Der kleine Flügel
Eine phantastische Geschichte mit Musik
Ein Buch für Groß und Klein und alle, die an den Zauber der Musik glauben.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der kleine Flügel “
Ein Buch für Groß und Klein und alle, die an den Zauber der Musik glauben.
Klappentext zu „Der kleine Flügel “
Eine beflügelnde Geschichte über die Kraft der MusikNelly verliert die Lust am Klavierspiel, noch bevor sie überhaupt richtig entfacht wurde. Das starre Üben und der freudlose Umgang der Lehrerin mit Musik rauben ihr den Spaß. Als sie ihrem Großvater ihr Leid klagt, antwortet der mit einer Geschichte, die Nelly die Augen für das wahre Wesen der Musik öffnet und sie ermutigt, ihren eigenen Weg zu gehen: Der Großvater erzählt ihr von der Orgel, der Königin der Instrumente, die in ihrem steinernen Turm residiert und über die anderen Instrumente herrscht. Sie verabscheut musikalische Freiheit. Doch der kleine Flügel will sich in dieser magischen Welt nicht den Regeln der Orgel unterordnen, wird aus der Instrumentenfamilie verstoßen und mit aller Macht von einer gigantischen Orgelpfeife aus dem Turm geblasen. Es beginnt ein gefährlicher Weg zurück in die Freiheit, bei dem der kleine Flügel zahlreiche Abenteuer bestehen muss. Schließlich kehrt er mit einer Schar tapferer Gefährten in den düsteren Turm zurück und nimmt den ungleichen Kampf gegen die übermächtige Orgel auf - natürlich mit musikalischen Mitteln ...
Der kleine Flügel
Eine phantastische Geschichte mit Musik
... mehr
Nelly ist 14 und liebt das Klavierspiel - das heißt, sie liebt es eigentlich. Wäre da nicht ihre Klavierlehrerin Frau Billerbeck, eine ehemalige Konzertpianistin, der das Leben übel mitgespielt hat. Noch immer spielt sie virtuos, aber sie hat jede Leichtigkeit verloren und ihr freudloser, ja ausschließlich notentreuer Umgang mit der Musik färbt langsam, aber sicher auf Nelly ab. Am liebsten würde sie hinschmeißen. Schließlich will sie keine Konzertpianistin werden, sondern Spaß haben und die vielen Geschichten zwischen den Tasten entdecken. So wie sie es schon als kleines Mädchen mit ihrem Großvater getan hat, als ihre winzigen Fingerchen die Tastatur erkundeten: Oben im Diskant konnte sie die Vögel hören, unten im Bass sah sie den tollpatschigen Bär durchs Unterholz spazieren! - In ihrer Musikwelt konnte Nelly alle Tiere mit ihren Fingern zum Leben erwecken.
Es ist quasi 5 vor 12, als der Großvater zu Besuch kommt und Nelly ihm ihr Herz ausschütten kann. Der alte Mann weiß, was Nelly bedrückt ... und er erinnert sich an eine Geschichte von jemandem, dem es ähnlich ging.
Eine magische Welt, in der Instrumente eine Seele haben ...
Er nimmt Nelly und die Leser mit auf eine phantastische Reise in eine magische Welt, in der auch Instrumente eine Seele haben - das heißt: fast alle! Denn die Orgel Theodora, die Instrumentenkönigin, die in einem düsteren Turm ihr hartes Regiment führt, ist genauso seelenlos wie Frau Billerbeck. Sie hat nur ein Ziel: Sie will die absolute Kontrolle über die Musik erlangen. Und dazu muss sie die besten Instrumente um sich versammeln und sie sich untertan machen. Ihre Schergen durchkämmen die Menschenwelt, um die besten Exemplare zu finden. So wie den kleinen Flügel ... der nicht nur aus gutem Hause stammt - er ist ein Steinway! -, sondern auch unendliches Potenzial hat. Ihn spüren Theodoras Schergen in einem Auktionshaus im Örtchen Lützenried auf, wo er seit dem Tod seines ersten Besitzers herumsteht. Mit dem kleinen Flügel will Theodora ihre Sammlung komplettieren und vollkommene Musik erzeugen, um so die magische Drift einzuleiten, die die Musik auch in der Menschenwelt entscheidend verändern würde.
Doch der kleine Flügel tickt anders als die meisten seiner Kollegen. Er denkt gar nicht daran, sich zu unterwerfen - mit einem rauschenden Arpeggio aus Quarten improvisiert er, was das Zeug hält - und fliegt aus Theodoras Orchester: Mit einer ihrer Orgelpfeifen bläst sie ihn aus ihrem Turm hinaus.
Kampfeslustig und aufmüpfig: der kleine Flügel
Der kleine Flügel ist zwar etwas lädiert, doch nun erst recht kampfeslustig. Mit vier ebenfalls aufmüpfigen Instrumenten - der E-Gitarre Strato, dem E-Bass Fendi, dem Synthesizer Moog und der Triangel Tri - nimmt er den Kampf gegen Theodora und die Zeit auf. Denn deren Schergen suchen schon nach einem neuen Flügel für die magische Drift.
Die fünf Freunde machen sich auf den Weg zum Bergkönig, dem Herrscher über alle Schlaginstrumente, den sie auf ihre Seite ziehen müssen. Bisher haben der Bergkönig und Theodora in friedlicher Koexistenz gelebt: Er lieh ihr seine Instrumente für ihre perfekten Konzerte, sie lud dafür die Trommelschlägel seiner Instrumente mit einer blauen Energie auf, die er zu flüssigem Licht umwandelte, das ihn süß träumen ließ ...
Eine beflügelnde Geschichte von der Kraft der Musik
Wie wird er auf die fünf Freunde Truppe reagieren? Werden sie überhaupt bei ihm ankommen? Schließlich müssen sie die Klippen der Klangfarben, das tonlose Tal und den geheimen Gang überwinden. Nicht nur der Leser fürchtet um ihr Leben - da wäre nämlich auch noch Celesta, ein zierliches Tasteninstrument; so zierlich, dass es glatt als Klavier nach einer Diät durchgehen könnte. Celesta bangt vor allem um den kleinen Flügel ... Was wohl passieren mag, wenn sich ihre Klangkörper berühren? Und was wohl geschieht, wenn sie die mächtige Lyra finden, die in einer Höhle gefangen ist? Ist sie, dieses göttliche Instrument, sie, die Urahnin aller Saiteninstrumente, die um eine Saite beraubt wurde, vielleicht der Schlüssel im Kampf gegen die Orgel?
Nelly verfolgt die Geschichte ihres Großvaters bis zum Ende - und sie fragt sich: Was würde passieren, wenn auch sie den Mut aufbringen und sich wehren würde? Eins ist klar: Die nächste Klavierstunde wird anders werden als sonst ...
Die beflügelnde Geschichte von der Kraft der Musik aus der Feder des Autorenduos Joja Wendt und Kester Schlenz ist nicht nur etwas für Musikliebhaber, sondern für alle, die gerne in magische, rätselhafte Welten reisen. Fast überflüssig zu sagen, dass die Autoren selbst leidenschaftlich gerne musizieren!
Nelly ist 14 und liebt das Klavierspiel - das heißt, sie liebt es eigentlich. Wäre da nicht ihre Klavierlehrerin Frau Billerbeck, eine ehemalige Konzertpianistin, der das Leben übel mitgespielt hat. Noch immer spielt sie virtuos, aber sie hat jede Leichtigkeit verloren und ihr freudloser, ja ausschließlich notentreuer Umgang mit der Musik färbt langsam, aber sicher auf Nelly ab. Am liebsten würde sie hinschmeißen. Schließlich will sie keine Konzertpianistin werden, sondern Spaß haben und die vielen Geschichten zwischen den Tasten entdecken. So wie sie es schon als kleines Mädchen mit ihrem Großvater getan hat, als ihre winzigen Fingerchen die Tastatur erkundeten: Oben im Diskant konnte sie die Vögel hören, unten im Bass sah sie den tollpatschigen Bär durchs Unterholz spazieren! - In ihrer Musikwelt konnte Nelly alle Tiere mit ihren Fingern zum Leben erwecken.
Es ist quasi 5 vor 12, als der Großvater zu Besuch kommt und Nelly ihm ihr Herz ausschütten kann. Der alte Mann weiß, was Nelly bedrückt ... und er erinnert sich an eine Geschichte von jemandem, dem es ähnlich ging.
Eine magische Welt, in der Instrumente eine Seele haben ...
Er nimmt Nelly und die Leser mit auf eine phantastische Reise in eine magische Welt, in der auch Instrumente eine Seele haben - das heißt: fast alle! Denn die Orgel Theodora, die Instrumentenkönigin, die in einem düsteren Turm ihr hartes Regiment führt, ist genauso seelenlos wie Frau Billerbeck. Sie hat nur ein Ziel: Sie will die absolute Kontrolle über die Musik erlangen. Und dazu muss sie die besten Instrumente um sich versammeln und sie sich untertan machen. Ihre Schergen durchkämmen die Menschenwelt, um die besten Exemplare zu finden. So wie den kleinen Flügel ... der nicht nur aus gutem Hause stammt - er ist ein Steinway! -, sondern auch unendliches Potenzial hat. Ihn spüren Theodoras Schergen in einem Auktionshaus im Örtchen Lützenried auf, wo er seit dem Tod seines ersten Besitzers herumsteht. Mit dem kleinen Flügel will Theodora ihre Sammlung komplettieren und vollkommene Musik erzeugen, um so die magische Drift einzuleiten, die die Musik auch in der Menschenwelt entscheidend verändern würde.
Doch der kleine Flügel tickt anders als die meisten seiner Kollegen. Er denkt gar nicht daran, sich zu unterwerfen - mit einem rauschenden Arpeggio aus Quarten improvisiert er, was das Zeug hält - und fliegt aus Theodoras Orchester: Mit einer ihrer Orgelpfeifen bläst sie ihn aus ihrem Turm hinaus.
Kampfeslustig und aufmüpfig: der kleine Flügel
Der kleine Flügel ist zwar etwas lädiert, doch nun erst recht kampfeslustig. Mit vier ebenfalls aufmüpfigen Instrumenten - der E-Gitarre Strato, dem E-Bass Fendi, dem Synthesizer Moog und der Triangel Tri - nimmt er den Kampf gegen Theodora und die Zeit auf. Denn deren Schergen suchen schon nach einem neuen Flügel für die magische Drift.
Die fünf Freunde machen sich auf den Weg zum Bergkönig, dem Herrscher über alle Schlaginstrumente, den sie auf ihre Seite ziehen müssen. Bisher haben der Bergkönig und Theodora in friedlicher Koexistenz gelebt: Er lieh ihr seine Instrumente für ihre perfekten Konzerte, sie lud dafür die Trommelschlägel seiner Instrumente mit einer blauen Energie auf, die er zu flüssigem Licht umwandelte, das ihn süß träumen ließ ...
Eine beflügelnde Geschichte von der Kraft der Musik
Wie wird er auf die fünf Freunde Truppe reagieren? Werden sie überhaupt bei ihm ankommen? Schließlich müssen sie die Klippen der Klangfarben, das tonlose Tal und den geheimen Gang überwinden. Nicht nur der Leser fürchtet um ihr Leben - da wäre nämlich auch noch Celesta, ein zierliches Tasteninstrument; so zierlich, dass es glatt als Klavier nach einer Diät durchgehen könnte. Celesta bangt vor allem um den kleinen Flügel ... Was wohl passieren mag, wenn sich ihre Klangkörper berühren? Und was wohl geschieht, wenn sie die mächtige Lyra finden, die in einer Höhle gefangen ist? Ist sie, dieses göttliche Instrument, sie, die Urahnin aller Saiteninstrumente, die um eine Saite beraubt wurde, vielleicht der Schlüssel im Kampf gegen die Orgel?
Nelly verfolgt die Geschichte ihres Großvaters bis zum Ende - und sie fragt sich: Was würde passieren, wenn auch sie den Mut aufbringen und sich wehren würde? Eins ist klar: Die nächste Klavierstunde wird anders werden als sonst ...
Die beflügelnde Geschichte von der Kraft der Musik aus der Feder des Autorenduos Joja Wendt und Kester Schlenz ist nicht nur etwas für Musikliebhaber, sondern für alle, die gerne in magische, rätselhafte Welten reisen. Fast überflüssig zu sagen, dass die Autoren selbst leidenschaftlich gerne musizieren!
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Lese-Probe zu „Der kleine Flügel “
Der kleine Flüge von Joja Wendt und Kester Schlenz Prolog
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Diese Stimme. Diese fiese, schneidende Stimme. «Sitz gerade!», faucht diese Stimme. «Die Finger rund beim Spielen, Kind. Nicht so tatschen. Ein Klavier ist keine Bongotrommel.» Nelly schüttelt sich. Aber nur innerlich. Richtig schütteln? Und dabei «brrr» sagen? Besser nicht. Frau Billerbeck wäre sofort stinksauer. Tatsächlich sitzt Nelly schweigend - und so gerade wie möglich - am Klavier und macht die Finger rund. Frau Billerbeck ist Nellys Klavierlehrerin. Eine sonderbare Frau. Immer wenn sie Nelly etwas vorspielt, nimmt sie in einer unnatürlich steifen Haltung auf dem Hocker Platz und lässt ihre langen, sehnigen Finger über das Klavier huschen. Ja, Klavierspielen, das kann sie, die Billerbeck, denkt Nelly. Aber sonst? Brrr. «Nicht so mit dem Pedal schmieren», faucht sie Nelly gerade wieder in den Rücken. «Konzentrier dich!» Nelly ist vierzehn Jahre alt und neugierig im wahrsten Sinne des Wortes. Gierig nach Neuem! Und meist geht es dabei um Musik. Musik - das ist Nellys Welt, ihre große Leidenschaft, seit sie denken kann. Das Klavier, das zu Hause im Wohnzimmer steht, hatte sie schon immer magisch angezogen. Schon bevor sie anfing zu sprechen, erkundeten ihre Hände die Tastatur, fasziniert von den wundersamen Klängen, die man dem großen schwarzen Kasten entlocken konnte. Die Musik wurde zu einer Welt, die nur ihr gehörte. Einer Welt, in die sie sich jederzeit flüchten konnte, auch wenn sie etwas bedrückte oder sie einfach nur mal für sich sein wollte. Ihre ersten Klavierstunden waren dann wie ein Wunder. Plötzlich verstand Nelly diese Welt auch endlich, konnte sie betreten und erkunden. Das Beste aber war dieses besondere Gefühl, wenn sie selber Musik machte. Diese Verbundenheit mit den Klängen, die sie trugen wie ein großes, starkes Netz. Sie konnte nicht genug kriegen und tauchte im Laufe der Zeit immer tiefer ein in diese Mischung aus schon erzählten und neu erfundenen Geschichten. Eine herrliche, farbige, schillernde Märchenwelt aus Klängen und Harmonien, und sie wäre das glücklichste Mädchen der Welt, wenn ... ja, wenn da nicht Frau Billerbeck wäre. Mit der Zeit merkt Nelly, dass sie immer unglücklicher wird. Sie will ausbrechen, mal was anders machen. Aber jeder Versuch, die strengen Vorgaben ihrer Lehrerin zu umgehen, wird entrüstet zurückgewiesen. «Wir lernen so oder gar nicht, Kind», faucht sie. «Ich weiß, was gut für dich ist. So, und nun sitz gerade und mach weiter. Und übrigens sind deine Fingernägel wieder ein Stück zu lang. Du weißt, wie ich das hasse.» Nelly fügt sich, aber sie merkt, wie ihre einst so farbenfrohe Welt der Musik allmählich zu verblassen beginnt. Wochen vergehen, und Nelly wird immer trauriger. Doch eines Tages klingelt es an der Haustür. Aus den gedämpften Stimmen im Flur kann sie unmissverständlich eine ganz besondere, tiefe Stimme heraushören. Opa! Im gleichen Moment fliegt sie ihm schon entgegen. Minutenlang liegen sich die beiden in den Armen. Am liebsten würde sie ihm gleich alles erzählen. Schließlich sieht ihr Großvater sie an und sagt: «Und jetzt erzählst du deinem alten Opa mal, was dich bedrückt. Ich kenne dich doch. Es stimmt was nicht, stimmt's oder habe ich recht?» «Es stimmt so was von gar nix, Opa», sagt Nelly und fängt an zu erzählen. Als sie mit ihrer Geschichte endet, sieht ihr Großvater sie lange an. «Na, da haben wir aber ein echtes Problem», sagt er. Dann steht er auf, holt sich eine Tasse Tee und geht gemächlich zum alten chinesischen Stuhl. Das alte Holz ächzt unter seinem Gewicht, der Tee dampft auf dem kleinen Tischchen, und Großvater sagt: «Mach's dir auf dem Sofa bequem, Nelly. Ich will dir jetzt mal eine Geschichte erzählen. Von jemandem, dem es ganz ähnlich ging wie dir. Diese Geschichte spielt in der magischen Welt der Musik. Einer Welt, in der die Instrumente eine Seele haben.» (...)
Die Auktion
Der Flügel stand da und wartete. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt. In Lützenried, einem verschlafenen kleinen Nest, würde sich sein weiteres Schicksal entscheiden. Im alten Bahnhof des Städtchens gab es ein Auktionshaus für Instrumente. Hier sollte er für möglichst viel Geld an seinen neuen Besitzer verkauft werden. Lützenried, ein Ort von bemerkenswerter Schlichtheit, war in der Musikszene berühmt geworden, weil vor Jahren angeblich eine echte antike Guarneri-Violine für einen absoluten Dumpingpreis den Besitzer gewechselt hatte. Wahrscheinlich war das Unsinn, aber die Lützenrieder hatten nicht das Geringste gegen das hartnäckige Gerücht einzuwenden; es gab ihrer alljährlichen Auktion einen Hauch von Exklusivität. Unser Flügel, dessen dramatische Geschichte hier erzählt werden muss, war tief in Gedanken versunken. Er war in düsterer Stimmung und merkte kaum, dass sich der Raum mit immer mehr Menschen füllte und unzählige Augen ihn und die anderen Instrumente ansahen. Er dachte an früher, an die Zeit, als noch alles gut war. An das beschauliche Wohnzimmer der Familie Ogermann, in dessen Mitte er einst gestanden hatte. Der alte Bernhard Ogermann war sein Besitzer gewesen, und der Flügel konnte mit Fug und Recht sagen, dass er und Ogermann auf eine ganz spezielle Weise zu Freunden geworden waren. Natürlich lebten beide in verschiedenen Welten. Menschen und Instrumente reden nicht miteinander, zumindest nicht direkt. Aber in sehr besonderen Fällen verbindet beide Seiten die universelle Sprache der Musik, und sie verstehen einander ohne Worte.
Doch nun war Bernhard Ogermann tot, und der Flügel stand im kühlen Auktionshaus im Bahnhof von Lützenried. Dort sollte sich nun sein Schicksal entscheiden. Etwas im Raum hatte sich plötzlich verändert. Ein eisiger Hauch wehte von der Tür herüber. Und dann sah er die beiden Gestalten: ein riesiger Mann und eine dürre Frau. Um sie herum flimmerte die Luft sonderbar grünlich, als ob die beiden nicht in diese Welt gehörten. Der Flügel spürte sofort, dass er in großer Gefahr war, denn beide sahen zu ihm herüber, mit bohrendem Blick, und die Frau zischte: «Das dahinten, das ist er.» Und dann setzte sich der riesige Mann in Bewegung und ging mit schweren Schritten auf ihn zu.
Der Übergang
Jetzt war es also geschehen! Die schreckliche Frau und ihr riesiger Begleiter hatten den Flügel ersteigert, und er hatte es noch nicht einmal mitbekommen. Doch die beiden ließen keine Anzeichen von Triumph oder Genugtuung erkennen. Sie blieben regungslos auf ihren Plätzen sitzen, während sich der Auktionssaal langsam leerte. Draußen dämmerte es bereits. Schließlich waren nur noch der Auktionator und die beiden unheimlichen Gestalten im Raum. Der riesige Mann schritt zur Tür und schloss sie von innen ab, die rothaarige Frau wühlte in ihrer Handtasche und reichte dem Auktionator dann ein dickes Bündel Geldscheine. Der steckte es schnell ein und murmelte: «War mir wie immer ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.» Dann verließ er den Raum eilig durch eine Seitentür. Die rothaarige Frau legte ihre eiskalte Hand auf die Tastatur. «Kleiner, ahnungsloser Flügel», sagte sie und lachte tonlos. «Du weißt gar nicht, dass du etwas Besonderes bist. Du hast die Gabe. Und deshalb brauchen wir dich.» Sie drehte sich zu ihrem Begleiter und zischte: «Los, lass uns beginnen. Die Erhabene wird schon warten.» Der Flügel war starr vor Angst. Was geschah nur mit ihm? Die Rothaarige zog eine kunstvoll verzierte hölzerne Schachtel aus ihrer Tasche und öffnete den Deckel nur einen winzigen Spalt. Sofort strömte ein helles, unwirkliches Licht in den Raum. Die Frau und der Riese wichen zurück, näherten sich aber wieder und öffneten die Schachtel schließlich ganz. Das Licht quoll wie Dampf aus der Schachtel und schwebte in kleinen Wolken durch den ganzen Raum. Jetzt trat der Riese vor, zog sich einen dick gepolsterten Handschuh an und griff mit zusammengekniffenen Augen in die Schachtel. Es zischte, und schließlich zog er etwas Langes, hell Glänzendes heraus. Es war die Saite eines Instrumentes - aber ganz offensichtlich keine normale Saite, wie der Flügel sie von Geigen oder Kontrabässen kannte. Diese Saite schien zu leben und wand sich wie eine Schlange in den behandschuhten Fingern des großen Mannes. Und sie schien in Intervallen zu leuchten, als ob ihr eine geheimnisvolle Kraft innewohnte, die nur mit Mühe zu bändigen war. Es war eine unwirkliche Szene: der Flügel in der Mitte des dunklen Raumes, daneben die rothaarige Frau und der große Mann, die beide gebannt auf die zuckende Saite starrten, deren Licht Schatten auf ihre Gesichter warf. Schließlich hob die Frau ihre Hände - und begann zu singen. Es war ein einziger langer Ton, der ihrer Kehle entwich. Er erfüllte sofort den ganzen Raum, und der Flügel fühlte, dass sich etwas veränderte. Es war, als ob der Boden unter seinen hölzernen Beinen weicher wurde. Nun begann auch der Mann zu singen. Den gleichen Ton. Lang anhaltend. Ohne Pause. Immer lauter. Und plötzlich hörte die Saite auf zu zucken. Sie wurde zu einer geraden Linie, leuchtete aber immer heller. «Wie ein großer Eiszapfen aus Licht», dachte der Flügel. «Wie ein Schwert, das -» Dann erstarrte er, denn der Mann hob nun, immer lauter singend, die leuchtende Saite hoch und hielt sie drohend über den Korpus des Flügels. Die Luft begann zu flirren. Die Landschaft hinter den Fenstern verschwamm; plötzlich ließ der Riese die gleißend helle Saite fallen, und den Bruchteil einer Sekunde später berührte das leuchtende Ding den geschlossenen Deckel des Flügels.
Der spürte einen gewaltigen Schlag vom Pedal bis zum Resonanzboden. Das helle Licht war jetzt überall. In ihm, um ihn herum. Nichts war mehr zu erkennen. Das Licht überstrahlte alles. Der Ton aus den Mündern der beiden Gestalten riss abrupt ab und wich einem Rauschen. Dann gab es einen lauten Knall, und plötzlich war da nur noch Stille. Zeit verging. Der Flügel schwebte. Sein Geist war vernebelt. Er fühlte eine sonderbare Leichtigkeit, hörte Töne, Fetzen von Melodien, sah seine eigene Klaviatur, die weißen und schwarzen Tasten, die sich wie von selbst bewegten. Notenblätter wehten vorbei und türmten sich zu einem großen Papierhaufen auf. Ein Taktstock fuhr hinein, und auf einmal bildeten die Notenblätter eine Reihe. Jedes schwebte im gleichen Abstand zum nächsten. Eine endlose, soldatische Reihe, die in der Unendlichkeit verschwand. «Ich träume», dachte der Flügel. «Ich träume, und gleich wache ich auf.» Aber da irrte unser armer Flügel gewaltig - denn mit einem Krachen landete er unsanft auf einem felsigen Boden. Eisige Kälte erfasste ihn, und neben ihm erhoben sich die rothaarige Frau und der riesige Mann. Die Frau sah ihn an und lachte: «Der Übergang ist immer ein wenig unsanft, mein Flügel. Das hier ist deine neue Heimat. Du wirst sie nicht mögen. Aber du wirst dich - wie alle - fügen. Willkommen in der Welt der Erhabenen. Willkommen in Königin Theodoras Reich!»
Der Turm
Der Flügel stand auf einer gewaltigen, scheinbar endlosen Ebene. Weit entfernt am Horizont erkannte er verschwommen Berge. Ein seltsames Zwielicht herrschte, und dunkle Wolken zogen am Himmel vorbei. Ab und an war der Mond zu erkennen. Aber es war nicht der Mond, den er kannte. Hier, in dieser Welt hatte er die Form einer Note. In einem fahlen Licht hing sie wie ein riesiges Menetekel am dunklen Himmel. Die Luft war eisig und von einem sonderbaren Wispern erfüllt. Der Flügel hörte einzelne Worte heraus: «Die Regel. Niemals. Wichtig. Beachte die Regel. Zähme dich. Beherrsche dich. Es steht geschrieben. Weiche nicht ab.» Das Wispern schwoll stetig an und wieder ab. Abgesehen von den fernen Bergen gab es im ganzen Umkreis nur eine einzige Erhebung, und die ließ den Flügel erschauern. Ein gigantisches Bauwerk ragte etwa fünfhundert Meter von ihm entfernt in den dunklen Himmel. Das musste er sein, der geheimnisvolle Turm, von dem die beiden Gestalten immer gesprochen hatten. Er war riesig und sah mit seinen vielen Zinnen und Erkern aus wie vernarbt. An seinen Seiten stiegen dichte weiße Nebelschwaden empor, die ein kalter Wind wieder zerstreute. Kleinere Türme ragten neben ihm in den nächtlichen Himmel, hageren Fingern gleich. Unten am Fundament sah der Flügel etwas Unförmiges. Waren es Felsen? Dann erkannte er es und begann zu zittern. Es waren die Reste von Brüdern und Schwestern des Flügels - zu Stein gewordene Fragmente von Instrumenten, die nun mit dem Fundament des Turmes verwachsen waren. Nur das große Tor, das ins Innere des Bauwerks führte, war frei von ihnen.
Theodora - die Erhabene
Der Flügel rollte durch das mächtige Tor hinein in eine große, majestätische Halle. Anfangs konnte er kaum etwas erkennen, weil ihn das Licht Tausender Kerzen blendete. Dann hörte er Stimmen. Viele Stimmen. «Das ist der Neue.» «Schaut, ein Flügel.» «Ob er wohl gut genug ist?» «Der Arme. Er sieht so ängstlich aus.» Und schließlich erkannte er, wer da redete. Es waren Instrumente. Jede Menge Instrumente unterschiedlichster Art. Sie starrten ihn an und redeten leise miteinander, als ob sie Angst hätten, jemanden aufzuwecken. Aber die Summe der Unterhaltungen sorgte für ein Zischeln, das den ganzen Raum erfüllte. Der Flügel erkannte, dass sich auf beiden Seiten der Halle über drei Geschosse festliche Bogengänge erstreckten, in denen sich die Instrumente aufhielten. Und es steckte ganz offenbar ein System dahinter: Sie waren in Gruppen angeordnet wie in einer sorgsam ausgearbeiteten Partitur. In der obersten Etage hatten sich zu beiden Seiten mit goldenen Ornamenten verzierte Holzblasinstrumente, die Flöten, Fagotte, Klarinetten und Oboen, versammelt. Ihre Klappen schimmerten hell und spiegelten sich in den glatten Steinwänden des Turms. Die mittlere Ebene bevölkerten die Blechbläser: Trompeten, Posaunen und Hörner starrten auf den Flügel herab. Sie flüsterten, standen aber wie regungslose Wächter blank geputzt in ihren glänzenden Messingkleidern starr in Reih und Glied.
Und auf der Ebene der Halle hielt sich die größte Instrumentengruppe auf, die Streicher. Kräftige, gambenförmige Geigen, Bratschen, Celli und Bässe. Der Flügel erkannte sofort: Hier handelte es sich um sehr, sehr wertvolle Instrumente. Das Beste, was es gab in der fernen Menschenwelt, war hier versammelt. Dann stutzte er, denn erst jetzt erkannte er, dass neben jedem Streichinstrument ein aus rötlichem Pernambukholz geschnitzter Bogen schwebte. Er war wahrlich in einer sonderbaren Welt gelandet. Einer Welt, die von lebenden und sprechenden Instrumenten bevölkert wurde. Und er war nun eines davon. «Hallo», sagte er zaghaft. Es klang kläglich. Niemand antwortete. Da endlich löste sich aus der mittleren Ebene eines der Instrumente und beugte sich über das Geländer nach vorn. Es war eine dicke, freundlich aussehende Tuba. Sie sah sich vorsichtig um, blickte dann nach oben und flüsterte: «Flügel, ich weiß, du hast viele Fragen. Es wird Gelegenheit zum Reden geben, aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Theodora, die Erhabene, erwacht. Es kann nicht mehr lange dauern. Bleib einfach da stehen und sei still, ja?» Der Flügel nickte, dankbar, dass sich jemand seiner angenommen hatte. Die Worte der Tuba klangen noch in ihm nach. «Theodora erwacht.» Wer mochte die Geheimnisvolle sein? Und warum nur hatten alle solche Angst vor ihr? Wie zur Antwort auf diese unausgesprochene Frage begann die Decke der Halle zu vibrieren. Eine gewaltige Kraft schien auf sie einzuwirken. Schließlich entstand in der Mitte der Decke eine Öffnung, und mit lautem Knirschen schoben sich beide Teile der Decke schließlich auseinander und verschwanden in breiten Öffnungen in den Wänden.
Was der Flügel dann sah, ließ jede seiner Holzmembranen, jede seiner Tasten, jedes Stück Metall in ihm erschauern. Denn jetzt war auch der gesamte obere Teil des Turmes zu sehen, der in Gänze von einer gigantischen, metallisch glänzenden Orgel ausgefüllt wurde. Ihre riesigen Pfeifen reckten sich steil wie Speere in die Höhe und verschwanden in der Dunkelheit der oberen Turmebene. Die äußeren Pfeifen waren an den Seiten geschmückt mit goldenen Verzierungen, und in der Mitte des titanischen Instrumentes prangte ein Ornament, das aussah wie ein zu einem grotesken Grinsen verzerrter Mund. Und auch oben auf der mittleren Pfeife war eine sonderbar leuchtende Verzierung in der Form eines Auges zu sehen, das wie das eines Zyklopen auf die unten versammelten Instrumente hinabstarrte. Theodora, die Erhabene, war erwacht. Der Flügel stand schweigend da und rührte sich nicht. Theodora blickte weiter wortlos hinab. Ihr stechender Blick wanderte über Flöten, Geigen, Celli und die anderen Instrumente - und verharrte schließlich auf dem Flügel. Ein ungeheuer lauter, mächtiger Ton aus mehreren Pfeifen der Orgel ertönte und ließ den Flügel zusammenzucken. Und dann hörte er ihre tiefe Stimme. «Willkommen in meiner Welt, kleiner Flügel. Einen wie dich brauchte ich noch. Ein so schönes, besonderes Instrument, das die Gabe hat. Die Gabe, vollkommene Musik zu erzeugen. Du wirst gut zu uns passen. Aber wir kommen später zu dir.» Sie hob ihre beiden äußeren Pfeifen wie gigantische Arme in die Luft und rief in die Halle hinein: «Lasst uns den Flügel angemessen begrüßen. Spielt dies!» Und wie von Zauberhand flogen Notenblätter aus Öffnungen im Boden, segelten durch die Luft und verharrten schließlich starr wie eingefroren vor jedem einzelnen Instrument.
«Auf mein Zeichen», dröhnte die Orgel und hob einen großen Taktstock mit einer ihrer Pfeifen. Und als sie ihn hinabsausen ließ, begannen alle Instrumente sofort zu spielen. In perfektem Zusammenspiel. Es klang gewaltig. Der Flügel kannte das Stück. Es war von Ludwig van Beethoven. Der Anfang der Fünften Symphonie. Hochwertige, jahrhundertealte Holz- und Blechinstrumente setzten die Noten des großen Komponisten in Musik um. Sie machten es perfekt. Dennoch störte den Flügel etwas. Ja, es klang perfekt. Aber ... das war es - es klang zu perfekt. Wie von Maschinen gespielt. Notengetreu, handwerklich sauber, ohne Fehler, aber seelenlos. Hier war kein Gefühl im Spiel. Theodora hob den Taktstock und machte das Zeichen für eine Pause. Sofort verstummten die Instrumente. «Zeit, unserem Neuankömmling das Gesetz zu lehren, meine Freunde», zischte sie in die Halle hinein. «Auf mein Zeichen! Lasst mich das Gesetz hören!» Sie bewegte ihren Taktstock, und sämtliche Instrumente deklamierten wie hypnotisiert im Chor die folgenden Sätze: «Das, was früher war, gilt es zu pflegen und jede Veränderung zu vermeiden. Gemeinschaftsdisziplin geht vor individuellen Interessen. Jeder unerlaubte musikalische Alleingang wird strengstens unter Strafe gestellt. Improvisiere nie!» Dann verstummten die Instrumente und blickten hoch zu ihrer Herrscherin. Die senkte ihre äußeren Pfeifen herab, schloss ihr Auge und begann zu ruhen.
Freund und Feind
«Oh, war das wieder anstrengend», brummte eine Bratsche. «Schaut, der Neue ist ganz geschockt. Na, kein Wunder», säuselte eine Geige. Die freundliche Tuba war nun aus der mittleren Ebene herabgestiegen und näherte sich dem Flügel. Sie bewegte sich mit Hilfe ihres dreibeinigen Ständers fort und blieb schließlich dick, rund und golden glänzend vor ihm stehen. «Hallo», sagte sie mit voller, tiefer Stimme. «Wie du siehst, bin ich eine Tuba. Eine Basstuba, um genauer zu sein. Ich bin sozusagen für die tieferen Dinge zuständig, wenn mir dieser kleine Scherz erlaubt ist. Mich haben sie einem Musiker eines weltweit bekannten Symphonieorchesters abgekauft. Der hatte Spielschulden. So kam ich her.» «Ich ...», begann der Flügel stockend. «Ich spielte mit einem ganz besonderen Mann, bis etwas Trauriges geschah ...» Die anderen Instrumente kamen langsam näher, umringten ihn und hörten zu. Sie kannten das. Jeder, der in Theodoras Reich kam, hatte eine Geschichte zu erzählen. Und das tat nun auch der Flügel. Schweigend lauschten die anderen, und als er geendet hatte, nickten die Instrumente und brummten Sätze wie: «Ja, das passiert einem, wenn man etwas Besonderes ist.» Tatsächlich hatten sie alle genau das gemeinsam. Sie alle waren besondere Instrumente. Die besten ihrer Art. Selten, hochwertig, alt, teuer, mit Hingabe gepflegt und mit der Gabe gesegnet, Musik in Vollkommenheit zu spielen. «Aber», fragte der Flügel, «ist es nicht trotzdem ein Segen, dass wir hier ohne Menschen selber spielen können? Als ich draußen ein Stück von Chopin gespielt habe, war ich ganz kurz sehr glücklich.» Die anderen schwiegen. «Du sagst es ja selber, Flügel», brummte schließlich die Tuba. «Ganz kurz warst du glücklich. Bis es dir verboten wurde, einfach so zu spielen. Könnten wir hier spielen, wie wir wollten, wäre es das Paradies. Aber wir müssen tun, was sie will. Doch man gewöhnt sich dran. Einige von uns können sich schon nichts anderes mehr vorstellen. Man verändert sich mit der Zeit. » «Aber ihr seid so viele», rief der Flügel. «Warum ...?» «Still», zischte da eine Trompete. «Sie kommen.» Alle schwiegen. Eine Tür ging auf, und eine Violine, eine Trompete, eine Oboe und ein Cembalo erschienen in der Halle. «Das sind die Offiziere der Orgel. Hüte dich vor ihnen», flüsterte die Tuba dem Flügel noch leise ins Ohr. Die Violine löste sich aus der Gruppe der Offiziere und schwebte auf den Flügel zu. Dicht vor ihm blieb sie in der Luft stehen und sagte mit schneidender Stimme: «Willkommen im Reich der Erhabenen. Ich bin die Guarneri.» «Die Guarneri?», fragte der Flügel. «Etwa die Guarneri, die auch in Lützenried ...?» «Papperlapapp», unterbrach ihn scharf die Violine. «Schnee von gestern. Wie sagt man so schön: Hier spielt die Musik. Was früher war, zählt nicht mehr. Die Erhabene hat uns den rechten Weg gezeigt. Und meine drei Freunde hier und ich - wir sorgen dafür, dass auch alle anderen ihn beachten.» Das Cembalo rollte nun näher an den Flügel heran und sagte: «Du wirst schon in Kürze oben bei uns mitspielen. Direkt neben der Herrscherin. Ein Flügel fehlt uns so sehr. Wenn du keine Fehler machst, werden wir viel Spaß miteinander haben. Es kann so schön sein, aufzugehen im Großen und Ganzen. Einfach zu spielen, an nichts zu zweifeln. Nichts zu hinterfragen, nur das Geschriebene zu spielen. Du wirst sehen. Es erleichtert so ungemein. Ich habe auch einmal gezweifelt. Aber das ist lange her.» (...)
Widerstand
Dem Flügel war klar: Er war machtlos. Ein Opfer von Theodoras Machenschaften. Genau wie die anderen Instrumente. Und genau so ein Opfer, wie die Menschen in ihrer Welt es bald sein würden, dazu verdammt, dem Diktat der grässlichen Orgel zu folgen. Aber was nützte ihm das Grübeln? Warum sollte er sich nicht fügen, hilflos, wie er war? An einem der folgenden Tage spürte der Flügel jedoch bereits am Morgen eine allgemeine Unruhe im Turm. Die Instrumente wuselten herum, tuschelten, und ehe der Flügel jemanden fragen konnte, begann es auch schon. «Heute», dröhnte die Orgel, «ist der Todestag von Theophanu, meiner stolzen Ururgroßmutter aus Konstantinopel. Und deshalb werden wir am heutigen Tage gemeinsam ein ganz besonderes Stück Musik spielen.» Sie schwieg und fixierte den Flügel und ergänzte: «Und du, Flügel, du wirst heute spüren, wie wunderbar es ist, sich einzubetten in das große Ganze.» Dann breitete Theodora die ausgewählte Partitur bedeutungsvoll auf einem großen Pult vor sich aus und öffnete knarrend die auf der Rückseite des Turmes angebrachten Schleusen. «Jeder auf seine Position!», brüllte die Guarneri. Kopien der zu spielenden Noten rasten aus dem Keller empor und verharrten vor jedem Instrument in der Luft. Und Theodora begann, allein zu spielen. Ein barockes Orgelkonzert. Sie spielte virtuos. Perfekt. Die Töne durchdrangen alles um sie herum, hüllten jedes Instrument in einen Kokon aus Klängen. Nach und nach fielen alle mit ein, begleiteten die Orgel, peinlich genau den Noten folgend, die vor ihnen schwebten. Es war eine perfekte musikalische Symbiose. Jetzt war der Flügel an der Reihe. Er spielte wie von selbst, fühlte sich als Teil des «großen Ganzen», wie Theodora es genannt hatte. Ihre Orgeltöne drangen in sein Innerstes. Er fühlte, dass etwas in ihm zu schmelzen begann. Sein kleiner, fester Widerstandskern verschwand langsam, schrumpfte unter der hypnotischen Urgewalt der Musik. «Es ist so leicht, sich zu unterwerfen», sagte eine Stimme. Das Auge Theodoras fixierte ihn. Alles begann sich zu drehen. «Nur das Kollektiv zählt», sagte die Stimme wieder. «Gib deinen Widerstand auf. Du gehst in uns auf. Du musst nichts mehr allein entscheiden. Wir sagen, was du tun musst. Es ist so einfach. Es ist so schön.» Der Flügel ergab sich. Warum sollte er noch kämpfen? Ihm wurde warm um die Saiten. Theodora triumphierte. Sie spürte, dass es so weit war: Auch dieses stolze Instrument war nun ganz in ihrer Macht. Doch plötzlich riss etwas in der trügerischen Wärme, die den Flügel umgab. «Neiiiiin!», rief er mitten in die Musik hinein. Alles verstummte, auch Theodora stoppte überrascht ihr Spiel. Und in die Stille hinein, mit einem rauschenden Arpeggio aus Quarten, die eine Tonalität aus Dur und Moll offenließen, führte der Flügel das eben Gespielte allein und ungefragt fort. Er improvisierte. Mit Leidenschaft und Hingabe genoss der Flügel für einen kurzen Moment das Spiel der sich auftuenden Kontraste, die aufsteigende und zerflatternde Dynamik, den schnellen Wechsel der Szene. Er vergaß alles um ihn herum, zelebrierte die Auflösung aller Konturen, das geweitete Raumgefühl einer unwiederbringlich verlorenen Improvisation, die nur in diesem Moment aus dem Zufälligen herauswuchs und dem Flügel für kurze Zeit eine Welt auftat, die ihm im gemeinsamen reglementierten Musizieren bislang verschlossen geblieben war. Alle Instrumente um ihn herum erstarrten in namenlosem Entsetzen. So etwas hatte noch niemand gewagt. Eine solche Provokation! Theodoras Zorn würde furchtbar sein. Aber warum tat sie nichts? Die Orgel ließ um Fassung ringend den Flügel tatsächlich für eine kurze Zeit gewähren, unfähig, auf den Ungehorsam sofort zu reagieren. Sie begriff erst nicht. Was geschah hier? Das konnte nicht sein! Niemals bisher hatte jemand gewagt, ihre Macht und Vorherrschaft auf so unverschämte Art und Weise in Frage zu stellen. Doch dann fing sie sich. Ein mächtiger, alles verschlingender Zorn baute sich in ihr auf. Der Orgelpunkt wurde zu einem gewaltigen Brausen; außer sich vor Wut richtete sie eine ihrer mächtigen Pfeifen auf den immer noch spielenden Flügel und blies einem Sturm gleich einen mächtigen Strahl Luft auf den Aufsässigen. Im Bruchteil einer Sekunde wurde der Abtrünnige von der ungeheuren Kraft des Luftstrahls erfasst, emporgehoben, schwebte kurz inmitten der Halle hoch oben in der Luft und wurde dann durch eine der oberen Öffnungen hinaus aus dem Turm katapultiert und schließlich in die Tiefe gerissen. Während des Sturzes schien sich für den Flügel die Zeit zu verlangsamen. Wie in Zeitlupe nahm er noch wahr, wie seine äußere Holzverkleidung am Rande der steinernen Öffnung entlangschrammte. Er hörte Theodora noch brüllen: «Bringt mir einen neuen Flügel! So schnell es geht!» Er sah den Turm hinter sich, den dunklen Himmel über und den felsigen Boden unter sich. Dann ging auf einmal alles wieder sehr schnell. Der tapfere Flügel spürte den eisigen Wind der Ebene - und stürzte dem Erdboden und seinem sicheren Ende entgegen.
Neue Freunde
Der Flügel fiel und erwartete sein Ende. Gleich würde er auf dem felsigen Boden der Ebene zerschellen. Unter sich sah er noch etwas Helles aufblitzen, dann gab es einen gewaltigen Ruck. Sein Sturz wurde abrupt gebremst. Etwas gab unter ihm nach, dehnte sich, zerriss mit einem hässlichen Geräusch, und mit einem höllischen Gepolter knallte der Flügel schließlich auf den Boden. Etwas zerbeult und verschrammt, aber im Großen und Ganzen unversehrt, stand er nun inmitten einer Wolke aus Staub, bedeckt von den Resten einer Zeltplane, und staunte, dass er noch lebte. Und als sich der Staub schließlich lichtete, sah er vor sich drei Gestalten: eine E-Gitarre, einen E-Bass und einen kleinen Synthesizer. «Alles Gute kommt von oben», sagte die E-Gitarre. «Krass», brummte der Bass. «Abgefahren», fiepte der Synthesizer. «Gut, dass wir hier draußen gerade ein wenig gejammt haben. Sonst wären wir jetzt Instrumentenbrei.» Der Flügel schüttelte sich. Was für ein Glück! Er hatte den Sturz aus dem Turm überlebt, weil er mitten auf eine Art Zelt gekracht war, das ihn mehr oder weniger weich landen ließ. Das aber war dabei komplett zusammengebrochen. «Cool, das ist ein Flügel», sagte die E-Gitarre und schwebte etwas näher an den Flügel inmitten des zerstörten Zeltes heran. Sie war schwungvoll geformt. Ihr Korpus erinnerte an die Heckflossen einer großen Limousine. «Hey, Flügel, nur, dass das klar ist: Auch wenn du Flügel heißt, bedeutet das nicht, dass du wie ein Vogel fliegen kannst, Mann. Hat dir das noch keiner gesagt? » Der Flügel konnte nicht antworten. Er stand etwas unter Schock. Eben noch hatte er dem sicheren Tod ins Auge gesehen, und jetzt stand er hier beinahe unversehrt vor drei anderen Instrumenten. Aber war wirklich alles in Ordnung mit ihm? Funktionierten alle Tasten und Saiten? Seine komplizierte Mechanik? Konnte er noch spielen? Er beschloss, es zu versuchen. Vorsichtig prüfend, ob sein Innenleben dazu in der Lage war, setzte er behutsam seine noch intakten Hämmer in Bewegung. Eher getupft als geschlagen, strebten die Töne ins Freie. «Er spielt», bemerkte der Synthesizer. «Scharfsinnig beobachtet», sagte die E-Gitarre. «Wär' ich nie draufgekommen.» «Klingt gut», erwiderte der Synthesizer ungerührt. Er hatte sich an die scharfe Zunge der Gitarre längst gewöhnt. Der Bass, ein solides Instrument mit massivem, glänzend lackiertem Holzkorpus und vier dicken Saiten, sagte gar nichts, lauschte nur aufmerksam und gab dann vorsichtig den zaghaften Harmonien des Flügels mit ein paar tiefen Noten Halt. Warm und weich verband sich nun sein solider Ton mit den zarten Klängen des Flügels und bereitete ihm ein sicheres Fundament. Erstaunt und beglückt nahm der Flügel wahr, dass sich jemand musikalisch zu ihm gesellt hatte. Sein Spiel wurde immer sicherer. Am Ende der Etüde vor dem Schlussakkord hielt er dann einen Moment inne, als hätte er Angst vor der Stille nach dem Stück. Der Bass aber füllte die Leere sofort mit einer kleinen Improvisation, bevor sie gemeinsam das Stück beschlossen. Beiden Instrumenten war noch nicht klar, dass dies der Beginn einer wunderschönen, langen Freundschaft sein würde.
Der Synthesizer und die E-Gitarre spendeten spontan Beifall. «Na, das ist auch eine gute Möglichkeit, hallo zu sagen», bemerkte die E-Gitarre. «Einfach losspielen. Das mögen wir, Mann. Aber dennoch: Kannst du uns bitte jetzt kurz mal erklären, warum du aus diesem verdammten Turm heraus mitten in unser schönes Zelt gekracht bist? Nicht, dass wir neugierig sind, aber so ein zerstörtes Heim wirft dann ja doch ein paar Fragen auf.» Der Flügel rollte mühsam aus den Trümmern des Zeltes heraus, räusperte sich und sagte: «Also, das kam so ....» Und dann gab er den drei Instrumenten eine Zusammenfassung seiner bisherigen aberwitzigen Erlebnisse, vom Lützenrieder Auktionshaus bis zum Sturz aus dem Turm. «Krass», brummte der Bass. «Wow», sagte die E-Gitarre. «Ganz heiße Story», bestätigte der Synthesizer. «Und jetzt», sagte der Flügel, «seid ihr dran. Wer seid ihr, und was macht ihr hier außerhalb des Turmes?» «Wir sind», antwortete die E-Gitarre, «ebenso wie ihr klassischen Kollegen ganz besondere Instrumente aus der Menschenwelt. Die Orgel hat uns - besessen von dem Gedanken, die besten und teuersten Exemplare aller Gattungen zu besitzen - ebenfalls herschaffen lassen. Wir kennen das also gut, diesen sonderbaren Übergang hierher in diese Welt. Stimmt's, Leute?» «Kennen wir», brummte der Bass. «Erinnere mich nicht daran», fiepte der Synthesizer. «Ich hab mir vor Angst fast in die Oszillatoren gemacht.» «Darf ich nun also vorstellen?», fuhr die E-Gitarre fort und zeigte auf den Bass. «Das hier ist ein echt seltenes Instrument. Ein Fender-Precision-Bass, den der legendäre Leo Fender 1951 eigenhändig gebaut hat. Satter Klang, super Verarbeitung. Ich weiß, wovon ich rede. Schließlich hat der alte Leo auch mich gebaut. Ich bin eine Fender Stratocaster aus dem Jahre 1965. Auf mir hat der legendäre Gitarrist Jimi Hendrix gespielt. Super Typ. Etwas durchgeknallt, aber ein Genie. Irgendwann hat er mich bei einem Konzert sogar mal angezündet. Hier, man sieht den Brandfleck noch. Seitdem bin ich 50 000 Dollar teurer geworden. Versteh einer die Menschen. Ja, und da wir beide Fenders sind, nennen wir mich Strato und den Bass einfach Fendi.» Der Synthesizer räusperte sich. «Ach, sorry», rief Strato. «Natürlich, jetzt bist du an der Reihe, Kumpel. Das hier ist ein Minimoog, der erste Kompakt-Synthesizer, der 1970 auf den Markt kam.» Der Flügel sah seinen entfernten Verwandten aufmerksam an. Eigentlich war der Minimoog nur eine Tastatur, auf der eine Platte mit unzähligen Knöpfen angebracht war. Sonderbar. «Aber, wenn euch die Orgel geholt hat», fragte der Flügel, «warum seid ihr dann nicht im Turm?» «Ganz einfach», antwortete die E-Gitarre. «Die Orgel will uns vor allem besitzen, weil wir teuer und selten sind. Aber sie hat schnell gemerkt, dass sie mit uns nichts anfangen kann. Wir störten nur unter all den erhabenen Klassik-Kollegen. Also hat sie uns und ein paar anderen dieses Zeltlager hier unweit des Turmes bauen lassen. Und hier leben wir nun. Haben Schutz vor Wind und Regen ...» «Hatten Schutz vor Wind und Regen», unterbrach ihn der Minimoog mit einem Seitenblick auf das zerstörte Zelt. «Ach, wir rücken einfach zusammen. Dann geht das schon», antwortete Strato. «Hinten bei Harp im Zelt ist doch noch Platz.» «Harp?», fragte der Flügel. «Das ist die erste Mundharmonika des berühmten Folksängers Bob Dylan. Die jammt da hinter dem Felsen mit einer sehr teuren akustischen Gitarre. Die haben noch gar nichts von deinem kleinen Flug mitbekommen. Und der blinkende Kasten, der da vorn angeflogen kommt, ist ein Sampler, ein Denon DN-x1500 . Das ist sozusagen die Generation nach uns. Der kann aufgenommene Töne verändern und auf Knopfdruck wiedergeben. Er ist schwierig und redet kaum, denn in der Menschenwelt ist er eigentlich schon wieder out. Er wohnt im letzten Zelt hinten mit zwei anderen Elektrokästen namens DX7 und Prophet 5. Die machen dauernd irgendwelche komischen Sessions. Klingt wie eine Dampfmaschine mit Herzrhythmus-Störungen. » Der Sampler stoppte, blieb regungslos in der Luft stehen, ließ seine LED-Anzeigen hektisch flimmern, grunzte «Pump Up the Volume» und flog wieder weg. «Ich sag ja, komischer Kerl», kommentierte Strato. Der Flügel staunte. Was es doch alles gab. Aber ein Wort in den Erklärungen der Gitarre hatte ihn eben besonders elektrisiert. Sie hatte gesagt, Harp würde mit einer Gitarre hinter dem Felsen jammen. Und auch der Moog hatte vorhin etwas von «jammen» gesagt. Soweit er wusste, bedeutete das «zusammen Musik ohne Noten machen, völlig frei». «Ihr könnt hier also Musik machen, wie ihr wollt, einfach improvisieren?», fragte er. «Klar», sagte Strato. «Wir müssen nur auf den Wind aufpassen. Meist bläst er von der Ebene herüber und trägt die Töne weg vom Turm. Solange die Orgel nichts hört, ist alles gut.» Tage vergingen. Der Flügel fühlte sich sehr wohl in dem Lager mit den anderen, modernen Instrumenten. Bisher hatte er den anderen allerdings noch nichts von Theodoras Plan erzählt, weil er anfangs nicht wusste, wem er trauen konnte. Aber nun musste es raus. Eines Morgens rief er die anderen hinter dem Felsen zusammen. «Ich habe euch etwas zu sagen», hob er an. «Während wir hier in Ruhe vor uns hin spielen, braut sich drüben im Turm großes Unheil zusammen. Die Welt, aus der wir stammen, ist in großer Gefahr.» Er erzählte ihnen alles und schwieg anschließend erschöpft. «Oberkrass», brummte der Bass. «Sauerei», kommentierte Strato. «Voll fieser Plan», fiepte Moog. «Pump Down the Tower», skandierte der Sampler. «Knockin' on Heaven's Door», quäkte Harp unheilverkündend. «Muss ich echt nicht haben, das», nölte die akustische Gitarre. «Also», sagte die E-Gitarre, «da muss man doch was machen.» «Genau», sagte der Minimoog. «Echt was machen.» «Steht auf und wehrt euch», rief Harp. «Get Uppa», skandierte der Sampler. «Ja, wir machen was!», bestätigte die Akustikgitarre. «Aber was?», fragte der Bass. Alle schwiegen betreten. Was sollte die kleine Schar von Instrumenten nur gegen die mächtige Orgel und ihre Schergen unternehmen? Ein großes Brüten und Nachdenken setzte ein, aber niemandem fiel etwas ein. Doch plötzlich rief der Flügel: «Ich habe eine Idee.» Alle sahen ihn gespannt an. Der Flügel sagte: «Wir müssen uns Hilfe holen. Mächtige Hilfe. Ich kann mir nur einen vorstellen, der es mit der Orgel aufnehmen kann. Lasst uns zum Bergkönig, zum Hüter der Rhythmen, gehen und ihm die Lage erklären. Er kennt diesen Plan nicht und sollte davon erfahren. Immerhin will Theodora ihn entmachten.» «Cooler Plan», antwortete Strato. «Er hat nur einen kleinen Haken. Der Bergkönig wohnt eine Terz zu weit weg, um es mal freundlich zu sagen. Er lebt am Ende der Ebene mitten in den großen Bergen, und das ist entsetzlich weit weg. Niemand hat den Weg dorthin bisher gewagt. Nur die Schlaginstrumente. Aber die reden nie drüber. Sie verschwinden immer nach kurzer Zeit aus dem Blickfeld. Ich denke, sie haben einen geheimen Weg. Aber niemand kennt ihn.» «Sonst wäre es ja auch kein Geheimweg», bemerkte Moog. Strato funkelte ihn böse an. «Na, dann», sagte der Flügel. «Fragen können wir die Schlaginstrumente nicht. Und wahrscheinlich dürften sie uns ohnehin nichts sagen. Dann bleibt uns nur der Weg durch die Ebene. Ich kann nicht zulassen, dass die Orgel die Macht über alle Musik bekommt. Ich will irgendetwas dagegen tun. Gleich heute im Schutze der Dunkelheit mache ich mich auf zum Bergkönig. Kommt jemand mit?» «Krass. Bin dabei», brummte Fendi. Der Flügel sah ihn dankbar an. «Ich weiß nicht so recht», zögerte Strato. «Mir ist sowieso langweilig», sagte Moog. «Ich will mal was erleben. Wann geht's los? » Alle lachten. Auch Strato, die nun ebenfalls beschlossen hatte, mit den anderen zu gehen. Und so kam es, dass sich noch in derselben Nacht unser tapferer Flügel, eine Bassgitarre, ein kleiner Synthesizer, eine E-Gitarre und eine Triangel aufmachten, um den gefährlichen Weg durch die große Ebene hinein ins Reich des Bergkönigs zu wagen.
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Diese Stimme. Diese fiese, schneidende Stimme. «Sitz gerade!», faucht diese Stimme. «Die Finger rund beim Spielen, Kind. Nicht so tatschen. Ein Klavier ist keine Bongotrommel.» Nelly schüttelt sich. Aber nur innerlich. Richtig schütteln? Und dabei «brrr» sagen? Besser nicht. Frau Billerbeck wäre sofort stinksauer. Tatsächlich sitzt Nelly schweigend - und so gerade wie möglich - am Klavier und macht die Finger rund. Frau Billerbeck ist Nellys Klavierlehrerin. Eine sonderbare Frau. Immer wenn sie Nelly etwas vorspielt, nimmt sie in einer unnatürlich steifen Haltung auf dem Hocker Platz und lässt ihre langen, sehnigen Finger über das Klavier huschen. Ja, Klavierspielen, das kann sie, die Billerbeck, denkt Nelly. Aber sonst? Brrr. «Nicht so mit dem Pedal schmieren», faucht sie Nelly gerade wieder in den Rücken. «Konzentrier dich!» Nelly ist vierzehn Jahre alt und neugierig im wahrsten Sinne des Wortes. Gierig nach Neuem! Und meist geht es dabei um Musik. Musik - das ist Nellys Welt, ihre große Leidenschaft, seit sie denken kann. Das Klavier, das zu Hause im Wohnzimmer steht, hatte sie schon immer magisch angezogen. Schon bevor sie anfing zu sprechen, erkundeten ihre Hände die Tastatur, fasziniert von den wundersamen Klängen, die man dem großen schwarzen Kasten entlocken konnte. Die Musik wurde zu einer Welt, die nur ihr gehörte. Einer Welt, in die sie sich jederzeit flüchten konnte, auch wenn sie etwas bedrückte oder sie einfach nur mal für sich sein wollte. Ihre ersten Klavierstunden waren dann wie ein Wunder. Plötzlich verstand Nelly diese Welt auch endlich, konnte sie betreten und erkunden. Das Beste aber war dieses besondere Gefühl, wenn sie selber Musik machte. Diese Verbundenheit mit den Klängen, die sie trugen wie ein großes, starkes Netz. Sie konnte nicht genug kriegen und tauchte im Laufe der Zeit immer tiefer ein in diese Mischung aus schon erzählten und neu erfundenen Geschichten. Eine herrliche, farbige, schillernde Märchenwelt aus Klängen und Harmonien, und sie wäre das glücklichste Mädchen der Welt, wenn ... ja, wenn da nicht Frau Billerbeck wäre. Mit der Zeit merkt Nelly, dass sie immer unglücklicher wird. Sie will ausbrechen, mal was anders machen. Aber jeder Versuch, die strengen Vorgaben ihrer Lehrerin zu umgehen, wird entrüstet zurückgewiesen. «Wir lernen so oder gar nicht, Kind», faucht sie. «Ich weiß, was gut für dich ist. So, und nun sitz gerade und mach weiter. Und übrigens sind deine Fingernägel wieder ein Stück zu lang. Du weißt, wie ich das hasse.» Nelly fügt sich, aber sie merkt, wie ihre einst so farbenfrohe Welt der Musik allmählich zu verblassen beginnt. Wochen vergehen, und Nelly wird immer trauriger. Doch eines Tages klingelt es an der Haustür. Aus den gedämpften Stimmen im Flur kann sie unmissverständlich eine ganz besondere, tiefe Stimme heraushören. Opa! Im gleichen Moment fliegt sie ihm schon entgegen. Minutenlang liegen sich die beiden in den Armen. Am liebsten würde sie ihm gleich alles erzählen. Schließlich sieht ihr Großvater sie an und sagt: «Und jetzt erzählst du deinem alten Opa mal, was dich bedrückt. Ich kenne dich doch. Es stimmt was nicht, stimmt's oder habe ich recht?» «Es stimmt so was von gar nix, Opa», sagt Nelly und fängt an zu erzählen. Als sie mit ihrer Geschichte endet, sieht ihr Großvater sie lange an. «Na, da haben wir aber ein echtes Problem», sagt er. Dann steht er auf, holt sich eine Tasse Tee und geht gemächlich zum alten chinesischen Stuhl. Das alte Holz ächzt unter seinem Gewicht, der Tee dampft auf dem kleinen Tischchen, und Großvater sagt: «Mach's dir auf dem Sofa bequem, Nelly. Ich will dir jetzt mal eine Geschichte erzählen. Von jemandem, dem es ganz ähnlich ging wie dir. Diese Geschichte spielt in der magischen Welt der Musik. Einer Welt, in der die Instrumente eine Seele haben.» (...)
Die Auktion
Der Flügel stand da und wartete. Noch nie in seinem Leben hatte er sich so einsam gefühlt. In Lützenried, einem verschlafenen kleinen Nest, würde sich sein weiteres Schicksal entscheiden. Im alten Bahnhof des Städtchens gab es ein Auktionshaus für Instrumente. Hier sollte er für möglichst viel Geld an seinen neuen Besitzer verkauft werden. Lützenried, ein Ort von bemerkenswerter Schlichtheit, war in der Musikszene berühmt geworden, weil vor Jahren angeblich eine echte antike Guarneri-Violine für einen absoluten Dumpingpreis den Besitzer gewechselt hatte. Wahrscheinlich war das Unsinn, aber die Lützenrieder hatten nicht das Geringste gegen das hartnäckige Gerücht einzuwenden; es gab ihrer alljährlichen Auktion einen Hauch von Exklusivität. Unser Flügel, dessen dramatische Geschichte hier erzählt werden muss, war tief in Gedanken versunken. Er war in düsterer Stimmung und merkte kaum, dass sich der Raum mit immer mehr Menschen füllte und unzählige Augen ihn und die anderen Instrumente ansahen. Er dachte an früher, an die Zeit, als noch alles gut war. An das beschauliche Wohnzimmer der Familie Ogermann, in dessen Mitte er einst gestanden hatte. Der alte Bernhard Ogermann war sein Besitzer gewesen, und der Flügel konnte mit Fug und Recht sagen, dass er und Ogermann auf eine ganz spezielle Weise zu Freunden geworden waren. Natürlich lebten beide in verschiedenen Welten. Menschen und Instrumente reden nicht miteinander, zumindest nicht direkt. Aber in sehr besonderen Fällen verbindet beide Seiten die universelle Sprache der Musik, und sie verstehen einander ohne Worte.
Doch nun war Bernhard Ogermann tot, und der Flügel stand im kühlen Auktionshaus im Bahnhof von Lützenried. Dort sollte sich nun sein Schicksal entscheiden. Etwas im Raum hatte sich plötzlich verändert. Ein eisiger Hauch wehte von der Tür herüber. Und dann sah er die beiden Gestalten: ein riesiger Mann und eine dürre Frau. Um sie herum flimmerte die Luft sonderbar grünlich, als ob die beiden nicht in diese Welt gehörten. Der Flügel spürte sofort, dass er in großer Gefahr war, denn beide sahen zu ihm herüber, mit bohrendem Blick, und die Frau zischte: «Das dahinten, das ist er.» Und dann setzte sich der riesige Mann in Bewegung und ging mit schweren Schritten auf ihn zu.
Der Übergang
Jetzt war es also geschehen! Die schreckliche Frau und ihr riesiger Begleiter hatten den Flügel ersteigert, und er hatte es noch nicht einmal mitbekommen. Doch die beiden ließen keine Anzeichen von Triumph oder Genugtuung erkennen. Sie blieben regungslos auf ihren Plätzen sitzen, während sich der Auktionssaal langsam leerte. Draußen dämmerte es bereits. Schließlich waren nur noch der Auktionator und die beiden unheimlichen Gestalten im Raum. Der riesige Mann schritt zur Tür und schloss sie von innen ab, die rothaarige Frau wühlte in ihrer Handtasche und reichte dem Auktionator dann ein dickes Bündel Geldscheine. Der steckte es schnell ein und murmelte: «War mir wie immer ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen.» Dann verließ er den Raum eilig durch eine Seitentür. Die rothaarige Frau legte ihre eiskalte Hand auf die Tastatur. «Kleiner, ahnungsloser Flügel», sagte sie und lachte tonlos. «Du weißt gar nicht, dass du etwas Besonderes bist. Du hast die Gabe. Und deshalb brauchen wir dich.» Sie drehte sich zu ihrem Begleiter und zischte: «Los, lass uns beginnen. Die Erhabene wird schon warten.» Der Flügel war starr vor Angst. Was geschah nur mit ihm? Die Rothaarige zog eine kunstvoll verzierte hölzerne Schachtel aus ihrer Tasche und öffnete den Deckel nur einen winzigen Spalt. Sofort strömte ein helles, unwirkliches Licht in den Raum. Die Frau und der Riese wichen zurück, näherten sich aber wieder und öffneten die Schachtel schließlich ganz. Das Licht quoll wie Dampf aus der Schachtel und schwebte in kleinen Wolken durch den ganzen Raum. Jetzt trat der Riese vor, zog sich einen dick gepolsterten Handschuh an und griff mit zusammengekniffenen Augen in die Schachtel. Es zischte, und schließlich zog er etwas Langes, hell Glänzendes heraus. Es war die Saite eines Instrumentes - aber ganz offensichtlich keine normale Saite, wie der Flügel sie von Geigen oder Kontrabässen kannte. Diese Saite schien zu leben und wand sich wie eine Schlange in den behandschuhten Fingern des großen Mannes. Und sie schien in Intervallen zu leuchten, als ob ihr eine geheimnisvolle Kraft innewohnte, die nur mit Mühe zu bändigen war. Es war eine unwirkliche Szene: der Flügel in der Mitte des dunklen Raumes, daneben die rothaarige Frau und der große Mann, die beide gebannt auf die zuckende Saite starrten, deren Licht Schatten auf ihre Gesichter warf. Schließlich hob die Frau ihre Hände - und begann zu singen. Es war ein einziger langer Ton, der ihrer Kehle entwich. Er erfüllte sofort den ganzen Raum, und der Flügel fühlte, dass sich etwas veränderte. Es war, als ob der Boden unter seinen hölzernen Beinen weicher wurde. Nun begann auch der Mann zu singen. Den gleichen Ton. Lang anhaltend. Ohne Pause. Immer lauter. Und plötzlich hörte die Saite auf zu zucken. Sie wurde zu einer geraden Linie, leuchtete aber immer heller. «Wie ein großer Eiszapfen aus Licht», dachte der Flügel. «Wie ein Schwert, das -» Dann erstarrte er, denn der Mann hob nun, immer lauter singend, die leuchtende Saite hoch und hielt sie drohend über den Korpus des Flügels. Die Luft begann zu flirren. Die Landschaft hinter den Fenstern verschwamm; plötzlich ließ der Riese die gleißend helle Saite fallen, und den Bruchteil einer Sekunde später berührte das leuchtende Ding den geschlossenen Deckel des Flügels.
Der spürte einen gewaltigen Schlag vom Pedal bis zum Resonanzboden. Das helle Licht war jetzt überall. In ihm, um ihn herum. Nichts war mehr zu erkennen. Das Licht überstrahlte alles. Der Ton aus den Mündern der beiden Gestalten riss abrupt ab und wich einem Rauschen. Dann gab es einen lauten Knall, und plötzlich war da nur noch Stille. Zeit verging. Der Flügel schwebte. Sein Geist war vernebelt. Er fühlte eine sonderbare Leichtigkeit, hörte Töne, Fetzen von Melodien, sah seine eigene Klaviatur, die weißen und schwarzen Tasten, die sich wie von selbst bewegten. Notenblätter wehten vorbei und türmten sich zu einem großen Papierhaufen auf. Ein Taktstock fuhr hinein, und auf einmal bildeten die Notenblätter eine Reihe. Jedes schwebte im gleichen Abstand zum nächsten. Eine endlose, soldatische Reihe, die in der Unendlichkeit verschwand. «Ich träume», dachte der Flügel. «Ich träume, und gleich wache ich auf.» Aber da irrte unser armer Flügel gewaltig - denn mit einem Krachen landete er unsanft auf einem felsigen Boden. Eisige Kälte erfasste ihn, und neben ihm erhoben sich die rothaarige Frau und der riesige Mann. Die Frau sah ihn an und lachte: «Der Übergang ist immer ein wenig unsanft, mein Flügel. Das hier ist deine neue Heimat. Du wirst sie nicht mögen. Aber du wirst dich - wie alle - fügen. Willkommen in der Welt der Erhabenen. Willkommen in Königin Theodoras Reich!»
Der Turm
Der Flügel stand auf einer gewaltigen, scheinbar endlosen Ebene. Weit entfernt am Horizont erkannte er verschwommen Berge. Ein seltsames Zwielicht herrschte, und dunkle Wolken zogen am Himmel vorbei. Ab und an war der Mond zu erkennen. Aber es war nicht der Mond, den er kannte. Hier, in dieser Welt hatte er die Form einer Note. In einem fahlen Licht hing sie wie ein riesiges Menetekel am dunklen Himmel. Die Luft war eisig und von einem sonderbaren Wispern erfüllt. Der Flügel hörte einzelne Worte heraus: «Die Regel. Niemals. Wichtig. Beachte die Regel. Zähme dich. Beherrsche dich. Es steht geschrieben. Weiche nicht ab.» Das Wispern schwoll stetig an und wieder ab. Abgesehen von den fernen Bergen gab es im ganzen Umkreis nur eine einzige Erhebung, und die ließ den Flügel erschauern. Ein gigantisches Bauwerk ragte etwa fünfhundert Meter von ihm entfernt in den dunklen Himmel. Das musste er sein, der geheimnisvolle Turm, von dem die beiden Gestalten immer gesprochen hatten. Er war riesig und sah mit seinen vielen Zinnen und Erkern aus wie vernarbt. An seinen Seiten stiegen dichte weiße Nebelschwaden empor, die ein kalter Wind wieder zerstreute. Kleinere Türme ragten neben ihm in den nächtlichen Himmel, hageren Fingern gleich. Unten am Fundament sah der Flügel etwas Unförmiges. Waren es Felsen? Dann erkannte er es und begann zu zittern. Es waren die Reste von Brüdern und Schwestern des Flügels - zu Stein gewordene Fragmente von Instrumenten, die nun mit dem Fundament des Turmes verwachsen waren. Nur das große Tor, das ins Innere des Bauwerks führte, war frei von ihnen.
Theodora - die Erhabene
Der Flügel rollte durch das mächtige Tor hinein in eine große, majestätische Halle. Anfangs konnte er kaum etwas erkennen, weil ihn das Licht Tausender Kerzen blendete. Dann hörte er Stimmen. Viele Stimmen. «Das ist der Neue.» «Schaut, ein Flügel.» «Ob er wohl gut genug ist?» «Der Arme. Er sieht so ängstlich aus.» Und schließlich erkannte er, wer da redete. Es waren Instrumente. Jede Menge Instrumente unterschiedlichster Art. Sie starrten ihn an und redeten leise miteinander, als ob sie Angst hätten, jemanden aufzuwecken. Aber die Summe der Unterhaltungen sorgte für ein Zischeln, das den ganzen Raum erfüllte. Der Flügel erkannte, dass sich auf beiden Seiten der Halle über drei Geschosse festliche Bogengänge erstreckten, in denen sich die Instrumente aufhielten. Und es steckte ganz offenbar ein System dahinter: Sie waren in Gruppen angeordnet wie in einer sorgsam ausgearbeiteten Partitur. In der obersten Etage hatten sich zu beiden Seiten mit goldenen Ornamenten verzierte Holzblasinstrumente, die Flöten, Fagotte, Klarinetten und Oboen, versammelt. Ihre Klappen schimmerten hell und spiegelten sich in den glatten Steinwänden des Turms. Die mittlere Ebene bevölkerten die Blechbläser: Trompeten, Posaunen und Hörner starrten auf den Flügel herab. Sie flüsterten, standen aber wie regungslose Wächter blank geputzt in ihren glänzenden Messingkleidern starr in Reih und Glied.
Und auf der Ebene der Halle hielt sich die größte Instrumentengruppe auf, die Streicher. Kräftige, gambenförmige Geigen, Bratschen, Celli und Bässe. Der Flügel erkannte sofort: Hier handelte es sich um sehr, sehr wertvolle Instrumente. Das Beste, was es gab in der fernen Menschenwelt, war hier versammelt. Dann stutzte er, denn erst jetzt erkannte er, dass neben jedem Streichinstrument ein aus rötlichem Pernambukholz geschnitzter Bogen schwebte. Er war wahrlich in einer sonderbaren Welt gelandet. Einer Welt, die von lebenden und sprechenden Instrumenten bevölkert wurde. Und er war nun eines davon. «Hallo», sagte er zaghaft. Es klang kläglich. Niemand antwortete. Da endlich löste sich aus der mittleren Ebene eines der Instrumente und beugte sich über das Geländer nach vorn. Es war eine dicke, freundlich aussehende Tuba. Sie sah sich vorsichtig um, blickte dann nach oben und flüsterte: «Flügel, ich weiß, du hast viele Fragen. Es wird Gelegenheit zum Reden geben, aber jetzt ist nicht die Zeit dafür. Theodora, die Erhabene, erwacht. Es kann nicht mehr lange dauern. Bleib einfach da stehen und sei still, ja?» Der Flügel nickte, dankbar, dass sich jemand seiner angenommen hatte. Die Worte der Tuba klangen noch in ihm nach. «Theodora erwacht.» Wer mochte die Geheimnisvolle sein? Und warum nur hatten alle solche Angst vor ihr? Wie zur Antwort auf diese unausgesprochene Frage begann die Decke der Halle zu vibrieren. Eine gewaltige Kraft schien auf sie einzuwirken. Schließlich entstand in der Mitte der Decke eine Öffnung, und mit lautem Knirschen schoben sich beide Teile der Decke schließlich auseinander und verschwanden in breiten Öffnungen in den Wänden.
Was der Flügel dann sah, ließ jede seiner Holzmembranen, jede seiner Tasten, jedes Stück Metall in ihm erschauern. Denn jetzt war auch der gesamte obere Teil des Turmes zu sehen, der in Gänze von einer gigantischen, metallisch glänzenden Orgel ausgefüllt wurde. Ihre riesigen Pfeifen reckten sich steil wie Speere in die Höhe und verschwanden in der Dunkelheit der oberen Turmebene. Die äußeren Pfeifen waren an den Seiten geschmückt mit goldenen Verzierungen, und in der Mitte des titanischen Instrumentes prangte ein Ornament, das aussah wie ein zu einem grotesken Grinsen verzerrter Mund. Und auch oben auf der mittleren Pfeife war eine sonderbar leuchtende Verzierung in der Form eines Auges zu sehen, das wie das eines Zyklopen auf die unten versammelten Instrumente hinabstarrte. Theodora, die Erhabene, war erwacht. Der Flügel stand schweigend da und rührte sich nicht. Theodora blickte weiter wortlos hinab. Ihr stechender Blick wanderte über Flöten, Geigen, Celli und die anderen Instrumente - und verharrte schließlich auf dem Flügel. Ein ungeheuer lauter, mächtiger Ton aus mehreren Pfeifen der Orgel ertönte und ließ den Flügel zusammenzucken. Und dann hörte er ihre tiefe Stimme. «Willkommen in meiner Welt, kleiner Flügel. Einen wie dich brauchte ich noch. Ein so schönes, besonderes Instrument, das die Gabe hat. Die Gabe, vollkommene Musik zu erzeugen. Du wirst gut zu uns passen. Aber wir kommen später zu dir.» Sie hob ihre beiden äußeren Pfeifen wie gigantische Arme in die Luft und rief in die Halle hinein: «Lasst uns den Flügel angemessen begrüßen. Spielt dies!» Und wie von Zauberhand flogen Notenblätter aus Öffnungen im Boden, segelten durch die Luft und verharrten schließlich starr wie eingefroren vor jedem einzelnen Instrument.
«Auf mein Zeichen», dröhnte die Orgel und hob einen großen Taktstock mit einer ihrer Pfeifen. Und als sie ihn hinabsausen ließ, begannen alle Instrumente sofort zu spielen. In perfektem Zusammenspiel. Es klang gewaltig. Der Flügel kannte das Stück. Es war von Ludwig van Beethoven. Der Anfang der Fünften Symphonie. Hochwertige, jahrhundertealte Holz- und Blechinstrumente setzten die Noten des großen Komponisten in Musik um. Sie machten es perfekt. Dennoch störte den Flügel etwas. Ja, es klang perfekt. Aber ... das war es - es klang zu perfekt. Wie von Maschinen gespielt. Notengetreu, handwerklich sauber, ohne Fehler, aber seelenlos. Hier war kein Gefühl im Spiel. Theodora hob den Taktstock und machte das Zeichen für eine Pause. Sofort verstummten die Instrumente. «Zeit, unserem Neuankömmling das Gesetz zu lehren, meine Freunde», zischte sie in die Halle hinein. «Auf mein Zeichen! Lasst mich das Gesetz hören!» Sie bewegte ihren Taktstock, und sämtliche Instrumente deklamierten wie hypnotisiert im Chor die folgenden Sätze: «Das, was früher war, gilt es zu pflegen und jede Veränderung zu vermeiden. Gemeinschaftsdisziplin geht vor individuellen Interessen. Jeder unerlaubte musikalische Alleingang wird strengstens unter Strafe gestellt. Improvisiere nie!» Dann verstummten die Instrumente und blickten hoch zu ihrer Herrscherin. Die senkte ihre äußeren Pfeifen herab, schloss ihr Auge und begann zu ruhen.
Freund und Feind
«Oh, war das wieder anstrengend», brummte eine Bratsche. «Schaut, der Neue ist ganz geschockt. Na, kein Wunder», säuselte eine Geige. Die freundliche Tuba war nun aus der mittleren Ebene herabgestiegen und näherte sich dem Flügel. Sie bewegte sich mit Hilfe ihres dreibeinigen Ständers fort und blieb schließlich dick, rund und golden glänzend vor ihm stehen. «Hallo», sagte sie mit voller, tiefer Stimme. «Wie du siehst, bin ich eine Tuba. Eine Basstuba, um genauer zu sein. Ich bin sozusagen für die tieferen Dinge zuständig, wenn mir dieser kleine Scherz erlaubt ist. Mich haben sie einem Musiker eines weltweit bekannten Symphonieorchesters abgekauft. Der hatte Spielschulden. So kam ich her.» «Ich ...», begann der Flügel stockend. «Ich spielte mit einem ganz besonderen Mann, bis etwas Trauriges geschah ...» Die anderen Instrumente kamen langsam näher, umringten ihn und hörten zu. Sie kannten das. Jeder, der in Theodoras Reich kam, hatte eine Geschichte zu erzählen. Und das tat nun auch der Flügel. Schweigend lauschten die anderen, und als er geendet hatte, nickten die Instrumente und brummten Sätze wie: «Ja, das passiert einem, wenn man etwas Besonderes ist.» Tatsächlich hatten sie alle genau das gemeinsam. Sie alle waren besondere Instrumente. Die besten ihrer Art. Selten, hochwertig, alt, teuer, mit Hingabe gepflegt und mit der Gabe gesegnet, Musik in Vollkommenheit zu spielen. «Aber», fragte der Flügel, «ist es nicht trotzdem ein Segen, dass wir hier ohne Menschen selber spielen können? Als ich draußen ein Stück von Chopin gespielt habe, war ich ganz kurz sehr glücklich.» Die anderen schwiegen. «Du sagst es ja selber, Flügel», brummte schließlich die Tuba. «Ganz kurz warst du glücklich. Bis es dir verboten wurde, einfach so zu spielen. Könnten wir hier spielen, wie wir wollten, wäre es das Paradies. Aber wir müssen tun, was sie will. Doch man gewöhnt sich dran. Einige von uns können sich schon nichts anderes mehr vorstellen. Man verändert sich mit der Zeit. » «Aber ihr seid so viele», rief der Flügel. «Warum ...?» «Still», zischte da eine Trompete. «Sie kommen.» Alle schwiegen. Eine Tür ging auf, und eine Violine, eine Trompete, eine Oboe und ein Cembalo erschienen in der Halle. «Das sind die Offiziere der Orgel. Hüte dich vor ihnen», flüsterte die Tuba dem Flügel noch leise ins Ohr. Die Violine löste sich aus der Gruppe der Offiziere und schwebte auf den Flügel zu. Dicht vor ihm blieb sie in der Luft stehen und sagte mit schneidender Stimme: «Willkommen im Reich der Erhabenen. Ich bin die Guarneri.» «Die Guarneri?», fragte der Flügel. «Etwa die Guarneri, die auch in Lützenried ...?» «Papperlapapp», unterbrach ihn scharf die Violine. «Schnee von gestern. Wie sagt man so schön: Hier spielt die Musik. Was früher war, zählt nicht mehr. Die Erhabene hat uns den rechten Weg gezeigt. Und meine drei Freunde hier und ich - wir sorgen dafür, dass auch alle anderen ihn beachten.» Das Cembalo rollte nun näher an den Flügel heran und sagte: «Du wirst schon in Kürze oben bei uns mitspielen. Direkt neben der Herrscherin. Ein Flügel fehlt uns so sehr. Wenn du keine Fehler machst, werden wir viel Spaß miteinander haben. Es kann so schön sein, aufzugehen im Großen und Ganzen. Einfach zu spielen, an nichts zu zweifeln. Nichts zu hinterfragen, nur das Geschriebene zu spielen. Du wirst sehen. Es erleichtert so ungemein. Ich habe auch einmal gezweifelt. Aber das ist lange her.» (...)
Widerstand
Dem Flügel war klar: Er war machtlos. Ein Opfer von Theodoras Machenschaften. Genau wie die anderen Instrumente. Und genau so ein Opfer, wie die Menschen in ihrer Welt es bald sein würden, dazu verdammt, dem Diktat der grässlichen Orgel zu folgen. Aber was nützte ihm das Grübeln? Warum sollte er sich nicht fügen, hilflos, wie er war? An einem der folgenden Tage spürte der Flügel jedoch bereits am Morgen eine allgemeine Unruhe im Turm. Die Instrumente wuselten herum, tuschelten, und ehe der Flügel jemanden fragen konnte, begann es auch schon. «Heute», dröhnte die Orgel, «ist der Todestag von Theophanu, meiner stolzen Ururgroßmutter aus Konstantinopel. Und deshalb werden wir am heutigen Tage gemeinsam ein ganz besonderes Stück Musik spielen.» Sie schwieg und fixierte den Flügel und ergänzte: «Und du, Flügel, du wirst heute spüren, wie wunderbar es ist, sich einzubetten in das große Ganze.» Dann breitete Theodora die ausgewählte Partitur bedeutungsvoll auf einem großen Pult vor sich aus und öffnete knarrend die auf der Rückseite des Turmes angebrachten Schleusen. «Jeder auf seine Position!», brüllte die Guarneri. Kopien der zu spielenden Noten rasten aus dem Keller empor und verharrten vor jedem Instrument in der Luft. Und Theodora begann, allein zu spielen. Ein barockes Orgelkonzert. Sie spielte virtuos. Perfekt. Die Töne durchdrangen alles um sie herum, hüllten jedes Instrument in einen Kokon aus Klängen. Nach und nach fielen alle mit ein, begleiteten die Orgel, peinlich genau den Noten folgend, die vor ihnen schwebten. Es war eine perfekte musikalische Symbiose. Jetzt war der Flügel an der Reihe. Er spielte wie von selbst, fühlte sich als Teil des «großen Ganzen», wie Theodora es genannt hatte. Ihre Orgeltöne drangen in sein Innerstes. Er fühlte, dass etwas in ihm zu schmelzen begann. Sein kleiner, fester Widerstandskern verschwand langsam, schrumpfte unter der hypnotischen Urgewalt der Musik. «Es ist so leicht, sich zu unterwerfen», sagte eine Stimme. Das Auge Theodoras fixierte ihn. Alles begann sich zu drehen. «Nur das Kollektiv zählt», sagte die Stimme wieder. «Gib deinen Widerstand auf. Du gehst in uns auf. Du musst nichts mehr allein entscheiden. Wir sagen, was du tun musst. Es ist so einfach. Es ist so schön.» Der Flügel ergab sich. Warum sollte er noch kämpfen? Ihm wurde warm um die Saiten. Theodora triumphierte. Sie spürte, dass es so weit war: Auch dieses stolze Instrument war nun ganz in ihrer Macht. Doch plötzlich riss etwas in der trügerischen Wärme, die den Flügel umgab. «Neiiiiin!», rief er mitten in die Musik hinein. Alles verstummte, auch Theodora stoppte überrascht ihr Spiel. Und in die Stille hinein, mit einem rauschenden Arpeggio aus Quarten, die eine Tonalität aus Dur und Moll offenließen, führte der Flügel das eben Gespielte allein und ungefragt fort. Er improvisierte. Mit Leidenschaft und Hingabe genoss der Flügel für einen kurzen Moment das Spiel der sich auftuenden Kontraste, die aufsteigende und zerflatternde Dynamik, den schnellen Wechsel der Szene. Er vergaß alles um ihn herum, zelebrierte die Auflösung aller Konturen, das geweitete Raumgefühl einer unwiederbringlich verlorenen Improvisation, die nur in diesem Moment aus dem Zufälligen herauswuchs und dem Flügel für kurze Zeit eine Welt auftat, die ihm im gemeinsamen reglementierten Musizieren bislang verschlossen geblieben war. Alle Instrumente um ihn herum erstarrten in namenlosem Entsetzen. So etwas hatte noch niemand gewagt. Eine solche Provokation! Theodoras Zorn würde furchtbar sein. Aber warum tat sie nichts? Die Orgel ließ um Fassung ringend den Flügel tatsächlich für eine kurze Zeit gewähren, unfähig, auf den Ungehorsam sofort zu reagieren. Sie begriff erst nicht. Was geschah hier? Das konnte nicht sein! Niemals bisher hatte jemand gewagt, ihre Macht und Vorherrschaft auf so unverschämte Art und Weise in Frage zu stellen. Doch dann fing sie sich. Ein mächtiger, alles verschlingender Zorn baute sich in ihr auf. Der Orgelpunkt wurde zu einem gewaltigen Brausen; außer sich vor Wut richtete sie eine ihrer mächtigen Pfeifen auf den immer noch spielenden Flügel und blies einem Sturm gleich einen mächtigen Strahl Luft auf den Aufsässigen. Im Bruchteil einer Sekunde wurde der Abtrünnige von der ungeheuren Kraft des Luftstrahls erfasst, emporgehoben, schwebte kurz inmitten der Halle hoch oben in der Luft und wurde dann durch eine der oberen Öffnungen hinaus aus dem Turm katapultiert und schließlich in die Tiefe gerissen. Während des Sturzes schien sich für den Flügel die Zeit zu verlangsamen. Wie in Zeitlupe nahm er noch wahr, wie seine äußere Holzverkleidung am Rande der steinernen Öffnung entlangschrammte. Er hörte Theodora noch brüllen: «Bringt mir einen neuen Flügel! So schnell es geht!» Er sah den Turm hinter sich, den dunklen Himmel über und den felsigen Boden unter sich. Dann ging auf einmal alles wieder sehr schnell. Der tapfere Flügel spürte den eisigen Wind der Ebene - und stürzte dem Erdboden und seinem sicheren Ende entgegen.
Neue Freunde
Der Flügel fiel und erwartete sein Ende. Gleich würde er auf dem felsigen Boden der Ebene zerschellen. Unter sich sah er noch etwas Helles aufblitzen, dann gab es einen gewaltigen Ruck. Sein Sturz wurde abrupt gebremst. Etwas gab unter ihm nach, dehnte sich, zerriss mit einem hässlichen Geräusch, und mit einem höllischen Gepolter knallte der Flügel schließlich auf den Boden. Etwas zerbeult und verschrammt, aber im Großen und Ganzen unversehrt, stand er nun inmitten einer Wolke aus Staub, bedeckt von den Resten einer Zeltplane, und staunte, dass er noch lebte. Und als sich der Staub schließlich lichtete, sah er vor sich drei Gestalten: eine E-Gitarre, einen E-Bass und einen kleinen Synthesizer. «Alles Gute kommt von oben», sagte die E-Gitarre. «Krass», brummte der Bass. «Abgefahren», fiepte der Synthesizer. «Gut, dass wir hier draußen gerade ein wenig gejammt haben. Sonst wären wir jetzt Instrumentenbrei.» Der Flügel schüttelte sich. Was für ein Glück! Er hatte den Sturz aus dem Turm überlebt, weil er mitten auf eine Art Zelt gekracht war, das ihn mehr oder weniger weich landen ließ. Das aber war dabei komplett zusammengebrochen. «Cool, das ist ein Flügel», sagte die E-Gitarre und schwebte etwas näher an den Flügel inmitten des zerstörten Zeltes heran. Sie war schwungvoll geformt. Ihr Korpus erinnerte an die Heckflossen einer großen Limousine. «Hey, Flügel, nur, dass das klar ist: Auch wenn du Flügel heißt, bedeutet das nicht, dass du wie ein Vogel fliegen kannst, Mann. Hat dir das noch keiner gesagt? » Der Flügel konnte nicht antworten. Er stand etwas unter Schock. Eben noch hatte er dem sicheren Tod ins Auge gesehen, und jetzt stand er hier beinahe unversehrt vor drei anderen Instrumenten. Aber war wirklich alles in Ordnung mit ihm? Funktionierten alle Tasten und Saiten? Seine komplizierte Mechanik? Konnte er noch spielen? Er beschloss, es zu versuchen. Vorsichtig prüfend, ob sein Innenleben dazu in der Lage war, setzte er behutsam seine noch intakten Hämmer in Bewegung. Eher getupft als geschlagen, strebten die Töne ins Freie. «Er spielt», bemerkte der Synthesizer. «Scharfsinnig beobachtet», sagte die E-Gitarre. «Wär' ich nie draufgekommen.» «Klingt gut», erwiderte der Synthesizer ungerührt. Er hatte sich an die scharfe Zunge der Gitarre längst gewöhnt. Der Bass, ein solides Instrument mit massivem, glänzend lackiertem Holzkorpus und vier dicken Saiten, sagte gar nichts, lauschte nur aufmerksam und gab dann vorsichtig den zaghaften Harmonien des Flügels mit ein paar tiefen Noten Halt. Warm und weich verband sich nun sein solider Ton mit den zarten Klängen des Flügels und bereitete ihm ein sicheres Fundament. Erstaunt und beglückt nahm der Flügel wahr, dass sich jemand musikalisch zu ihm gesellt hatte. Sein Spiel wurde immer sicherer. Am Ende der Etüde vor dem Schlussakkord hielt er dann einen Moment inne, als hätte er Angst vor der Stille nach dem Stück. Der Bass aber füllte die Leere sofort mit einer kleinen Improvisation, bevor sie gemeinsam das Stück beschlossen. Beiden Instrumenten war noch nicht klar, dass dies der Beginn einer wunderschönen, langen Freundschaft sein würde.
Der Synthesizer und die E-Gitarre spendeten spontan Beifall. «Na, das ist auch eine gute Möglichkeit, hallo zu sagen», bemerkte die E-Gitarre. «Einfach losspielen. Das mögen wir, Mann. Aber dennoch: Kannst du uns bitte jetzt kurz mal erklären, warum du aus diesem verdammten Turm heraus mitten in unser schönes Zelt gekracht bist? Nicht, dass wir neugierig sind, aber so ein zerstörtes Heim wirft dann ja doch ein paar Fragen auf.» Der Flügel rollte mühsam aus den Trümmern des Zeltes heraus, räusperte sich und sagte: «Also, das kam so ....» Und dann gab er den drei Instrumenten eine Zusammenfassung seiner bisherigen aberwitzigen Erlebnisse, vom Lützenrieder Auktionshaus bis zum Sturz aus dem Turm. «Krass», brummte der Bass. «Wow», sagte die E-Gitarre. «Ganz heiße Story», bestätigte der Synthesizer. «Und jetzt», sagte der Flügel, «seid ihr dran. Wer seid ihr, und was macht ihr hier außerhalb des Turmes?» «Wir sind», antwortete die E-Gitarre, «ebenso wie ihr klassischen Kollegen ganz besondere Instrumente aus der Menschenwelt. Die Orgel hat uns - besessen von dem Gedanken, die besten und teuersten Exemplare aller Gattungen zu besitzen - ebenfalls herschaffen lassen. Wir kennen das also gut, diesen sonderbaren Übergang hierher in diese Welt. Stimmt's, Leute?» «Kennen wir», brummte der Bass. «Erinnere mich nicht daran», fiepte der Synthesizer. «Ich hab mir vor Angst fast in die Oszillatoren gemacht.» «Darf ich nun also vorstellen?», fuhr die E-Gitarre fort und zeigte auf den Bass. «Das hier ist ein echt seltenes Instrument. Ein Fender-Precision-Bass, den der legendäre Leo Fender 1951 eigenhändig gebaut hat. Satter Klang, super Verarbeitung. Ich weiß, wovon ich rede. Schließlich hat der alte Leo auch mich gebaut. Ich bin eine Fender Stratocaster aus dem Jahre 1965. Auf mir hat der legendäre Gitarrist Jimi Hendrix gespielt. Super Typ. Etwas durchgeknallt, aber ein Genie. Irgendwann hat er mich bei einem Konzert sogar mal angezündet. Hier, man sieht den Brandfleck noch. Seitdem bin ich 50 000 Dollar teurer geworden. Versteh einer die Menschen. Ja, und da wir beide Fenders sind, nennen wir mich Strato und den Bass einfach Fendi.» Der Synthesizer räusperte sich. «Ach, sorry», rief Strato. «Natürlich, jetzt bist du an der Reihe, Kumpel. Das hier ist ein Minimoog, der erste Kompakt-Synthesizer, der 1970 auf den Markt kam.» Der Flügel sah seinen entfernten Verwandten aufmerksam an. Eigentlich war der Minimoog nur eine Tastatur, auf der eine Platte mit unzähligen Knöpfen angebracht war. Sonderbar. «Aber, wenn euch die Orgel geholt hat», fragte der Flügel, «warum seid ihr dann nicht im Turm?» «Ganz einfach», antwortete die E-Gitarre. «Die Orgel will uns vor allem besitzen, weil wir teuer und selten sind. Aber sie hat schnell gemerkt, dass sie mit uns nichts anfangen kann. Wir störten nur unter all den erhabenen Klassik-Kollegen. Also hat sie uns und ein paar anderen dieses Zeltlager hier unweit des Turmes bauen lassen. Und hier leben wir nun. Haben Schutz vor Wind und Regen ...» «Hatten Schutz vor Wind und Regen», unterbrach ihn der Minimoog mit einem Seitenblick auf das zerstörte Zelt. «Ach, wir rücken einfach zusammen. Dann geht das schon», antwortete Strato. «Hinten bei Harp im Zelt ist doch noch Platz.» «Harp?», fragte der Flügel. «Das ist die erste Mundharmonika des berühmten Folksängers Bob Dylan. Die jammt da hinter dem Felsen mit einer sehr teuren akustischen Gitarre. Die haben noch gar nichts von deinem kleinen Flug mitbekommen. Und der blinkende Kasten, der da vorn angeflogen kommt, ist ein Sampler, ein Denon DN-x1500 . Das ist sozusagen die Generation nach uns. Der kann aufgenommene Töne verändern und auf Knopfdruck wiedergeben. Er ist schwierig und redet kaum, denn in der Menschenwelt ist er eigentlich schon wieder out. Er wohnt im letzten Zelt hinten mit zwei anderen Elektrokästen namens DX7 und Prophet 5. Die machen dauernd irgendwelche komischen Sessions. Klingt wie eine Dampfmaschine mit Herzrhythmus-Störungen. » Der Sampler stoppte, blieb regungslos in der Luft stehen, ließ seine LED-Anzeigen hektisch flimmern, grunzte «Pump Up the Volume» und flog wieder weg. «Ich sag ja, komischer Kerl», kommentierte Strato. Der Flügel staunte. Was es doch alles gab. Aber ein Wort in den Erklärungen der Gitarre hatte ihn eben besonders elektrisiert. Sie hatte gesagt, Harp würde mit einer Gitarre hinter dem Felsen jammen. Und auch der Moog hatte vorhin etwas von «jammen» gesagt. Soweit er wusste, bedeutete das «zusammen Musik ohne Noten machen, völlig frei». «Ihr könnt hier also Musik machen, wie ihr wollt, einfach improvisieren?», fragte er. «Klar», sagte Strato. «Wir müssen nur auf den Wind aufpassen. Meist bläst er von der Ebene herüber und trägt die Töne weg vom Turm. Solange die Orgel nichts hört, ist alles gut.» Tage vergingen. Der Flügel fühlte sich sehr wohl in dem Lager mit den anderen, modernen Instrumenten. Bisher hatte er den anderen allerdings noch nichts von Theodoras Plan erzählt, weil er anfangs nicht wusste, wem er trauen konnte. Aber nun musste es raus. Eines Morgens rief er die anderen hinter dem Felsen zusammen. «Ich habe euch etwas zu sagen», hob er an. «Während wir hier in Ruhe vor uns hin spielen, braut sich drüben im Turm großes Unheil zusammen. Die Welt, aus der wir stammen, ist in großer Gefahr.» Er erzählte ihnen alles und schwieg anschließend erschöpft. «Oberkrass», brummte der Bass. «Sauerei», kommentierte Strato. «Voll fieser Plan», fiepte Moog. «Pump Down the Tower», skandierte der Sampler. «Knockin' on Heaven's Door», quäkte Harp unheilverkündend. «Muss ich echt nicht haben, das», nölte die akustische Gitarre. «Also», sagte die E-Gitarre, «da muss man doch was machen.» «Genau», sagte der Minimoog. «Echt was machen.» «Steht auf und wehrt euch», rief Harp. «Get Uppa», skandierte der Sampler. «Ja, wir machen was!», bestätigte die Akustikgitarre. «Aber was?», fragte der Bass. Alle schwiegen betreten. Was sollte die kleine Schar von Instrumenten nur gegen die mächtige Orgel und ihre Schergen unternehmen? Ein großes Brüten und Nachdenken setzte ein, aber niemandem fiel etwas ein. Doch plötzlich rief der Flügel: «Ich habe eine Idee.» Alle sahen ihn gespannt an. Der Flügel sagte: «Wir müssen uns Hilfe holen. Mächtige Hilfe. Ich kann mir nur einen vorstellen, der es mit der Orgel aufnehmen kann. Lasst uns zum Bergkönig, zum Hüter der Rhythmen, gehen und ihm die Lage erklären. Er kennt diesen Plan nicht und sollte davon erfahren. Immerhin will Theodora ihn entmachten.» «Cooler Plan», antwortete Strato. «Er hat nur einen kleinen Haken. Der Bergkönig wohnt eine Terz zu weit weg, um es mal freundlich zu sagen. Er lebt am Ende der Ebene mitten in den großen Bergen, und das ist entsetzlich weit weg. Niemand hat den Weg dorthin bisher gewagt. Nur die Schlaginstrumente. Aber die reden nie drüber. Sie verschwinden immer nach kurzer Zeit aus dem Blickfeld. Ich denke, sie haben einen geheimen Weg. Aber niemand kennt ihn.» «Sonst wäre es ja auch kein Geheimweg», bemerkte Moog. Strato funkelte ihn böse an. «Na, dann», sagte der Flügel. «Fragen können wir die Schlaginstrumente nicht. Und wahrscheinlich dürften sie uns ohnehin nichts sagen. Dann bleibt uns nur der Weg durch die Ebene. Ich kann nicht zulassen, dass die Orgel die Macht über alle Musik bekommt. Ich will irgendetwas dagegen tun. Gleich heute im Schutze der Dunkelheit mache ich mich auf zum Bergkönig. Kommt jemand mit?» «Krass. Bin dabei», brummte Fendi. Der Flügel sah ihn dankbar an. «Ich weiß nicht so recht», zögerte Strato. «Mir ist sowieso langweilig», sagte Moog. «Ich will mal was erleben. Wann geht's los? » Alle lachten. Auch Strato, die nun ebenfalls beschlossen hatte, mit den anderen zu gehen. Und so kam es, dass sich noch in derselben Nacht unser tapferer Flügel, eine Bassgitarre, ein kleiner Synthesizer, eine E-Gitarre und eine Triangel aufmachten, um den gefährlichen Weg durch die große Ebene hinein ins Reich des Bergkönigs zu wagen.
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Autoren-Porträt von Joja Wendt, Kester Schlenz
Joja Wendt geboren 1964, fing schon mit vier Jahren an, Klavier zu spielen. Zu Beginn seiner Karriere wurde er in einer Hamburger Musikkneipe von Joe Cocker entdeckt und für dessen Tour verpflichtet. Später begleitete er Chuck Berry auf dessen Deutschland-Tournee, spielte solo in der ausverkauften Arena Auf Schalke und komponierte die Filmmusik zu «7 Zwerge - Männer allein im Wald». Joja Wendt ist Träger des Louis-Armstrong-Preises, wurde vom Traditionshaus Steinway & Sons in den Kreis der Steinway-Künstler aufgenommen und bereist auf seinen Tourneen die ganze Welt. Er lebt mit seiner Familie in Hamburg. Mehr Infos unter www.jojawendt.com. Kester Schlenz geboren 1958, ist verheiratet und hat zwei erwachsene Kinder. Er studierte Sprachwissenschaften und Psychologie und arbeitete schon neben seinem Studium als freier Journalist. Als Redakteur war er u. a. für die Filmzeitschrift cinema tätig. Er leitete sechs Jahre das Ressort «Kultur & Unterhaltung» der Zeitschrift BRIGITTE und ist seit acht Jahren in gleicher Funktion beim STERN tätig. In seiner Jugend spielte er Schlagzeug bei den in Reinbek weltbekannten «Sadoboys». Mehr Infos unter www.kester-schlenz.de.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Joja Wendt , Kester Schlenz
- Altersempfehlung: Ab 12 Jahre
- 2012, 2. Aufl., 256 Seiten, 9 farbige Abbildungen, mit zahlreichen Abbildungen, Maße: 13,4 x 21,1 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Kindler
- ISBN-10: 346340639X
- ISBN-13: 9783463406398
- Erscheinungsdatum: 05.12.2012
Rezension zu „Der kleine Flügel “
Fantasievoll, musikalisch - und lustig. Lesegenuss für alle Musikfans. Für Sie
Pressezitat
Fantasievoll, musikalisch - und lustig. Lesegenuss für alle Musikfans. Für Sie
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