Der Himmel ist kein Ort
Roman
Die Summe seines Erzählens: der neue Roman von Dieter Wellershoff
Nach seinem hochgelobten Bestseller Der Liebeswunsch und dem berührenden Erzählungsband Das normale Leben erweist sich der 83-jährige Dieter Wellershoff erneut als Meister der subtilen...
Nach seinem hochgelobten Bestseller Der Liebeswunsch und dem berührenden Erzählungsband Das normale Leben erweist sich der 83-jährige Dieter Wellershoff erneut als Meister der subtilen...
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Produktinformationen zu „Der Himmel ist kein Ort “
Klappentext zu „Der Himmel ist kein Ort “
Die Summe seines Erzählens: der neue Roman von Dieter WellershoffNach seinem hochgelobten Bestseller Der Liebeswunsch und dem berührenden Erzählungsband Das normale Leben erweist sich der 83-jährige Dieter Wellershoff erneut als Meister der subtilen Einfühlung und der insistierenden Infragestellung von Üblichkeiten und Gewissheiten.
Der Roman beginnt wie ein Krimi und entwickelt sich zu einem figurenreichen Gesellschaftsdrama. Hauptfigur ist ein junger Landpfarrer, der eines Nachts zu einem Unfallort gerufen wird. Ein Auto ist von der Straße abgekommen und in einen See gestürzt. Der Fahrer hat sich gerettet, seine Frau und sein Sohn werden leblos geborgen. Wie das geschehen konnte, ist unklar. Schon bald nimmt das angebliche Unglück unheimliche Züge an. Der Pfarrer hält trotzdem an der Unschuldsvermutung fest und bringt fast alle Gemeindemitglieder gegen sich auf.
Das ist der Ausgangspunkt einer sich ausweitenden Sinnkrise. Die Erfahrung einer abgründigen Vieldeutigkeit greift auf immer neue Lebensbereiche über. Sie erfasst die religiösen Glaubensvorstellungen ebenso wie die Freundschaftsverhältnisse und die sich über unerwartete suggestive Briefe anbahnende Beziehung zu einer Frau, die dem Pfarrer in diesen Tagen wachsender Bedürftigkeit als unklare Verheißung erscheint.
Dieter Wellershoff erzählt mit ausgeprägtem Gespür für Stimmungen und Gefühle, wie ein Mann, der in der Gewissheit einer sinnstiftenden Ordnung gelebt hat, an Grenzen gerät - seine eigenen und die einer Institution, deren Anspruch es ist, Orientierung zu bieten und Halt zu gewähren. Die szenische Spannung eines sich verselbständigenden Prozesses, die Stimmenvielfalt der darin verstrickten Figuren und die subtile Einfühlung in einen Menschen, der allmählich erkennen muss, dass er auf brüchigem Boden steht und damit zurechtkommen muss, machen diesen Roman zu einem außergewöhnlichen Leseerlebnis.
Lese-Probe zu „Der Himmel ist kein Ort “
Der Himmel ist kein Ort von Dieter Wellershoff1
Es war das erste Mal in seiner anderthalbjährigen Amtszeit als Pfarrer, dass er nachts zu einer Unfallstelle gerufen wurde, weil jemand seelischen Beistand brauchte. Das entsprach einem kirchlichen Service, der sich eigentlich von selbst verstand, den er aber kurz nach seinem Amtsantritt, in der Absicht, die kirchliche Arbeit lebensnäher zu gestalten, zusammen mit vier Amtskollegen aus benachbarten Pfarreien zu einer Institution gemacht hatte. Sie stand unter dem etwas gewaltsam zusammengesetzten Namen »Notfallseelsorge « im Telefonbuch und war bei Feuerwehr und Polizei und den verschiedenen Rettungsdiensten als eine bei Unfällen abrufbare geistliche Hilfe notiert, inzwischen aber in Vergessenheit geraten, wenn man das überhaupt sagen konnte von einer Einrichtung, die noch nie jemand in Anspruch genommen hatte.
Zwar gaben die fünf kooperierenden Pfarrämter halbjährlich eine Liste heraus, aus der hervorging, welcher Pfarrer des Bezirks Bereitschaftsdienst hatte, aber als der Anruf kam, hatte er weder die Termine noch überhaupt die Liste im Kopf. Und er zögerte, den Hörer abzuheben.
In letzter Zeit hatte er abends manchmal merkwürdige Anrufe bekommen: Geständnisse einer älteren
verwitweten Frau mit unüberhörbaren sexuellen Untertönen und zweimal anonyme Anrufe einer jüngeren weiblichen Stimme, bei denen er sich nicht sicher war, ob sich da jemand, vielleicht sogar vor heimlichen Mithörern, über ihn lustig machte. Die Stimme hatte Formulierungen benutzt, die er als seine eigenen wiedererkannte und auf einmal als hohl und peinlich empfand. Gewohnt zuzuhören, hatte er die Gespräche zu spät abgebrochen und war in einer nervösen Verstörtheit zurückgeblieben, die es ihm den restlichen Abend schwer machte, sich noch auf irgendetwas zu
... mehr
konzentrieren.
Er lebte allein in dem großen Pfarrhaus, das seine Vorgänger während des größten Teils ihrer Amtszeit mit vielköpfigen Familien bewohnt hatten, und war ein Gefühl von Unangemessenheit und Fremdheit nicht losgeworden. Eigentlich hatte er vorgehabt, vor seinem Einzug zu heiraten. Doch Claudia, seine Freundin aus der Zeit seines Vikariats, war vor dem entscheidenden Schritt zurückgescheut und hatte sich von ihm getrennt. Sie war in eine andere Stadt gezogen und hatte ihm weder ihre neue Adresse noch ihre Telefonnummer mitgeteilt. Er hatte sie allerdings auch nicht darum gebeten, weil er annahm, dass sie zu einem anderen Mann gezogen war. Die vielen Gespräche, die sie in den Monaten vor ihrer Trennung geführt hatten, waren für ihn auf ihren Satz geschrumpft:
»Wir passen eben nicht zusammen.« Das war ihr Angebot gewesen, die Trennung als eine vernünftige und notwendige gemeinsame Entscheidung zu betrachten. Aber es hatte auch andere Töne gegeben: Streit und kurze Versöhnungen und nicht mehr gutzumachende Worte. Für ihn war die Trennung ein Schock, auch wenn er sich sagte, dass damit nicht allein seine Person gemeint war, sondern alles, was er für Claudia repräsentierte: das Leben auf dem Land, in einer Ortschaft, die ein nach allen Seiten ausgewuchertes Dorf, aber eben keine Stadt war, und das düstere, heruntergekommene Pfarrhaus, in das er dann allein eingezogen war.
Es war ihm schwergefallen, sich einzurichten. Ohne sie fehlte ihm die Phantasie und die Notwendigkeit, um im Haus viel zu verändern und zu verbessern. Wozu? Er kam auch so zurecht. Das Dachgeschoss, in dem ursprünglich die Kinder seines Vorgängers gewohnt hatten, hatte er ganz außer Acht gelassen. In den Räumen mit ihren stockfleckigen Tapeten waren kaputte Möbel und mehrere Kisten voller alter Gemeindeakten abgestellt, die er sichten musste, bevor er das ganze Geschoss entrümpeln ließ, was aus Gründen des Feuerschutzes längst fällig war. Aber da er für die Mansarden keine Verwendung hatte, war er dieser Arbeit bisher aus dem Weg gegangen. Für seine Wohnung im ersten Stock hatte er einige ausrangierte Möbel seines Vorgängers übernommen und sie mit seinen wenigen eigenen Möbeln zusammengestellt.
Es wirkte zufällig und achtlos. Für einen Junggesellen, der Studienzeit, Vikariat und den anschließenden Hilfsdienst noch nicht lange hinter sich hatte, blieb es eine ungewohnt große Wohnung, in der er sich immer noch etwas verloren fühlte. Anfangs hatte er abends einmal in allen Räumen das Licht brennen lassen. Doch nachdem ihn am nächsten Tag eine Gemeindehelferin gefragt hatte, ob er gestern Abend eine Party gefeiert habe, hatte er das nicht wiederholt. Immer noch war er der junge Pfarrer, der unter aller Augen mit dem Schatten seines Vorgängers zu kämpfen hatte, einem Mann, der in seiner ganzen Lebensart besser in die ländliche Umgebung gepasst hatte, schon deshalb, weil er verheiratet war, als er die Pfarrstelle angetreten hatte. Er dagegen galt als Modernist, obwohl er sich selbst nicht so sah, jedenfalls nicht in einem ausgeprägten Sinn. Im Seminar hatten sie oft über die neu sich stellende Aufgabe gesprochen, in der heutigen Welt christliche Glaubensinhalte zu vermitteln. Zeitgemäß und praxisnah sollte es geschehen. Das waren die Leitvorstellungen seiner Studienkollegen, die sich gerne als eine Generation von Neuerern verstanden hätten, aber natürlich wussten, dass vor Ort in den Gemeinden viele fortschrittliche Neuerungen und Aktivitäten auf sie warteten, sodass nicht mehr viel Spielraum für weitere Projekte blieb. Es gab Kindergärten und Altenbetreuung, Gesprächsgruppen und Singkreise, Vorträge und Theatergemeinschaften.
Es war ein florierender Betrieb mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen, neben denen der sonntägliche Gottesdienst eher als eine traditionelle Pflichtübung dahinkrankte.
Eigentlich war dies ja das Problem. Es ging nicht um Neuerungen, sondern um Erneuerung. Daran waren alle Neuerungen zu messen. Die Neuerung, die er eingeführt hatte – dass sich die Gemeindemitglieder beim Segen zum Ende des Gottesdienstes die Hände reichten –, hatte anfangs die Gemeinde gespalten. Manche waren dem Gottesdienst ferngeblieben. Im Presbyterium hatte er das neue Ritual als anschauliches Bekenntnis zur Nächstenliebe verteidigt. Und als gemeinsame Erfahrung der Gleichheit vor Gott. Aber Kurt Rautenbach, ein pensionierter Oberstudienrat, der ihm häufig widersprach, hatte das abschließende Händereichen als sentimentalen Kitsch bezeichnet, der nicht in den Gottesdienst gehöre. »Wir wollen hier keinen Hippiekult «, hatte er gesagt. Und obwohl niemand ihm zustimmte, war sichtbar, dass diese Bemerkung Eindruck machte. Als er beim nächsten Gottesdienst vor dem abschließenden Segen sagte: »Und nun wollen wir uns alle die Hände reichen«, hatte er gebangt, ob die Gemeinde ihm folgen würde. Dann hatten fünf oder sechs Leute den Anfang gemacht, und alle hatten sich angeschlossen.
Inzwischen gab es kein Zögern mehr. Aber er fragte sich, was der Grund gewesen sei. Nur Gewohnheit? Oder vielleicht das Gefühl, dass das Händereichen eine Gemeinsamkeit vortäusche, die es überhaupt nicht gab? Sein Widersacher im Presbyterium schien es so gemeint zu haben, als er von sentimentalem Kitsch sprach. Aber das hieß doch, die moralische Kraft symbolischer Handlungen zu verkennen. Er hatte darüber mit einem ehemaligen Studienkollegen zu sprechen versucht, der damals eine Pfarrstelle in der Nachbarschaft gehabt hatte. Aber der hatte im Gegensatz zu früher wenig Interesse an dem Gespräch gezeigt und es mit der Bemerkung abgeschlossen: »Mehr oder minder sind wir alle nur noch Entertainer und Animateure.«
Er war sprachlos gewesen, hatte sogar genickt. Wieder hatte er daran denken müssen, dass Claudia ihn auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung einen Prediger genannt hatte. Es war einer jener Momente in seinem Leben, die ihn immer wieder bedrängten. Er konnte sich nur vor diesen Erinnerungen schützen, indem er irgendetwas Stärkendes, Aufbauendes dagegenstellte, für andere und für sich selbst. Morgen hatte er im Sonntagsgottesdienst eine gute Gelegenheit. Er musste die Predigt zu einer Trauung halten. Das war ein Thema, dem er sich immer wieder stellen musste. Und diesmal wollte er frei darüber sprechen, in der Sprache eines Zeugen.
Draußen fiel seit einer Stunde ein immer dichter werdender Regen, der in den Nachrichten als ein Tief aus Nordwesten angekündigt worden war. Es war noch kein Sturmtief, aber ein Rauschen, das ab und zu böig gegen die Fenster schlug. Eine Weile hörte er zu. Das Geräusch war beunruhigend. Aber vielleicht nur, weil er selbst voller Unruhe war. Ich sollte heute früh schlafen gehen, dachte er. Doch vielleicht war es noch zu früh, um gleich einzuschlafen, und dann begann die Quälerei des Wartens und nervösen Herumwälzens. Uneins mit sich selbst schaltete er das Fernsehen an und ließ mit der Fernbedienung die Programme über den Bildschirm rutschen. Er stoppte bei einem Turnier von japanischen Sumoringern. Fettleibige Kolosse mit weibischen Brüsten, die windelartige Tücher um ihre Hüften geschlungen hatten, hockten am Rand des Kampfrings in einer froschartigen Haltung einander gegenüber, um auf ein Zeichen des Schiedsrichters hochzuschnellen und in der Mitte des Ringes mit der ganzen Wucht ihrer Riesenleiber aufeinanderzuklatschen. Sie stießen und schoben sich oder versuchten, einander auszuhebeln, und wer stürzte oder mit einem Fuß aus dem Ring geriet, hatte verloren.
Manchmal dauerte es nur Sekunden. Ohne besonderes Interesse schaute er sich einige Paarungen an und schaltete aus.
Das Rauschen des Regens und die Windstöße schienen noch stärker geworden zu sein. Hinter den Fensterscheiben, an denen das Wasser in glasigen Strömen herunterlief, sah er nur verschwommene Dunkelheit. Aber die Fenster waren dicht. Er sagte sich, dass er nachschauen müsse, ob auch im Dachgeschoss alles in Ordnung sei, und stieg zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder nach oben. Als er in die erste Kammer trat, sah er im matten Licht der einzigen von der Decke herunterhängenden Glühbirne die aufeinandergestapelten Kisten und eine Reihe umgekippter Aktenordner. Einige hatten sich geöffnet, und die eingehefteten Briefe schauten wie ein schmutziges, obszönes Unterfutter aus den schwarzen Pappdeckeln heraus. Es roch modrig. Die dunklen Flecken an den Wänden waren Schimmelpilze. Die schmalen Fenster in den Dachgauben schienen allerdings dicht zu sein. Er hatte das Gefühl, dass die Wind- und Regengeräusche hier oben noch stärker waren als im ersten Stock. Gleich bei seinem Eintritt war es ihm so vorgekommen, als würde ihm eine Kappe aus Geräuschen über den Kopf gestülpt.
Deshalb hatte er, während er durch die drei Kammern ging und hier und da ein loses Fußbodenbrett unter seinem Schritt knarrte, nicht bemerkt, dass im ersten Stock das Telefon klingelte. Erst als er schon wieder auf der Treppe nach unten war, hörte er in seinem Wohnzimmer, immer noch kaum lauter als ein Zirpen, die letzten Signale. Wer mochte das gewesen sein zu dieser außergewöhnlichen Zeit? Vielleicht doch die so lange verstummte Stimme Claudias, die leise fragte: »Wie geht es dir?« Nein, das musste er sich aus dem Kopf schlagen. Wahrscheinlich war es wieder eine dieser namenlosen aufdringlichen Anruferinnen, oder immer dieselbe. Er war gerade ins Zimmer getreten, als der Apparat wieder klingelte. Er zögerte, den Hörer abzunehmen, und sagte dann nur
»Ja?«
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Er lebte allein in dem großen Pfarrhaus, das seine Vorgänger während des größten Teils ihrer Amtszeit mit vielköpfigen Familien bewohnt hatten, und war ein Gefühl von Unangemessenheit und Fremdheit nicht losgeworden. Eigentlich hatte er vorgehabt, vor seinem Einzug zu heiraten. Doch Claudia, seine Freundin aus der Zeit seines Vikariats, war vor dem entscheidenden Schritt zurückgescheut und hatte sich von ihm getrennt. Sie war in eine andere Stadt gezogen und hatte ihm weder ihre neue Adresse noch ihre Telefonnummer mitgeteilt. Er hatte sie allerdings auch nicht darum gebeten, weil er annahm, dass sie zu einem anderen Mann gezogen war. Die vielen Gespräche, die sie in den Monaten vor ihrer Trennung geführt hatten, waren für ihn auf ihren Satz geschrumpft:
»Wir passen eben nicht zusammen.« Das war ihr Angebot gewesen, die Trennung als eine vernünftige und notwendige gemeinsame Entscheidung zu betrachten. Aber es hatte auch andere Töne gegeben: Streit und kurze Versöhnungen und nicht mehr gutzumachende Worte. Für ihn war die Trennung ein Schock, auch wenn er sich sagte, dass damit nicht allein seine Person gemeint war, sondern alles, was er für Claudia repräsentierte: das Leben auf dem Land, in einer Ortschaft, die ein nach allen Seiten ausgewuchertes Dorf, aber eben keine Stadt war, und das düstere, heruntergekommene Pfarrhaus, in das er dann allein eingezogen war.
Es war ihm schwergefallen, sich einzurichten. Ohne sie fehlte ihm die Phantasie und die Notwendigkeit, um im Haus viel zu verändern und zu verbessern. Wozu? Er kam auch so zurecht. Das Dachgeschoss, in dem ursprünglich die Kinder seines Vorgängers gewohnt hatten, hatte er ganz außer Acht gelassen. In den Räumen mit ihren stockfleckigen Tapeten waren kaputte Möbel und mehrere Kisten voller alter Gemeindeakten abgestellt, die er sichten musste, bevor er das ganze Geschoss entrümpeln ließ, was aus Gründen des Feuerschutzes längst fällig war. Aber da er für die Mansarden keine Verwendung hatte, war er dieser Arbeit bisher aus dem Weg gegangen. Für seine Wohnung im ersten Stock hatte er einige ausrangierte Möbel seines Vorgängers übernommen und sie mit seinen wenigen eigenen Möbeln zusammengestellt.
Es wirkte zufällig und achtlos. Für einen Junggesellen, der Studienzeit, Vikariat und den anschließenden Hilfsdienst noch nicht lange hinter sich hatte, blieb es eine ungewohnt große Wohnung, in der er sich immer noch etwas verloren fühlte. Anfangs hatte er abends einmal in allen Räumen das Licht brennen lassen. Doch nachdem ihn am nächsten Tag eine Gemeindehelferin gefragt hatte, ob er gestern Abend eine Party gefeiert habe, hatte er das nicht wiederholt. Immer noch war er der junge Pfarrer, der unter aller Augen mit dem Schatten seines Vorgängers zu kämpfen hatte, einem Mann, der in seiner ganzen Lebensart besser in die ländliche Umgebung gepasst hatte, schon deshalb, weil er verheiratet war, als er die Pfarrstelle angetreten hatte. Er dagegen galt als Modernist, obwohl er sich selbst nicht so sah, jedenfalls nicht in einem ausgeprägten Sinn. Im Seminar hatten sie oft über die neu sich stellende Aufgabe gesprochen, in der heutigen Welt christliche Glaubensinhalte zu vermitteln. Zeitgemäß und praxisnah sollte es geschehen. Das waren die Leitvorstellungen seiner Studienkollegen, die sich gerne als eine Generation von Neuerern verstanden hätten, aber natürlich wussten, dass vor Ort in den Gemeinden viele fortschrittliche Neuerungen und Aktivitäten auf sie warteten, sodass nicht mehr viel Spielraum für weitere Projekte blieb. Es gab Kindergärten und Altenbetreuung, Gesprächsgruppen und Singkreise, Vorträge und Theatergemeinschaften.
Es war ein florierender Betrieb mit vielen ehrenamtlichen Helferinnen, neben denen der sonntägliche Gottesdienst eher als eine traditionelle Pflichtübung dahinkrankte.
Eigentlich war dies ja das Problem. Es ging nicht um Neuerungen, sondern um Erneuerung. Daran waren alle Neuerungen zu messen. Die Neuerung, die er eingeführt hatte – dass sich die Gemeindemitglieder beim Segen zum Ende des Gottesdienstes die Hände reichten –, hatte anfangs die Gemeinde gespalten. Manche waren dem Gottesdienst ferngeblieben. Im Presbyterium hatte er das neue Ritual als anschauliches Bekenntnis zur Nächstenliebe verteidigt. Und als gemeinsame Erfahrung der Gleichheit vor Gott. Aber Kurt Rautenbach, ein pensionierter Oberstudienrat, der ihm häufig widersprach, hatte das abschließende Händereichen als sentimentalen Kitsch bezeichnet, der nicht in den Gottesdienst gehöre. »Wir wollen hier keinen Hippiekult «, hatte er gesagt. Und obwohl niemand ihm zustimmte, war sichtbar, dass diese Bemerkung Eindruck machte. Als er beim nächsten Gottesdienst vor dem abschließenden Segen sagte: »Und nun wollen wir uns alle die Hände reichen«, hatte er gebangt, ob die Gemeinde ihm folgen würde. Dann hatten fünf oder sechs Leute den Anfang gemacht, und alle hatten sich angeschlossen.
Inzwischen gab es kein Zögern mehr. Aber er fragte sich, was der Grund gewesen sei. Nur Gewohnheit? Oder vielleicht das Gefühl, dass das Händereichen eine Gemeinsamkeit vortäusche, die es überhaupt nicht gab? Sein Widersacher im Presbyterium schien es so gemeint zu haben, als er von sentimentalem Kitsch sprach. Aber das hieß doch, die moralische Kraft symbolischer Handlungen zu verkennen. Er hatte darüber mit einem ehemaligen Studienkollegen zu sprechen versucht, der damals eine Pfarrstelle in der Nachbarschaft gehabt hatte. Aber der hatte im Gegensatz zu früher wenig Interesse an dem Gespräch gezeigt und es mit der Bemerkung abgeschlossen: »Mehr oder minder sind wir alle nur noch Entertainer und Animateure.«
Er war sprachlos gewesen, hatte sogar genickt. Wieder hatte er daran denken müssen, dass Claudia ihn auf dem Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung einen Prediger genannt hatte. Es war einer jener Momente in seinem Leben, die ihn immer wieder bedrängten. Er konnte sich nur vor diesen Erinnerungen schützen, indem er irgendetwas Stärkendes, Aufbauendes dagegenstellte, für andere und für sich selbst. Morgen hatte er im Sonntagsgottesdienst eine gute Gelegenheit. Er musste die Predigt zu einer Trauung halten. Das war ein Thema, dem er sich immer wieder stellen musste. Und diesmal wollte er frei darüber sprechen, in der Sprache eines Zeugen.
Draußen fiel seit einer Stunde ein immer dichter werdender Regen, der in den Nachrichten als ein Tief aus Nordwesten angekündigt worden war. Es war noch kein Sturmtief, aber ein Rauschen, das ab und zu böig gegen die Fenster schlug. Eine Weile hörte er zu. Das Geräusch war beunruhigend. Aber vielleicht nur, weil er selbst voller Unruhe war. Ich sollte heute früh schlafen gehen, dachte er. Doch vielleicht war es noch zu früh, um gleich einzuschlafen, und dann begann die Quälerei des Wartens und nervösen Herumwälzens. Uneins mit sich selbst schaltete er das Fernsehen an und ließ mit der Fernbedienung die Programme über den Bildschirm rutschen. Er stoppte bei einem Turnier von japanischen Sumoringern. Fettleibige Kolosse mit weibischen Brüsten, die windelartige Tücher um ihre Hüften geschlungen hatten, hockten am Rand des Kampfrings in einer froschartigen Haltung einander gegenüber, um auf ein Zeichen des Schiedsrichters hochzuschnellen und in der Mitte des Ringes mit der ganzen Wucht ihrer Riesenleiber aufeinanderzuklatschen. Sie stießen und schoben sich oder versuchten, einander auszuhebeln, und wer stürzte oder mit einem Fuß aus dem Ring geriet, hatte verloren.
Manchmal dauerte es nur Sekunden. Ohne besonderes Interesse schaute er sich einige Paarungen an und schaltete aus.
Das Rauschen des Regens und die Windstöße schienen noch stärker geworden zu sein. Hinter den Fensterscheiben, an denen das Wasser in glasigen Strömen herunterlief, sah er nur verschwommene Dunkelheit. Aber die Fenster waren dicht. Er sagte sich, dass er nachschauen müsse, ob auch im Dachgeschoss alles in Ordnung sei, und stieg zum ersten Mal seit vielen Monaten wieder nach oben. Als er in die erste Kammer trat, sah er im matten Licht der einzigen von der Decke herunterhängenden Glühbirne die aufeinandergestapelten Kisten und eine Reihe umgekippter Aktenordner. Einige hatten sich geöffnet, und die eingehefteten Briefe schauten wie ein schmutziges, obszönes Unterfutter aus den schwarzen Pappdeckeln heraus. Es roch modrig. Die dunklen Flecken an den Wänden waren Schimmelpilze. Die schmalen Fenster in den Dachgauben schienen allerdings dicht zu sein. Er hatte das Gefühl, dass die Wind- und Regengeräusche hier oben noch stärker waren als im ersten Stock. Gleich bei seinem Eintritt war es ihm so vorgekommen, als würde ihm eine Kappe aus Geräuschen über den Kopf gestülpt.
Deshalb hatte er, während er durch die drei Kammern ging und hier und da ein loses Fußbodenbrett unter seinem Schritt knarrte, nicht bemerkt, dass im ersten Stock das Telefon klingelte. Erst als er schon wieder auf der Treppe nach unten war, hörte er in seinem Wohnzimmer, immer noch kaum lauter als ein Zirpen, die letzten Signale. Wer mochte das gewesen sein zu dieser außergewöhnlichen Zeit? Vielleicht doch die so lange verstummte Stimme Claudias, die leise fragte: »Wie geht es dir?« Nein, das musste er sich aus dem Kopf schlagen. Wahrscheinlich war es wieder eine dieser namenlosen aufdringlichen Anruferinnen, oder immer dieselbe. Er war gerade ins Zimmer getreten, als der Apparat wieder klingelte. Er zögerte, den Hörer abzunehmen, und sagte dann nur
»Ja?«
© 2009 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
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Autoren-Porträt von Dieter Wellershoff
Dieter Wellershoff, geboren am 3. November 1925 in Neuss, starb am 15. Juni 2018 in Köln. Er schrieb Romane, Novellen, Erzählungen, Essays und autobiographische Bücher, z.B. »Der Ernstfall«, 1995, über seine Erfahrungen im 2. Weltkrieg. Wellershoff hielt poetologische Vorlesungen an in- und ausländischen Universitäten, zuletzt in Frankfurt a.M. Er erhielt u.a. den Hörspielpreis der Kriegsblinden, den Heinrich-Böll-Preis, den Hölderlin-Preis, den Joseph-Breitbach-Preis und den Ernst-Robert-Curtius-Preis für Essayistik. Übersetzungen erschienen in bisher 15 Sprachen. Das Werk von Dieter Wellershoff ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Dieter Wellershoff
- 2009, 6. Aufl., 304 Seiten, Maße: 13 x 20,5 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kiepenheuer & Witsch
- ISBN-10: 3462041347
- ISBN-13: 9783462041347
- Erscheinungsdatum: 21.08.2009
Rezension zu „Der Himmel ist kein Ort “
»Es ist die Gewissenhaftigkeit des Erzählers, die diesen Roman vor dem Absturz in genrehafte Banalität oder intellektuelle Bedeutungshuberei bewahrt, die Sicherheit und Präzision esines Tons.« Andreas Kilb FAZ
Pressezitat
»Es ist die Gewissenhaftigkeit des Erzählers, die diesen Roman vor dem Absturz in genrehafte Banalität oder intellektuelle Bedeutungshuberei bewahrt, die Sicherheit und Präzision esines Tons.« Andreas Kilb FAZ
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