Der Letzte seiner Art
In einem kleinen irischen Fischerdorf lebt ein Mann, der ein Geheimnis hütet und selbst eines ist.
Sie hatten ihm übermenschliche Kräfte versprochen, doch stattdessen wurde er zum Invaliden. Er hatte gehofft, ein Held zu werden, doch stattdessen muss er...
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In einem kleinen irischen Fischerdorf lebt ein Mann, der ein Geheimnis hütet und selbst eines ist.
Sie hatten ihm übermenschliche Kräfte versprochen, doch stattdessen wurde er zum Invaliden. Er hatte gehofft, ein Held zu werden, doch stattdessen muss er sich vor aller Welt verbergen. Denn Duane Fitzgerald ist das Ergebnis eines geheimen militärischen Experiments, das auf tragische Weise fehlgeschlagen ist. Für seinen Opfermut erhielt er die Freiheit, den Rest seines Lebens dort zu verbringen, wo er es sich wünschte. Im Gegenzug verpflichtete er sich zu schweigen.
Doch es gibt jemanden, der sein Geheimnis kennt - und er ist ihm bereits auf der Spur.
Andreas Eschbach, der sympathische Autor aus Ulm studierte Luft- und Raumfahrttechnik und arbeitete als Software-Entwickler. Doch zum Glück wurde sein Ausnahmetalent als Schriftsteller früh erkannt und mit riesigem Erfolg belohnt.
In einem kleinen irischen Fischerdorf lebt ein Mann, der ein Geheimnis hütet. Nein, mehr als das, er ist das Geheimnis ...
Sie hatten ihm übermenschliche Kräfte versprochen. Stattdessen wurde er zum Invaliden. Er hatte gehofft, ein Held zu werden. Stattdessen muss er sich vor aller Welt verbergen. Denn Duane Fitzgerald ist das Ergebnis eines geheimen militärischen Experiments, eines Versuchs, der auf tragische Weise fehlgeschlagen ist. Für seinen Opfermut erhielt er die Freiheit, den Rest seines Lebens dort zu verbringen, wo er es sich wünschte. Im Gegenzug musste er sich verpflichten zu schweigen.
Doch es gibt da jemanden, der sein Geheimnis kennt - und er ist ihm bereits auf der Spur.
Mit seinem Roman Der Letzte seiner Art hat Bestsellerautor Andreas Eschbach eine Mischung aus Science Fiction- und Wissenschaftsthriller geschrieben, der bis zur letzten Minute fesselt!
LESEPROBE
1
Am Samstagmorgen erwachte ichblind und halbseitig gelähmt. Ich bin schon oft blind gewesen und auch schon ofthalbseitig gelähmt, aber in letzter Zeit bin ich öfter bei
des gleichzeitig, und das fängt allmählich an, mir Sorgen zu machen.
Ich lag auf der rechten Seite, dasGesicht halb im Kissen vergraben. Alles, was ich bewegen konnte, waren meinKopf, der linke Arm und ein paar Muskeln, die mir in dem Moment allesamt nichtsnützten. Ziemlich ärgerlich. Ich war versucht, einfach noch eine Weile zu dösenund zu hoffen, dass es sich von selber geben würde. Aber das würde es nicht,das wusste ich. Außerdem drückte meine Blase.
Also ruderte ich mit der linkenHand umher, wühlte hinter mir über Kissen und Matratze, bis ich das Bettgestellzu fassen bekam. Es ist alles andere als leicht, sich mit nur einem und zudemhalb verrenkten Arm in eine neue Position zu ziehen, wenn man dreihundert Pfundschwer ist und starr wie eine Schaufensterpuppe, aber unmöglich ist es auchnicht, wenn es eben sein muss.
Ich zog mit aller Kraft, und kurzvor dem ersten Muskelfaserriss kippte ich endlich und krachte mit dem linkenSchulterblatt auf die Bettkante, was wehtat, aber gut war, denn es bedeutete,dass ich günstig zu liegen gekommen war, um mit der freien Hand unter
Dort bewahre ich seit Jahren einenunterarmlangen Holzprügel auf, für Gelegenheiten wie diese. Bisher hatte esimmer erstaunlich gut geholfen, mir einfach dieses zollstarke Vierkantholz mehrmalsüber den Schädel zu ziehen. Oder damit auf widerspenstige Gliedmaßen einzudreschen.Das ist bei mir nicht anders als bei einem alten Getränkeautomaten: Ab und zubraucht er ein paar kräftige Tritte, und schon läuft alles wieder wie eh undje.
Diesmal half es allerdings nicht.Ich hörte auf, mich zu verprügeln, ehe es Schlimmeres gab als blaue Flecken,und war immer noch gelähmt und blind.
Die Blindheit war besondersärgerlich, weil es dafür keinen wirklichen Grund gab. Ich nehme an, dass espsychisch bedingt ist; jedenfalls, wenn mein künstliches Auge einen seinerAbstürze hat und plötzlich keine Signale mehr liefert, schließt sich ihm dasandere bisweilen aus einer Art falsch verstandener Solidarität heraus an undversagt gleichfalls den Dienst. Ich kenne ein paar Leute, die sich brennend fürdieses Phänomen interessieren würden, aber ich werde mich auch weiterhin hüten,ihnen davon zu erzählen.
Ich lag eine Weile unbequem da undüberlegte. Das war alles ausgesprochen lästig. Ein Traum fiel mir ein, der einpaar Wochen zurücklag, und auf einmal fragte ich mich, ob das überhaupt ein Traumgewesen war: Ich hatte geträumt aufzuwachen, mitten in der Nacht, versteinert,zu Stahl geworden, doch dann hatte ich den geheimen Schalter gefunden, der meinenKörper verflüssigte, alles war gut gewesen, und ich war erleichtert wiedereingeschlafen. Seltsam. Ich tastete über den Bauch und befühlte einige derKabelstränge, die sich da ab und zu wulstig unter der Bauchdecke abzeichnen wieTreibgut im Wogen der Gedärme, kleine harte Wülste, die schon die nächsteBewegung des Körpers zurück in die Tiefe zieht. Es musste ein Traum gewesensein. Es gab keinen solchen Schalter.
Etwas anderes fiel mir ein, daseinmal gegen diese Art Blindheit geholfen hatte. Ich ließ den Bauch und begann,das linke Auge bei geschlossenen Lidern sanft zu massieren, so lange, bis Sternchenkamen. Dann hielt ich inne, öffnete es, und siehe da, aus grauen Nebeln schältesich ein Bild. Die Decke meines Schlafzimmers. Vergilbte, mindestens dreißigJahre alte Tapete. Wenn man es recht bedenkt, hätte ich längst einmal neutapezieren können. Zeit hatte ich ja wahrhaftig genug.
Nicht mehr völlig, sondern nurnoch halb blind zu sein war zumindest ermutigend, wenn auch nicht richtighilfreich. Ich betrachtete meinen rechten Arm, der verkrampft in die Höhe ragtewie ein abgebrochener Schiffsmast und sich anfühlte wie ein solider BlockMetall, und fluchte erst mal erbittert vor mich hin. Der Harndrang schien nichtvorzuhaben, nachzulassen, also holte ich, in Ermangelung eines besserenEinfalls, noch einmal den Holzprügel herauf und schlug damit auf mich ein,wieder ohne Resultat.
So etwas wie Panik begann sich inmir auszubreiten. Wilde Visionen, wie ich hier liegen bleiben würde, tagelang,eingenässt und unfähig, um Hilfe zu rufen. Verdursten würde ich. Mein Mund warjetzt schon ganz trocken. Wie lange es wohl dauern würde, bis man mich fand?Ziemlich lange, vermutlich. Ich lebe allein, zurückgezogen - man könnte sagen,einsam.
Panik, wie gesagt. Und dasSedierungssystem war logischerweise auch nicht ansprechbar. Ich bemühte mich,langsam und tief zu atmen, konzentrierte mich auf den Druck in der Blase, undes wurde besser.
Nachdenken war angesagt. Nichtunbedingt meine Stärke, aber man bemüht sich. Das künstliche Auge ausgefallen,gleichzeitig der Bewegungsapparat blockiert: Das konnte fast keine andereUrsache haben als einen Stromausfall im gesamten System. Ein Defekt derNuklearbatterie war so gut wie ausgeschlossen; die ist der wahrscheinlichzuverlässigste Bestandteil meiner Innereien und wird frühestens ausgetauschtwerden müssen, wenn ich an meinem 45.Geburtstag noch am Leben sein sollte. Blieb dieStromverteilung. In den vergangenen Jahren hatten sich zwar tatsächlich einigeder angeblich unlösbaren Steckverbindungen in den Tiefen meines Körpers gelöst,aber die dadurch verursachten Wackelkontakte oder Kurzschlüsse hatten stets nurbegrenzte Ausfälle zur Folge gehabt. Bisher hatte ich immer geglaubt, dasSystem sei so konstruiert, dass ein totaler Stromausfall überhaupt nichtvorkommen könne.
Allerdings habe ich in meinemLeben schon eine Menge Dinge geglaubt.
Ich würde Hilfe brauchen.
Es sind nur ein paar Schritte,sagte ich mir. Schritte. Schon allein das Wort klingt beruhigend. Nur drei,vier Schritte. Alles, was ich tun musste, war, mich aus dem Bett auf denFußboden zu wälzen und mich dann Zoll um Zoll bis in den Flur zu zerren. Dortwar das Telefon. Dort war Rettung. Nichts leichter als das.
Bloß dass mein Körper in seinemaugenblicklichen Zustand mehr Ähnlichkeit mit einer tonnenschwerenMetallplastik hatte als mit sonst etwas. Ich zerrte und zog mit meinem einenArm und manövrierte umher und versuchte, den starren Rest von mir ins Schaukelnzu bekommen, und steigerte mich in einen wahren Rausch von Kraftmeierei hinein,doch alles, was ich schließlich erreichte, war, mit dem Oberkörper aus dem Bettzu fallen, den Nachttisch mit dem Kopf umzustoßen und mit meinem rechten Arm soungeschickt aufzukommen, dass er sich unter dem Bettgestell verkantete.
Ich blieb eine ganze Weilekeuchend so liegen. Mit meinem einen intakten Auge sah ich mich um und konntenicht glauben, was passiert war. Ich lag da wie festbetoniert, den Körper sodurchgebogen, dass mein Bauch spannte wie eine Trommel, meinen starren rechtenArm unter dem Bett festgehakt wie ein Schiffsanker. Mit der Linken tastete ichpanisch umher auf der Suche nach einem Halt, einem Griff, irgendetwas, an demich mich aus dieser Lage zerren konnte, und fand nichts. Da waren nur alteSocken, ein rechter Turnschuh, ein paar Zeitungen und sonstige Zeugnisse meinerAbneigung gegen haushälterische Tätigkeiten und darunter glatter Linoleumboden.Es dauerte seine Zeit, aber allmählich begriff ich, dass ich es versiebt hatte.
Der Anflug von Panik kehrtezurück. Eigentlich war es schon fast mehr als nur ein Anflug. Wenn man einmalunbesiegbar gewesen ist, tut man sich schwer mit Niederlagen, erst recht mit demdrohenden Untergang.
Ich weiß nicht genau, was danngeschehen ist und warum. Ich weiß nur, dass ich mir mit der linken Hand überden Bauch strich, vielleicht, weil er so prall gespannt war, oder in demVersuch, meine Blase zu beruhigen. Ich fühlte der Kontur eines Kabelstrangsnach und ertastete plötzlich etwas, eine Verdickung, die da nicht hätte seindürfen, soweit ich mich an die Pläne erinnerte.
Nicht, dass die Pläne zum Schlussnoch viel bedeutet hätten. Da hat sowieso jeder gemacht, was er wollte. Aberseltsam war es doch. Ich befühlte das Implantat und erlebte dabei plötzlicheinen dieser überaus eigenartigen Momente, in denen man sich nicht mehr sicherist, ob man wach ist und sich an einen Traum erinnert oder ob man träumt undsich daran erinnert, einmal wach gewesen zu sein. Das fühlte sich an wie dergeheime Schalter in jenem Traum, der meinen Körper verflüssigt hatte!
Ich drückte. Und schrie auf, alsein Rucken durch mich ging, das System einen Herzschlag lang zum Lebenerwachte. Nicht lang genug leider, um auch nur meinen rechten Arm frei zu bekommen;im Gegenteil, den hatte ich vor lauter Überraschung eher noch weiter verkantet.
Aber plötzlich ergab alles Sinn.Ich hatte einen Wackelkontakt im Hauptstromkreis, so einfach war das!Irgendwann musste jemand - vermutlich aus Versehen, oder besser gesagt, insinnloser Hektik - eines der Kabel durchtrennt haben, die durchzutrennen nichtvorgesehen gewesen war, und um das zu reparieren, hatte er eine Steckverbindungeingesetzt. Die ja als unlöslich galt. Also zwei gute Gründe, mir nachhernichts davon zu sagen.
Genau diese Steckverbindung spürteich gerade. Vermutlich hatte eine der Bewegungen innerer Organe, wie sie immenschlichen Bauchraum nun einmal unvermeidlich sind - selbst in meinem -, dasbetreffende Kabel in den Vordergrund gedrückt.
Das hieß, dass das damalsüberhaupt kein Traum gewesen war. Ich war wirklich mitten in der Nachtaufgewacht, hatte schlaftrunken registriert, erstarrt zu sein, und es hat nochgenügt, ein wenig Druck auf die wackelnde Kabelverbindung auszuüben, um siewieder einschnappen und alles schön weiter funktionieren zu lassen.
Ganz offensichtlich saßen dieStecker aber inzwischen deutlich lockerer. Mit jähem Schrecken begriff ich,dass meine letzte Chance darin bestand, sie wieder ineinander zu bekommen, undzwar hier und jetzt, ehe die beiden Enden des Kabels sich endgültig voneinanderlösten und sich in die Tiefen meiner Eingeweide verabschiedeten.
Ich hörte auf, daranherumzudrücken. Ich konnte nicht wissen, ob ich damit nicht mehr Schaden alsNutzen anrichtete. Jeder ungeschickte Druck mochte die beiden Stecker genausogut ineinander schieben wie voneinander trennen. Nein, ich musste wissen, wasich tat. Was ich brauchte, war das richtige Werkzeug.
Also verrenkte ich mir den Halsauf der Suche nach irgendeinem spitzen Gegenstand, den ich mir in den Bauchrammen konnte.
Bloß, wie viele spitze Gegenständefindet man für gewöhnlich im Radius einer Armlänge um ein Bett? MeinTaschenmesser fiel mir ein. Dessen Klingen schienen mir für Operationen nurbedingt geeignet, aber die Ahle war lang und so gut wie unbenutzt, und was zumStechen von Löchern in Ledergürtel taugte, dem würde eine Bauchdecke schwerlichwiderstehen. Und das Ding musste, wenn mich nicht alles trog, in der Schubladedes Nachttisches liegen.
Des mittlerweile umgestürztenNachttisches, der zudem zu meiner Rechten und damit weitgehend außer Reichweitelag. Ich streckte und wälzte mich, bekam den Griff der Nachttischschublade zufassen und zog sie auf. Zwei Packungen Papiertaschentücher purzelten heraus,ein Hundert-Euro-Schein, den ich noch gar nicht vermisst hatte, und ein paarMünzen. Nichts sonst. Vor allem kein Taschenmesser.
Hastig befingerte ich wiedermeinen Bauch. War der Stecker noch da? Ja. Ich hatte mich zwar bewegt, aberoffenbar nicht stark genug, um das Kabel davonrutschen zu lassen. Vielleichttat die volle Blase das ihre, im Bauch alles unter Druck und am Platz zuhalten. Wo war das verdammte Taschenmesser?
Mein Blick streifte die Leselampe,ein dickes, in Jahrzehnten gelblich angelaufenes Glasungetüm, hoch über demBett an die Wand geschraubt, und da fiel es mir wieder ein. Vor ein paar Tagenhatte ich die Glühbirne ausgewechselt, und dazu hatte ich vier Schrauben daranlösen und wieder festdrehen müssen. Das hatte ich mit dem Taschenmessergemacht, und danach hatte ich es einfach obenauf liegen lassen, anstatt eszurück in die Schublade zu tun.
Ich blickte mich noch einmal um.Genau. Mitten in meiner männlichen Unordnung lag es, neben dem Wecker, den es gleichfallsdavongeschleudert hatte, als der Nachttisch umgefallen war. Rot, klein,unübersehbar. Und ungefähr zwei Fuß von meinen ausgestreckten Fingerspitzenentfernt.
Aber höhere Primaten zeichnen sichdurch die Fähigkeit zur Verwendung von Werkzeug aus; zumindest liest man dasimmer wieder. Ich versuchte es zuerst mit dem Holzprügel, aber der war, wie ichübrigens von Anfang an vermutet hatte, zu kurz. Nicht zu kurz immerhin, um eineJeanshose, die eine glückliche Fügung achtlos auf den Boden gelegt anstattordentlich in den Schrank gehängt hatte, so weit zu mir heranzuziehen, dass ichsie mit der Hand greifen konnte. Ich fuhrwerkte ein wenig herum, bis ich siefest an beiden Hosenbeinen gepackt bekam, dann ging ich daran, sie wie eine ArtAngel auszuwerfen, um das Messer damit einzufangen. Einäugig und einarmig istdas nicht ganz leicht, aber schließlich schaffte ich es. Mit unwilligem Rappelnkamen sowohl Zeitmesser als auch Taschenmesser nahe genug, dass ich Letzteresan mich bringen konnte.
Nächster Schritt. Die Ahle. Mitbloß einer Hand sind diese Taschenmesser verdammt schwer aufzubekommen,besonders, wenn man eines der kleinen, spitzen, wenig benutzten Instrumenteherausklappen will und das Ding nicht mehr ganz neu ist, nicht mehr ganz so gutgeschmiert wie in jungen Jahren, im Gegenteil eher hier und da schon etwasangerostet. Hier, so nahe am Meer, rosten Dinge unglaublich schnell. Aber ich schafftees schließlich, um den Preis, dass meine Hand danach zitterte und bebte vorAnstrengung.
Jegliches Triumphgefühl verflog,als mir gleich darauf wieder einfiel, was ich damit vorhatte. Ach ja, richtig.Ich war anscheinend wirklich ein Weltmeister darin, unangenehme Dinge zuvergessen.
Ich ging noch einmal alles durch,um sicher zu sein, nichts übersehen zu haben. Zeitgewinn. Letzter Aufschub. Undich hatte natürlich nichts übersehen. Ich würde von Glück sagen können, wennmein Vorhaben auch nur irgendeine Veränderung brachte. Wenn nicht, blieb nurnoch, mir die Lunge aus dem Hals zu schreien in der Hoffnung, dass mich jemandhören und mir zu Hilfe eilen würde - eine Alternative von bestürzenderAussichtslosigkeit.
Ich tastete nach dem knotigen Dingunter meiner Bauchdecke. Da regte sich nichts. Kein neuer Funke, der in dieteflonummantelten Kabelsätze meines Systems floss. Keine Rettung vor demSkalpell. Seufzend erfühlte ich eine Stelle, an der ich einen Steckervermutete, setzte die Ahle auf, hielt die Luft an und stach zu.
Es tat verflucht weh. Ich glaube,dass ich geschrien habe; jedenfalls erinnere ich mich an ein gurgelndes Gefühlin der Kehle und daran, danach heiser gewesen zu sein. Ich stach zu, spürte,wie es feucht und heiß aus der Wunde kam, Blut natürlich, und nicht wenig, undstocherte mit dem scharfen Stahl herum auf der Suche nach dem Implantat.Endlich ein Widerstand. Ich starrte an die Decke, wunderte mich über diedunklen Wolken, die plötzlich darüber hinwegzogen, drückte und machte undrührte in meinem Fleisch, ohne dass sich etwas tat, außer dass alles immernasser und klebriger wurde auf meinem Bauch. Plötzlich waren die winzigenFliegen da, die sich für gewöhnlich nie ins Schlafzimmer verirren. Beim Müll inder Küche finden sie es sonst viel interessanter, aber nun schwirrten sie übermir herum und kamen mir vor wie mikroskopische Aasgeier. Und da, endlich,machte es Klick.
Von einem Moment zum anderen wardie Starre verschwunden, gehorchten mir Arme und Beine, sah mein rechtes Augeetwas, kam mein Körper mit einem vielstimmigen, zischenden Geräusch in derMuskulatur in Bewegung. Wie herrlich, den Schmerz abschalten zu können! Wiegut, den Blutstrom drosseln zu können! Ich kam auf die Beine, schweißgebadet,blutüberströmt, und wankte hinüber ins Bad, wo ich, die Hand auf die Wundegepresst, als Erstes meine Blase erleichterte, ein unbeschreiblichesWohlgefühl.
Dann hockte ich auf demBadewannenrand, betrachtete meinen Bauch und die Ahle meines Taschenmessersdarin und überlegte, ob ich es wagen konnte, sie wieder herauszuziehen. Vorsichtshalbersetzte ich mich auf den Boden und in eine stabile Position, ehe ich esprobierte. Und siehe da, die Lähmung kehrte nicht wieder. Auch nicht, als ichtollkühn auf meinem Bauch herummassierte. Ich hatte mich wieder einmalhinbekommen.
Trotzdem konnte das nicht sobleiben, sagte ich mir, während ich der Wunde reichliche Mengen wasserklarenDesinfektionsmittels und eine Mullkompresse angedeihen ließ. Es würde einnächstes Mal geben. Vielleicht in einem Jahr, vielleicht schon morgen früh. Undirgendwann würde ich mich nicht mehr hinbekommen. Nicht einmal, wenn ichkünftig nur noch mit dem Werkzeugkasten im Arm schlief.
Ich konnte das Telefon ans Bettverlegen. Der Tag, an dem ich mich nicht mehr hinbekam, würde dann der Tag derKapitulation werden. Der Tag, an dem sie mich zurückbekommen würden.
Die Vorschriften für einVorkommnis wie dieses waren nämlich eindeutig und unmissverständlich. Hätte ichvorschriftsmäßig handeln wollen, ich hätte mir gerade noch das Blut von denHänden waschen dürfen und dann aber sofort und ohne weitere VerzögerungLieutenant Colonel Reilly anrufen müssen. Der mich umgehend zurGeneralüberholung zurück in die Staaten beordert hätte, höchst luxuriöszweifellos, an Bord einer Maschine der Luftwaffe, die eigens und nur für michfliegen würde. Aber eben nur in eine Richtung. Reilly würde mich unter direkteKontrolle und Aufsicht stellen, und ob ich der jemals wieder entkommen würde,war mehr als fraglich. Deshalb hatte ich nicht vor, vorschriftsmäßig zuhandeln. Reilly zu informieren hätte geheißen, meine wenigen, mühsam errungenenFreiheiten auf einen Schlag einzubüßen, und nichts wollte ich weniger als das.Deshalb wusch ich mir zwar das Blut von den Händen, aber Lieutenant ColonelReilly rief ich nicht an.
Stattdessen klebte ichabschließend ein festes Pflaster auf den Verband, ging in den Flur und holtemein Mobiltelefon aus seinem Versteck. Über meinen normalen Telefonanschlussführe ich nur selten und wenn, dann belanglose Gespräche, weil ich davonausgehen muss, dass man mich immer noch abhört, sicherheitshalberselbstverständlich nur. Mein Mobiltelefon dagegen habe ich mir auf höchstverschlungenen Wegen besorgt; es sollte nach menschlichem Ermessen unmöglichsein, es mir zuzuordnen. Das erlaubt dann schon ganz andere Dinge.
Vierkanthölzer und anonymeTelefone sind nämlich nicht die einzigen Hilfsmittel, die ich mir verschaffthabe. Ich wählte die Nummer von Dr. O Shea. "Duane hier", sagte ich,als er sich meldete. "Ich brauche dringend Ihre Hilfe."
"Verstehe", sagte er. "KönnenSie zu mir in die Praxis kommen?"
"Zum Glück ja."
"Dann kommen Sie um elf."Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
Reilly würde einen ernsthaftenHerzanfall bekommen, wenn er wüsste, dass ich einen hier im Ort ansässigenAllgemeinarzt - einen Zivilisten! - insVertrauen gezogen habe. Und es würde ihn ohne Zweifel auf der Stelledahinraffen zu wissen, dass Dr. O Shea Röntgenaufnahmen meines Körpers gemachthat. Aufnahmen meines Eine-Milliarde-Dollar-Körpers, für die eine Menge Leuteauf diesem Planeten eine Menge Geld zahlen würden. Aber, wie gesagt, Dr. O Sheagenießt mein Vertrauen.
Ich tappte zurück ins Bad, zogmeinen blutigen Schlafanzug aus und warf ihn in die Wanne. Ich machte einenLappen nass und wischte mir das Blut von den Füßen, dann ging ich hinüber insSchlafzimmer, einer Spur dunkler Fußabdrücke und dicker roter Tropfen folgend.Das Bett sah aus, als habe ein wahnsinniger Serienmörder darin gerade seinjüngstes Opfer massakriert. Ich zog alles ab, warf Bettzeug und Laken auch indie Wanne und ließ kaltes Wasser einlaufen. Blut darf man nur mit kaltem Wasserauswaschen, habe ich gelernt.
Es war kurz vor neun, als ich michdaranmachte, die Blutflecken auf dem Boden wegzuwischen.
Unwillig klagst du und willstnicht einsehen, dass bei allem, was du beklagst, nur eines von Übel ist: deinUnwillen und deine Klagen. Nur ein Unglück gibt es für einen Mann, nämlich dasses Dinge in seinem Leben gibt, die er als Unglück ansieht.
Seneca, EPISTOLAE MORALES
2
Ich fühlte mich nicht gut, als ichin einen kühlen, sonnigen Samstagmorgen hinaustrat. Es gab keine Garantiedafür, dass sich das, was in meinen Eingeweiden passiert war, nicht mitten aufder Straße wiederholen würde. Zwar würde man mich in dem Fall finden undwahrscheinlich dorthin bringen, wo ich ohnedies hinwollte, zu Dr. O Sheanämlich, aber ich würde Aufsehen erregen. Und wenn ich das gewollt hätte, hätteich Reilly auch gleich anrufen können. So achtete ich mehr auf das steifeGefühl in meinen Beinen und das verhaltene Pochen der Bauchwunde als auf dasWetter. Ein kräftiger, salzig schmeckender Wind wehte und blähte die weiteJacke und das übergroße Hemd, unter denen ich meine auffallende Statur zuverbergen pflege. Mein künstliches Auge tränte. Das tut es manchmal.
Der Ort, in dem ich seit über zehnJahren lebe, heißt Dingle; ein kleiner Fischereihafen, auf der gleichnamigenHalbinsel im Südwesten Irlands gelegen. Das Städtchen ist gerade groß genug,dass man als Einwohner hingenommen wird, ohne dass jeder wissen muss, wie manheißt und woher man kommt, und andererseits nicht groß genug, als dass es vonalleine irgendjemandes Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Es findet einwenig Tourismus statt, aber die meisten Leute leben tatsächlich noch vomFischfang. Dass sonst nicht viel passiert, mag man daran erkennen, dass das großeEreignis in der jüngeren Geschichte Dingles nach wie vor ist, dass hier derFilm Ryan s Daughter gedrehtwurde, immerhin mit Paul Newman in der Hauptrolle, allerdings vor über dreißigJahren: Ein Film, den ich nie gesehen habe, aber nach meiner zugegebenermaßeneingeschränkten Kenntnis hiesiger Pubs dürfte schätzungsweise in jedem drittendavon das Filmplakat hängen und eine Hand voll Szenenfotos dazu. Und es gibteine Unmenge Pubs in Dingle.
Ich ging langsam und hatte beimGehen immer noch das Gefühl, dass meine Beinmuskulatur gegen einen inneren Widerstandarbeiten musste. Was wahrscheinlich auch der Fall war, wenn ich daran denke,was alles darin eingebaut ist und sich nicht selten so anfühlt, als roste eslängst einfach nur noch vor sich hin. Als ich den Kreisverkehr erreichte, ließmeine Besorgtheit ein wenig nach, vielleicht weil mich auch nach über zehnJahren in diesem Land der Anblick links fahrender Autos mit Lenkrädern auf derfalschen Seite des Wagens immer noch irritiert. Ich überquerte die diversenÜberwege und wählte den Weg die Mall hoch, deren auffallendste Einrichtung eineKreuzigungsszene aus schreiend bunt bemalten, überlebensgroßen Figuren ist; einriesiger Christus quält sich an einem riesigen Kreuz, betrauert von zweiFrauengestalten in Babyhellblau und Zitronengelb, die unter ihm stehen und dieHände ringen.
Die grundsätzliche Bereitschaftder Iren, Dinge knallbunt zu streichen, äußert sich in der Main Street in jenemmalerischen Nebeneinander verschiedenfarbiger Häuserfassaden, das man in irischenSiedlungen häufig findet und das sich auf Abbildungen in Reiseführern und aufPostkarten so gut macht. Ein strohgelber Pub neben einer dunkelgrünenBankfiliale, ein Wohnhaus, schneeweiß mit dunkelblauen Einfassungen und Türen -das sind Motive, bei denen Touristen die Kamera wie von selbst vor das Augespringt. Wenn man jedoch länger in diesem Land lebt, merkt man, dass dieseBuntheit lebensnotwendig ist. Dass man sie braucht, um trübe Wintermonate unddas oft wochenlang anhaltende Nieselwetter ohne seelische Schäden zuüberstehen.
Weil es auf dem Weg lag und weilich noch Zeit hatte und weil ich es mir ohnehin nicht erlauben durfte, dieÖffnungszeiten zu verpassen, war meine erste Station die Post.
"Ah, Mister Fitzgerald",begrüßte mich Billy Trant, ein eifriger, grobknochiger Junge mit buschigen,aschblonden Haaren und den kariösesten Zähnen, die ich je im Leben gesehenhabe. "Ihr Paket ist da." Er fuchtelte atemlos mit den Händen, alshabe er den ganzen Morgen nur auf mich gewartet. "Ihre Lieferung geheimerbiologischer Kampfstoffe."
Das ist nur ein Spiel, das sichzwischen uns entwickelt hat. Einerseits würde Billy für sein Leben gern wissen,was in den Paketen ist, die ich alle vier Tage zugeschickt bekomme, und weilich es ihm nicht verrate, ist er eines Tages darauf verfallen, einfach zuraten, in der Hoffnung, mich auf diese Weise aus der Reserve zu locken.Andererseits weiß er, dass es ihn als Postbediensteten überhaupt nichts angeht,was er befördert, und deswegen rät er nicht ernsthaft, sondern macht sich einenSpaß daraus, mit möglichst irrwitzigen Vermutungen aufzuwarten.
Doch manchmal liegt er verdammtnah an der Wahrheit damit.
"Daneben", sagte ichtrotzdem, wie immer.
Während er nach hinten ging, umdas Paket zu holen, überflog ich die Schlagzeilen der lokalen Tageszeitungen,die neben dem Schalter aushängen. Mehrspaltiger Aufmacher war eine Debatte umwirtschaftspolitische Fragen im Dubliner Parlament, während weltpolitischeBelanglosigkeiten wie Unruhen im Nahen Osten oder ein säbelrasselndeschinesisches Manöver vor der Küste Taiwans in wenigen Sätzen abgehandeltwurden. Das genügt mir, um in groben Zügen informiert zu bleiben, und mehrbrauche ich nicht.
"Ich komm schon noch drauf",meinte Billy, als er mir das Paket herausreichte.
"Na klar", erwiderteich. Es ist ein Ritual, wie gesagt.
Postlagernd, nicht zustellen steht aufdem Etikett unter meinem Namen und der Adresse des Postamts Dingle. LieutenantColonel Reilly widerspricht dem Vorwurf, das sei eine Schikane. Abgesehen vondiversen praktischen Erwägungen mache er das, um mich am Leben und wohlauf zuwissen: Sollte ein Paket nach Ablauf der Aufbewahrungsfrist zurückgeschicktwerden, käme er sofort angereist, um nach mir zu sehen. Wobei sofort in diesemFall fast wörtlich zu verstehen ist: Reilly hat die Befugnis, sich von der US Air Forcezu jedem beliebigen Zeitpunkt an jeden beliebigen Ort der Erde bringen zulassen, wenn er es für nötig hält.
Mit anderen Worten, wenn das mitdem Taschenmesser schief gegangen wäre, hätte er morgen vor meiner Türgestanden und hätte mich schreien gehört. Na also. Was hatte ich mir dennSorgen gemacht?
Ich stopfte das Paket in dieUmhängetasche und fühlte mich schon beinahe wieder wie immer, als ich die Postverließ.
Meine Pakete enthalten keinebiologischen Kampfstoffe, aber etwas, das nicht weit weg davon ist. Da man mir,um Platz zu schaffen für zahlreiche angeblich hochwichtige Implantate, dengrößten Teil meines Darms entfernt hat, ist die Darmpassage heute zu kurz, umnormalen Nahrungsmitteln die lebensnotwendigen Nährstoffe zu entziehen. Wasbedeutet, dass ich mich nicht mehr auf die übliche Weise ernähren kann. Stattkessenerhalte ich ein biologisch hochaktives Nahrungskonzentrat, eine Art lebendeZellkultur, die derart angereichert ist, dass die Dosen, in denen man es mirschickt, nicht nur ein Verfallsdatum, sondern sogar eine Verfallsuhrzeitaufgedruckt haben, die ich peinlich genau einhalten muss, weil mich das Zeugsonst vergiften kann. Wenn ich eine Dose öffne, muss ich sie innerhalb vonsechs Stunden leer essen und eventuelle Reste mit einer speziellen Dünnsäureauflösen, damit die Kanalisation nicht zuwuchert oder schäferhundgroßeMonsterratten heranwachsen oder was weiß ich, was sonst passieren kann.Zusammensetzung und Herstellungsweise des Konzentrats sind streng geheim. Allevier Tage erhalte ich einen Vorrat von acht Dosen, genau die richtige Menge biszum nächsten Paket, und das funktioniert tatsächlich seit über einem Jahrzehntreibungslos. Aber natürlich haben sie mich dadurch an der kurzen Leine, und ichkann nicht das Geringste dagegen machen.
Draußen kreuzte Mrs Branniganmeinen Weg, voll bepackt mit Einkäufen und fürchterlich in Eile, was an ihr,mit ihrem vollen weißen, wehenden Haar und ihrer walkürenhaften Statur,besonders beeindruckend aussah. Sie leitet die Ortsbücherei, was sie zu meinerwichtigsten Bezugsperson macht, und besagte Bücherei war, wie mir ein rascherCheck der Uhrzeit verriet, seit zwanzig Minuten geöffnet und somit in denalleinigen Händen von Riona, der ebenso jungen wie unerfahrenen Praktikantin,was die Hast erklärte, die Mrs Brannigan an den Tag legte.
"Mister Fitzgerald!",keuchte sie. "Gott sei gelobt, dass ich Sie treffe. Sie müssen mir helfen."
Ein deutlich vernehmbares Pochenin meinem Oberbauch mahnte, dass ich zunächst einmal selber Hilfe brauchte,aber da sie ihre Körbe und Taschen umständlich abstellte, blieb ich eben stehenund fragte höflich, wie das zu verstehen sei.
"Ach, es ist wieder wegenRiona. Diese jungen Leute denken immer, sie können quasi dank ihresGeburtsjahrgangs mit Computern umgehen. Aber was macht dieses Mädchen gestern?Gibt einen Druckbefehl ein, der anfängt, den gesamten Katalog auszudrucken. Dengesamten Katalog, stellen Sie sich das einmal vor! Das wären ja Tausende vonSeiten. Gott sei Dank waren nur dreißig Blatt im Drucker."
"So einen Druckbefehl dürfteman aber nicht aus Versehen geben können", sagte ich. Ich habe ihr kurznach meiner Ankunft in Dingle einmal geholfen, ein Modem anzuschließen, undseither sieht sie in mir so etwas wie einen Computerexperten. Dabei besitze ichnicht mal einen.
Zumindest würde ein ahnungsloserBesucher, der sich bei mir im Haus umsieht, keinen entdecken.
"Ja, sicher, es ist keinbesonders gutes Programm, aber wir müssen in Gottes Namen damit zurechtkommen",nickte sie. "Und ich weiß wirklich nicht mehr, was ich machen soll. Ichhabe natürlich den Rechner runtergefahren, mehrmals sogar, aber immer wenn ichPapier nachlege und den Drucker einschalte, druckt der einfach weiter."
"Dann steht der Druckauftragnoch in der Warteschlange. Dort müssen Sie ihn rauslöschen." Damit warenmeine Kenntnisse über handelsübliche Computer auch schon so gut wie ausgereizt."Im Handbuch müsste stehen, wie man das macht."
"Im Handbuch Können Sie esnicht für mich machen, Mister Fitzgerald?"
Ich schüttelte den Kopf. "Nichtheute, beim besten Willen. Ich habe in fünf Minuten einen Termin beim Arzt."
"Verstehe." Ein Schattenhuschte über ihr Gesicht, der nichts mit meiner Ablehnung zu tun hatte und auchnichts mit dem Zug der Wolken. Mrs Brannigan hat einen schwer kranken, pflegebedürftigenEhemann, der Tag und Nacht an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist. DieBrannigans wohnen in meiner Straße, im ersten Haus vorn beim Ring, einem alten,grauen Bau mit einem riesigen Schuppen dahinter und einer Sitzbank davor, aufder ich sie an warmen Sommertagen bisweilen sitzen gesehen habe. Am Giebel desHauses prangt ein verwittertes gelbes Schild, das Bed and Breakfast anbietet, aber ich nehmean, das ist ein trauriges Überbleibsel besserer Zeiten.
"Es sollte sich doch einjunger Computerfreak auftreiben lassen, der das hinkriegt", sagte ichmatt.
"Wie wäre es, wenn Sienächsten Dienstag danach schauen würden?", schlug sie mit wohlwollenderStrenge vor. "Das würde reichen. Da sind sowieso Ihre Bücher fällig."Sie scheint ihren Computer nicht wirklich zu brauchen, sie hat alles im Kopf.
"Gut, dass Sie mich erinnern",sagte ich. Es waren drei Romane, von denen ich zwei nur zwanzig Seiten weitgelesen hatte.
"Dann sehe ich Sie alsoDienstag", lächelte sie und nahm ihre Einkäufe wieder auf. "Schön.Aber jetzt muss ich weiter, ehe dieses Mädchen noch mehr Unsinn anstellt."
Damit rauschte sie davon, und ichsetzte meinen Aufstieg die Main Street hoch fort. Wo mir etwas begegnete, dasunter anderen Umständen der Lichtblick des Tages gewesen wäre, die Rettung desWochenendes, die Labsal, die alle Leiden vergessen ließ. Okay, es ist einepubertäre Schwärmerei, die ich für die Managerin von Brennan s Hotel pflege,aber ich genieße es, sie ahnt nichts davon, warum also nicht?
Brennan s Hotel ist ein großer,altehrwürdiger Bau, älter als die amerikanische Unabhängigkeitserklärung unddennoch so gut erhalten, dass es unbestritten als das beste Hotel im Ort gilt.Weswegen übrigens Reilly bei seinen Inspektionsbesuchen hier zu nächtigenpflegt. Die guten Zimmer liegen auf der der Straße abgewandten Seite, wasbedeutet, dass sie Meerblick haben und ruhig sind, das Restaurant des Hotelsist weithin berühmt, und die Seele des Ganzen, die treibende Kraft, dasTüpfelchen auf dem i, der Glanz über allem ist seit einigen Jahren eine jungeFrau namens Bridget. Bridget Keane, schlank wie eine Gerte und diepersonifizierte Lebenslust, mit wilden, fast nicht zu bändigenden kupferrotenHaaren und milchweißer, mit goldenen Sommersprossen übersäter Haut ist, möchteich mal behaupten, nicht nur in meinen Augen eine außergewöhnliche Erscheinung.Wenn man eine schöne Irin für einen Werbeprospekt bräuchte, wäre sie zweifelloserste Wahl. Ohne weitergehende Absichten zu verfolgen freue ich mich, wannimmer ich sie zu Gesicht bekomme, genieße es, ihr nachzusehen, wenn sie wie einWirbelwind irgendwo entlangfegt, und mein Herz lacht, wenn mich ein Blick ausihren smaragdgrünen Augen streift, selbst wenn er danach sofort weiterwandert,weil ich nicht gemeint bin. Wann immer ich in der Stadt unterwegs bin, richte iches nach Möglichkeit so ein, dass ich an Brennan s Hotel vorbeikomme; meistensvergebens, aber dann und wann kommt sie doch gerade im richtigen Moment heraus,etwa um die Blumen vor den blau eingefassten Butzenscheiben des Restaurants zugießen, Hotelgästen den Weg zu einer der Sehenswürdigweiten Dingles zu erklärenoder energisch mit einem der Lieferanten zu reden, die die diversen Dingeabladen, die ein Hotel so braucht.
Zufällig - ich schwöre, dass ichihr nicht nachspioniere - habe ich mitbekommen, dass sie ein kleines Häuschenbewohnt, das sich etwas oberhalb von Dr. O Sheas Praxis in der Chapel Streethinter zwei größere Wohnhäuser zu ducken scheint. Und wie es aussieht, lebt siedort allein, warum auch immer. Sie ist nicht nur schön, sie ist auchgeheimnisvoll.
Heute stand ein alter Kleinbusdirekt vor dem Hotel, über und über mit vierblättrigen Kleeblättern, Harfen undanderen irischen Symbolen bemalt, und ein verblassender Schriftzug verkündetean der Seite: Finnan sFolk. Das Gefährt einer der zahllosen Bands, die durch die Landeziehen und in Pubs traditionelle irische Musik aufführen. Der Fahrer desBusses, ein großer, hagerer Mann mit langen dunkelbraunen und ähnlich mühsamzusammengebundenen Haaren wie die Bridgets stand zusammen mit ihr vor deroffenen Hoteltür und verhandelte, ein großes aufgerolltes Papier in der Hand,das nur ein Konzertplakat sein konnte. Vermutlich ging es darum, ob er das Plakatam Hotel anschlagen durfte. Genau bekam ich es nicht mit; ich passierte diebeiden lediglich in einiger Entfernung, genoss Bridgets Ausstrahlung vonEnergie und Lebendigkeit und hörte, dass sie Gälisch miteinander sprachen, jenemir absolut unzugänglich scheinende irische Ursprache, die hier in der Gegendimmer noch in Gebrauch ist, freilich mit vielfach beklagter rückläufigerTendenz. Dingle liegt im AnGaeltacht, im gälischen Sprachgebiet. Am Ortseingang steht ein Schildmit dem eigentlichen Namen der Stadt, Daingean Uí Chúis, und es kann nichtschaden, diese Bezeichnung zumindest wiederzuerkennen, denn hier in der Gegendsind auf Wegweisern vor allem die gälischen Ortsbezeichnungen aufgeführt unddann erst, und nur, wenn man Glück hat, die englischen.
Als ich bei Dr. O Shea ankam, wares fast elf Uhr, und ich fühlte mich auch schon fast wieder gesund. Trotzdemklopfte ich an die weiße Eingangstür mit der Mattglasscheibe, wartete, bis eineverschwommene Gestalt in weißem Kittel dahinter auftauchte und aufschloss,schüttelte dann Dr. O Sheas Hand und ging, seiner einladenden Geste folgend, anihm vorbei ins Behandlungszimmer.
Es ist ein kleines Haus, zugleichWohnung und Praxis. Das Erdgeschoss ist durchgehend weiß tapeziert undgestrichen, eine schmale Treppe führt hinauf zu einer Tür mit der Aufschrift Privat. Der Flurund die Behandlungsräume sind hell, sauber und fürchterlich eng. Es riecht nachDesinfektionsmitteln, an den Wänden hängen Kalender mit Südseemotiven undPlakate mit medizinischen Hinweisen. Während der Sprechzeiten stehen in demohnehin engen Flur zusätzliche Stühle für Wartende, die um diese Zeit schonweggeräumt waren.
Dr. O Shea ist Anfang vierzig undungebunden. Man sagt ihm, sicher nicht zu Unrecht, zahlreiche Affären nach,bisweilen mit Frauen, die nicht ganz so unverheiratet sind, wie es für irischeMoralbegriffe wünschenswert wäre. Es ist also kein Wunder, dass er mitGeheimhaltung so gut umgehen kann, als hätte er einen Intensivkurs bei der CIA absolviert.Seine Sprechstundenhilfen haben mich noch nie zu Gesicht bekommen. Nirgendwoist mein Name oder meine Adresse notiert. Meine medizinischen Unterlagen lautenauf den Namen JohnSteel, und Dr. O Shea verwahrt sie in einem Geheimfach seinesSchreibtisches. Er hat mir die Nummer seines Privatanschlusses verraten, mitder er äußerst wählerisch umgeht, und ich hatte keine Bedenken, ihm alseinzigem Menschen auf der Welt die meines Mobiltelefons anzuvertrauen.
"Sie sehen besser aus, alsich Ihrem Anruf nach erwartet hätte", sagte er, nachdem er die Tür desBehandlungszimmers hinter sich geschlossen hatte. "Wobei das bei Ihnen jameistens täuscht."
Ich erklärte ihm, was vorgefallenwar. Während ich erzählte, wechselte der Ausdruck in seinem Gesicht mehrmalszwischen Staunen, Faszination und Besorgnis. "Lassen Sie sehen",sagte er, als ich fertig war, und wies auf die Behandlungsliege.
Ich zog mein Hemd aus und legtemich behutsam auf den Rücken. Eine steile, nachdenkliche Falte bildete sich aufseiner Stirn, während er die Wunde auf meinem Bauch betrachtete. "Tut dasweh?"
"Nicht mehr besonders",sagte ich.
Er betastete die Umgebung desverkrusteten Schnittes. "Und so?"
"Ein dumpfer Druck, weiternichts", meinte ich.
"Kann es sein", fragteer, "dass Sie Ihre Sedierung noch eingeschaltet haben?"
Peinlich. Er hatte Recht. Ichvergesse das zu gern, schon immer. Erstaunlich, dass die Vorratstanks nichtlängst leer sind; sie sind seit 1989 nichtmehr nachgefüllt worden.
Kaum hatte ich die Sedierungabgeschaltet, kehrten die Schmerzen zurück - ein heftiges Pochen im Bauch undein scharfes, jähes Stechen bei jeder unbedachten Bewegung, als wolle es michdemnächst zerreißen.
Der Arzt nickte zufrieden. "Schonbesser." Er befühlte die Bauchdecke erneut und registrierte meinZusammenzucken. "Schmerz ist ein lebenswichtiges Signal. Ich werde dieWunde säubern und nähen, und zwar unter lokaler Anästhesie, verstanden? Siehalten sich da raus." Als ich mühsam nickte, setzte er hinzu: "DenBlutfluss drosseln dürfen Sie natürlich."
"Es geht aber nicht nur umdie Wunde, Doc", erinnerte ich.
Er wiegte das Haupt. Er hatmittelblondes, leicht welliges Haar und muss, soweit ich das beurteilen kann,in den Augen einer heiratswilligen Frau geradezu unwiderstehlich aussehen. "Richtig,der Energieausfall. Das ist natürlich eine beunruhigende Sache. Ich denke, dasollten wir uns zuerst einmal die Röntgenbilder ansehen."
Während er meine Akte zu Tageförderte, die Bilder durchsah und zwei davon an das Leuchtgerät klippste, krochich mühsam von der Liege und schleppte mich neben ihn. Ich fand eineStuhllehne, an der ich mich festhalten konnte.
Das linke Bild war eineGesamtaufnahme meines Bauches zwischen unteren Rippenbögen und Hüfte. In denwolkigen Konturen der Organe leuchteten zahllose grellweiße, scharf konturierteFlecken: Das Sammelsurium meiner Implantate; die reinste Gerümpelkammer.Computer. Navigationsgeräte. Speichereinheiten. Vorratstanks. TollkühneEinrichtungen wie ein mechanisches Nebenherz mit Sauerstoffanreicherung undTurbofunktion, das sich über eine Parallelleitung in meine Bauchschlagadereinklinken und mir kurzfristige Höchstleistungen erlauben sollte wie etwa die,tausend Meter in anderthalb Minuten zurückzulegen. Bloß hat es noch nie längerals eine Minute funktioniert, sodass es im Grunde nur ein nutzloser, an einemmeiner Lendenwirbel festgeschraubter Klumpen Hightech ist.
Der flächenmäßig größte Fleck istdie Nuklearbatterie, die das gesamte System mit Strom versorgt. Sie schmiegtsich wie eine knotige Wurst in meinen Beckenboden, und sie ist das einzigeImplantat, das ich deutlich spüren kann, weil sie so schwer ist. Auf demrechten Röntgenbild war sie nur noch ausschnittweise zu sehen. Ein dünnes,anscheinend ummanteltes Kabel führte zu einem kleinen Gebilde, das aussah wieein rund gelutschtes Bonbon, und von dort aus weiter nach oben.
"Das muss es sein",meinte Dr. O Shea und tippte mit dem hinteren Ende seines Kugelschreibersdarauf. "Ein Implantat, ungefähr so groß wie ein Pflaumenkern. Es sitzt imPeritoneum. Im Bauchfell", fügte er hinzu.
Ein Implantat. Er hatte Recht. Eswar zu groß für eine Steckverbindung.
"Es ist gewandert, oder?"
"Sicher. Vermutlich ist esins Bauchfell eingepflanzt, und das bewegt sich mit jedem Atemzug und jedemSchritt, den Sie tun."
Ich betrachtete den deutlichabgegrenzten weißen Fleck. "An der Stelle dürfte eigentlich nichts seinaußer einer simplen Stromleitung." Man kennt schließlich seinen Bauplan. "ImGrunde nicht mal eine Steckverbindung. Wobei die dadurch zu erklären gewesenwäre, dass bei einer der Nachoperationen aus Versehen das Kabel durchtrenntwurde und es geflickt werden musste. Aber das da " Ich besah mir denStörenfried aus nächster Nähe und schüttelte schließlich den Kopf. "KeineAhnung, was das sein soll."
"Als technischer Laie würdeich sagen, es sieht aus wie eine Art Verteiler."
"Bloß verteilt es nichts. EinKabel geht hinein, ein anderes hinaus."
Dr. O Shea nahm eine Lupe zur Handund studierte das Foto aus der Nähe. "Ja, stimmt. Und wie es aussieht,endet das untere in einem Stecker und das obere in einer Buchse. Womöglich könnteman sie direkt zusammenstecken und das Implantat herausnehmen." Er sahmich an. "Könnte es eine Art Transformator sein?"
Die Vorstellung, zumindest einesder Implantate loszuwerden, hatte etwas berauschend Verführerisches. "Undwenn wir es einfach probieren?", schlug ich vor. "Sie öffnen dieWunde so weit, dass Sie an die Kabelenden herankommen, und stecken Sieprobehalber zusammen. Dann sehen wir ja, was passiert."
"Und wenn in den Kabeln unterschiedlicheSpannungen herrschen? Dann brennen womöglich Ihre ganzen anderen Aggregatedurch."
Ich schüttelte den Kopf. Ich willnicht behaupten, dass ich die technischen Spezifikationen bis in ihre letztenFeinheiten verstanden habe, aber in einigen Dingen sind sie zum Glück vonberuhigender Eindeutigkeit. Das hier war eines davon. "Das ganze Systemarbeitet mit einheitlicher Spannung, genau 6,2 Volt. Was immer das ist, ein Transformator ist es nicht. Esgibt keine Notwendigkeit für einen Transformator." Selbst wenn, hätte eskeinen Sinn gemacht, ihn an dieser Stelle anzuordnen. Und was hätte an einemTransformator kaputtgehen sollen, das sich mit einer durch die Bauchdeckegestoßenen Ahle reparieren ließ? "Lassen Sie es uns probieren."
"Das ist riskant",meinte Dr. O Shea.
"Was ist daran riskant?"Ich humpelte zurück zur Liege und ließ mich rücklings darauf sinken. "Sieziehen die Kabelenden ab. Natürlich wird mich das lähmen, aber wenn Sie siezusammenstecken und ich trotzdem nicht in Gang kommen sollte, stellen Sieeinfach die ursprüngliche Situation wieder her."
"Es gibt keine Garantiedafür, dass das Implantat dann wieder funktioniert." Er sah auf michherab, das Gesicht sorgenvoll, aber in den Augen ein begehrliches Funkeln. "Dasist eine Nummer größer als alles, was ich bis jetzt an Ihnen gemacht habe."
O Shea hat schon mehrmals lockergewordene Steckverbindungen miteinander vernäht, das erste Mal vor etwa fünfJahren, als sich die ersten beiden Glieder meines rechten Ringfingers plötzlichnicht mehr bewegen ließen. Ihn dazu zu bringen, meinen Arm zu röntgen, warnicht weiter schwer gewesen, aber es hatte den gesamten restlichen Abend bis indie frühen Morgenstunden gedauert, bis er aufhören konnte, sich zu wundern überdas, was die Bilder zeigten und was ich ihm dazu erklärte. Wir brauchten dannnoch einmal einen Abend, bis wir den genauen Verlauf der Stromversorgung inHand und Unterarm verstanden und den Wackelkontakt ausfindig gemacht hatten:ein Steckerpaar nahe des Ellbogens. Dann waren es nur noch ein Schnitt und einpaar Nähte gewesen, eine Sache von zehn Minuten, und der Ringfinger tat swieder.
"Gibt es überhaupt Garantien?"Ich rutschte auf der Liege umher, auf der Suche nach einer bequemen Position.Ich hatte nicht vor, ohne Operation wieder aufzustehen. "Ich habe keineGarantie, dass der Strom nicht mitten auf der Straße wegbleibt. Ich habe keineGarantie, dass nicht irgendein anderes Teil ausfällt oder verrückt spielt undmir den Rest gibt. Wenn jemand nicht glauben sollte, ewig zu leben, dann binich das." In dem Moment, in dem ich das sagte, fiel es mir ein: Das warSeneca. Er meint - zumindest habe ich ihn so verstanden -, dass wir, wenn wiruns unserer Hinfälligkeit nicht bewusst bleiben, dazu neigen, unsere Tage zuverschwenden. Und damit letztlich unser Leben. "Wenn Sie wollen,unterschreibe ich Ihnen irgendwas, dass Sie an nichts schuld sind."
Dr. O Shea seufzte. "Also,wenn ich es recht bedenke, kann ich mir nicht vorstellen, dass einmilitärisches System übermäßig anfällig konstruiert sein wird. Von mir aus."Er holte sterile Tücher, eine Spritze und eine Ampulle, deren Inhalt er sorgsamaufzog und mir rund um die Wunde injizierte. Während das Lokalanästhetikum zuwirken begann, desinfizierte er den Bauch mit einem stinkenden roten Zeug undging dann, während es trocknete, das Operationsbesteck zusammensuchen.
Ich starrte derweil an die Deckeund versuchte, nicht an früher zu denken. Vergebens natürlich. Und dann tauchteO Shea auch noch in meinem Gesichtsfeld auf und fragte, während er sich dieHandschuhe überstreifte: "Habe ich Sie schon mal gefragt, wie vieleOperationen Sie eigentlich gehabt haben?"
"Bei fünfzig habe ichaufgehört zu zählen", erwiderte ich, vermutlich mit etwas gepressterStimme. Bilder huschten durch meinen Geist, himmelhohe grün gekachelte Wände,das Klirren von Metall wie das Klirren von Schwertern einer archaischenSchlacht, grelle kalte Lampen, Männer und Frauen mit Mundschutz, summende,piepsende und sirrende Maschinen, das tierhafte Keuchen der Beatmungsgeräte. "Undda ging es erst richtig los."
"Unglaublich", meinteer. "Dass Sie so wenig sichtbare Narben haben, meine ich."
Ich sagte nichts. Man hat damalsalle bekannten Verfahren der kosmetischen Chirurgie an uns ausprobiert und auchein paar nicht so bekannte, neu erfundene, viel versprechende. Jede MengeVersprechungen hat man uns gemacht, und verglichen damit war das Ergebnisarmselig. Es war müßig, das jetzt zu diskutieren. Jetzt wollte ich mich lieberauf das kalte Gefühl in meinem Bauch konzentrieren.
"Spüren Sie das?", hörteich Dr. O Shea fragen.
"Was?", erwiderte ich.
"Schon gut. Ich fange jetztan. Ein winziger Schnitt wird genügen."
"Sagen Sie Bescheid, ehe Sie " Was hatte ich sagen wollen? Es waren nicht Schmerzen. Schmerzen spürteich keine. Es war die Situation. Dass wieder jemand mit einem Messer auf meinenKörper losging, den viel geplagten.
Die Stimme das Arztes klang sonor,beruhigend, Vertrauen einflößend. "Keine Sorge. Ich halte Sie auf demLaufenden." Auch die Stimmen der Ärzte damals hatten sonor, beruhigend,Vertrauen einflößend geklungen. "Und denken Sie daran, die Blutzufuhr zudrosseln."
"Alles klar."
Wie so oft suchte ich meineZuflucht bei Seneca. Nurein Unglück gibt es für einen Menschen, nämlich dass es Dinge in seinem Lebengibt, die er als Unglück ansieht. Wie lange hallt dieser Satz schonin meinem Geist wider? Ich werde nie vergessen, wie ich einmal, trübsinnig undmit meinem Schicksal hadernd, durch die Straßen von Dingle geschlichen bin undunversehens, in einer Wühlkiste vor einer eigentlich auf gälische Literaturspezialisierten Buchhandlung in der Dyke Gate Lane, auf ein kleines,zerschlissenes Buch mit Texten des altrömischen Philosophen gestoßen bin.Seneca. Ich schlug es auf, und dieser Satz war das Erste, was ich las. Alsspräche er zu mir.
Natürlich habe ich das Buchgekauft. Ein halbes irisches Pfund hat es damals gekostet, doch ich lese es,als wäre es die kostbarste Anschaffung meines Lebens.
"Ich habe das Implantatfreigelegt", sagte Dr. O Shea. "Die Kabelenden sehen gut aus. Ichziehe zuerst den Stecker. Drei, zwei, eins - jetzt."
Ich spürte meinen Körpererstarren, mit Ausnahme des linken Arms. Auch das rechte Auge wurde dunkel, daslinke, echte dagegen blieb diesmal unbeeindruckt.
"Ich ziehe die Buchse -jetzt. Auf den ersten Blick scheinen beide Enden tatsächlich zusammenzupassen;ich muss nur noch ein wenig säubern So. Ich verbinde Stecker und Buchse."
Es gab ein schnappendes Geräusch,oder zumindest glaubte ich eines zu hören, und übergangslos war ich wieder lebendig,als wäre nichts gewesen. "Es funktioniert", brachte ich mühsamhervor.
"Gott sei gelobt." Erklang etwas gestresst, und ich spürte ihn hektisch an meinem Bauchherumfuhrwerken. "Ähm, könnten Sie die Blutzufuhr wieder stoppen? Ichspreche im Interesse Ihrer Hose."
Natürlich, durch den Stromausfallwar die Drossel wieder aufgegangen. Ich habe überall im Körper solche Drosseln,kleine schlingennetzartige Gebilde, die sich um bestimmte Arterien herumzusammenziehen und die Blutzufuhr in bestimmte Körperregionen einschränkenkönnen. Es ist eine endlose Tortur gewesen, diese Apparate beherrschen zulernen, aber wundersamerweise ist es heute das, was ich am besten kann. Ichstoppte die Blutung der Wunde; das war so einfach wie Luftanhalten.
"Danke." O Sheas Gesichttauchte über mir auf. "Ich entferne jetzt das Implantat; ist das in IhremSinne?"
"Absolut", erwiderteich.
"Und ich vernähe dieKabelverbindung mit unlöslichem Katgut, ehe ich die Wunde schließe. Die Endenscheinen zwar eingerastet zu sein, aber sicher ist sicher."
"Genau."
Endlich konnte ich entspannen. Ichstarrte die Decke an, während O Shea nähte und verschloss, wovon ich nicht mehrmitbekam als ein unklares Druckgefühl. Schließlich machte er mir einenprachtvollen Verband über den halben Bauch und bat mich, zu versuchen, michaufzusetzen. Wenn man das Gefühl hat, ein Mann ohne Unterleib zu sein, ist dasnicht so einfach, aber ich schaffte es schließlich. "Ich kann Sie nachHause fahren, wenn Sie wollen", sagte er.
"Kommt nicht infrage",erwiderte ich. Jeder im Ort kennt den roten Sportwagen des Doktors. Der brauchtbloß in eine Straße einzubiegen, damit sich alle Anwohner ihre Gedanken machen.Nicht immer die richtigen, allerdings, denn wenn es auf Vertraulichkeitankommt, geht Dr. O Shea selbstverständlich zu Fuß.
"Sie haben gerade eineOperation gehabt. Zumindest sollten Sie sich noch etwas ausruhen."
"Ich werde", sagte ich, "meinHemd und meine Jacke anziehen, meine Umhängetasche nehmen, Ihnen dankbar dieHand schütteln und nach Hause gehen, als sei nichts gewesen."
Er verzog das Gesicht zu einemhalb bewundernden, halb sorgenvollen Grinsen. "Ach, richtig. Sie sind ja Superman."
"Genau. Ich werde sogar nochein paar Wochenendeinkäufe machen."
"Nichts anderes habe icherwartet."
Das Implantat war kleiner, als iches mir vorgestellt hatte, und von einer brüchigen weißen, plastikartigenSchicht umhüllt. Dr. O Shea spülte es kurz ab und ließ es dann in ein kleinesSchraubglas fallen, das er mir reichte. "Bitteschön. Es ist ja bestimmteine Million Dollar wert."
"Mindestens", grinsteich.
"Und außerdem Eigentum derRegierung der Vereinigten Staaten von Amerika."
"Wie mein halber Körper."Das meiste von diesem Eigentum der Regierung der Vereinigten Staaten vonAmerika würde ich nie wieder loswerden, das war klar. Trotzdem erfüllte michder Anblick des kleinen, seltsam sinnlos scheinenden Geräts mit einer langenicht mehr gefühlten Art von Befriedigung. Zumindest ein Schritt in dierichtige Richtung war geglückt. Ich steckte das Glas in die Hosentasche und zogmein Hemd von der Stuhllehne. Der Verband ziepte ein wenig, als ich mich verrenkenmusste, um den Arm durch den ersten Ärmel zu stecken.
"Übrigens hat gestern jemandnach Ihnen gefragt", erzählte Dr. O Shea beiläufig, während er sich dieHände wusch.
Ich hielt in der Bewegung inne. Esdurchrieselte mich kalt. "Nach mir gefragt?"
Dr. O Shea griff nach demHandtuch. "Ein Asiate. Sprach Englisch, allerdings mit einem merkwürdigenAkzent. Ein merkwürdiger Mensch auch. Aufdringlich. Unsympathisch. Er hatte einFoto von ihnen dabei und wollte wissen, ob ich Sie kenne."
"Und?"
"Natürlich habe ich gesagt,dass ich Sie noch nie im Leben gesehen habe." Er hängte das Handtuchsorgfältig zurück. "Es war übrigens ein ziemlich altes Bild, auf dem manSie nur mit viel Fantasie erkennt."
Alles andere wäre auch mehr alsalarmierend gewesen, denn das letzte Foto für nichtmedizinische Zwecke ist 1985 von mir gemacht worden, für den Ausweis, der mir Zugang zumallergeheimsten Bereich des ohnehin geheimen Stützpunkts gewähren sollte. "Hater gesagt, wer er ist? Und warum er ausgerechnet zu Ihnen kommt?"
"Oh, ich hatte den Eindruck,er klappert die ganze Stadt ab, Haus für Haus."
"Um mich zu finden?"Meine Finger hatten es plötzlich eilig, das Hemd zuzuknöpfen. "Das gefälltmir nicht."
"Ich würde mir an IhrerStelle keine Sorgen machen. So wie er sich benimmt, kann ich mir nichtvorstellen, dass ihm irgendjemand irgendetwas sagen wird."
Auch wenn Dr. O'Shea mitGeheimhaltung gut umgehen konnte - die ärztliche Schweigepflicht, fällt mirein, ist ja auch etwas in dieser Richtung -, begriff er trotzdem ganz sichernicht in vollem Umfang, wozu sie in meinem Fall notwendig war. Es war keineSituation vorstellbar, in der das Auftauchen eines Unbekannten, der nach mirsuchte, eine gute Nachricht gewesen wäre, oder auch nur eine harmlose.
© für die deutschsprachige Ausgabe 2005 by Verlagsgruppe Lübbe GmbH &Co. KG, Bergisch Gladbach - All rights reserved.
Interview mit Andreas Eschbach
"Der Letzteseiner Art",Duane Fitzgerald, ist ein von der US Army zur Kampfmaschine hochgerüsteterElitesoldat im Ruhestand. Wie sind Sie auf diesen tragischen Helden gekommen?
Es ist eine merkwürdige, höchstgeheimnisvolle Sache mit diesen Figuren in Geschichten. Erst umschwirren sieeinen - manchmal jahrelang - als vage Ahnungen, ohne dass man sie zu fassenbekäme, und dann, aus irgendeinem Anlass, stehen sie einem plötzlich absolutklar vor dem inneren Auge. Meistens hat es etwas damit zu tun, dass man einenNamen für sie findet. In diesem Fall passierte es, als ich während einesIrlandurlaubs in der Stadtbücherei von Dingle stöberte und dort in Büchern fürAhnenforscher auf den Namen stieß: Von einem Moment zum anderen nahm DuaneFitzgerald Gestalt an. Ganz klar, dass diese Bibliothek dann auch in meinemRoman eine wichtige Rolle spielen würde!
Beim "Cyborg" Fitzgerald wie auch beim "Jesus Video"erzählen Sie eine unglaubliche, aber dennoch denkbare Geschichte. Sind unheimlicheParallelwelten der Gegenwart so etwas wie Ihre "Spezialität"?
Wenn Sie meine Verleger fragen,dann werden die den Kopf schütteln und kummervoll sagen, "nein, seineSpezialität ist, dass er mit jedem Buch etwas total anderes macht!" -kummervoll deshalb, weil die Marketingabteilung, der Vertrieb, dieBuchgestalter usw. mit jedem meiner Romane gewissermaßen von vorn anfangenmüssen. Es wäre viel einfacher, ich würde immer dieselbe Art von Buchschreiben. Aber irgendwie gelingt mir das nicht... :-)
Sie haben insofern recht, dassviele Romane in einer Parallelwelt spielen, und oft ist sie unheimlich. Abernicht alle diese Parallelwelten sind erfunden. Es ist eine Illusion zu glauben,wir lebten alle in derselben Welt. Stellen Sie sich einen Vorstandschef, einenislamistischen Selbstmordattentäter, eine berühmte Fernsehmoderatorin und einealleinerziehende Mutter in den Slums von Mexico City vor: dann haben Sie vierMenschen, die in vier grundverschiedenen Welten leben, die ganz, ganz wenigBerührungspunkte miteinander haben.
Sie schreiben auch Jugendbücher. Mit dem "Marsprojekt"entsteht gerade eine neue SF-Serie. Worin liegen für Sie die Unterschiedezwischen dem Schreiben von Jugendbüchern und dem von ("Erwachsenen"-)Romanen?
Ich sehe keine großen Unterschiede.Was ein Jugendbuch von einem Roman für Erwachsene unterscheidet, ist lediglich,dass die Helden erst fünfzehn Jahre alt sind, und es weniger Gewalt und Sexgibt - abgesehen davon schreibe ich einen solchen Roman ganz genau so, wie ichalle meine Romane schreibe. Und es ist ja kein Geheimnis, dass meineJugendromane auch von Erwachsenen gern gelesen werden. Da hat man ja heutzutagezum Glück keine Berührungsängste mehr.
Bevor Sie Romanautor wurden, haben Sie Luft- undRaumfahrttechnik studiert und als Programmierer gearbeitet. Was bedeutet Ihnendas Schreiben, was die anderen Berufe Ihnen nicht bedeuteten?
Ich habe das Schreiben undGeschichtenerfinden als meine Berufung empfunden, seit ich denken kann. Bloßist es bekanntlich schwer, mit dieser Tätigkeit seinen Lebensunterhalt zuverdienen. Deshalb habe ich erst nach einem akzeptablen Brotberuf gesucht, ummir im Schreiben meine Freiheit zu bewahren und nicht zu irgendetwas gezwungenzu sein, nur um die Miete bezahlen zu können. Ich habe diese Tätigkeiten auchnicht ungern ausgeübt; gerade das Programmieren hat mir immer Spaß gemacht, undich war auch nicht schlecht, glaube ich. Trotzdem habe ich nicht langegezögert, als sich die Möglichkeit auftat, mich vollständig aufs Schreiben zukonzentrieren. Es ist nicht jedermanns Sache, den größten Teil seiner wachenZeit allein in einem stillen Zimmer zu verbringen und Worte aneinander zureihen, aber meine Sache ist es ganz eindeutig.
Sie leben mit Ihrer Frau in der Bretagne. Wie gefällt IhnenIhr Leben in der Wahlheimat? Gibt es dort etwas, was Sie besonders zumSchreiben inspiriert?
Es ist sehr inspirierend, hier zuleben, das stimmt, aber ich weiß eigentlich nicht so genau, was es ist, dasmich inspiriert. Das Land? Das Meer? Oder die Ruhe, die Abgeschiedenheit, dergemächliche Lebensrhythmus, in den man fast unwillkürlich fällt? Vielleichtfinde ich es noch heraus. Und ja, natürlich gefällt es uns hier großartig - ausdiesem Grund sind wir schließlich hergezogen. Nach über vier Jahrzehnten imSchwabenland genießen wir es, nun in einer ganz andersartigen Landschaft dieWelt sozusagen noch einmal neu zu entdecken.
Ihr neuer Roman wird im Herbst erscheinen. Können Sie unsvielleicht schon verraten, wovon er handeln wird?
Es wird ein sehr ungewöhnlicher Thriller,der in Schweden spielt, und dessen Handlung ein paar Haken schlägt, die - sohoffe ich - meine Leser komplett überraschen werden. Wissenschaftliche Aspektespielen eine Rolle, und in gewisser Weise geht es tatsächlich auch wieder umeine Art Parallelwelt - bloß anders, als Sie es sich jetzt vermutlichvorstellen können. Und natürlich gilt auch für diesen wieder, was für allemeine Romane gilt: Es wird mal wieder etwas total anderes...
Die Fragen stellte Ulrike Künnecke,Literaturtest.
- Autor: Andreas Eschbach
- Altersempfehlung: 16 - 99 Jahre
- 2014, 9. Aufl., 350 Seiten, Maße: 12,4 x 18,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Bastei Lübbe
- ISBN-10: 3404153057
- ISBN-13: 9783404153053
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