Der Menschenräuber
Ein spannendes Psychodrama über Obsession, Rache und menschliche Abgründe vor der malerischen Kulisse der Toskana.
Zuerst verliert er durch einen schrecklichen Unfall seine Tochter, dann seinen Beruf und schließlich...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Menschenräuber “
Ein spannendes Psychodrama über Obsession, Rache und menschliche Abgründe vor der malerischen Kulisse der Toskana.
Zuerst verliert er durch einen schrecklichen Unfall seine Tochter, dann seinen Beruf und schließlich seine Frau. Als der erfolgreiche Medienmanager Jonathan in einem einsamen Bergdorf in der Toskana ankommt, scheint er am Ende zu sein. Doch dann trifft er die junge Sophia, die seiner toten Tochter verblüffend ähnelt, und beginnt mit ihr ein neues Leben. Bis ihn die Vergangenheit einholt. Aus Rache wird er zum Mörder, aber das ist erst der Anfang.
Lese-Probe zu „Der Menschenräuber “
Der Menschenräuber von Sabine ThieslerProlog
Schwere Wolken hingen über der Heide, der Wetterbericht
hatte Schneeregen und Graupelschauer angesagt.
Er stand am Fenster, blickte auf den trostlosen, grau gepflasterten
Hotelparkplatz mit fünf armseligen Parkbuchten,
von denen nur zwei besetzt waren, und wusste, dass er
nur diese eine Chance hatte.
Heute war der Tag, auf den er Monate gewartet hatte,
heute musste es passieren.
Nachdem er vor zehn Minuten das Telefonat beendet
hatte, triumphierte er innerlich. Sie war einfach zu gutgläubig
und hatte ihm die Adresse verraten. Die erste Hürde
war genommen, und es war unproblematischer gewesen, als
er gedacht hatte.
Er ging ins Bad, betrachtete ein paar Sekunden sein Gesicht
im Spiegel eines altmodischen Allibert und begann
sich sorgfältig zurechtzumachen.
Es war jetzt zwanzig vor elf. Zeit der Visite und daher
viel zu gefährlich. Er wollte noch zwei Stunden warten,
denn es erschien ihm günstiger, wenn auf den Stationen das
Mittagessen gerade vorbei war und das Geschirr abgeräumt
wurde.
In den letzten zwei Wochen hatte er sich einen Bart wachsen
lassen, den er jetzt sorgfältig schnitt, so dass er gepflegt
wirkte. Der schlohweiße Bart störte ihn maßlos, er kam
sich verwahrlost und unsauber vor, geradezu verwildert.
Aber es handelte sich ja nur noch um wenige Stunden.
Wenn alles erledigt war, würde er ihn abrasieren.
... mehr
Die Perücke hatte er schon vor Wochen in Florenz gekauft.
Sie war aus Echthaar, handgeknüpft, und hatte über
fünfhundert Euro gekostet. Das war es ihm wert. Graue,
drei bis vier Zentimeter lange Haare, die sehr natürlich
wirkten und gut zu seinem schmalen Gesicht passten. Er
streifte sie über seine eigenen millimeterkurzen Haare, und
damit die Perücke nicht verrutschte, fixierte er sie an den
Schläfen und oberhalb der Stirn am Haaransatz mit Mastix.
Ein Spezialklebstoff, der im Theater in der Maske verwendet
wurde. Hinterher würde er die Perücke so bald wie
möglich verbrennen.
Zum Schluss setzte er eine Brille mit Fensterglas und
zartgoldenem Rand auf, die ihm einen intellektuellen, distinguierten
Touch gab. Kein Problem, sie danach auf der
Autobahn aus dem Fenster zu werfen.
Er wirkte wie ein Professor Anfang sechzig, dem man
ohne weiteres Respekt zollte und Vertrauen schenkte. Perfekt.
Er war zufrieden.
Das Zimmer hatte er bereits am Abend zuvor bezahlt. Er
packte seine Sachen und verließ zwanzig Minuten später
das Hotel vollkommen unbemerkt. Die Rezeption war in
diesem kleinen Hotel nur selten besetzt.
Ideal für ihn, der ungesehen verschwinden wollte.
Es war jetzt kurz nach elf. Zu früh. In Gedanken ging
er noch einmal die Liste durch, ob irgendetwas fehlte. Aber
ihm fiel nichts ein. Er hatte an alles gedacht.
Also blieb ihm nur noch ein Waldspaziergang, um zwei
weitere Stunden totzuschlagen.
Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig hielt er vor der Klinik
und parkte am Nebeneingang auf einem für Ärzte reservierten
Parkplatz. Weiße Hosen, weißes Hemd und weißen
Kittel hatte er bereits im Auto angezogen, Stethoskop
und obligatorischer Kugelschreiber steckten in der Brusttasche.
So betrat er das Krankenhaus. Dem Pförtner nickte er
kurz zu, und dieser grüßte automatisch zurück.
Als er nur fünfzehn Minuten später die Klinik durch einen
Notausgang verließ, trug er ein Neugeborenes hinaus in die
Kälte und die wenigen Meter bis zu seinem Auto, legte es
in die Tragetasche auf dem Beifahrersitz und fuhr davon.
Die Mutter und die Mitarbeiter der Säuglingsstation
würden frühestens in einer halben Stunde merken, dass das
kleine Mädchen nicht mehr da war.
Er war so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Hatte
keinerlei Schuldbewusstsein. Denn er hatte das Kind nicht
entführt, sondern zu sich geholt. Und das war - verdammt
nochmal - sein gutes Recht.
GISELLE
EINS
Toskana, 3. November 2001
Er hatte kein Ziel, keinen Plan, kein Dach überm Kopf und
noch zweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent in der
Tasche. In seinem Koffer befanden sich zehn Unterhosen,
ebenso viele Sockenpaare, vier T-Shirts, drei Pullover und
zwei Jeans. Außerdem zwei Handtücher, sein Filofax und
ein Kulturbeutel mit einer Haarbürste, einer Zahnbürste,
einer fast leeren Tube Zahnpasta, einer Niveadose, einem
Nageletui und einem Briefchen Aspirin. Auch ein Deostift
und Creme gegen Herpes-Lippenbläschen. Gut eingebettet
zwischen den Handtüchern und Pullovern, lagen sein Laptop,
seine Kamera und eine Bilderrolle aus stabiler Pappe.
In seiner Jackeninnentasche trug er seine Brieftasche mit
der Krankenversicherungskarte, einer Kreditkarte, Ausweis,
Führerschein und einem Foto seiner Tochter im Alter
von fünf Jahren. Sie saß in einer Sandburg an der Ostsee
und hielt triumphierend ihre Schippe in die Höhe. In der
Jackenaußentasche steckte noch eine Lesebrille.
Das war alles, was von seinem Leben übrig geblieben war.
Es war jetzt knapp fünf Tage her, seit er nach einem
Streit mit Jana das Haus verlassen hatte. Er fühlte sich als
Verlierer, weil er gegangen war, aber das war nicht wichtig.
Auch wenn sie triumphierte - er hätte es in ihrer Nähe
keine fünf Minuten länger ausgehalten.
Dass er vor der großen Anzeigetafel auf dem Flughafen
Tegel gestanden hatte, wusste er noch. Paris, Brüssel, Kopenhagen,
Athen, Rom, Lissabon. Zehn Minuten, vielleicht auch
eine halbe Stunde hatte er auf die rauf- und runterklappernden
Buchstaben gestarrt, aber die Orte bedeuteten ihm
nichts. Zürich, Budapest, Mailand, Stockholm. Geflogen war
er in seinem Leben genug.
Er wandte sich ab und fuhr mit dem nächsten Bus zurück
in die Stadt.
Was er in den darauffolgenden drei Tagen und Nächten
getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Er versuchte
sich zu erinnern, aber vor seinen Augen tauchten nur vereinzelte
Bilder von Wartehallen, U-Bahnhöfen und Kneipen
auf. Von einem grellbunten Drogeriemarkt, in dem er
Wodka kaufte, und von einem Kanal, an dessen Ufer er sich
übergab. Er hatte keine Erinnerung mehr an Wärme oder
Kälte und glaubte, weder irgendetwas gegessen noch mit
einem Menschen gesprochen zu haben.
Vor zwei Stunden war er in einer Toilette der Charité
aufgewacht. Er lag in der engen Kabine auf dem klebrigen
Fußboden, gekrümmt wie ein Embryo, den Kopf direkt
neben der Toilettenschüssel, und mit seinen Armen umklammerte
er den Fuß des Beckens wie ein Schiffbrüchiger
den rettenden Baumstamm. Mühsam zog er sich hoch und
versuchte aufrecht zu stehen. In seinen Haaren klebte Erbrochenes,
und erst jetzt bemerkte er, dass er direkt in einer
mittlerweile getrockneten Lache gelegen hatte.
Er ekelte sich vor sich selbst, als er sein blasses, müdes
Gesicht und seine zerzausten, verdreckten und seit Tagen
nicht mehr gekämmten Haare im Spiegel sah. Sein Mund
war ausgetrocknet, und sein Speichel schmeckte bitter und
säuerlich zugleich. Am meisten wunderte er sich darüber,
dass sein Koffer immer noch da war und neben ihm auf
dem Fliesenboden stand.
Sein Koffer war das Wichtigste und Einzige, was er besaß.
Er erinnerte sich dunkel an eine Situation, die zwei, drei oder
auch schon fünf Tage her sein konnte. Er war am Ufer der
Spree eingeschlafen. Seinen Koffer hatte er als Kissen benutzt
und war davon aufgewacht, dass jemand dabei war, ihn unter
seinem Kopf wegzuziehen. Ihm wurde schwindlig, als er hochfuhr
und sah, wie ein ausgemergelter Mann Ende sechzig mit
langem, verfilztem weißem Haar mit dem Koffer flüchtete.
So schnell war Jonathan schon seit Wochen nicht mehr
aufgesprungen.
»Hey«, schrie er, »bleib steh'n, du Arsch, oder ich schlag
dir alle Zähne aus!«
Der andere hatte nicht viel Kraft, und der Koffer war
schwer. Jonathan holte den Mann schnell ein und riss ihn
zu Boden. Im Fallen schleuderte der Alte den Koffer so weit
er konnte von sich, und Jonathan sah, dass er die Böschung
hinunterrutschte.
Der Alte interessierte ihn nicht mehr. Er hechtete seinem
Koffer hinterher und erreichte ihn gerade noch im allerletzten
Moment, als er bereits im Wasser schwamm, aber von
der Strömung noch nicht abgetrieben war. Er zog ihn heraus,
drückte ihn fest an sich und hörte sich schluchzen vor
Erleichterung. Sein Leben ging weiter, wenn man das, was
ihm geblieben war, noch als Leben bezeichnen konnte.
Jonathan wollte gar nicht wissen, wie er in die Charité gekommen
war. Ob er einfach nur eine Toilette gesucht hatte
und eingeschlafen war oder ob man ihn mit der Ambulanz
gebracht hatte und er den Schwestern und Ärzten entkommen
war. Es war müßig und unerfreulich, darüber nachzudenken,
wie er die vergangenen zweiundsiebzig Stunden
verbracht hatte, wichtig war, dass seine Sachen noch da
waren, er keine Kopfschmerzen hatte und einigermaßen
aufrecht gehen und stehen konnte.
Er wusch sein Gesicht und seine Haare mit kaltem Wasser,
spülte sich den Mund aus, trank gierig, trocknete sich
mit mehreren Papierhandtüchern ab und verließ die Toilette.
Pfeile zeigten in Richtung Ausgang, demnach befand
er sich im Parterre. Ein großes rot-weißes Schild wies nach
rechts zur Notaufnahme. Also war er wahrscheinlich doch
eingeliefert worden und dann auf eigenen Wunsch gegangen.
Aber selbst das wusste er nicht mehr.
Mit dem Koffer in der Hand trat er auf die Straße. Es
war dunkel, und er versuchte vergeblich, sich zu erinnern,
wann er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte. Ihm war
übel vor Hunger, und als er auf die Uhr sehen wollte, war
sein Handgelenk leer. Aha. Die Uhr hatten sie ihm also geklaut.
Irgendwo beim Schlafen unter einer Brücke oder in
einer finsteren Kneipe. Vielleicht hatte er sie auch beim Pokern
verloren. Alles war möglich.
Langsam ging er durch die nächtliche Stadt, wusste inzwischen
wieder genau, wo er war, und brauchte zwanzig
Minuten bis zu seinem Stammitaliener.
Giovanni stand hinterm Tresen, als Jonathan das Restaurant
betrat, und winkte ihm kurz zu.
»Was ist los, Dottore?«, fragte er. »Du siehst verdammt
schlecht aus!«
»Kriege ich noch was zu essen?«
»O dio, es ist kurz nach Mitternacht! Die Küche ist
schon geschlossen, tut mir leid. Pietro räumt gerade auf.«
»Vielleicht hast du doch noch eine winzige Kleinigkeit
für mich? Bitte, Giovanni! Mach mir einfach ein paar Nudeln
warm, das reicht schon. Und ein Glas Wein.«
Giovanni kannte Jonathan seit einigen Jahren, er kam
bestimmt zweimal in der Woche zum Essen, aber in diesem
Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. Jonathans Gesichtsfarbe
war grau, er wirkte hohlwangig, die Augen waren
rot und entzündet, wie bei einem Menschen, dem man
unter Folter den Schlaf entzieht. Wahrscheinlich hatte er
wirklich schon lange nichts mehr gegessen und getrunken,
denn seine Lippen war trocken und eingerissen.
»Ich werde Pietro mal fragen«, sagte Giovanni daher milde
und verschwand in der Küche.
Jonathan setzte sich. Er hatte den Eindruck, seine Hände
festhalten zu müssen, damit sie nicht vom Tisch rutschten,
so schlapp fühlte er sich. Er spürte eine Traurigkeit, die ihm
jede Kraft nahm, und er hatte keine Idee, was er in dieser
Nacht, was er überhaupt in seinem Leben noch machen
sollte.
»Pasta kommt gleich«, sagte Giovanni, als er aus der Küche
kam, und stellte einen halben Liter Rotwein vor Jonathan
auf den Tisch.
»Du siehst aus, als wenn irgendwas passiert wäre.«
»Nein, aber ich fühl mich nicht gut. Ich glaube, ich muss
mal raus. Verreisen. Irgendwohin. Aber ich habe noch keine
Idee.«
»Fahr nach Italien. Italien ist immer gut für die Seele.
Auch im Winter.«
Ja, dachte er. Italien. Warum auch nicht. Vor sechs Jahren
war er das letzte Mal dort gewesen. Mit Jana hatte er
einen fünftägigen Kurztrip nach Venedig gemacht, und
die Eindrücke waren bis heute nicht verblasst. Großbürger-
liche Häuser mit heruntergekommenen Fassaden, Türen und
Fensterläden geschlossen. Aber wenn sich ein Fenster öffnete,
offenbarte sich dahinter die Pracht eines Palazzo mit edlen
Deckenintarsien, kostbaren Wandteppichen, prunkvoll vergoldeten
Spiegeln und Lüstern aus Muranoglas. Venedig
bestand aus unzähligen Palästen, die sich hinter schäbigen
Fassaden versteckten. Das hatte Jonathan beeindruckt.
Italien. Er spürte, wie in ihm eine Sehnsucht aufkeimte,
in dieses Land zu fahren. Vielleicht war es die Lösung.
»Wann willst du denn fahren?«, fragte Giovanni.
»Am liebsten sofort. Ich weiß es nicht, ich habe mir noch
keine Gedanken gemacht. Und ohne dich wäre ich auch
nicht auf diese Idee gekommen.«
»Mein Sohn fährt noch heute Nacht nach Bologna. Er
will ein paar Tage seine Mutter besuchen. Ich könnte mir
vorstellen, dass es ihm gefällt, ein bisschen Gesellschaft zu
haben.«
Jonathan wusste, dass Giovanni vor zehn Jahren geschieden
worden war. Während er in Berlin geblieben war und
das Restaurant weiterführte, war seine Frau zurück nach
Bologna gegangen.
Jonathan trank den Wein in großen Schlucken.
»Okay«, sagte er, »ich fahre mit.«
Sechzehn Stunden später hatte ihn Giovannis Sohn Angelo
in Bologna am Hauptbahnhof abgesetzt, und Jonathan war
um vierzehn Uhr vierundzwanzig in irgendeinen Zug gestiegen,
der mit zwölf Minuten Verspätung um fünfzehn
Uhr vierunddreißig im Hauptbahnhof von Florenz, Santa
Maria Novella, ankam.
Er kaufte sich bei einem Straßenhändler eine billige Digitaluhr
für fünf Euro, einen dünnen, lauwarmen Milch-
kaffee in einem Styroporbecher und ein Brötchen mit Tomate
und bereits angetrocknetem Mozzarella. Dazu eine
deutsche Zeitung.
Allmählich setzte der Feierabendverkehr ein. Auf dem
Bahnhof war es voll, Jonathan stand in der Mitte der Halle,
aß heißhungrig sein Brötchen, während die Menschen um
ihn herumrannten, Gepäck und kleine Kinder hinter sich
herzogen, durcheinanderschrien oder das Rauchverbot ignorierend
in Gruppen rauchten und sich unterhielten.
Was mache ich hier?, dachte Jonathan und sah auf die
Uhr. Es war jetzt fünfzehn Uhr fünfzig. Direkt vor ihm
auf Gleis sieben fuhr um fünfzehn Uhr einundfünfzig ein
Zug nach Rom. Jonathan stopfte sich den Rest des Brötchens
in den Mund, stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter
und warf den Becher im Rennen in den Papierkorb.
Als er auf den Bahnsteig kam, hob der Bahnbeamte bereits
die rote Kelle. Jonathan schaffte es gerade noch, seinen
Koffer in den Zug zu werfen und hinterherzuklettern.
Unmittelbar hinter ihm schlossen sich die automatischen
Türen.
Der Zug rollte durch das Bahnhofsviertel von Florenz,
und Jonathan ging auf der Suche nach einem Platz langsam
weiter nach vorn. Im dritten Wagen fand er eine freie Bank,
setzte sich ans Fenster und stellte seinen Koffer neben sich.
Es roch nach Diesel und alter Pisse. Ihm gegenüber saß
ein junger Italiener mit ungewöhnlich dicken Oberschenkeln,
breitbeinig und mit geschlossenen Augen. In seinen Ohren
steckten Kopfhörer, und Jonathan hörte gedämpft die plärrende
Musik.
In den letzten Tagen hatte er sein Handy nicht angeschaltet,
er wollte für Jana nicht erreichbar sein, jetzt zog er
es aus der Jackentasche und schaltete es ein.
Nur damit du Bescheid weisst, schrieb er an Jana, ich bin in
Italien. Auf unbestimmte Zeit. J.
Keine Anrede, kein Gruß, kein nettes Wort.
Dann schickte er die SMS ab.
Die kleinen Orte, die vorüberzogen, registrierte er nicht.
Er sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen, und
dachte an den letzten Streit. Es hatte bereits viele gegeben,
aber dieser hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Jonathan hatte am Küchentisch gesessen und Zeitung gelesen.
»Was ist los?«, fragte Jana.
»Nichts ist los.«
»Du machst ein Gesicht - das ist nicht zum Aushalten.«
»Ich mache gar kein Gesicht.«
»Doch. Du müsstest dich mal sehen, da kann einem
schlecht werden!«
»Hör auf, auf mir rumzuhacken, und lass mich in Ruhe.«
Jana schnaufte. »Ich halte das nicht aus, Jon. Nie redest
du mit mir. Immer soll ich dich in Ruhe lassen, du hängst
hier mit finsterem Gesicht in der Gegend rum und hast nur
noch schlechte Laune. Nur noch!«
»Du hast schlechte Laune! Seit Tagen, Wochen, ach was,
seit Monaten. Keine Ahnung, was mit dir los ist, aber jetzt
komm mir nicht so! Ich hab keine schlechte Laune, aber
wenn du so weitermachst, kriege ich gleich welche!«
»Jonathan, du hast dich völlig verändert! Du bist nur
noch verbiestert und verbittert, ich habe dich schon ewig
nicht mehr lächeln sehen, und wenn du irgendetwas zu mir
sagst, dann meckerst du rum, kritisierst mich wegen jedem
Scheiß und weißt alles besser. Ich hab das monatelang er-
tragen und runtergeschluckt, aber irgendwann kann ich
auch nicht mehr. Ich bin nicht deine Feindin, Jon, ich sitze
im selben Boot, uns beiden ist dasselbe passiert, aber du
greifst mich ständig an! Was soll das?«
Jonathan knallte die Zeitung auf den Tisch. »Wer greift
denn hier wen an? Ha?«, schrie er. »Ich weiß nicht, was das
soll, Jana? Ich hatte keine schlechte Laune und wollte nur
in Ruhe meine Zeitung lesen, aber jetzt bin ich sauer. Durch
dein ewiges Gehetze und Rumgemäkle, durch dein ständiges
Stänkern ...«
»Ach so, jetzt bin ich es also? Natürlich. Wie wunderbar
du wieder den Spieß umdrehst!«
»Wenn du schlechte Laune hast, dann projizierst du es
immer auf andere und machst mir Vorwürfe, dass ich schlechte
Laune hätte. Fass dir mal an die eigene Nase!«
Jede Weichheit war aus Janas Gesicht verschwunden.
Ihre Züge waren hart und kalt. »Du kotzt mich an, Jon,
weißt du das?«
»Du kotzt mich genauso an, meine Liebe.«
»Na, das ist ja toll.«
»Das ist richtig toll.«
Jana schnappte nach Luft. Jonathan dachte, dass sie
jetzt genug hätte, und wollte gerade die Zeitung in die
Hand nehmen, als sie wieder anfing. Allerdings wesentlich
leiser.
»Es ist ja nicht erst seit ein paar Tagen, es geht seit Wochen
so, ach was, seit Monaten, eigentlich seit ..., du weißt
seit wann. Die ganze Welt ist dir egal, ich bin dir egal. Du
siehst mich nicht mehr, du hast mich seit Ewigkeiten nicht
mehr berührt.«
»Ich kann nicht, Himmelherrgott!«, schrie Jonathan.
»Du lebst nicht mehr mit mir!«
»Nein! Weil ich nicht nur nicht mehr mit dir, sondern
weil ich überhaupt nicht mehr leben will! Kapierst du das
nicht?«
Jonathan schwieg, aber seine zitternden Hände trommelten
ein Tremolo auf die Tischplatte, und er stierte zu
Boden.
»Irgendwann muss doch mal Schluss sein!« Jana wischte
energisch über die Arbeitsplatte. »Irgendwann müssen wir
beide doch mal wieder von vorn anfangen, Jon, einen Schlussstrich
ziehen, in die Zukunft schauen!«
»Nein!« Jonathan schrie wie einer, der von der Klippe
stürzt und begreift, dass er diesen Sturz niemals überleben
wird. »Nein, nein, nein!«
»Du hast sie immer nur vergöttert. Mit deiner Affenliebe
hast du alles kaputtgemacht«, murmelte Jana bitter. »Zwanzig
Jahre hat sie unser Leben bestimmt, und selbst jetzt
dreht sich immer noch alles nur um sie! Um sie, um sie, um
sie, um sie!« Dann schwieg sie und flüsterte: »Immer nur
um sie.«
Jonathan zitterte. Seine Gesichtshaut war knallrot, er
stand kurz vor der Explosion.
Jana sah ihn an und hatte Lust, ihn zu verletzen.
»Du hast sie immer mehr geliebt als mich. Und du hast
es mich verdammt spüren lassen. Und jetzt sitzt du hier
rum und schikanierst mich mit deiner Trauer, deiner Einsamkeit,
deinem Frust, was weiß ich. Und wirst mich noch
Jahre dafür strafen, dass ich alles geopfert habe: für dich,
für sie, für euch, für uns. Aber davon willst du nichts wissen,
du willst nur, dass alle dein Leid sehen, der Herr und
Meister geht kaputt, schaut her und bemitleidet ihn, Völker
der Welt, schaut auf diesen Mann!«
Ihre Stimme war schrill, hoch und spöttisch zugleich.
Jonathan sprang auf und schlug ihr ins Gesicht.
Sie schleuderte zurück, sank zusammen und hockte auf
dem Küchenfußboden.
Ohne jedes Mitleid sah er auf sie hinab und hätte ihr am
liebsten noch ins Gesicht gespuckt.
»Alle Reichtümer der Welt würde ich dafür geben, dich
nicht mehr sehen und ertragen zu müssen«, sagte er leise,
»meine Wut ist zu schade für dich.«
Damit drehte er sich um, verließ die Küche und ging
nach oben, um zu packen.
ZWEI
Als der Zug minutenlang durch die Dunkelheit eines Tunnels
donnerte, wurde Jonathan bewusst, dass er keine Fahrkarte
gekauft hatte.
Er saß jetzt auf dem Sprung. Beobachtete den Gang vor
sich, horchte nach hinten, ob er den Kontrolleur hörte, der
sich meist lautstark Gehör verschaffte, und kam sich vor
wie mit fünfzehn, als er zum Handballtraining schwarzgefahren
und jedes Mal tausend Tode gestorben war. Genauso
fühlte er sich jetzt.
Eine halbe Stunde ging alles gut. Doch dann, unmittelbar
nach San Giovanni Valdarno, kam der Schaffner
von vorn in den Wagen und verlangte die Fahrkarten. Jonathan
stand auf, verließ den Wagen gegen die Fahrtrichtung
und stellte sich zum Ausstieg an die letzte Tür. So
weit würde es der Schaffner bis zur nächsten Station nicht
schaffen.
Noch nie waren Jonathan fünf Minuten so lang vorgekommen.
Aber schließlich stand er doch unbehelligt und
sehr erleichtert auf dem Bahnsteig von Montevarchi / Terranuova
und wusste überhaupt nicht, wo er war. Er kannte die
Stadt nicht, und es war mittlerweile kurz vor fünf, dämmerte
bereits und fing an zu regnen.
Als er um das Bahnhofsgebäude herumging, jagte ihm
der kalte Wind eine Gänsehaut über den Rücken. Er fror
und zog sich die Jacke enger um den Körper.
Auf der kleinen Piazza vor dem Bahnhof standen nur
wenige Autos. Ein paar alte Männer saßen trotz des Regens
rauchend auf einigen Bänken vor einem Brunnen, in dem
Plastiktüten, aufgeweichte Papiertaschentücher und Laubreste
schwammen. Dieser Anblick war so trostlos, dass er
ihn kaum ertragen konnte. Er wandte sich nach rechts, ging
die Straße entlang bis zu einer unübersichtlichen Baustelle,
die er nur mit Mühe überquerte, da die Autos aus mehreren
Richtungen scheinbar aus dem Nichts auftauchten.
Ein paar Meter weiter begann die Fußgängerzone. Via
Roma las er an einer Hauswand.
Langsam schlenderte er die Straße entlang und blieb vor
fast jedem Schaufenster stehen. Bekleidungsgeschäfte, Optiker,
eine Apotheke, ein Gemischtwarenhändler, ein exquisites
Einrichtungshaus und zwei Zeitungsläden. Er kaufte
ein deutsch-italienisches Wörterbuch und eine Landkarte von
der Toskana.
Die Kirche wäre ihm beinah nicht aufgefallen, so unauffällig
lag sie eingebettet zwischen Wohn- und Amtshäusern.
Erst als eine alte Frau heraustrat und langsam Stufe
für Stufe die Treppe herunterstieg, weil sie Angst hatte zu
fallen, bemerkte er das von außen völlig unscheinbare Gotteshaus.
Er ging hinein und war überwältigt von der unfassbaren
Größe, die er zwischen den Häusern nicht vermutet
hätte.
Außer einem alten Mann, der mit rundem Rücken und
gesenktem Kopf in der ersten Reihe saß, war niemand in der
Kirche. Jonathan setzte sich ganz nach hinten, direkt neben
den Opferstock. Er schloss die Augen und roch kaltes Holz,
lange verwehten Weihrauch und verbranntes Wachs.
Er fror. Seine Füße waren eiskalt, aber er blieb dennoch
eine Viertelstunde sitzen. O Herr, sprach er in Gedanken,
obwohl er sich nicht erinnerte, nach seinem zwölften Geburtstag
jemals wieder gebetet zu haben, wo soll ich hin?
Was soll ich tun? Was hast du mit mir vor? Er wartete auf
eine Antwort, aber die Kirche blieb still und unverändert
wie zuvor.
Nach weiteren drei Minuten stand er mit klammen Gliedern
auf, entzündete eine Kerze am Opferstock und machte
sich dann auf den Weg, die Stadt zu verlassen, die ihm
an diesem Novembernachmittag zu laut und zu grau war
und ihn noch depressiver machte, als er ohnehin schon
war.
Er ließ sich treiben, wollte dem Schicksal die Entscheidung
überlassen und stieg am Ende der Fußgängerzone
in den ersten Bus, der kam. Siena stand auf der digitalen
Anzeige. Auf keinen Fall wollte er bis Siena fahren, nicht
schon wieder in eine Stadt, sondern irgendwo aussteigen, in
einem kleinen Ort, irgendwo.
Das leichte Schaukeln des Busses machte ihn müde, aber
er kämpfte gegen den Schlaf, um nicht erst an der Endstation
wieder aufzuwachen. Die langgestreckten, kalten und
funktionalen Industriebauten zwischen Montevarchi und
Bucine waren abstoßend, und Jonathan bedauerte, dass der
Schaffner im Zug so früh gekommen war. Vielleicht wäre
es besser gewesen, bis ins Latium zu fahren.
Hinter Bucine wurde die Landschaft lieblicher. Als er
vor sich auf einer Anhöhe Ambras mittelalterlichen Stadtkern
liegen sah, stieg er kurzerhand aus und ging in die
Altstadt.
Jede kleine Gasse, jede Treppe, jeden dunklen Gang erkundete
er und grüßte jeden, der ihm entgegenkam.
Allmählich wurde es dunkel. Das gelbe Licht der Straßenbeleuchtung
beruhigte ihn und weckte in ihm fast so
etwas wie ein heimatliches Gefühl.
In einem kleinen Alimentariladen kaufte er sich warme
Lasagne in einer Pappschachtel, die er auf der Straße im
Gehen aß, und betrat anschließend die Bar. Er bestellte
sich ein Mineralwasser und einen halben Liter Wein und
setzte sich an den Tisch unter dem Fernseher.
In der Bar war es laut und voll. Eine blonde und eine dunkelhaarige
Frau hinter dem Tresen bedienten mit stoischer
Ruhe. Er wusste, dass jetzt die Entscheidung fallen musste,
wie es an diesem Abend und in dieser Nacht mit ihm weitergehen
sollte. Wenn er es nicht schaffte, nach diesem halben
Liter sofort zu gehen, dann würde er hier versacken und
keine Unterkunft mehr finden. Nervös starrte er auf die Straße.
Sie glänzte im Licht der Laternen, es regnete jetzt stärker.
In seinem Wörterbuch suchte er sich schließlich die nötigen
Vokabeln heraus, um nach einem Zimmer für eine oder
mehrere Nächte zu fragen, aber zuerst wollte er in Ruhe
zu Ende trinken und jeden Schluck genießen, wenn er sich
mehr nicht genehmigen durfte.
Als sich der Wein warm in seinem Magen ausgebreitet
hatte und ihm leicht zu Kopf gestiegen war, ging er zum
Tresen.
»Scusi«, sagte er zu der Blonden, die kleine Espressounterteller
aus der Spülmaschine nahm und mit einem entsetzlich
lauten Scheppern aufeinanderknallte, »cerco camera.
Zimmer. Room. Per la notte, oder for a week. Oder länger.
Don't know.«
Offensichtlich hatte sie den wüsten Sprachenmix verstanden,
denn sie grinste, aber verzog auch gleichzeitig den Mund,
als wolle sie damit ausdrücken: Oh, das wird schwierig.
Jonathan bekam einen Schreck.
»Hotel?«, fragte er erneut. »Pensione?«
Jetzt zog die Blonde die Augenbrauen hoch. »Abbiamo
novembre!«, sagte sie beinah vorwurfsvoll, »tutto è chiuso!«
Dann wandte sie sich an zwei Bauern, die am Tresen standen,
Grappa tranken und den Fremden aufmerksam musterten.
»Der Mann hier sucht ein Zimmer zum Übernachten.
Wisst ihr was?« Und ohne die Antwort abzuwarten,
fragte sie Jonathan: »Tedesco?«
Jonathan nickte.
Riccardo hatte den Deutschen schon länger beobachtet.
Er schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig, obwohl
seine Haare schlohweiß waren und ihm bis auf die Schultern
fielen. Sein Fünftagebart war grau, und seine Augen
wirkten müde.
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Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
Die Perücke hatte er schon vor Wochen in Florenz gekauft.
Sie war aus Echthaar, handgeknüpft, und hatte über
fünfhundert Euro gekostet. Das war es ihm wert. Graue,
drei bis vier Zentimeter lange Haare, die sehr natürlich
wirkten und gut zu seinem schmalen Gesicht passten. Er
streifte sie über seine eigenen millimeterkurzen Haare, und
damit die Perücke nicht verrutschte, fixierte er sie an den
Schläfen und oberhalb der Stirn am Haaransatz mit Mastix.
Ein Spezialklebstoff, der im Theater in der Maske verwendet
wurde. Hinterher würde er die Perücke so bald wie
möglich verbrennen.
Zum Schluss setzte er eine Brille mit Fensterglas und
zartgoldenem Rand auf, die ihm einen intellektuellen, distinguierten
Touch gab. Kein Problem, sie danach auf der
Autobahn aus dem Fenster zu werfen.
Er wirkte wie ein Professor Anfang sechzig, dem man
ohne weiteres Respekt zollte und Vertrauen schenkte. Perfekt.
Er war zufrieden.
Das Zimmer hatte er bereits am Abend zuvor bezahlt. Er
packte seine Sachen und verließ zwanzig Minuten später
das Hotel vollkommen unbemerkt. Die Rezeption war in
diesem kleinen Hotel nur selten besetzt.
Ideal für ihn, der ungesehen verschwinden wollte.
Es war jetzt kurz nach elf. Zu früh. In Gedanken ging
er noch einmal die Liste durch, ob irgendetwas fehlte. Aber
ihm fiel nichts ein. Er hatte an alles gedacht.
Also blieb ihm nur noch ein Waldspaziergang, um zwei
weitere Stunden totzuschlagen.
Um dreizehn Uhr fünfundzwanzig hielt er vor der Klinik
und parkte am Nebeneingang auf einem für Ärzte reservierten
Parkplatz. Weiße Hosen, weißes Hemd und weißen
Kittel hatte er bereits im Auto angezogen, Stethoskop
und obligatorischer Kugelschreiber steckten in der Brusttasche.
So betrat er das Krankenhaus. Dem Pförtner nickte er
kurz zu, und dieser grüßte automatisch zurück.
Als er nur fünfzehn Minuten später die Klinik durch einen
Notausgang verließ, trug er ein Neugeborenes hinaus in die
Kälte und die wenigen Meter bis zu seinem Auto, legte es
in die Tragetasche auf dem Beifahrersitz und fuhr davon.
Die Mutter und die Mitarbeiter der Säuglingsstation
würden frühestens in einer halben Stunde merken, dass das
kleine Mädchen nicht mehr da war.
Er war so glücklich wie seit Jahren nicht mehr. Hatte
keinerlei Schuldbewusstsein. Denn er hatte das Kind nicht
entführt, sondern zu sich geholt. Und das war - verdammt
nochmal - sein gutes Recht.
GISELLE
EINS
Toskana, 3. November 2001
Er hatte kein Ziel, keinen Plan, kein Dach überm Kopf und
noch zweiundsiebzig Euro und dreiundzwanzig Cent in der
Tasche. In seinem Koffer befanden sich zehn Unterhosen,
ebenso viele Sockenpaare, vier T-Shirts, drei Pullover und
zwei Jeans. Außerdem zwei Handtücher, sein Filofax und
ein Kulturbeutel mit einer Haarbürste, einer Zahnbürste,
einer fast leeren Tube Zahnpasta, einer Niveadose, einem
Nageletui und einem Briefchen Aspirin. Auch ein Deostift
und Creme gegen Herpes-Lippenbläschen. Gut eingebettet
zwischen den Handtüchern und Pullovern, lagen sein Laptop,
seine Kamera und eine Bilderrolle aus stabiler Pappe.
In seiner Jackeninnentasche trug er seine Brieftasche mit
der Krankenversicherungskarte, einer Kreditkarte, Ausweis,
Führerschein und einem Foto seiner Tochter im Alter
von fünf Jahren. Sie saß in einer Sandburg an der Ostsee
und hielt triumphierend ihre Schippe in die Höhe. In der
Jackenaußentasche steckte noch eine Lesebrille.
Das war alles, was von seinem Leben übrig geblieben war.
Es war jetzt knapp fünf Tage her, seit er nach einem
Streit mit Jana das Haus verlassen hatte. Er fühlte sich als
Verlierer, weil er gegangen war, aber das war nicht wichtig.
Auch wenn sie triumphierte - er hätte es in ihrer Nähe
keine fünf Minuten länger ausgehalten.
Dass er vor der großen Anzeigetafel auf dem Flughafen
Tegel gestanden hatte, wusste er noch. Paris, Brüssel, Kopenhagen,
Athen, Rom, Lissabon. Zehn Minuten, vielleicht auch
eine halbe Stunde hatte er auf die rauf- und runterklappernden
Buchstaben gestarrt, aber die Orte bedeuteten ihm
nichts. Zürich, Budapest, Mailand, Stockholm. Geflogen war
er in seinem Leben genug.
Er wandte sich ab und fuhr mit dem nächsten Bus zurück
in die Stadt.
Was er in den darauffolgenden drei Tagen und Nächten
getan hatte, konnte er jetzt nicht mehr sagen. Er versuchte
sich zu erinnern, aber vor seinen Augen tauchten nur vereinzelte
Bilder von Wartehallen, U-Bahnhöfen und Kneipen
auf. Von einem grellbunten Drogeriemarkt, in dem er
Wodka kaufte, und von einem Kanal, an dessen Ufer er sich
übergab. Er hatte keine Erinnerung mehr an Wärme oder
Kälte und glaubte, weder irgendetwas gegessen noch mit
einem Menschen gesprochen zu haben.
Vor zwei Stunden war er in einer Toilette der Charité
aufgewacht. Er lag in der engen Kabine auf dem klebrigen
Fußboden, gekrümmt wie ein Embryo, den Kopf direkt
neben der Toilettenschüssel, und mit seinen Armen umklammerte
er den Fuß des Beckens wie ein Schiffbrüchiger
den rettenden Baumstamm. Mühsam zog er sich hoch und
versuchte aufrecht zu stehen. In seinen Haaren klebte Erbrochenes,
und erst jetzt bemerkte er, dass er direkt in einer
mittlerweile getrockneten Lache gelegen hatte.
Er ekelte sich vor sich selbst, als er sein blasses, müdes
Gesicht und seine zerzausten, verdreckten und seit Tagen
nicht mehr gekämmten Haare im Spiegel sah. Sein Mund
war ausgetrocknet, und sein Speichel schmeckte bitter und
säuerlich zugleich. Am meisten wunderte er sich darüber,
dass sein Koffer immer noch da war und neben ihm auf
dem Fliesenboden stand.
Sein Koffer war das Wichtigste und Einzige, was er besaß.
Er erinnerte sich dunkel an eine Situation, die zwei, drei oder
auch schon fünf Tage her sein konnte. Er war am Ufer der
Spree eingeschlafen. Seinen Koffer hatte er als Kissen benutzt
und war davon aufgewacht, dass jemand dabei war, ihn unter
seinem Kopf wegzuziehen. Ihm wurde schwindlig, als er hochfuhr
und sah, wie ein ausgemergelter Mann Ende sechzig mit
langem, verfilztem weißem Haar mit dem Koffer flüchtete.
So schnell war Jonathan schon seit Wochen nicht mehr
aufgesprungen.
»Hey«, schrie er, »bleib steh'n, du Arsch, oder ich schlag
dir alle Zähne aus!«
Der andere hatte nicht viel Kraft, und der Koffer war
schwer. Jonathan holte den Mann schnell ein und riss ihn
zu Boden. Im Fallen schleuderte der Alte den Koffer so weit
er konnte von sich, und Jonathan sah, dass er die Böschung
hinunterrutschte.
Der Alte interessierte ihn nicht mehr. Er hechtete seinem
Koffer hinterher und erreichte ihn gerade noch im allerletzten
Moment, als er bereits im Wasser schwamm, aber von
der Strömung noch nicht abgetrieben war. Er zog ihn heraus,
drückte ihn fest an sich und hörte sich schluchzen vor
Erleichterung. Sein Leben ging weiter, wenn man das, was
ihm geblieben war, noch als Leben bezeichnen konnte.
Jonathan wollte gar nicht wissen, wie er in die Charité gekommen
war. Ob er einfach nur eine Toilette gesucht hatte
und eingeschlafen war oder ob man ihn mit der Ambulanz
gebracht hatte und er den Schwestern und Ärzten entkommen
war. Es war müßig und unerfreulich, darüber nachzudenken,
wie er die vergangenen zweiundsiebzig Stunden
verbracht hatte, wichtig war, dass seine Sachen noch da
waren, er keine Kopfschmerzen hatte und einigermaßen
aufrecht gehen und stehen konnte.
Er wusch sein Gesicht und seine Haare mit kaltem Wasser,
spülte sich den Mund aus, trank gierig, trocknete sich
mit mehreren Papierhandtüchern ab und verließ die Toilette.
Pfeile zeigten in Richtung Ausgang, demnach befand
er sich im Parterre. Ein großes rot-weißes Schild wies nach
rechts zur Notaufnahme. Also war er wahrscheinlich doch
eingeliefert worden und dann auf eigenen Wunsch gegangen.
Aber selbst das wusste er nicht mehr.
Mit dem Koffer in der Hand trat er auf die Straße. Es
war dunkel, und er versuchte vergeblich, sich zu erinnern,
wann er das letzte Mal Tageslicht gesehen hatte. Ihm war
übel vor Hunger, und als er auf die Uhr sehen wollte, war
sein Handgelenk leer. Aha. Die Uhr hatten sie ihm also geklaut.
Irgendwo beim Schlafen unter einer Brücke oder in
einer finsteren Kneipe. Vielleicht hatte er sie auch beim Pokern
verloren. Alles war möglich.
Langsam ging er durch die nächtliche Stadt, wusste inzwischen
wieder genau, wo er war, und brauchte zwanzig
Minuten bis zu seinem Stammitaliener.
Giovanni stand hinterm Tresen, als Jonathan das Restaurant
betrat, und winkte ihm kurz zu.
»Was ist los, Dottore?«, fragte er. »Du siehst verdammt
schlecht aus!«
»Kriege ich noch was zu essen?«
»O dio, es ist kurz nach Mitternacht! Die Küche ist
schon geschlossen, tut mir leid. Pietro räumt gerade auf.«
»Vielleicht hast du doch noch eine winzige Kleinigkeit
für mich? Bitte, Giovanni! Mach mir einfach ein paar Nudeln
warm, das reicht schon. Und ein Glas Wein.«
Giovanni kannte Jonathan seit einigen Jahren, er kam
bestimmt zweimal in der Woche zum Essen, aber in diesem
Zustand hatte er ihn noch nie erlebt. Jonathans Gesichtsfarbe
war grau, er wirkte hohlwangig, die Augen waren
rot und entzündet, wie bei einem Menschen, dem man
unter Folter den Schlaf entzieht. Wahrscheinlich hatte er
wirklich schon lange nichts mehr gegessen und getrunken,
denn seine Lippen war trocken und eingerissen.
»Ich werde Pietro mal fragen«, sagte Giovanni daher milde
und verschwand in der Küche.
Jonathan setzte sich. Er hatte den Eindruck, seine Hände
festhalten zu müssen, damit sie nicht vom Tisch rutschten,
so schlapp fühlte er sich. Er spürte eine Traurigkeit, die ihm
jede Kraft nahm, und er hatte keine Idee, was er in dieser
Nacht, was er überhaupt in seinem Leben noch machen
sollte.
»Pasta kommt gleich«, sagte Giovanni, als er aus der Küche
kam, und stellte einen halben Liter Rotwein vor Jonathan
auf den Tisch.
»Du siehst aus, als wenn irgendwas passiert wäre.«
»Nein, aber ich fühl mich nicht gut. Ich glaube, ich muss
mal raus. Verreisen. Irgendwohin. Aber ich habe noch keine
Idee.«
»Fahr nach Italien. Italien ist immer gut für die Seele.
Auch im Winter.«
Ja, dachte er. Italien. Warum auch nicht. Vor sechs Jahren
war er das letzte Mal dort gewesen. Mit Jana hatte er
einen fünftägigen Kurztrip nach Venedig gemacht, und
die Eindrücke waren bis heute nicht verblasst. Großbürger-
liche Häuser mit heruntergekommenen Fassaden, Türen und
Fensterläden geschlossen. Aber wenn sich ein Fenster öffnete,
offenbarte sich dahinter die Pracht eines Palazzo mit edlen
Deckenintarsien, kostbaren Wandteppichen, prunkvoll vergoldeten
Spiegeln und Lüstern aus Muranoglas. Venedig
bestand aus unzähligen Palästen, die sich hinter schäbigen
Fassaden versteckten. Das hatte Jonathan beeindruckt.
Italien. Er spürte, wie in ihm eine Sehnsucht aufkeimte,
in dieses Land zu fahren. Vielleicht war es die Lösung.
»Wann willst du denn fahren?«, fragte Giovanni.
»Am liebsten sofort. Ich weiß es nicht, ich habe mir noch
keine Gedanken gemacht. Und ohne dich wäre ich auch
nicht auf diese Idee gekommen.«
»Mein Sohn fährt noch heute Nacht nach Bologna. Er
will ein paar Tage seine Mutter besuchen. Ich könnte mir
vorstellen, dass es ihm gefällt, ein bisschen Gesellschaft zu
haben.«
Jonathan wusste, dass Giovanni vor zehn Jahren geschieden
worden war. Während er in Berlin geblieben war und
das Restaurant weiterführte, war seine Frau zurück nach
Bologna gegangen.
Jonathan trank den Wein in großen Schlucken.
»Okay«, sagte er, »ich fahre mit.«
Sechzehn Stunden später hatte ihn Giovannis Sohn Angelo
in Bologna am Hauptbahnhof abgesetzt, und Jonathan war
um vierzehn Uhr vierundzwanzig in irgendeinen Zug gestiegen,
der mit zwölf Minuten Verspätung um fünfzehn
Uhr vierunddreißig im Hauptbahnhof von Florenz, Santa
Maria Novella, ankam.
Er kaufte sich bei einem Straßenhändler eine billige Digitaluhr
für fünf Euro, einen dünnen, lauwarmen Milch-
kaffee in einem Styroporbecher und ein Brötchen mit Tomate
und bereits angetrocknetem Mozzarella. Dazu eine
deutsche Zeitung.
Allmählich setzte der Feierabendverkehr ein. Auf dem
Bahnhof war es voll, Jonathan stand in der Mitte der Halle,
aß heißhungrig sein Brötchen, während die Menschen um
ihn herumrannten, Gepäck und kleine Kinder hinter sich
herzogen, durcheinanderschrien oder das Rauchverbot ignorierend
in Gruppen rauchten und sich unterhielten.
Was mache ich hier?, dachte Jonathan und sah auf die
Uhr. Es war jetzt fünfzehn Uhr fünfzig. Direkt vor ihm
auf Gleis sieben fuhr um fünfzehn Uhr einundfünfzig ein
Zug nach Rom. Jonathan stopfte sich den Rest des Brötchens
in den Mund, stürzte den letzten Schluck Kaffee hinunter
und warf den Becher im Rennen in den Papierkorb.
Als er auf den Bahnsteig kam, hob der Bahnbeamte bereits
die rote Kelle. Jonathan schaffte es gerade noch, seinen
Koffer in den Zug zu werfen und hinterherzuklettern.
Unmittelbar hinter ihm schlossen sich die automatischen
Türen.
Der Zug rollte durch das Bahnhofsviertel von Florenz,
und Jonathan ging auf der Suche nach einem Platz langsam
weiter nach vorn. Im dritten Wagen fand er eine freie Bank,
setzte sich ans Fenster und stellte seinen Koffer neben sich.
Es roch nach Diesel und alter Pisse. Ihm gegenüber saß
ein junger Italiener mit ungewöhnlich dicken Oberschenkeln,
breitbeinig und mit geschlossenen Augen. In seinen Ohren
steckten Kopfhörer, und Jonathan hörte gedämpft die plärrende
Musik.
In den letzten Tagen hatte er sein Handy nicht angeschaltet,
er wollte für Jana nicht erreichbar sein, jetzt zog er
es aus der Jackentasche und schaltete es ein.
Nur damit du Bescheid weisst, schrieb er an Jana, ich bin in
Italien. Auf unbestimmte Zeit. J.
Keine Anrede, kein Gruß, kein nettes Wort.
Dann schickte er die SMS ab.
Die kleinen Orte, die vorüberzogen, registrierte er nicht.
Er sah aus dem Fenster, ohne wirklich etwas zu sehen, und
dachte an den letzten Streit. Es hatte bereits viele gegeben,
aber dieser hatte das Fass zum Überlaufen gebracht.
Jonathan hatte am Küchentisch gesessen und Zeitung gelesen.
»Was ist los?«, fragte Jana.
»Nichts ist los.«
»Du machst ein Gesicht - das ist nicht zum Aushalten.«
»Ich mache gar kein Gesicht.«
»Doch. Du müsstest dich mal sehen, da kann einem
schlecht werden!«
»Hör auf, auf mir rumzuhacken, und lass mich in Ruhe.«
Jana schnaufte. »Ich halte das nicht aus, Jon. Nie redest
du mit mir. Immer soll ich dich in Ruhe lassen, du hängst
hier mit finsterem Gesicht in der Gegend rum und hast nur
noch schlechte Laune. Nur noch!«
»Du hast schlechte Laune! Seit Tagen, Wochen, ach was,
seit Monaten. Keine Ahnung, was mit dir los ist, aber jetzt
komm mir nicht so! Ich hab keine schlechte Laune, aber
wenn du so weitermachst, kriege ich gleich welche!«
»Jonathan, du hast dich völlig verändert! Du bist nur
noch verbiestert und verbittert, ich habe dich schon ewig
nicht mehr lächeln sehen, und wenn du irgendetwas zu mir
sagst, dann meckerst du rum, kritisierst mich wegen jedem
Scheiß und weißt alles besser. Ich hab das monatelang er-
tragen und runtergeschluckt, aber irgendwann kann ich
auch nicht mehr. Ich bin nicht deine Feindin, Jon, ich sitze
im selben Boot, uns beiden ist dasselbe passiert, aber du
greifst mich ständig an! Was soll das?«
Jonathan knallte die Zeitung auf den Tisch. »Wer greift
denn hier wen an? Ha?«, schrie er. »Ich weiß nicht, was das
soll, Jana? Ich hatte keine schlechte Laune und wollte nur
in Ruhe meine Zeitung lesen, aber jetzt bin ich sauer. Durch
dein ewiges Gehetze und Rumgemäkle, durch dein ständiges
Stänkern ...«
»Ach so, jetzt bin ich es also? Natürlich. Wie wunderbar
du wieder den Spieß umdrehst!«
»Wenn du schlechte Laune hast, dann projizierst du es
immer auf andere und machst mir Vorwürfe, dass ich schlechte
Laune hätte. Fass dir mal an die eigene Nase!«
Jede Weichheit war aus Janas Gesicht verschwunden.
Ihre Züge waren hart und kalt. »Du kotzt mich an, Jon,
weißt du das?«
»Du kotzt mich genauso an, meine Liebe.«
»Na, das ist ja toll.«
»Das ist richtig toll.«
Jana schnappte nach Luft. Jonathan dachte, dass sie
jetzt genug hätte, und wollte gerade die Zeitung in die
Hand nehmen, als sie wieder anfing. Allerdings wesentlich
leiser.
»Es ist ja nicht erst seit ein paar Tagen, es geht seit Wochen
so, ach was, seit Monaten, eigentlich seit ..., du weißt
seit wann. Die ganze Welt ist dir egal, ich bin dir egal. Du
siehst mich nicht mehr, du hast mich seit Ewigkeiten nicht
mehr berührt.«
»Ich kann nicht, Himmelherrgott!«, schrie Jonathan.
»Du lebst nicht mehr mit mir!«
»Nein! Weil ich nicht nur nicht mehr mit dir, sondern
weil ich überhaupt nicht mehr leben will! Kapierst du das
nicht?«
Jonathan schwieg, aber seine zitternden Hände trommelten
ein Tremolo auf die Tischplatte, und er stierte zu
Boden.
»Irgendwann muss doch mal Schluss sein!« Jana wischte
energisch über die Arbeitsplatte. »Irgendwann müssen wir
beide doch mal wieder von vorn anfangen, Jon, einen Schlussstrich
ziehen, in die Zukunft schauen!«
»Nein!« Jonathan schrie wie einer, der von der Klippe
stürzt und begreift, dass er diesen Sturz niemals überleben
wird. »Nein, nein, nein!«
»Du hast sie immer nur vergöttert. Mit deiner Affenliebe
hast du alles kaputtgemacht«, murmelte Jana bitter. »Zwanzig
Jahre hat sie unser Leben bestimmt, und selbst jetzt
dreht sich immer noch alles nur um sie! Um sie, um sie, um
sie, um sie!« Dann schwieg sie und flüsterte: »Immer nur
um sie.«
Jonathan zitterte. Seine Gesichtshaut war knallrot, er
stand kurz vor der Explosion.
Jana sah ihn an und hatte Lust, ihn zu verletzen.
»Du hast sie immer mehr geliebt als mich. Und du hast
es mich verdammt spüren lassen. Und jetzt sitzt du hier
rum und schikanierst mich mit deiner Trauer, deiner Einsamkeit,
deinem Frust, was weiß ich. Und wirst mich noch
Jahre dafür strafen, dass ich alles geopfert habe: für dich,
für sie, für euch, für uns. Aber davon willst du nichts wissen,
du willst nur, dass alle dein Leid sehen, der Herr und
Meister geht kaputt, schaut her und bemitleidet ihn, Völker
der Welt, schaut auf diesen Mann!«
Ihre Stimme war schrill, hoch und spöttisch zugleich.
Jonathan sprang auf und schlug ihr ins Gesicht.
Sie schleuderte zurück, sank zusammen und hockte auf
dem Küchenfußboden.
Ohne jedes Mitleid sah er auf sie hinab und hätte ihr am
liebsten noch ins Gesicht gespuckt.
»Alle Reichtümer der Welt würde ich dafür geben, dich
nicht mehr sehen und ertragen zu müssen«, sagte er leise,
»meine Wut ist zu schade für dich.«
Damit drehte er sich um, verließ die Küche und ging
nach oben, um zu packen.
ZWEI
Als der Zug minutenlang durch die Dunkelheit eines Tunnels
donnerte, wurde Jonathan bewusst, dass er keine Fahrkarte
gekauft hatte.
Er saß jetzt auf dem Sprung. Beobachtete den Gang vor
sich, horchte nach hinten, ob er den Kontrolleur hörte, der
sich meist lautstark Gehör verschaffte, und kam sich vor
wie mit fünfzehn, als er zum Handballtraining schwarzgefahren
und jedes Mal tausend Tode gestorben war. Genauso
fühlte er sich jetzt.
Eine halbe Stunde ging alles gut. Doch dann, unmittelbar
nach San Giovanni Valdarno, kam der Schaffner
von vorn in den Wagen und verlangte die Fahrkarten. Jonathan
stand auf, verließ den Wagen gegen die Fahrtrichtung
und stellte sich zum Ausstieg an die letzte Tür. So
weit würde es der Schaffner bis zur nächsten Station nicht
schaffen.
Noch nie waren Jonathan fünf Minuten so lang vorgekommen.
Aber schließlich stand er doch unbehelligt und
sehr erleichtert auf dem Bahnsteig von Montevarchi / Terranuova
und wusste überhaupt nicht, wo er war. Er kannte die
Stadt nicht, und es war mittlerweile kurz vor fünf, dämmerte
bereits und fing an zu regnen.
Als er um das Bahnhofsgebäude herumging, jagte ihm
der kalte Wind eine Gänsehaut über den Rücken. Er fror
und zog sich die Jacke enger um den Körper.
Auf der kleinen Piazza vor dem Bahnhof standen nur
wenige Autos. Ein paar alte Männer saßen trotz des Regens
rauchend auf einigen Bänken vor einem Brunnen, in dem
Plastiktüten, aufgeweichte Papiertaschentücher und Laubreste
schwammen. Dieser Anblick war so trostlos, dass er
ihn kaum ertragen konnte. Er wandte sich nach rechts, ging
die Straße entlang bis zu einer unübersichtlichen Baustelle,
die er nur mit Mühe überquerte, da die Autos aus mehreren
Richtungen scheinbar aus dem Nichts auftauchten.
Ein paar Meter weiter begann die Fußgängerzone. Via
Roma las er an einer Hauswand.
Langsam schlenderte er die Straße entlang und blieb vor
fast jedem Schaufenster stehen. Bekleidungsgeschäfte, Optiker,
eine Apotheke, ein Gemischtwarenhändler, ein exquisites
Einrichtungshaus und zwei Zeitungsläden. Er kaufte
ein deutsch-italienisches Wörterbuch und eine Landkarte von
der Toskana.
Die Kirche wäre ihm beinah nicht aufgefallen, so unauffällig
lag sie eingebettet zwischen Wohn- und Amtshäusern.
Erst als eine alte Frau heraustrat und langsam Stufe
für Stufe die Treppe herunterstieg, weil sie Angst hatte zu
fallen, bemerkte er das von außen völlig unscheinbare Gotteshaus.
Er ging hinein und war überwältigt von der unfassbaren
Größe, die er zwischen den Häusern nicht vermutet
hätte.
Außer einem alten Mann, der mit rundem Rücken und
gesenktem Kopf in der ersten Reihe saß, war niemand in der
Kirche. Jonathan setzte sich ganz nach hinten, direkt neben
den Opferstock. Er schloss die Augen und roch kaltes Holz,
lange verwehten Weihrauch und verbranntes Wachs.
Er fror. Seine Füße waren eiskalt, aber er blieb dennoch
eine Viertelstunde sitzen. O Herr, sprach er in Gedanken,
obwohl er sich nicht erinnerte, nach seinem zwölften Geburtstag
jemals wieder gebetet zu haben, wo soll ich hin?
Was soll ich tun? Was hast du mit mir vor? Er wartete auf
eine Antwort, aber die Kirche blieb still und unverändert
wie zuvor.
Nach weiteren drei Minuten stand er mit klammen Gliedern
auf, entzündete eine Kerze am Opferstock und machte
sich dann auf den Weg, die Stadt zu verlassen, die ihm
an diesem Novembernachmittag zu laut und zu grau war
und ihn noch depressiver machte, als er ohnehin schon
war.
Er ließ sich treiben, wollte dem Schicksal die Entscheidung
überlassen und stieg am Ende der Fußgängerzone
in den ersten Bus, der kam. Siena stand auf der digitalen
Anzeige. Auf keinen Fall wollte er bis Siena fahren, nicht
schon wieder in eine Stadt, sondern irgendwo aussteigen, in
einem kleinen Ort, irgendwo.
Das leichte Schaukeln des Busses machte ihn müde, aber
er kämpfte gegen den Schlaf, um nicht erst an der Endstation
wieder aufzuwachen. Die langgestreckten, kalten und
funktionalen Industriebauten zwischen Montevarchi und
Bucine waren abstoßend, und Jonathan bedauerte, dass der
Schaffner im Zug so früh gekommen war. Vielleicht wäre
es besser gewesen, bis ins Latium zu fahren.
Hinter Bucine wurde die Landschaft lieblicher. Als er
vor sich auf einer Anhöhe Ambras mittelalterlichen Stadtkern
liegen sah, stieg er kurzerhand aus und ging in die
Altstadt.
Jede kleine Gasse, jede Treppe, jeden dunklen Gang erkundete
er und grüßte jeden, der ihm entgegenkam.
Allmählich wurde es dunkel. Das gelbe Licht der Straßenbeleuchtung
beruhigte ihn und weckte in ihm fast so
etwas wie ein heimatliches Gefühl.
In einem kleinen Alimentariladen kaufte er sich warme
Lasagne in einer Pappschachtel, die er auf der Straße im
Gehen aß, und betrat anschließend die Bar. Er bestellte
sich ein Mineralwasser und einen halben Liter Wein und
setzte sich an den Tisch unter dem Fernseher.
In der Bar war es laut und voll. Eine blonde und eine dunkelhaarige
Frau hinter dem Tresen bedienten mit stoischer
Ruhe. Er wusste, dass jetzt die Entscheidung fallen musste,
wie es an diesem Abend und in dieser Nacht mit ihm weitergehen
sollte. Wenn er es nicht schaffte, nach diesem halben
Liter sofort zu gehen, dann würde er hier versacken und
keine Unterkunft mehr finden. Nervös starrte er auf die Straße.
Sie glänzte im Licht der Laternen, es regnete jetzt stärker.
In seinem Wörterbuch suchte er sich schließlich die nötigen
Vokabeln heraus, um nach einem Zimmer für eine oder
mehrere Nächte zu fragen, aber zuerst wollte er in Ruhe
zu Ende trinken und jeden Schluck genießen, wenn er sich
mehr nicht genehmigen durfte.
Als sich der Wein warm in seinem Magen ausgebreitet
hatte und ihm leicht zu Kopf gestiegen war, ging er zum
Tresen.
»Scusi«, sagte er zu der Blonden, die kleine Espressounterteller
aus der Spülmaschine nahm und mit einem entsetzlich
lauten Scheppern aufeinanderknallte, »cerco camera.
Zimmer. Room. Per la notte, oder for a week. Oder länger.
Don't know.«
Offensichtlich hatte sie den wüsten Sprachenmix verstanden,
denn sie grinste, aber verzog auch gleichzeitig den Mund,
als wolle sie damit ausdrücken: Oh, das wird schwierig.
Jonathan bekam einen Schreck.
»Hotel?«, fragte er erneut. »Pensione?«
Jetzt zog die Blonde die Augenbrauen hoch. »Abbiamo
novembre!«, sagte sie beinah vorwurfsvoll, »tutto è chiuso!«
Dann wandte sie sich an zwei Bauern, die am Tresen standen,
Grappa tranken und den Fremden aufmerksam musterten.
»Der Mann hier sucht ein Zimmer zum Übernachten.
Wisst ihr was?« Und ohne die Antwort abzuwarten,
fragte sie Jonathan: »Tedesco?«
Jonathan nickte.
Riccardo hatte den Deutschen schon länger beobachtet.
Er schätzte ihn auf Ende vierzig, Anfang fünfzig, obwohl
seine Haare schlohweiß waren und ihm bis auf die Schultern
fielen. Sein Fünftagebart war grau, und seine Augen
wirkten müde.
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Die letzte Jahreszahl gibt die aktuelle Lizenzausgabe an.
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Autoren-Porträt von Sabine Thiesler
Sabine Thiesler, geboren und aufgewachsen in Berlin, studierte Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie arbeitete einige Jahre als Schauspielerin im Fernsehen und auf der Bühne und schrieb außerdem erfolgreich Theaterstücke und zahlreiche Drehbücher fürs Fernsehen (u.a. "Das Haus am Watt", "Der Mörder und sein Kind", "Stich ins Herz") und mehrere Folgen für die Reihen "Tatort" und "Polizeiruf 110". Bereits mit ihrem ersten Roman "Der Kindersammler" stand sie monatelang auf der Bestsellerliste. Ebenso mit den beiden folgenden Büchern "Hexenkind" und "Die Totengräberin".
Bibliographische Angaben
- Autor: Sabine Thiesler
- 2010, 1, 448 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005978
- ISBN-13: 9783868005974
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