Der mit den Wölfen lebt
Shaun Ellis wagt einen unglaublichen Schritt: Er lebt drei Jahre lang als Teil eines Rudels mit den wilden Wölfen in den Rocky Mountains.
Seine beeindruckende Geschichte zeigt, wie er bei den Wölfen zu sich selbst fand.
Seine beeindruckende Geschichte zeigt, wie er bei den Wölfen zu sich selbst fand.
Leider schon ausverkauft
Buch
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der mit den Wölfen lebt “
Shaun Ellis wagt einen unglaublichen Schritt: Er lebt drei Jahre lang als Teil eines Rudels mit den wilden Wölfen in den Rocky Mountains.
Seine beeindruckende Geschichte zeigt, wie er bei den Wölfen zu sich selbst fand.
Seine beeindruckende Geschichte zeigt, wie er bei den Wölfen zu sich selbst fand.
Klappentext zu „Der mit den Wölfen lebt “
Wild, einzigartig und packend wie ein AbenteuerromanAls Shaun Ellis im Zoo zum ersten mal einen Wolf sieht, spürt er sofort eine tiefe Verbundenheit und große Anziehungskraft. In den Rocky Mountains macht ihn ein Indianerführer auf ein wildes Rudel Wölfe aufmerksam. Ellis gelingt das Unglaubliche: Er wird von den Wölfen als Mitglied anerkannt und lebt mit ihnen, unter lebensbedrohlichen Bedingungen, drei Jahre lang in der Wildnis. Diese beeindruckende Geschichte veranschaulicht, wie ein Mann zu sich selbst findet und was wir von den Wölfen lernen können: Loyalität, Familiensinn und Zusammenhalt.
Lese-Probe zu „Der mit den Wölfen lebt “
Der mit den Wölfen lebt von Shaun EllisVorbemerkung des Autors
Wenn man mit Wölfen zusammenlebt, zählt nur eins: zu überleben und das Rudel zu schützen. Aus Tagen werden Wochen, und aus Wochen werden Jahre. Die Zeit, wie wir sie kennen, hat keine Bedeutung, und deshalb möchte ich mich im Voraus dafür entschuldigen, dass ich Daten und Zeiten gelegentlich etwas durcheinanderbringe. Ich habe nie ein Tagebuch geführt, war nie ein großer Briefschreiber und habe nie an irgendetwas gehangen. Während der längsten Zeit meines Daseins habe ich aus einem Rucksack gelebt, und deshalb besitze ich nur wenige irdische Güter. Folglich gibt es auch nur wenige Dinge, die mich daran erinnern könnten, wann bestimmte Ereignisse in meinem Leben genau stattgefunden haben. Sehen Sie mir deshalb bitte nach, wenn ich eine falsche Jahreszahl angebe. An die Ereignisse selbst erinnere ich mich so, als sei alles erst gestern geschehen.
Vorwort
Den Nerv getroffen
... mehr
Ich arbeitete als Aushilfe in einem Wildpark in Hertfordshire, einer der Grafschaften nördlich von London. Eines Tages tauchte vor dem Wolfsgehege ein Mann auf, der ein Kind in einem altmodischen, fast viktorianisch anmutenden Rollstuhl schob. Das Kind hatte ein großes rechteckiges Tablett vor sich, und mir fiel sofort auf, wie deplatziert die ganze Konstruktion wirkte. Der Mann erzählte mir, er und sein Sohn, der vielleicht 13 oder 14 Jahre alt und auf den ersten Blick erkennbar sehr schwer behindert war, seien den weiten Weg aus Schottland hierhergekommen - eine Strecke von ungefähr 800 Kilometern . Er hatte gehört, dass wir Besuchern einen direkten Kontakt mit den Wölfen erlaubten, und eine solche Begegnung wollte er seinem Sohn ermöglichen.
Ich war überrascht, dass dieser Mann so weit gefahren war, um seinem Sohn einen Wolf zu zeigen. Der Junge machte nicht den Eindruck, als ob er mit dieser Begegnung etwas anfangen könnte. Er saß bewegungslos und schweigend da, starrte Löcher in die Luft, und ich bezweifelte, ob er überhaupt in der Lage sein würde, das Tier auch nur zu streicheln. Normalerweise liebte ich diesen Teil meiner Arbeit. Die Kinder kamen mit so vielen Vorurteilen hier an. Sie schreckten zurück und kreischten, wenn sich der Wolf näherte, überzeugt davon, dass all die Geschichten, die sie gelesen, und die Cartoons, die sie gesehen hatten, der Wahrheit entsprachen, dass Wölfe hinterhältige, bösartige Kreaturen waren, die Großmütter auffraßen, die Häuser kleiner Schweine umbliesen und kleinen Mädchen an die Kehle gingen . Mit genau diesen entsetzlichen Geschichten war auch ich aufgewachsen. Erst viele Jahre später hatte ich entdeckt, dass Wölfe in Wirklichkeit scheue, intelligente Tiere sind, die eine hoch entwickelte Sozialstruktur haben und ihren Ruf als blutrünstige Monster absolut nicht verdienen. Nichts befriedigte mich mehr, als zu beobachten, wie die Kinder, die Wölfe berührten, meinen Geschichten über sie zuhörten und dabei ihre Vorurteile und Ignoranz verloren.
Ich empfand diese Arbeit fast als meine Mission. Wenn die Kinder die Tiere streicheln und ihnen in die Augen schauen konnten, dann würden sie sich im Laufe der Zeit hoffentlich selbst ein Urteil bilden, und zukünftige Generationen würden vielleicht bereit sein, den Wölfen wieder ihren rechtmäßigen Platz in der Welt zurückzugeben .
Es gab einmal eine Zeit, da lebten Wölfe und Menschen friedlich nebeneinander, in gegenseitigem Respekt, und der eine profitierte von der Lebensart des anderen. Leider ist diese Zeit längst vergangen, und ich glaube, wir sind dadurch ärmer geworden. Das damals herrschende natürliche Gleichgewicht existiert nicht mehr, und verschiedene Gattungen, darunter unsere eigene, konnten sich ungehemmt und - im wörtlichen Sinne - ungesund ausbreiten.
Das mag jetzt ein wenig überspannt klingen, aber ich glaube, dass die menschliche Gesellschaft nicht nur im Sinne einer Wiederherstellung des Gleichgewichts und Heilung der Natur davon profitieren könnte, wenn die Wölfe wieder wie ehedem durch die Wälder streifen würden. Wir könnten eine Menge von ihrer Loyalität gegenüber Familienmitgliedern lernen, von der Art, wie sie ihre Jungen erziehen und disziplinieren, wie sie sich um ihre Artgenossen kümmern und auf welche Weise sie ihr tödliches Waffenarsenal einsetzen.
Die Welt ist dafür noch nicht bereit, aber ich hoffe, dass ich durch meine Arbeit in den letzten 20 Jahren ein wenig dazu beigetragen habe, diesen Prozess in Gang zu setzen.
Wann immer ich ein Kind mit den Wölfen bekannt machte, war es lebenswichtig, dass dieses Kind keine Angst bekam. Ich musste die Reaktionen der Kleinen sorgfältig beobachten, damit die Übung am Ende nicht mehr Schaden als Nutzen hervorbrachte.
Dieser Junge sprach kein Wort. Er war unverkennbar sowohl körperlich als auch geistig behindert, und ich hielt ihn für autistisch. Das war eine problematische Konstellation, und ich fragte den Vater so taktvoll wie möglich, ob das Kind uns mitteilen könne, wenn es den Wolf nicht mehr in der Nähe haben wollte, wobei ich ihm erklärte, wie wichtig das war . »Das kann er nicht«, sagte der Mann ganz unverblümt. »Er hat noch nie ein Wort gesprochen und nie auf irgendetwas reagiert. Und er hat noch nie in seinem Leben eine Emotion gezeigt.«
Der gesunde Menschenverstand sagte mir, dass ich diesen Mann mit seinem armen Kind unverrichteter Dinge zurück nach Schottland schicken sollte - aber aus Gründen, die ich nur teilweise erklären kann, ließ ich mich auf das Experiment ein.
Wir hatten einen jungen Wolf namens Zarnesti im Gehege, der während seiner ersten Lebensmonate viel Körperkontakt zu Menschen gehabt hatte und sich deshalb hervorragend für eine Begegnung mit Kindern eignete. Seine Mutter war kurz nach der Geburt auf ihn getreten oder hatte sich auf ihn gerollt und dabei seinen Kiefer zerdrückt. Deshalb war er von Hand aufgezogen worden und Menschen gegenüber nicht so nervös wie die meisten Wölfe. Ich liebte ihn, denn er hatte einen ganz wunderbaren Charakter, aber er sah ein wenig aus wie Goofy, der Hund aus den Mickymaus-Heften.
Obwohl es an Wahnsinn grenzte, ging ich in das Gehege und kam mit Zarnesti auf dem Arm wieder heraus.
Er war damals ungefähr drei Monate alt, so groß wie ein Spaniel und ein sich windendes, strampelndes Energiebündel. Ich konnte ihn kaum halten, und er sprang mir fast aus den Armen, als ich ihn auf dem Tablett des altmodischen Rollstuhls vor dem Jungen absetzte. Ich hielt den Welpen in einem eisernen Griff, aber dann geschah ein kleines Wunder: Sobald er das Kind sah, wurde Zarnesti still. Er schaute dem Jungen in die Augen, und sie starrten einander an. Dann legte der junge Wolf sich hin, die Hinterbeine unter sich gezogen und die Vorderbeine ausgestreckt. Ich nahm eine Hand weg und merkte sehr schnell, dass ich ihn auch mit der zweiten loslassen konnte. Der Welpe schaute dem Kind weiter in die Augen, reckte dann nach einigen Momenten den Hals vor und begann, ihm das Gesicht abzulecken. Ich wollte eingreifen, weil ich Angst hatte, dass Zarnesti den Jungen mit seinen nadelscharfen Zähnen in die Lippen zwicken würde, wie junge Wölfe es bei den erwachsenen Tieren im Rudel tun, wenn sie diese auffordern, Futter auszuwürgen. Aber Zarnesti zwickte nicht, sondern leckte nur ganz sanft.
Die Szene war berührend. Als ich den Jungen anblickte, sah ich eine einzelne Träne in seinem rechten Auge aufsteigen, die dann langsam über seine Wange lief. In der Annahme, dass so etwas noch nie vorgekommen war, wandte ich mich seinem Vater zu. Der große, starke, tatkräftige Schotte stand da und beobachtete, was sich vor seinen Augen abspielte, und dabei strömten ihm die Tränen über das Gesicht.
Innerhalb weniger Sekunden war der kleine Wolf auf eine Weise zu diesem Jungen durchgedrungen, wie es kein einziger Mensch in 14 Jahren geschafft hatte.
1
Eine besondere Beziehung
Es war früh am Morgen. Wie ich es oft als Kind tat, war ich aus meinem Bett gekrochen und in die Scheune geschlichen, wo die Hofhunde schliefen, um mich bei ihnen einzukuscheln - eine Gewohnheit, bei der meine freundlichen Großeltern gerne ein Auge zudrückten . Ich war ein Einzelgänger, und die Hunde waren meine engsten Freunde, fast so etwas wie Geschwister für mich. Als ich aufwachte, stand der älteste Hund über mir, den Blick auf die Tür gerichtet. Sobald ich mich rührte, wandte er mir den Kopf zu, schaute mich an und hob eine Augenbraue. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sein Maul stand offen, und von seiner Zunge tropfte Speichel. Die jüngeren Hunde lagen zusammengerollt neben mir, wo auch der alte Bess hätte liegen sollen. Ich hörte draußen im Hof einen großen Tumult, und mein Großvater rief nach mir. Ich kann nicht älter als sechs oder sieben Jahre gewesen sein, aber diese Szene hat sich in mein Gedächtnis eingegraben, und obwohl ich das damals noch nicht ahnen konnte, war sie für mich der Beginn einer sehr langen Reise.
Bess hatte einen der Landarbeiter gebissen. Sein Arm war notdürftig mit einem Taschentuch verbunden, und das Blut sickerte durch den fadenscheinigen Stoff. Der Mann beklagte sich bitterlich . Er war in die Scheune gekommen, um eine Kettensäge zu holen, die auf einem Regal über meinem Kopf lag, und der Hund, der ihn gut kannte, war ohne Vorwarnung auf ihn losgegangen . Dabei war Bess eigentlich nicht bösartig; er hatte sein gesamtes Leben auf der Farm verbracht und noch nie einen Menschen angegriffen . Der verletzte Arbeiter regte sich furchtbar auf, aber mein Großvater, ein weiser und wunderbarer alter Mann, der nicht zur Hysterie neigte, wusste ihn bald zu beruhigen . Wie schon sein Vater zuvor hatte er sein ganzes Leben mit Tieren auf dem Land verbracht, und ihm war sofort klar, was passiert sein musste . Meine Verbindung mit den Hofhunden war so eng geworden, dass Bess, der älteste und dominanteste von ihnen, mich inzwischen als Rudelmitglied betrachtete, und noch dazu als ein junges . Als der Landarbeiter überraschend in die Scheune kam, wodurch Bess und wahrscheinlich auch die anderen Hunde aufwachten, hatte Bess angenommen, mir drohe Gefahr, und so hatte er mich auf die einzige Weise geschützt, die er kannte - genauso wie seine wilden Verwandten ihre eigenen Jungen schützten .
Mein Großvater hielt es im Interesse der Sicherheit für angezeigt, meine nächtlichen Ausflüge in die Scheune zu verbieten, aber weil er wusste, dass die Hunde eine so wichtige Rolle für mein Lebensglück spielten, sollte ich einen eigenen bekommen, der dann auch mit mir im Haus schlafen durfte .
Die Hündin eines benachbarten Farmers hatte kürzlich geworfen, und nicht lange nach dem Vorfall in der Scheune durfte ich meinen Großvater dorthin begleiten und mir einen Welpen aus dem Wurf aussuchen. Wir besaßen damals kein Auto, denn meine Großeltern waren einfache Leute, die von der Hand in den Mund lebten. Ein großer Teil unserer Nahrung bestand aus dem, was die Wildnis bot: Wir schossen Kaninchen, Hasen, Tauben und Fasanen, aber ich lernte von Anfang an, bei der Jagd maßvoll zu sein, die Natur zu respektieren und nie mehr zu nehmen, als wir brauchten oder die Population verkraften konnte . Wenn ich ein Tier tötete, wusste ich, dass ich es längs aufschneiden und ausnehmen musste; die Innereien warf ich dann ins Gebüsch, wo sie anderen Geschöpfen als Nahrung dienten. Es machte mir nichts aus, Kaninchen und Hasen zu töten oder ihnen das Fell abzuziehen und sie für den Kochtopf vorzubereiten. Leben und Tod gehörten zur natürlichen Welt, und auf der Farm waren wir ebenfalls ein Teil davon.
Der Farmer mit den Welpen war zwar ein Nachbar, aber in unserer Region meinte man damit jemanden, den man zu Fuß innerhalb eines Tages erreichen konnte. Also machten wir uns im ersten Morgengrauen nach dem Frühstück auf den Weg. Es war kalt draußen, und ich konnte meinen Atem in der frostigen Luft sehen. Ich trug einen warmen Mantel und Stiefel, und mein Proviantsack war mit kaltem Tee und dick belegten Käsebroten gefüllt, die meine Großmutter für uns gemacht hatte. An lange Wanderungen war ich gewöhnt - oft begleitete ich meinen Großvater, wenn er Nachbarn einen Freundschaftsbesuch abstattete oder Geschäfte mit ihnen machte -, und ich genoss die Zeit, die ich bei solchen Gelegenheiten mit ihm allein verbrachte. In der Nähe unserer Farm gab es keine anderen Kinder, mit denen ich hätte spielen können, und wir hatten weder einen Fernseher noch Videospiele oder andere Dinge, mit denen sich die Kinder heute vergnügen. Wir lebten meilenweit von allem entfernt; es gab nur mich und meine Großeltern, die Hunde und das Vieh auf dem Hof. Gelegentlich - jedenfalls kam mir das damals so vor - tauchte meine Mutter auf, aber das war selten, und mein Vater wurde nie erwähnt.
Doch ich war nicht unglücklich. Ich vergötterte meine Großeltern und dachte nie auch nur eine Sekunde, dass mir etwas fehlen könnte. Großvater und ich nahmen auf unseren Wanderungen die Hunde mit, und es dauerte nie lange, bevor er irgendwo anhielt, um mir etwas Interessantes zu zeigen. Das konnte beispielsweise ein verlassenes Nest im Gebüsch sein, und dann erzählte er mir alles über die Vögel, die es bewohnt hatten, wie viele Junge sie wahrscheinlich ausgebrütet hatten und wie weit ihr Revier sich erstreckt haben mochte . Er nahm das Nest auseinander, damit ich sehen konnte, wie kunstvoll es konstruiert war. Manchmal fand er auch ein zerbrochenes Vogelei auf dem Boden und erklärte mir, wie es - vielleicht von einem Räuber gestohlen - dort hingekommen sein mochte. Oder er entdeckte das Gewölle einer Eule auf einem hölzernen Torpfosten, zerlegte es und zeigte mir die winzigen Knochenfragmente, die einzigen Überbleibsel der Nagetiere, die der große Räuber in der vergangenen Nacht verspeist hatte.
Manchmal forderte mich Großvater auch auf, die Augen zu schließen und ihm zu sagen, was ich hören konnte. Bevor ich die Augen zumachte, hatte ich gedacht, es sei rundum ganz still gewesen, aber danach hörte ich einen geradezu betäubenden Lärm - das Singen und Zwitschern der Vögel, Insekten, die ihre Beine gegeneinander rieben, kleine Säugetiere, die vorbeihuschten, sogar das Blöken der Schafe in der Ferne oder das Husten einer Kuh, die drei Felder weiter stand . Es gab so viele verschiedene Geräusche und Lieder. Oder wir untersuchten einen Kaninchenbau, um festzustellen, ob er bewohnt war, oder identifizierten die Spuren, die Rehe und andere Tiere auf den schlammigen Wegen hinterlassen hatten. Jeder Ausflug wurde so zum Abenteuer, und jede Entdeckung war spannend. Ich liebte es, meinem Großvater zuzuhören, wenn er in seinem schweren Norfolk-Akzent erklärte, welche Vögel welche Beeren bevorzugten, oder warum Füchse mehr Tiere töteten, als sie fressen oder wegschleppen konnten . Und manchmal, wenn ich fragte, erzählte er auch über sich selbst und seine Kindheit und wie anders das Leben damals gewesen war, als es noch keine modernen Annehmlichkeiten wie Kühlschränke, Traktoren oder elektrischen Strom gab; wie sie mit der Sense gemäht und die Kühe von Hand gemolken hatten .
Wenn wir unser Ziel erreichten, ließ Großvater mich immer mit den Hunden draußen warten, während er sich mit demjenigen unterhielt, den er hatte treffen wollen. Es konnte manchmal einige Stunden dauern, wenn er und sein Freund bei einer Flasche Bier miteinander sprachen, aber ich hatte gelernt, geduldig zu sein. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich zu beklagen. Ich liebte diesen Mann über alles, stellte seine Autorität nie in Frage, und nichts war mir wichtiger als seine Anerkennung. Außerdem wusste ich, dass er immer zurückkehrte, egal, wie lange es dauerte. Irgendwann stand er plötzlich vor mir und sagte: »Dann komm, mein Junge!«, und ich schob meine Hand in seine raue Pranke. Wir machten uns auf den Heimweg und entdeckten neue Dinge, die wir anschauten und besprachen.
Ganz ähnlich verlief auch unser Ausflug zu dem Nachbarn, bei dem ich mir einen jungen Hund aussuchen durfte. Großvater und der Farmer begrüßten sich herzlich wie Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, und verschwanden gemeinsam in der Scheune, wo die Hündin mit ihren Welpen untergebracht war, während ich draußen im Hof blieb. »Warte hier, Junge«, sagte er, »es dauert nicht lange.« Trotz meiner Aufregung und meiner Ungeduld, die jungen Hunde zu sehen, suchte ich mir gehorsam einen bequemen Platz, setzte mich hin und wartete.
Plötzlich ließ ein Windstoß das Scheunentor knarren, und durch die schmale Öffnung schoss mit wütendem Gebell ein Hund auf mich zu, die Ohren flach an den Kopf gelegt. Ich kannte mich gut genug aus, um zu wissen, dass dies keine freundliche Begrüßung war. Ich blieb still sitzen, die Hände nah am Körper, und wartete; zur Furcht sah ich keinen Grund. Bess und die Hofhunde waren oft auf mich losgegangen, und so aggressiv sie im Rudel auch klangen, war ich doch nie zurückgewichen, und sobald sie mich abgeschnüffelt hatten, verhielten sie sich immer freundlich. Die Hündin hatte ihr Nackenfell gesträubt, den Schwanz erhoben, und als sie mich erreichte, knurrte sie mich mit gebleckten Zähnen an. Ich rührte mich nicht, sondern ließ sie meine Beine und Füße, die Hände und den Kopf abschnüffeln. Bald hörte das Knurren auf, und ich hielt ihr meine offenen Handflächen hin, die nach dem Käsebrot rochen, das ich unterwegs gegessen hatte. Sie leckte mir die Hände ab und schaute mir mit sanften Augen ins Gesicht. Ich fing an, das lange Fell unter ihrem Kinn zu kraulen, was ihr offensichtlich gefiel, denn sie setzte sich hin, drückte sich an mich und erlaubte mir, auch den Rest ihres seidigen Fells zu streicheln.
Das Scheunentor knarrte erneut, und während mein Großvater und der Farmer herauskamen, knurrte sie tief, gab ein scharfes Bellen von sich und stürzte auf die beiden Männer zu. Ich nahm an, dass sie die Mutter der Welpen war, und aus ihrem panischen Verhalten schloss ich, dass ihr Besucher nicht willkommen waren. »Ab in die Scheune?«, schrie der Farmer sie wütend an . Die Hündin duckte sich und schlich zu mir zurück. »Halt still, Junge«, warnte mich der Farmer. »Beweg dich nicht, dann tut sie dir auch nichts.« Aber während er auf mich zulief und die Hündin weiterhin anbrüllte, sie solle in der Scheune verschwinden, war mir vollkommen klar, dass er dem Tier nicht über den Weg traute. Als er mich erreichte, presste die Hündin ihren zitternden Körper ängstlich an mich, und entgegen seiner Aufforderung, mich nicht zu bewegen, kraulte ich sie wieder und redete sanft auf sie ein . »Du meine Güte? Nun schau dir das bloß an?«, staunte der Farmer, der seine Mütze in der Hand hielt und sich ungläubig den Kopf kratzte . »So was hab ich ja noch nie gesehen. Sonst lässt dieses Miststück niemanden an sich ran. Ich hätte sie längst nicht mehr, wenn sie nicht so gut mit den Schafen umgehen könnte, aber wenn Fremde kommen, ist sie eine echte Plage.«
»Ma sagt immer, dass der Junge ein besonderes Händchen für Hunde hat«, erwiderte mein Großvater, der in sicherer Entfernung geblieben war. »Sie schwört, dass er ihre Sprache versteht.«
Weil der Farmer sich nicht sicher war, ob die Hündin ruhig bleiben würde, sperrte er sie weg, während wir in die Scheune gingen, damit ich mir einen Welpen aussuchen konnte. Sie wurden eingezäunt hinter Strohballen gehalten, fünf insgesamt - vier Weibchen und ein kleiner Rüde -, die sich zu einem großen schwarz-braun-weißen Fellbündel zusammengekuschelt hatten. Sie waren Lurcher, eine Mischung unter Beteiligung von Windhunden, und würden folglich gute Jäger sein. Ich wusste, dass ich ein Weibchen wollte, denn Großvater hatte mir beigebracht, dass Hündinnen wesentlich besser als Rüden für ihre Familie sorgen, und ich wollte, dass dieser Hund sich sein Futter verdiente.
...
Übersetzung: Gisela Kretzschmar
© 2010 der deutschen Erstausgabe Arkana, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Ich arbeitete als Aushilfe in einem Wildpark in Hertfordshire, einer der Grafschaften nördlich von London. Eines Tages tauchte vor dem Wolfsgehege ein Mann auf, der ein Kind in einem altmodischen, fast viktorianisch anmutenden Rollstuhl schob. Das Kind hatte ein großes rechteckiges Tablett vor sich, und mir fiel sofort auf, wie deplatziert die ganze Konstruktion wirkte. Der Mann erzählte mir, er und sein Sohn, der vielleicht 13 oder 14 Jahre alt und auf den ersten Blick erkennbar sehr schwer behindert war, seien den weiten Weg aus Schottland hierhergekommen - eine Strecke von ungefähr 800 Kilometern . Er hatte gehört, dass wir Besuchern einen direkten Kontakt mit den Wölfen erlaubten, und eine solche Begegnung wollte er seinem Sohn ermöglichen.
Ich war überrascht, dass dieser Mann so weit gefahren war, um seinem Sohn einen Wolf zu zeigen. Der Junge machte nicht den Eindruck, als ob er mit dieser Begegnung etwas anfangen könnte. Er saß bewegungslos und schweigend da, starrte Löcher in die Luft, und ich bezweifelte, ob er überhaupt in der Lage sein würde, das Tier auch nur zu streicheln. Normalerweise liebte ich diesen Teil meiner Arbeit. Die Kinder kamen mit so vielen Vorurteilen hier an. Sie schreckten zurück und kreischten, wenn sich der Wolf näherte, überzeugt davon, dass all die Geschichten, die sie gelesen, und die Cartoons, die sie gesehen hatten, der Wahrheit entsprachen, dass Wölfe hinterhältige, bösartige Kreaturen waren, die Großmütter auffraßen, die Häuser kleiner Schweine umbliesen und kleinen Mädchen an die Kehle gingen . Mit genau diesen entsetzlichen Geschichten war auch ich aufgewachsen. Erst viele Jahre später hatte ich entdeckt, dass Wölfe in Wirklichkeit scheue, intelligente Tiere sind, die eine hoch entwickelte Sozialstruktur haben und ihren Ruf als blutrünstige Monster absolut nicht verdienen. Nichts befriedigte mich mehr, als zu beobachten, wie die Kinder, die Wölfe berührten, meinen Geschichten über sie zuhörten und dabei ihre Vorurteile und Ignoranz verloren.
Ich empfand diese Arbeit fast als meine Mission. Wenn die Kinder die Tiere streicheln und ihnen in die Augen schauen konnten, dann würden sie sich im Laufe der Zeit hoffentlich selbst ein Urteil bilden, und zukünftige Generationen würden vielleicht bereit sein, den Wölfen wieder ihren rechtmäßigen Platz in der Welt zurückzugeben .
Es gab einmal eine Zeit, da lebten Wölfe und Menschen friedlich nebeneinander, in gegenseitigem Respekt, und der eine profitierte von der Lebensart des anderen. Leider ist diese Zeit längst vergangen, und ich glaube, wir sind dadurch ärmer geworden. Das damals herrschende natürliche Gleichgewicht existiert nicht mehr, und verschiedene Gattungen, darunter unsere eigene, konnten sich ungehemmt und - im wörtlichen Sinne - ungesund ausbreiten.
Das mag jetzt ein wenig überspannt klingen, aber ich glaube, dass die menschliche Gesellschaft nicht nur im Sinne einer Wiederherstellung des Gleichgewichts und Heilung der Natur davon profitieren könnte, wenn die Wölfe wieder wie ehedem durch die Wälder streifen würden. Wir könnten eine Menge von ihrer Loyalität gegenüber Familienmitgliedern lernen, von der Art, wie sie ihre Jungen erziehen und disziplinieren, wie sie sich um ihre Artgenossen kümmern und auf welche Weise sie ihr tödliches Waffenarsenal einsetzen.
Die Welt ist dafür noch nicht bereit, aber ich hoffe, dass ich durch meine Arbeit in den letzten 20 Jahren ein wenig dazu beigetragen habe, diesen Prozess in Gang zu setzen.
Wann immer ich ein Kind mit den Wölfen bekannt machte, war es lebenswichtig, dass dieses Kind keine Angst bekam. Ich musste die Reaktionen der Kleinen sorgfältig beobachten, damit die Übung am Ende nicht mehr Schaden als Nutzen hervorbrachte.
Dieser Junge sprach kein Wort. Er war unverkennbar sowohl körperlich als auch geistig behindert, und ich hielt ihn für autistisch. Das war eine problematische Konstellation, und ich fragte den Vater so taktvoll wie möglich, ob das Kind uns mitteilen könne, wenn es den Wolf nicht mehr in der Nähe haben wollte, wobei ich ihm erklärte, wie wichtig das war . »Das kann er nicht«, sagte der Mann ganz unverblümt. »Er hat noch nie ein Wort gesprochen und nie auf irgendetwas reagiert. Und er hat noch nie in seinem Leben eine Emotion gezeigt.«
Der gesunde Menschenverstand sagte mir, dass ich diesen Mann mit seinem armen Kind unverrichteter Dinge zurück nach Schottland schicken sollte - aber aus Gründen, die ich nur teilweise erklären kann, ließ ich mich auf das Experiment ein.
Wir hatten einen jungen Wolf namens Zarnesti im Gehege, der während seiner ersten Lebensmonate viel Körperkontakt zu Menschen gehabt hatte und sich deshalb hervorragend für eine Begegnung mit Kindern eignete. Seine Mutter war kurz nach der Geburt auf ihn getreten oder hatte sich auf ihn gerollt und dabei seinen Kiefer zerdrückt. Deshalb war er von Hand aufgezogen worden und Menschen gegenüber nicht so nervös wie die meisten Wölfe. Ich liebte ihn, denn er hatte einen ganz wunderbaren Charakter, aber er sah ein wenig aus wie Goofy, der Hund aus den Mickymaus-Heften.
Obwohl es an Wahnsinn grenzte, ging ich in das Gehege und kam mit Zarnesti auf dem Arm wieder heraus.
Er war damals ungefähr drei Monate alt, so groß wie ein Spaniel und ein sich windendes, strampelndes Energiebündel. Ich konnte ihn kaum halten, und er sprang mir fast aus den Armen, als ich ihn auf dem Tablett des altmodischen Rollstuhls vor dem Jungen absetzte. Ich hielt den Welpen in einem eisernen Griff, aber dann geschah ein kleines Wunder: Sobald er das Kind sah, wurde Zarnesti still. Er schaute dem Jungen in die Augen, und sie starrten einander an. Dann legte der junge Wolf sich hin, die Hinterbeine unter sich gezogen und die Vorderbeine ausgestreckt. Ich nahm eine Hand weg und merkte sehr schnell, dass ich ihn auch mit der zweiten loslassen konnte. Der Welpe schaute dem Kind weiter in die Augen, reckte dann nach einigen Momenten den Hals vor und begann, ihm das Gesicht abzulecken. Ich wollte eingreifen, weil ich Angst hatte, dass Zarnesti den Jungen mit seinen nadelscharfen Zähnen in die Lippen zwicken würde, wie junge Wölfe es bei den erwachsenen Tieren im Rudel tun, wenn sie diese auffordern, Futter auszuwürgen. Aber Zarnesti zwickte nicht, sondern leckte nur ganz sanft.
Die Szene war berührend. Als ich den Jungen anblickte, sah ich eine einzelne Träne in seinem rechten Auge aufsteigen, die dann langsam über seine Wange lief. In der Annahme, dass so etwas noch nie vorgekommen war, wandte ich mich seinem Vater zu. Der große, starke, tatkräftige Schotte stand da und beobachtete, was sich vor seinen Augen abspielte, und dabei strömten ihm die Tränen über das Gesicht.
Innerhalb weniger Sekunden war der kleine Wolf auf eine Weise zu diesem Jungen durchgedrungen, wie es kein einziger Mensch in 14 Jahren geschafft hatte.
1
Eine besondere Beziehung
Es war früh am Morgen. Wie ich es oft als Kind tat, war ich aus meinem Bett gekrochen und in die Scheune geschlichen, wo die Hofhunde schliefen, um mich bei ihnen einzukuscheln - eine Gewohnheit, bei der meine freundlichen Großeltern gerne ein Auge zudrückten . Ich war ein Einzelgänger, und die Hunde waren meine engsten Freunde, fast so etwas wie Geschwister für mich. Als ich aufwachte, stand der älteste Hund über mir, den Blick auf die Tür gerichtet. Sobald ich mich rührte, wandte er mir den Kopf zu, schaute mich an und hob eine Augenbraue. Ich wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Sein Maul stand offen, und von seiner Zunge tropfte Speichel. Die jüngeren Hunde lagen zusammengerollt neben mir, wo auch der alte Bess hätte liegen sollen. Ich hörte draußen im Hof einen großen Tumult, und mein Großvater rief nach mir. Ich kann nicht älter als sechs oder sieben Jahre gewesen sein, aber diese Szene hat sich in mein Gedächtnis eingegraben, und obwohl ich das damals noch nicht ahnen konnte, war sie für mich der Beginn einer sehr langen Reise.
Bess hatte einen der Landarbeiter gebissen. Sein Arm war notdürftig mit einem Taschentuch verbunden, und das Blut sickerte durch den fadenscheinigen Stoff. Der Mann beklagte sich bitterlich . Er war in die Scheune gekommen, um eine Kettensäge zu holen, die auf einem Regal über meinem Kopf lag, und der Hund, der ihn gut kannte, war ohne Vorwarnung auf ihn losgegangen . Dabei war Bess eigentlich nicht bösartig; er hatte sein gesamtes Leben auf der Farm verbracht und noch nie einen Menschen angegriffen . Der verletzte Arbeiter regte sich furchtbar auf, aber mein Großvater, ein weiser und wunderbarer alter Mann, der nicht zur Hysterie neigte, wusste ihn bald zu beruhigen . Wie schon sein Vater zuvor hatte er sein ganzes Leben mit Tieren auf dem Land verbracht, und ihm war sofort klar, was passiert sein musste . Meine Verbindung mit den Hofhunden war so eng geworden, dass Bess, der älteste und dominanteste von ihnen, mich inzwischen als Rudelmitglied betrachtete, und noch dazu als ein junges . Als der Landarbeiter überraschend in die Scheune kam, wodurch Bess und wahrscheinlich auch die anderen Hunde aufwachten, hatte Bess angenommen, mir drohe Gefahr, und so hatte er mich auf die einzige Weise geschützt, die er kannte - genauso wie seine wilden Verwandten ihre eigenen Jungen schützten .
Mein Großvater hielt es im Interesse der Sicherheit für angezeigt, meine nächtlichen Ausflüge in die Scheune zu verbieten, aber weil er wusste, dass die Hunde eine so wichtige Rolle für mein Lebensglück spielten, sollte ich einen eigenen bekommen, der dann auch mit mir im Haus schlafen durfte .
Die Hündin eines benachbarten Farmers hatte kürzlich geworfen, und nicht lange nach dem Vorfall in der Scheune durfte ich meinen Großvater dorthin begleiten und mir einen Welpen aus dem Wurf aussuchen. Wir besaßen damals kein Auto, denn meine Großeltern waren einfache Leute, die von der Hand in den Mund lebten. Ein großer Teil unserer Nahrung bestand aus dem, was die Wildnis bot: Wir schossen Kaninchen, Hasen, Tauben und Fasanen, aber ich lernte von Anfang an, bei der Jagd maßvoll zu sein, die Natur zu respektieren und nie mehr zu nehmen, als wir brauchten oder die Population verkraften konnte . Wenn ich ein Tier tötete, wusste ich, dass ich es längs aufschneiden und ausnehmen musste; die Innereien warf ich dann ins Gebüsch, wo sie anderen Geschöpfen als Nahrung dienten. Es machte mir nichts aus, Kaninchen und Hasen zu töten oder ihnen das Fell abzuziehen und sie für den Kochtopf vorzubereiten. Leben und Tod gehörten zur natürlichen Welt, und auf der Farm waren wir ebenfalls ein Teil davon.
Der Farmer mit den Welpen war zwar ein Nachbar, aber in unserer Region meinte man damit jemanden, den man zu Fuß innerhalb eines Tages erreichen konnte. Also machten wir uns im ersten Morgengrauen nach dem Frühstück auf den Weg. Es war kalt draußen, und ich konnte meinen Atem in der frostigen Luft sehen. Ich trug einen warmen Mantel und Stiefel, und mein Proviantsack war mit kaltem Tee und dick belegten Käsebroten gefüllt, die meine Großmutter für uns gemacht hatte. An lange Wanderungen war ich gewöhnt - oft begleitete ich meinen Großvater, wenn er Nachbarn einen Freundschaftsbesuch abstattete oder Geschäfte mit ihnen machte -, und ich genoss die Zeit, die ich bei solchen Gelegenheiten mit ihm allein verbrachte. In der Nähe unserer Farm gab es keine anderen Kinder, mit denen ich hätte spielen können, und wir hatten weder einen Fernseher noch Videospiele oder andere Dinge, mit denen sich die Kinder heute vergnügen. Wir lebten meilenweit von allem entfernt; es gab nur mich und meine Großeltern, die Hunde und das Vieh auf dem Hof. Gelegentlich - jedenfalls kam mir das damals so vor - tauchte meine Mutter auf, aber das war selten, und mein Vater wurde nie erwähnt.
Doch ich war nicht unglücklich. Ich vergötterte meine Großeltern und dachte nie auch nur eine Sekunde, dass mir etwas fehlen könnte. Großvater und ich nahmen auf unseren Wanderungen die Hunde mit, und es dauerte nie lange, bevor er irgendwo anhielt, um mir etwas Interessantes zu zeigen. Das konnte beispielsweise ein verlassenes Nest im Gebüsch sein, und dann erzählte er mir alles über die Vögel, die es bewohnt hatten, wie viele Junge sie wahrscheinlich ausgebrütet hatten und wie weit ihr Revier sich erstreckt haben mochte . Er nahm das Nest auseinander, damit ich sehen konnte, wie kunstvoll es konstruiert war. Manchmal fand er auch ein zerbrochenes Vogelei auf dem Boden und erklärte mir, wie es - vielleicht von einem Räuber gestohlen - dort hingekommen sein mochte. Oder er entdeckte das Gewölle einer Eule auf einem hölzernen Torpfosten, zerlegte es und zeigte mir die winzigen Knochenfragmente, die einzigen Überbleibsel der Nagetiere, die der große Räuber in der vergangenen Nacht verspeist hatte.
Manchmal forderte mich Großvater auch auf, die Augen zu schließen und ihm zu sagen, was ich hören konnte. Bevor ich die Augen zumachte, hatte ich gedacht, es sei rundum ganz still gewesen, aber danach hörte ich einen geradezu betäubenden Lärm - das Singen und Zwitschern der Vögel, Insekten, die ihre Beine gegeneinander rieben, kleine Säugetiere, die vorbeihuschten, sogar das Blöken der Schafe in der Ferne oder das Husten einer Kuh, die drei Felder weiter stand . Es gab so viele verschiedene Geräusche und Lieder. Oder wir untersuchten einen Kaninchenbau, um festzustellen, ob er bewohnt war, oder identifizierten die Spuren, die Rehe und andere Tiere auf den schlammigen Wegen hinterlassen hatten. Jeder Ausflug wurde so zum Abenteuer, und jede Entdeckung war spannend. Ich liebte es, meinem Großvater zuzuhören, wenn er in seinem schweren Norfolk-Akzent erklärte, welche Vögel welche Beeren bevorzugten, oder warum Füchse mehr Tiere töteten, als sie fressen oder wegschleppen konnten . Und manchmal, wenn ich fragte, erzählte er auch über sich selbst und seine Kindheit und wie anders das Leben damals gewesen war, als es noch keine modernen Annehmlichkeiten wie Kühlschränke, Traktoren oder elektrischen Strom gab; wie sie mit der Sense gemäht und die Kühe von Hand gemolken hatten .
Wenn wir unser Ziel erreichten, ließ Großvater mich immer mit den Hunden draußen warten, während er sich mit demjenigen unterhielt, den er hatte treffen wollen. Es konnte manchmal einige Stunden dauern, wenn er und sein Freund bei einer Flasche Bier miteinander sprachen, aber ich hatte gelernt, geduldig zu sein. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, mich zu beklagen. Ich liebte diesen Mann über alles, stellte seine Autorität nie in Frage, und nichts war mir wichtiger als seine Anerkennung. Außerdem wusste ich, dass er immer zurückkehrte, egal, wie lange es dauerte. Irgendwann stand er plötzlich vor mir und sagte: »Dann komm, mein Junge!«, und ich schob meine Hand in seine raue Pranke. Wir machten uns auf den Heimweg und entdeckten neue Dinge, die wir anschauten und besprachen.
Ganz ähnlich verlief auch unser Ausflug zu dem Nachbarn, bei dem ich mir einen jungen Hund aussuchen durfte. Großvater und der Farmer begrüßten sich herzlich wie Freunde, die sich lange nicht gesehen hatten, und verschwanden gemeinsam in der Scheune, wo die Hündin mit ihren Welpen untergebracht war, während ich draußen im Hof blieb. »Warte hier, Junge«, sagte er, »es dauert nicht lange.« Trotz meiner Aufregung und meiner Ungeduld, die jungen Hunde zu sehen, suchte ich mir gehorsam einen bequemen Platz, setzte mich hin und wartete.
Plötzlich ließ ein Windstoß das Scheunentor knarren, und durch die schmale Öffnung schoss mit wütendem Gebell ein Hund auf mich zu, die Ohren flach an den Kopf gelegt. Ich kannte mich gut genug aus, um zu wissen, dass dies keine freundliche Begrüßung war. Ich blieb still sitzen, die Hände nah am Körper, und wartete; zur Furcht sah ich keinen Grund. Bess und die Hofhunde waren oft auf mich losgegangen, und so aggressiv sie im Rudel auch klangen, war ich doch nie zurückgewichen, und sobald sie mich abgeschnüffelt hatten, verhielten sie sich immer freundlich. Die Hündin hatte ihr Nackenfell gesträubt, den Schwanz erhoben, und als sie mich erreichte, knurrte sie mich mit gebleckten Zähnen an. Ich rührte mich nicht, sondern ließ sie meine Beine und Füße, die Hände und den Kopf abschnüffeln. Bald hörte das Knurren auf, und ich hielt ihr meine offenen Handflächen hin, die nach dem Käsebrot rochen, das ich unterwegs gegessen hatte. Sie leckte mir die Hände ab und schaute mir mit sanften Augen ins Gesicht. Ich fing an, das lange Fell unter ihrem Kinn zu kraulen, was ihr offensichtlich gefiel, denn sie setzte sich hin, drückte sich an mich und erlaubte mir, auch den Rest ihres seidigen Fells zu streicheln.
Das Scheunentor knarrte erneut, und während mein Großvater und der Farmer herauskamen, knurrte sie tief, gab ein scharfes Bellen von sich und stürzte auf die beiden Männer zu. Ich nahm an, dass sie die Mutter der Welpen war, und aus ihrem panischen Verhalten schloss ich, dass ihr Besucher nicht willkommen waren. »Ab in die Scheune?«, schrie der Farmer sie wütend an . Die Hündin duckte sich und schlich zu mir zurück. »Halt still, Junge«, warnte mich der Farmer. »Beweg dich nicht, dann tut sie dir auch nichts.« Aber während er auf mich zulief und die Hündin weiterhin anbrüllte, sie solle in der Scheune verschwinden, war mir vollkommen klar, dass er dem Tier nicht über den Weg traute. Als er mich erreichte, presste die Hündin ihren zitternden Körper ängstlich an mich, und entgegen seiner Aufforderung, mich nicht zu bewegen, kraulte ich sie wieder und redete sanft auf sie ein . »Du meine Güte? Nun schau dir das bloß an?«, staunte der Farmer, der seine Mütze in der Hand hielt und sich ungläubig den Kopf kratzte . »So was hab ich ja noch nie gesehen. Sonst lässt dieses Miststück niemanden an sich ran. Ich hätte sie längst nicht mehr, wenn sie nicht so gut mit den Schafen umgehen könnte, aber wenn Fremde kommen, ist sie eine echte Plage.«
»Ma sagt immer, dass der Junge ein besonderes Händchen für Hunde hat«, erwiderte mein Großvater, der in sicherer Entfernung geblieben war. »Sie schwört, dass er ihre Sprache versteht.«
Weil der Farmer sich nicht sicher war, ob die Hündin ruhig bleiben würde, sperrte er sie weg, während wir in die Scheune gingen, damit ich mir einen Welpen aussuchen konnte. Sie wurden eingezäunt hinter Strohballen gehalten, fünf insgesamt - vier Weibchen und ein kleiner Rüde -, die sich zu einem großen schwarz-braun-weißen Fellbündel zusammengekuschelt hatten. Sie waren Lurcher, eine Mischung unter Beteiligung von Windhunden, und würden folglich gute Jäger sein. Ich wusste, dass ich ein Weibchen wollte, denn Großvater hatte mir beigebracht, dass Hündinnen wesentlich besser als Rüden für ihre Familie sorgen, und ich wollte, dass dieser Hund sich sein Futter verdiente.
...
Übersetzung: Gisela Kretzschmar
© 2010 der deutschen Erstausgabe Arkana, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
... weniger
Autoren-Porträt von Shaun Ellis
Ellis, ShaunShaun Ellis wuchs auf dem Land im Osten Englands auf. Nach fünf Jahren bei den Royal Marines ging er für sieben Jahre zu den Nez Perce-Indianern in Idaho, wo er mit seinen Feldstudien unter Wölfen begann. Fast drei Jahre lebte er dafür im Wolfsrudel, was ihm einzigartige Einblicke in das Leben der Wölfe ermöglichte. Heute betreut er ein Wolfsrudel im Combe Martin Wildlife Park in Südengland. Zudem ist er an mehreren Forschungsprojekten in Polen und im Yellowstone Nationalpark beteiligt. Über seine Arbeit wurde in den Medien vielfach berichtet, u.a. in der Dokumentation "The Wolfman", die in Großbritannien und in den USA ausgestrahlt wurde, sowie in der Serie, "Living with the wolves", die der US-Sender Animal Spirit zeigte. Bislang sind von ihm die beiden Bücher "The Wolf Talk" und "Spirit of the Wolf" erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Shaun Ellis
- 2012, 384 Seiten, mit zahlreichen farbigen Abbildungen, Maße: 12,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Kretzschmar, Gisela
- Übersetzer: Gisela Kretzschmar
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442219973
- ISBN-13: 9783442219971
- Erscheinungsdatum: 15.05.2012
Kommentare zu "Der mit den Wölfen lebt"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der mit den Wölfen lebt“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 2Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der mit den Wölfen lebt".
Kommentar verfassen