Der König der Komödianten
Historischer Roman
Der junge Marco zieht mit einem skurrilen Theaterensemble nach Venedig. Nur ein erfolgreiches Stück kann die Truppe vor dem Ruin bewahren. In der betörend bunten Welt des Theaters wird Marco zum Autor seines eigenen Theaterstücks.
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Produktinformationen zu „Der König der Komödianten “
Der junge Marco zieht mit einem skurrilen Theaterensemble nach Venedig. Nur ein erfolgreiches Stück kann die Truppe vor dem Ruin bewahren. In der betörend bunten Welt des Theaters wird Marco zum Autor seines eigenen Theaterstücks.
Klappentext zu „Der König der Komödianten “
Eine wunderbare Kulisse. Ein großartiges Stück. Ein Held zum Verlieben. Veneto, 1594: Sie sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen - eine bezaubernde Hauptdarstellerin, ein waffenstarrender Zwerg, ein schlitzohriger Intendant und dessen bockige Enkelin. Mitten hinein in dieses schillernde Ensemble gerät der achtzehnjährige Marco, der bisher nichts anderes von der Welt gesehen hat als den abgeschiedenen Hof seines Onkels. Der unerfahrene Jüngling ist begeistert von der
faszinierenden Welt des Theaters und zieht mit der Truppe nach Venedig, wo es bald um Sein oder Nichtsein geht: Nur ein neues Stück kann das Ensemble noch retten. Vom Kulissenschieber steigt Marco zum Gehilfen des trunksüchtigen
Bühnendichters auf und bald darauf zum Autor seines eigenen Stücks. Doch bis er dieses auf die Bühne bringen kann, muss er noch viel lernen. Über das Schreiben. Über die Liebe. Und vor allem über das Leben selbst. Ein mitreißender Roman
über das unvergessliche Maskenspiel der Commedia dell' Arte
Lese-Probe zu „Der König der Komödianten “
Der König der Komödianten von Charlotte Thomas Teil 1Landgut im Veneto, März 1594
Mucksmäuschenstill lag ich der Länge nach ausgestreckt auf dem Deckenbalken und starrte hinunter zu dem Paar auf dem Küchentisch.
Von oben betrachtet kam mir der Akt nicht so aufregend vor, wie ich es gehofft hatte. Vor allem von Paulina konnte ich kaum etwas erkennen, und das Wenige, das sich mir bot, mutete eher komisch als aufregend an. Das mochte daran liegen, dass Paulina hinter Onkel Vittores Rücken ihre Fingernägel begutachtete und dabei einen recht gelangweilten Eindruck machte. Es schien fast so, als wäre sie in diesem Moment lieber woanders. Ich wiederum gab mich die ganze Zeit der stillen Hoffnung hin, Onkel Vittore würde vielleicht seine Position ändern, damit ich mehr von Paulinas Körper erkennen konnte. Wie Onkel Vittore aussah, ob von vorn oder von hinten, wusste ich nur zu gut, da ich ihm gelegentlich beim Baden helfen musste, weil seine Gicht in den letzten paar Jahren solche Verrichtungen wie das Besteigen eines Zubers zu einer gefährlichen Angelegenheit machte.
Bei seinen Bemühungen mit Paulina kam er allein zurecht, auch wenn es den Anschein hatte, dass es ihn mehr Kraft kostete, als ihm zu Gebote stand. Sein Ächzen klang wesentlich lauter als beim letzen Mal.
... mehr
Dass er mit seinem Glied in jenen unaussprechlichen Teil ihres Körpers eingedrungen war, wusste ich, schließlich hatte ich schon beobachtet, wie sich die Tiere paarten. Der Vorgang als solcher war für mich kein Geheimnis, und doch ging es bei Menschen ganz anders vonstatten. Allein die Tatsache, dass mein Onkel auf Paulina lag, fand ich höchst bemerkenswert, vor allem im Hinblick darauf, dass er dabei ihre Brüste direkt vor Augen hatte. Was für eine geniale Einrichtung der Natur, dass Menschen sich von Angesicht zu Angesicht vereinigen konnten! Paulina streckte die Hand aus und ergriff einen Brotkanten. Zerstreut biss sie hinein und kaute, während ihr Blick müßig über die Decke streifte. Ich hielt die Luft an, doch dann wurde Paulina vom Gackern eines Huhns abgelenkt, das von draußen den Weg in die Küche gefunden hatte und in der Nähe des Kochkamins herumpickte.
Onkel Vittore steigerte unterdessen seine Anstrengungen und bewegte sich schneller. Nach allem, was ich inzwischen wusste, würde es nun nicht mehr lange dauern.
Eines war jedoch sonderbar: Die Laute, die sich Onkel Vittore entrangen, waren mit einem Mal von seltsam fiependen Tönen unterlegt, es klang, als würde eine Gans erwürgt.
Paulina hatte anscheinend den Geschmack am Brot verloren. Sie legte es zurück und pulte mit den Fingern zwischen ihren Zähnen herum. »Ich liebe deine Leidenschaft.« Ihre Stimme klang eigentümlich monoton, und ich fragte mich, ob sie die Wahrheit sprach. Zweifeln ließ mich, dass sie dabei die Nase rümpfte Onkel Vittore pflegte schon zum Frühstück reichlich Zwiebeln zu sich zu nehmen. Ich fühlte mich zu einem stummen Zitat inspiriert. Nam quotiens futuit, totiens ulciscitur ambos: illam affligit odore, ipse perit podagra ...
Mir stockte der Atem, denn in diesem Moment bewegte sich Onkel Vittore ein wenig zur Seite, sodass Paulinas nackte Brüste sichtbar wurden. Vorhin, als sie ihr Gewand geöffnet hatte, hatte ich sie nur kurz sehen können, weil die kahle Kugel, die der Schädel meines Onkels von hier oben aus betrachtet war, sofort die weiblichen Wölbungen verdeckt hatte. Jedenfalls eine davon, für alle beide war er zu klein, denn sie waren, zumindest nach meinem Dafürhalten, gewaltig. Die andere lag unter seiner Schulter verborgen, doch nun, da er sich zur Seite schob, wurde ihr ganzer Oberkörper sichtbar.
Da waren sie! Ehrfürchtig bestaunte ich dieses unfassbare anatomische Wunder und wünschte mir, an Onkel Vittores Stelle zu sein. Wenigstens für einen kleinen Moment, um einmal diese ungeheuren Auswüchse weiblicher Besonderheit aus der Nähe betrachten zu können.
»Bist du schon fertig?«, fragte Paulina.
Mein Onkel antwortete nicht. Er hatte aufgehört, sich zu bewegen. Paulina tätschelte ihm den kahlen Schädel. »Vittore? Das ging aber schnell.«
Das fand ich auch. Das letzte Mal, vor zwei Wochen, hatte ich hinter der Kiste mit den Zwiebeln gehockt und von dieser Warte aus nur die herabbaumelnden Füße von Paulina sowie die bleichen Waden meines Onkels gesehen, doch der Akt war mir bedeutend länger vorgekommen als dieser. Desgleichen alle anderen, denen ich schon zuvor heimlich hatte lauschen können. An diesem Tag befand ich mich dank des Einfalls, auf den Balken zu klettern, in der außergewöhnlichen Situation, zum ersten Mal direkt zuschauen zu können. »Vittore?«
In dem Moment machte ich den Fehler, mich zu bewegen. Es war nur ein Drehen des Kopfes, um die Fliege zu verscheuchen, die sich schon zwei Mal auf meine Nase gesetzt hatte, während ich hier oben auf der Lauer lag. Doch die kurze Bewegung reichte, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen,
sodass ich beide Arme um den Balken schlingen musste, um nicht abzurutschen oder gar hinabzustürzen. Damit verursachte ich ein Geräusch, das sofort Paulinas Blicke nach oben lenkte.
Sie schrie auf, als sei ihr ein Höllengeist erschienen, was möglicherweise tatsächlich ihrem ersten Eindruck entsprach, denn ich hatte mir, bevor ich den Balken erklommen hatte, das Gesicht mit Ruß vom Herd geschwärzt, um mich farblich der von jahrzehntelangen Kochdünsten gebeizten Decke anzugleichen.
»Vittore!«, kreischte Paulina. »Da oben ist jemand!« Gleich darauf hielt sie inne.
»Marco? Bist du das etwa?« Wieder hob sie an zu schreien, doch diesmal vor Zorn. »Marco! Du Lausebengel! Wieso bist du nicht bei der Feldarbeit!« Sie rüttelte meinen Onkel an der Schulter. »Vittore, geh runter von mir! Der Junge liegt da oben auf dem Balken und schaut uns die ganze Zeit zu! Vittore! Bist du taub?«
Sie schüttelte ihn heftiger, was dazu führte, dass er gänzlich von ihr herabrutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden schlug.
Abermals schrie Paulina auf, diesmal vor Entsetzen, und während ich einen kurzen Blick auf fassförmige weiße Schenkel und die dunkel behaarte Unaussprechlichkeit dazwischen erhaschte, rappelte sie sich vom Tisch hoch.
»O Gott, Vittore! Vittore! Was ist mit dir?«
Ihre schrillen Schreie und der Schrecken, der sich meiner beim Anblick meines reglos daliegenden Onkels bemächtigte, brachten mich vollends aus dem Gleichgewicht, und ich rutschte ab. Ich schaffte es zwar noch, mich mit beiden Händen an dem Balken festzuklammern und unter halsbrecherischem Schwingen dort hängen zu bleiben, doch ich sah mich außerstande, wieder hinaufzukommen, um den Rückweg bis zur Wand und von dort aus auf den Schrank anzutreten, von dem aus ich zu Beginn meines Beobachtungsmanövers den Balken erklettert hatte. Es gab folglich nur noch den direkten Weg nach unten. Während ich fieberhaft überlegte, ob ich mich wohl, an dem Balken festhaltend, Stück für Stück bis über den Tisch hangeln konnte, um nicht ganz so tief zu fallen, kippten Paulinas Schreie über, als wollte der Teufel ihre Seele holen.
»Vittore! Bist du etwa tot ?«
Meine Hände glitten vom Balken, und einen Lidschlag später landete ich auf den Steinplatten des Küchenbodens. Das hässliche Knacken meines rechten Beins spürte ich mehr, als dass ich es hörte, denn Paulina schrie nun ohne Unterlass. Ich versuchte, aufzustehen und zu meinem Onkel zu gelangen, doch mein Bein knickte unter mir weg. Also benutzte ich nur das andere und hüpfte hinüber zum Tisch, wo Paulina über meinen Onkel gebeugt dastand und wie von Sinnen kreischte.
»Onkel Vittore?«, stieß ich hervor, auf einem Bein stehend wie ein Storch.
Er sah mit offenen Augen zu mir hoch, doch sein Blick war leer.
Von Paulinas Geschrei alarmiert, kam im nächsten Moment der Stallknecht in die Küche gestürzt. Ernesto war schon alt und länger in unseren Diensten, als ich auf der Welt war, und mein hilfloses Entsetzen milderte sich ein wenig bei seinem Erscheinen, denn er schien zu wissen, was zu tun war. Grob schubste er die abrupt verstummende Paulina zur Seite und gab meinem Onkel ein paar Ohrfeigen. »Domine?«, brüllte er. »Domine?«
Gleich darauf hielt er unvermittelt inne und bekreuzigte sich. Sich zu Paulina umwendend, richtete er sich auf. »Eines ist sicher«, sagte er.
»Dass er tot ist?«, fragte sie, starr vor Schreck.
»Nun ja«, meinte Ernesto, als wäre gerade das an dem ganzen Vorfall eher nebensächlich. In seiner pragmatischen Art deutete er auf die offene Hose meines Onkels. »Er starb als glücklicher Mann.«
An die folgenden Tage erinnerte ich mich später nur lückenhaft, denn ich war wie gelähmt vor Trauer. Onkel Vittore war der einzige Mensch, der mir nahestand, und ich hatte, solange ich denken konnte, mit tiefer Liebe an ihm gehangen. Eigentlich war er gar nicht mein Onkel, sondern nur um zwei Ecken mit mir verwandt, doch da meine Mutter bei meiner Geburt verstorben war und ich nach dem Ableben der übrigen Verwandtschaft keine anderen Angehörigen mehr hatte, war er zugleich meine ganze Familie und somit der Mensch, um den sich mein Leben von Beginn an gedreht hatte.
Alles, was ich je an Wissen verinnerlicht hatte, kam von ihm von einigen geheimen Kleinigkeiten abgesehen, die ich mir aus gewissen anstößigen Zeichnungen angeeignet hatte, welche Ernesto unter seiner Matratze versteckte , ob es nun um das Einmaleins ging oder darum, wie man einen Pflug durchs Feld zog und ein Huhn köpfte.
Onkel Vittore hatte stets den Standpunkt vertreten, ein ordentlicher und aufrechter Gutsherr müsse alles lernen, was ihm nützte, und so hatte er mich von klein auf unterrichtet, nicht nur bei der Feldarbeit und beim Versorgen des Viehs, sondern auch am Lesepult. Er hatte mich Rechnen und Schreiben gelehrt, desgleichen Griechisch und Latein, hatte mich mit Pythagoras und dem Liber Abacci ebenso vertraut gemacht wie mit Platon, Plinius und einigen anderen Geistesgrößen. In unserer Bibliothek gab es bestimmt an die hundert Bücher, und ich hatte sie alle gelesen. Überdies hatte er mich im Reiten und Fechten unterwiesen, auch wenn das Pferd eine uralte Mähre und das Schwert nur aus Holz war.
»Eines Tages wirst du all diese Fertigkeiten gut gebrauchen können, Marco«, hatte er zuweilen erklärt. Wann genau das sein würde, hatte er freilich nie gesagt, weshalb ich ihn im Laufe des letzten Jahres häufiger gefragt hatte, ob es wohl bald wieder Krieg geben würde. Zum bäuerlichen Leben fehlte mir die innere Überzeugung. Was mit Euklid und Sokrates anzufangen war, erschloss sich mir ebenfalls nicht auf Anhieb, wohl aber der Nutzen von Ross und Waffe: Ich war wild entschlossen, zur Kavallerie zu gehen und dort meinen Mann zu stehen. Nicht erst seit dem Studium der Schriften römischer Herrscher wusste ich, dass kaum etwas dem Edlen besser ansteht, als tapfer zu Felde zu ziehen. Oder vielleicht auch, zur See zu fahren. Die ruhmreiche Schlacht von Lepanto hatte ein paar Jahre vor meiner Geburt stattgefunden, war jedoch immer noch in aller Munde, und ich stellte mir häufig vor, auf dem Geschützdeck einer gewaltigen Kriegsgaleere zu stehen und Kanonen auf die Osmanen abzufeuern.
Über solcherlei Ansinnen war Onkel Vittore stets lächelnd hinweggegangen, doch immerhin hatte er einige Wochen zuvor die vielversprechende Bemerkung gemacht, es sei wohl endlich an der Zeit, mich einmal mit in die Stadt zu nehmen. Mit Die Stadt war die Serenissima gemeint. Die prächtigste Metropole des Abendlandes, die Krone europäischer Kultur, kurz: Venedig, der schönste Ort der Welt. Jedenfalls waren das die Worte, die Onkel Vittore zur Beschreibung der Lagunenstadt zu verwenden pflegte. Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht nachgefragt hatte, wann es denn endlich so weit wäre, worauf Onkel Vittore erst in der vergangenen Woche versprochen hatte, dass es zu meinem achtzehnten Geburtstag geschehen solle. Ich brachte kaum genug Geduld auf, die verbleibende Zeit ohne drängende Fragen zu überstehen, und nicht einmal die unverhoffte Möglichkeit, meinen Onkel und Paulina beim Akt zu beobachten, hatte mich von meiner angespannten Vorfreude ablenken können.
Unselige Parzen fügten es, dass Onkel Vittore fünf Tage vor meinem Geburtstag starb und ich deswegen nicht nur um meine Venedigreise gebracht war, sondern auch darum, wie ein aufrechter Mann an seinem Grab zu stehen: Wegen meines gebrochenen Beins musste ich auf einem Karren sitzen, auf dem mich Ernesto zum Friedhof beförderte. Als wollte der Himmel meine Trauer angemessen unterstreichen, öffnete er während der Bestattung alle Schleusen. Es goss die ganze Zeit über in Strömen, und während Pater Anselmo, der Priester unserer kleinen Gemeinde, am offenen Grab letzte Segensworte sprach, wurde der Regen wasserfallartig. Alle Erschienenen bemühten sich redlich, sich nicht anmerken zu lassen, wie gern sie vor den herabstürzenden Wassermassen geflohen wären. Pater Anselmo redete gegen Ende seiner Ansprache immer schneller, und es drängte sich der Eindruck auf, dass er von seiner vorbereiteten Rede einen großen Teil einfach wegließ, bevor er nach einem hastigen Amen mit klatschnasser Soutane den Rückzug antrat und in der Kirche verschwand. Die übrigen Dörfler nahmen sein Verschwinden zum Anlass, ebenfalls hurtig das Weite zu suchen. Der davonrennende Totengräber rief immerhin über die Schulter zurück, er werde das Grab später zuschaufeln, darüber sollten wir uns keine Gedanken machen.
Der Regen trommelte auf den Sargdeckel, und dieses Geräusch tönte mir noch lange in den Ohren, während Ernesto schimpfend den Gaul antrieb, der alle Mühe hatte, den Karren durch den Matsch in Richtung Gutshaus zu ziehen. Paulina lief derweil voraus, um den Kamin anzuheizen. Ich selbst blieb frierend und pitschnass auf dem Karren hocken, ein stechendes Pochen in meinem geschienten Bein und einen weit schlimmeren Schmerz in meiner Seele.
Originalausgabe Copyright © 2010 by Charlotte Thomas
Copyright Deutsche Originalausgabe © 2010 by BASTEI – LÜBBE GmbH & Co. KG
»Denn jedes Mal, wenn er es mit ihr treibt, sind sie beide bestraft: Sie wird von dem Gestank umgehauen, er selbst von der Gicht.« (Catull, Epigramme, Nr. 71) Die Durchlauchtigste
Onkel Vittore steigerte unterdessen seine Anstrengungen und bewegte sich schneller. Nach allem, was ich inzwischen wusste, würde es nun nicht mehr lange dauern.
Eines war jedoch sonderbar: Die Laute, die sich Onkel Vittore entrangen, waren mit einem Mal von seltsam fiependen Tönen unterlegt, es klang, als würde eine Gans erwürgt.
Paulina hatte anscheinend den Geschmack am Brot verloren. Sie legte es zurück und pulte mit den Fingern zwischen ihren Zähnen herum. »Ich liebe deine Leidenschaft.« Ihre Stimme klang eigentümlich monoton, und ich fragte mich, ob sie die Wahrheit sprach. Zweifeln ließ mich, dass sie dabei die Nase rümpfte Onkel Vittore pflegte schon zum Frühstück reichlich Zwiebeln zu sich zu nehmen. Ich fühlte mich zu einem stummen Zitat inspiriert. Nam quotiens futuit, totiens ulciscitur ambos: illam affligit odore, ipse perit podagra ...
Mir stockte der Atem, denn in diesem Moment bewegte sich Onkel Vittore ein wenig zur Seite, sodass Paulinas nackte Brüste sichtbar wurden. Vorhin, als sie ihr Gewand geöffnet hatte, hatte ich sie nur kurz sehen können, weil die kahle Kugel, die der Schädel meines Onkels von hier oben aus betrachtet war, sofort die weiblichen Wölbungen verdeckt hatte. Jedenfalls eine davon, für alle beide war er zu klein, denn sie waren, zumindest nach meinem Dafürhalten, gewaltig. Die andere lag unter seiner Schulter verborgen, doch nun, da er sich zur Seite schob, wurde ihr ganzer Oberkörper sichtbar.
Da waren sie! Ehrfürchtig bestaunte ich dieses unfassbare anatomische Wunder und wünschte mir, an Onkel Vittores Stelle zu sein. Wenigstens für einen kleinen Moment, um einmal diese ungeheuren Auswüchse weiblicher Besonderheit aus der Nähe betrachten zu können.
»Bist du schon fertig?«, fragte Paulina.
Mein Onkel antwortete nicht. Er hatte aufgehört, sich zu bewegen. Paulina tätschelte ihm den kahlen Schädel. »Vittore? Das ging aber schnell.«
Das fand ich auch. Das letzte Mal, vor zwei Wochen, hatte ich hinter der Kiste mit den Zwiebeln gehockt und von dieser Warte aus nur die herabbaumelnden Füße von Paulina sowie die bleichen Waden meines Onkels gesehen, doch der Akt war mir bedeutend länger vorgekommen als dieser. Desgleichen alle anderen, denen ich schon zuvor heimlich hatte lauschen können. An diesem Tag befand ich mich dank des Einfalls, auf den Balken zu klettern, in der außergewöhnlichen Situation, zum ersten Mal direkt zuschauen zu können. »Vittore?«
In dem Moment machte ich den Fehler, mich zu bewegen. Es war nur ein Drehen des Kopfes, um die Fliege zu verscheuchen, die sich schon zwei Mal auf meine Nase gesetzt hatte, während ich hier oben auf der Lauer lag. Doch die kurze Bewegung reichte, um mich aus dem Gleichgewicht zu bringen,
sodass ich beide Arme um den Balken schlingen musste, um nicht abzurutschen oder gar hinabzustürzen. Damit verursachte ich ein Geräusch, das sofort Paulinas Blicke nach oben lenkte.
Sie schrie auf, als sei ihr ein Höllengeist erschienen, was möglicherweise tatsächlich ihrem ersten Eindruck entsprach, denn ich hatte mir, bevor ich den Balken erklommen hatte, das Gesicht mit Ruß vom Herd geschwärzt, um mich farblich der von jahrzehntelangen Kochdünsten gebeizten Decke anzugleichen.
»Vittore!«, kreischte Paulina. »Da oben ist jemand!« Gleich darauf hielt sie inne.
»Marco? Bist du das etwa?« Wieder hob sie an zu schreien, doch diesmal vor Zorn. »Marco! Du Lausebengel! Wieso bist du nicht bei der Feldarbeit!« Sie rüttelte meinen Onkel an der Schulter. »Vittore, geh runter von mir! Der Junge liegt da oben auf dem Balken und schaut uns die ganze Zeit zu! Vittore! Bist du taub?«
Sie schüttelte ihn heftiger, was dazu führte, dass er gänzlich von ihr herabrutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf den Boden schlug.
Abermals schrie Paulina auf, diesmal vor Entsetzen, und während ich einen kurzen Blick auf fassförmige weiße Schenkel und die dunkel behaarte Unaussprechlichkeit dazwischen erhaschte, rappelte sie sich vom Tisch hoch.
»O Gott, Vittore! Vittore! Was ist mit dir?«
Ihre schrillen Schreie und der Schrecken, der sich meiner beim Anblick meines reglos daliegenden Onkels bemächtigte, brachten mich vollends aus dem Gleichgewicht, und ich rutschte ab. Ich schaffte es zwar noch, mich mit beiden Händen an dem Balken festzuklammern und unter halsbrecherischem Schwingen dort hängen zu bleiben, doch ich sah mich außerstande, wieder hinaufzukommen, um den Rückweg bis zur Wand und von dort aus auf den Schrank anzutreten, von dem aus ich zu Beginn meines Beobachtungsmanövers den Balken erklettert hatte. Es gab folglich nur noch den direkten Weg nach unten. Während ich fieberhaft überlegte, ob ich mich wohl, an dem Balken festhaltend, Stück für Stück bis über den Tisch hangeln konnte, um nicht ganz so tief zu fallen, kippten Paulinas Schreie über, als wollte der Teufel ihre Seele holen.
»Vittore! Bist du etwa tot ?«
Meine Hände glitten vom Balken, und einen Lidschlag später landete ich auf den Steinplatten des Küchenbodens. Das hässliche Knacken meines rechten Beins spürte ich mehr, als dass ich es hörte, denn Paulina schrie nun ohne Unterlass. Ich versuchte, aufzustehen und zu meinem Onkel zu gelangen, doch mein Bein knickte unter mir weg. Also benutzte ich nur das andere und hüpfte hinüber zum Tisch, wo Paulina über meinen Onkel gebeugt dastand und wie von Sinnen kreischte.
»Onkel Vittore?«, stieß ich hervor, auf einem Bein stehend wie ein Storch.
Er sah mit offenen Augen zu mir hoch, doch sein Blick war leer.
Von Paulinas Geschrei alarmiert, kam im nächsten Moment der Stallknecht in die Küche gestürzt. Ernesto war schon alt und länger in unseren Diensten, als ich auf der Welt war, und mein hilfloses Entsetzen milderte sich ein wenig bei seinem Erscheinen, denn er schien zu wissen, was zu tun war. Grob schubste er die abrupt verstummende Paulina zur Seite und gab meinem Onkel ein paar Ohrfeigen. »Domine?«, brüllte er. »Domine?«
Gleich darauf hielt er unvermittelt inne und bekreuzigte sich. Sich zu Paulina umwendend, richtete er sich auf. »Eines ist sicher«, sagte er.
»Dass er tot ist?«, fragte sie, starr vor Schreck.
»Nun ja«, meinte Ernesto, als wäre gerade das an dem ganzen Vorfall eher nebensächlich. In seiner pragmatischen Art deutete er auf die offene Hose meines Onkels. »Er starb als glücklicher Mann.«
An die folgenden Tage erinnerte ich mich später nur lückenhaft, denn ich war wie gelähmt vor Trauer. Onkel Vittore war der einzige Mensch, der mir nahestand, und ich hatte, solange ich denken konnte, mit tiefer Liebe an ihm gehangen. Eigentlich war er gar nicht mein Onkel, sondern nur um zwei Ecken mit mir verwandt, doch da meine Mutter bei meiner Geburt verstorben war und ich nach dem Ableben der übrigen Verwandtschaft keine anderen Angehörigen mehr hatte, war er zugleich meine ganze Familie und somit der Mensch, um den sich mein Leben von Beginn an gedreht hatte.
Alles, was ich je an Wissen verinnerlicht hatte, kam von ihm von einigen geheimen Kleinigkeiten abgesehen, die ich mir aus gewissen anstößigen Zeichnungen angeeignet hatte, welche Ernesto unter seiner Matratze versteckte , ob es nun um das Einmaleins ging oder darum, wie man einen Pflug durchs Feld zog und ein Huhn köpfte.
Onkel Vittore hatte stets den Standpunkt vertreten, ein ordentlicher und aufrechter Gutsherr müsse alles lernen, was ihm nützte, und so hatte er mich von klein auf unterrichtet, nicht nur bei der Feldarbeit und beim Versorgen des Viehs, sondern auch am Lesepult. Er hatte mich Rechnen und Schreiben gelehrt, desgleichen Griechisch und Latein, hatte mich mit Pythagoras und dem Liber Abacci ebenso vertraut gemacht wie mit Platon, Plinius und einigen anderen Geistesgrößen. In unserer Bibliothek gab es bestimmt an die hundert Bücher, und ich hatte sie alle gelesen. Überdies hatte er mich im Reiten und Fechten unterwiesen, auch wenn das Pferd eine uralte Mähre und das Schwert nur aus Holz war.
»Eines Tages wirst du all diese Fertigkeiten gut gebrauchen können, Marco«, hatte er zuweilen erklärt. Wann genau das sein würde, hatte er freilich nie gesagt, weshalb ich ihn im Laufe des letzten Jahres häufiger gefragt hatte, ob es wohl bald wieder Krieg geben würde. Zum bäuerlichen Leben fehlte mir die innere Überzeugung. Was mit Euklid und Sokrates anzufangen war, erschloss sich mir ebenfalls nicht auf Anhieb, wohl aber der Nutzen von Ross und Waffe: Ich war wild entschlossen, zur Kavallerie zu gehen und dort meinen Mann zu stehen. Nicht erst seit dem Studium der Schriften römischer Herrscher wusste ich, dass kaum etwas dem Edlen besser ansteht, als tapfer zu Felde zu ziehen. Oder vielleicht auch, zur See zu fahren. Die ruhmreiche Schlacht von Lepanto hatte ein paar Jahre vor meiner Geburt stattgefunden, war jedoch immer noch in aller Munde, und ich stellte mir häufig vor, auf dem Geschützdeck einer gewaltigen Kriegsgaleere zu stehen und Kanonen auf die Osmanen abzufeuern.
Über solcherlei Ansinnen war Onkel Vittore stets lächelnd hinweggegangen, doch immerhin hatte er einige Wochen zuvor die vielversprechende Bemerkung gemacht, es sei wohl endlich an der Zeit, mich einmal mit in die Stadt zu nehmen. Mit Die Stadt war die Serenissima gemeint. Die prächtigste Metropole des Abendlandes, die Krone europäischer Kultur, kurz: Venedig, der schönste Ort der Welt. Jedenfalls waren das die Worte, die Onkel Vittore zur Beschreibung der Lagunenstadt zu verwenden pflegte. Seitdem war kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht nachgefragt hatte, wann es denn endlich so weit wäre, worauf Onkel Vittore erst in der vergangenen Woche versprochen hatte, dass es zu meinem achtzehnten Geburtstag geschehen solle. Ich brachte kaum genug Geduld auf, die verbleibende Zeit ohne drängende Fragen zu überstehen, und nicht einmal die unverhoffte Möglichkeit, meinen Onkel und Paulina beim Akt zu beobachten, hatte mich von meiner angespannten Vorfreude ablenken können.
Unselige Parzen fügten es, dass Onkel Vittore fünf Tage vor meinem Geburtstag starb und ich deswegen nicht nur um meine Venedigreise gebracht war, sondern auch darum, wie ein aufrechter Mann an seinem Grab zu stehen: Wegen meines gebrochenen Beins musste ich auf einem Karren sitzen, auf dem mich Ernesto zum Friedhof beförderte. Als wollte der Himmel meine Trauer angemessen unterstreichen, öffnete er während der Bestattung alle Schleusen. Es goss die ganze Zeit über in Strömen, und während Pater Anselmo, der Priester unserer kleinen Gemeinde, am offenen Grab letzte Segensworte sprach, wurde der Regen wasserfallartig. Alle Erschienenen bemühten sich redlich, sich nicht anmerken zu lassen, wie gern sie vor den herabstürzenden Wassermassen geflohen wären. Pater Anselmo redete gegen Ende seiner Ansprache immer schneller, und es drängte sich der Eindruck auf, dass er von seiner vorbereiteten Rede einen großen Teil einfach wegließ, bevor er nach einem hastigen Amen mit klatschnasser Soutane den Rückzug antrat und in der Kirche verschwand. Die übrigen Dörfler nahmen sein Verschwinden zum Anlass, ebenfalls hurtig das Weite zu suchen. Der davonrennende Totengräber rief immerhin über die Schulter zurück, er werde das Grab später zuschaufeln, darüber sollten wir uns keine Gedanken machen.
Der Regen trommelte auf den Sargdeckel, und dieses Geräusch tönte mir noch lange in den Ohren, während Ernesto schimpfend den Gaul antrieb, der alle Mühe hatte, den Karren durch den Matsch in Richtung Gutshaus zu ziehen. Paulina lief derweil voraus, um den Kamin anzuheizen. Ich selbst blieb frierend und pitschnass auf dem Karren hocken, ein stechendes Pochen in meinem geschienten Bein und einen weit schlimmeren Schmerz in meiner Seele.
Originalausgabe Copyright © 2010 by Charlotte Thomas
Copyright Deutsche Originalausgabe © 2010 by BASTEI – LÜBBE GmbH & Co. KG
»Denn jedes Mal, wenn er es mit ihr treibt, sind sie beide bestraft: Sie wird von dem Gestank umgehauen, er selbst von der Gicht.« (Catull, Epigramme, Nr. 71) Die Durchlauchtigste
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Bibliographische Angaben
- Autor: Charlotte Thomas
- 2010, 699 Seiten, Maße: 14 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: Ehrenwirth
- ISBN-10: 3431038077
- ISBN-13: 9783431038071
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