
»Über die Ehe, von der er selbst verschont geblieben ist«, erwiderte Auguste. Ihr Unterton zielte nicht gegen den Lehrer, sondern gegen Helene, die ihr bei jeder Gelegenheit zu verstehen gab, dass ihre Familie schon seit dem 15. Jahrhundert in Ciemnowo lebte. Augustes Familie war erst im 18. Jahrhundert aus Salzburg zugezogen. Auguste ihrerseits machte nie einen Hehl daraus, dass sie die angeheiratete Familie ihres Bruders nicht besonders schätzte und dass es dafür Gründe gab, die nicht ausgeführt zu werden brauchten.
»Ein Foto«, rief der Fotograf und nahm ein paar Meter Abstand.
»Rücken Sie zusammen, die Damen.«
Rüschen wurden zurechtgezogen, Lächeln ausprobiert, der Sitz der Haare mit einer nervösen Geste kontrolliert, nachgerutscht, gelächelt, stillgehalten und: »Danke, die Damen.«
Der Fotograf zog zum nächsten Flügel.
Kleine Mädchen ließen sich von älteren Jungen, die sie heimlich anhimmelten, über den Hof jagen. Eines schaffte es hinter den Rücken der Mutter, wagte von dort einen frechen Spruch gegen den Jungen und bekam zu hören, es solle die Gespräche der Erwachsenen nicht stören.
»Er ist heiser, der Alte«, sagte Minnas Mutter, obwohl man längst zu einem anderen Thema hätte übergehen können.
»Der hat sich die Stimmbänder ruiniert bei den Gören. Ist selber schuld, wenn er sich keinen Respekt verschafft«, sagte Auguste. Sie schwenkte ihr Kinn in Richtung des Männerflügels. Zwei von Minnas Cousins flegelten dort im Braunhemd, die Füße in den gewienerten Stiefeln ausgestreckt. Unter dem Blick ihrer Mutter richteten sie sich wie zufällig auf.
»Ich habe schließlich fünf Jungens groß gezogen «, sagte Auguste.
Selbst wenn es stimmt, dachte Minna, dass der alte Lehrer sich gegenüber den Schülern immer weniger durchsetzen konnte, war die Schule doch sein Leben. Die Kinder wussten, wie sie ihn aus der Reserve locken konnten, im Guten wie im Bösen. Manchmal schrieben sie an die Tafel: »Der Storch ist gekommen und hat die Bücher weggenommen.« Bereitwillig erzählte er dann eine seiner Geschichten, die alle längst kannten und gern immer wieder hörten und dem Schreiben und Rechnen vorzogen. In Minnas letztem Jahr war die Junglehrerin aus Braunschweig gekommen. Sie ließ kein Wort durchgehen, das nicht Deutsch war. Jedamski hatte gesagt: »Das Fräulein wird euch ab heute unterrichten. « Er hatte den Blick durch den weiß gekalkten Raum schweifen lassen, an den Landkarten entlang und über die Köpfe der Schüler hinweg, als wollte er prüfen, was er mitnehmen müsste. Dann ging er zur Garderobenleiste, an der seine Schiffermütze hing, nahm sie ab und kehrte dem Raum den Rücken.
Über die Hügel näherte sich ein hohles Knattern, das sich am Waldrand brach.
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Autoren-Porträt von Anna Kaleri
Kaleri, AnnaAnna Kaleri wurde 1974 im Ostharz geboren. Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Seit 2002 arbeitet sie als freie Autorin und Journalistin. "Der Himmel ist ein Fluss" ist ihr drittes Buch. Anna Kaleri lebt mit ihrer Familie in Leipzig.
Bibliographische Angaben
- Autor: Anna Kaleri
- 2014, 224 Seiten, Maße: 11,8 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: List TB.
- ISBN-10: 3548611923
- ISBN-13: 9783548611921
- Erscheinungsdatum: 08.01.2014
Rezension zu „Der Himmel ist ein Fluss “
"Und wie Anna Kaleri dieses in Idyll in Worte fasst, macht dessen Zerbrechen umso erschütternder...", Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.02.2013
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