Der Nachtzirkus
Roman
Als Marco und Celia einander begegnen, verlieben sie sich rettungslos ineinander. Was sie nicht wissen: Sie sind bereits unauflösbar aneinander gebunden. Doch nicht als Liebende - sondern als Gegner. Ihre Väter, beide Magier von Rang, liefern sich seit...
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Produktinformationen zu „Der Nachtzirkus “
Klappentext zu „Der Nachtzirkus “
Als Marco und Celia einander begegnen, verlieben sie sich rettungslos ineinander. Was sie nicht wissen: Sie sind bereits unauflösbar aneinander gebunden. Doch nicht als Liebende - sondern als Gegner. Ihre Väter, beide Magier von Rang, liefern sich seit Ewigkeiten einen unerbittlichen Wettkampf. Und sie haben ihre Kinder darauf vorbereitet, den Kampf auf Leben und Tod zu entscheiden. Der Nachtzirkus, eine magische, verwunschene Welt in Schwarz und Weiß, ist der Schauplatz des Geschehens. Unlösbar an den Zirkus und ihren tödlichen Wettstreit gebunden, ringen Celia und Marco verzweifelt um ihre Liebe, ihr Leben und eine traumhafte Welt, die für immer unterzugehen droht.Lese-Probe zu „Der Nachtzirkus “
Der Nachtzirkus von Erin MorgensternDer Zirkus kommt überraschend. Es gibt keine Ankündigung, keine Reklametafeln oder Plakate an Litfaßsäulen, keine Artikel und Zeitungsanzeigen. Plötzlich ist er da, wie aus dem Nichts.
Die hohen Zelte sind schwarzweiß gestreift, Gold und Purpur fehlen. Bis auf die angrenzenden Bäume und umliegenden Wiesen sieht man keine Farben. Schwarzweiße Streifen vor grauem Himmel, eine farblose Welt aus Zelten in unterschiedlichen Formen und Größen, umschlossen von einem kunstvoll geschmiedeten Eisenzaun. Selbst die wenigen Flecken Erde, die man dahinter sieht, sind schwarz oder weiß, bemalt oder bestäubt oder mit einem anderen Zirkustrick gefärbt.
Für Besucher ist er nicht geöffnet. Noch nicht.
Nach wenigen Stunden weiß die ganze Stadt Bescheid. Am Nachmittag gelangt die Nachricht auch in die umliegenden Ortschaften. Von Mund zu Mund verbreitet sich die Kunde schneller als durch fette Lettern auf Flugblättern oder Plakaten. Ein Zirkus, der plötzlich auftaucht, ist außergewöhnlich und spektakulär. Die Leute bestaunen die schwindelerregende Höhe einiger Zelte und blicken auf eine große Uhr über dem Eingangstor, die sich nur schwer beschreiben lässt. Ein schwarzes Schild hängt am Tor, auf dem in weißer Schrift zu lesen ist:
Vorstellungen: Nur in der Nacht
»Ein Zirkus, der nur nachts öffnet?«, fragen die Leute. Niemand weiß darauf eine Antwort, aber gegen Abend hat sich vor dem Eingang schon eine beträchtliche Menschenmenge versammelt.
... mehr
Natürlich bist auch du darunter. Deine Neugier hat wie immer gesiegt. Du stehst im schwindenden Licht, den Schal gegen den kühlen Abendwind eng um den Hals geschlungen, und möchtest mit eigenen Augen sehen, was das für ein Zirkus ist, der seine Tore erst im Dunkeln öffnet.
Das Kassenhäuschen hinter dem Eingangstor ist geschlossen. Auf dem Platz ist alles ruhig, nur hin und wieder kräuseln sich die Zeltbahnen im Wind. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Zeiger der großen schmiedeeisernen Uhr, sofern man so ein Wunderwerk noch Uhr nennen kann.
Das Gelände wirkt leer und verlassen. Aber dir ist, als könntest du im Duft des frischen Herbstlaubs gebrannten Zucker im Abendwind riechen. Eine feine Süße an den Rändern der Kälte.
Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, das letzte Licht der Dämmerung wird zusehends schwächer. Die Leute um dich herum werden langsam ungeduldig, ein Meer scharrender Füße und Gemurmel um die Frage, ob man nicht doch lieber gehen und den Abend im Warmen verbringen soll. Auch du überlegst gerade aufzubrechen, als es losgeht.
Erst ist es nur ein Rauschen, kaum hörbar durch den Wind und die Stimmen. Wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. Dann kommt das Licht.
Überall auf den Zelten erscheinen kleine Lichter, als wäre ein Schwarm gleißender Glühwürmchen auf dem Zirkus gelandet. Die wartende Menge verstummt beim Anblick des strahlenden Schauspiels. In deiner Nähe hält jemand die Luft an. Ein kleines Kind klatscht verzückt in die Hände.
Und dann erscheint vor den funkelnden Zelten am nächtlichen Himmel ein Schild.
Hoch über dem Eingang, verborgen hinter schmiedeeisernen Schnörkeln, blitzen weitere Glühlichter auf. Sie knistern und werden immer heller, manchmal versprühen sie auch weiße Funken und Rauch. Die Leute am Eingang treten ein paar Schritte zurück.
Am Anfang ist es nur wie ein zufälliges Flackern. Doch dann wird deutlich, dass die Glühwürmchen Buchstaben bilden. Der erste erkennbare Buchstabe ist ein C. Dann folgen sonderbarerweise ein q und mehrere e. Als die letzte Glühbirne erstrahlt und Rauch und Funken sich zerstreut haben, ist das hell leuchtende Schild in seiner ganzen Kunstfertigkeit zu lesen. Du lehnst dich nach links, um besser sehen zu können, und entzifferst den Schriftzug:
Le Cirque des Rêves
Einige in der Menge lächeln wissend, andere runzeln die Stirn und schauen fragend zu ihrem Nachbarn. Ein Kind neben dir zupft seine Mutter am Ärmel und will von ihr wissen, was da steht.
»Der Zirkus der Träume«, lautet die Antwort. Das Mädchen lächelt glücklich.
Dann bebt das Eisentor kurz und öffnet sich wie von selbst. Die Torflügel schwingen auf und laden die Menschen ein.
Jetzt ist der Zirkus geöffnet.
Jetzt darfst du eintreten.
Teil 1
Primor Dium
Der Cirque des Rêves besteht aus einer Fülle von Kreisen. Vielleicht liegt darin ein Tribut an die Ursprünge des Wortes »Zirkus«, das von Griechisch kirkos abstammt, was so viel heißt wie Kreis oder Ring. Es gibt viele solcher Querverbindungen zum Phänomen Zirkus im historischen Sinn, auch wenn dieser hier mit einem traditionellen Zirkus wenig zu tun hat. Statt aus einem einzelnen großen runden Zelt setzt sich dieser Zirkus aus pyramidenartigen Zeltgruppen zusammen, einige größer, andere recht klein. Sie stehen an ringförmigen Pfaden, umgeben von einem ringförmigen Zaun. Durchgängig und geschlossen.
- Friedrick Thiessen, 1892 Der Träumer braucht nur den Mond, um sich zurechtzufinden, und zur Strafe sieht er den Morgen schon vor dem Rest der Welt.
- Oscar Wilde, 1888
Unerwartete Post
NEW YORK, FEBRUAR 1873
Der Zauberkünstler Prospero bekommt immer ziemlich viel Post über das Theaterbüro, aber dies ist der erste Abschiedsbrief einer Toten, der ihn erreicht, und auch der erste Brief, der ihm am Mantelaufschlag eines fünfjährigen Mädchens überbracht wird.
Der Rechtsanwalt, der mit dem Mädchen ins Theater kommt, verweigert dem protestierenden Direktor jede Erklärung, er setzt es einfach ab, zuckt die Schultern, tippt sich an den Hut und verschwindet.
Der Theaterdirektor muss den Brief gar nicht erst lesen, um zu wissen, wer das Mädchen ist. Die hellen Augen unter den unbändigen braunen Locken sind kleine, weit geöffnete Abbilder der Augen des Zauberers. Er nimmt sie an die Hand, ihre kleinen Finger liegen zaghaft in seinen. Trotz der Wärme im Theater weigert sie sich, ihren Mantel auszuziehen, und schüttelt auf Fragen nach dem Grund immer nur beharrlich den Kopf.
Der Direktor nimmt das Mädchen mit in sein Büro, da er nicht weiß, was er sonst mit ihr anfangen soll. Umgeben von Schachteln mit Eintrittskarten und Kassenbelegen, sitzt sie still auf einem unbequemen Stuhl unter einer Reihe alter eingerahmter Zirkusplakate. Der Direktor bringt ihr einen Tee mit einem Extrastück Zucker, den sie aber nicht trinkt und kalt werden lässt.
Das Mädchen rührt und regt sich nicht auf seinem Stuhl. Mit im Schoß gefalteten Händen sitzt sie mucksmäuschenstill da. Ihr Blick ist auf ihre knapp über dem Boden baumelnden Stiefel gerichtet. Eine Schuhspitze ist abgewetzt, aber sie sind tadellos gebunden. Der versiegelte Umschlag bleibt am zweitobersten Knopf ihres Mantels hängen, bis Prospero eintrifft.
Sie hört ihn, noch ehe sich die Tür öffnet, denn im Gegensatz zum vorsichtigen Gang des Direktors, der mehrmals wie auf Samtpfoten ein und aus gegangen war, hallen Prosperos schwere Schritte im Gang wider.
»Da ist noch eine, ähm, Sendung für Sie«, sagt der Direktor beim Öffnen der Tür, führt ihn in das beengte Büro und stiehlt sich davon, um andere Angelegenheiten zu erledigen und dem Treffen nicht beiwohnen zu müssen.
Der Zauberer steht in seinem weißgesäumten Samtumhang mit einem Stapel Briefe in der Hand im Büro und schaut sich nach einer Schachtel oder Kiste um. Erst als das Mädchen zu ihm aufblickt und er seine eigenen Augen erkennt, versteht er, was der Direktor gemeint hat.
Zauberer Prosperos erste Reaktion auf die Begegnung mit seiner Tochter ist ein schlichtes »Verdammt«.
Das Mädchen blickt wieder auf seine Schuhe.
Der Zauberer schließt die Tür hinter sich, lässt den Briefstapel auf den Schreibtisch neben die Teetasse fallen und mustert das Mädchen.
Er reißt ihr den Umschlag vom Mantel, ohne die Klammer vom Knopf zu lösen.
Obwohl der Brief an seinen Künstlernamen adressiert ist, wird er im beiliegenden Schreiben mit seinem richtigen Namen angesprochen: Hector Bowen.
Er überfliegt den Inhalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, die der Verfasser gewünscht haben könnte. Nur eine Stelle ist ihm wichtig und lässt ihn innehalten: dass dieses Mädchen, das sich nun in seiner Obhut befindet, offenbar seine Tochter ist und dass sie Celia heißt.
»Sie hätte dich Miranda nennen sollen«, sagt der Zauberer kichernd zu dem Mädchen. »Aber wahrscheinlich war sie dazu nicht schlau genug.«
Das Mädchen blickt wieder zu ihm hoch. Dunkle schmale Augen unter üppigen Locken.
Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht.
Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt.
Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.
Hector Bowen nimmt das Gesicht seiner Tochter in seine behandschuhte Hand und schaut sie prüfend an. Als er sie wieder loslässt, sind auf ihren Wangen die roten Abdrücke seiner Finger zu sehen.
»Du könntest interessant sein«, sagt er.
Das Mädchen bleibt stumm.
In den folgenden Wochen unternimmt er mehrere Versuche, ihr einen neuen Namen zu geben, aber sie hört nur auf Celia.
*
Einige Monate später - der Zauberer ist zu dem Schluss gekommen, dass sie nun so weit sei - schreibt er seinerseits einen Brief. Und obwohl er ihn nicht adressiert, erreicht er seinen Bestimmungsort jenseits des Ozeans ohne Probleme.
Eine Wette unter Ehrenmännern
LONDON, OKTOBER 1873
Heute Abend ist die letzte Vorstellung eines sehr kurzen Engagements. Zauberer Prospero hat London schon seit einiger Zeit nicht mehr beehrt und war nur für eine Woche gebucht, Abendauftritte, keine Nachmittage.
Trotz der unverschämt teuren Preise waren die Eintrittskarten schnell ausverkauft, und das Theater ist so voll, dass sich viele Damen gegen die stickige Hitze, die trotz des herbstlichen Wetters draußen im Zuschauerraum herrscht, Kühlung ins Dekolleté fächern.
Irgendwann im Laufe des Abends verwandeln sich alle Fächer in kleine Vögel, die unter tosendem Applaus durch das Theater schwirren. Als die Vögel ihren Besitzerinnen dann wieder ordentlich gefaltet in den Schoß fallen, nimmt der Applaus noch zu - obwohl einige Damen vor Staunen vergessen zu klatschen.
Ein Mann im grauen Anzug, der links der Bühne in einer Loge sitzt, applaudiert nicht, weder bei dieser noch bei anderen Darbietungen. Er beobachtet den Mann auf der Bühne während des gesamten Abends mit gleichbleibend prüfendem Blick. Selbst bei Kunststücken, die dem gebannten Publikum begeisterten Applaus oder erstaunte Ausrufe entlocken, zuckt er nicht mit der Wimper.
Nach der Vorstellung schiebt sich der Mann im grauen Anzug geschickt durch die Menschenmenge im Theaterfoyer. Unbemerkt schlüpft er durch eine Tür hinter einem Vorhang zu den Garderoben hinter der Bühne. Kein Bühnenarbeiter oder Ankleider schenkt ihm Beachtung.
© Ullstein TB (Verlag)
Natürlich bist auch du darunter. Deine Neugier hat wie immer gesiegt. Du stehst im schwindenden Licht, den Schal gegen den kühlen Abendwind eng um den Hals geschlungen, und möchtest mit eigenen Augen sehen, was das für ein Zirkus ist, der seine Tore erst im Dunkeln öffnet.
Das Kassenhäuschen hinter dem Eingangstor ist geschlossen. Auf dem Platz ist alles ruhig, nur hin und wieder kräuseln sich die Zeltbahnen im Wind. Das Einzige, was sich bewegt, sind die Zeiger der großen schmiedeeisernen Uhr, sofern man so ein Wunderwerk noch Uhr nennen kann.
Das Gelände wirkt leer und verlassen. Aber dir ist, als könntest du im Duft des frischen Herbstlaubs gebrannten Zucker im Abendwind riechen. Eine feine Süße an den Rändern der Kälte.
Die Sonne verschwindet hinter dem Horizont, das letzte Licht der Dämmerung wird zusehends schwächer. Die Leute um dich herum werden langsam ungeduldig, ein Meer scharrender Füße und Gemurmel um die Frage, ob man nicht doch lieber gehen und den Abend im Warmen verbringen soll. Auch du überlegst gerade aufzubrechen, als es losgeht.
Erst ist es nur ein Rauschen, kaum hörbar durch den Wind und die Stimmen. Wie ein Teekessel kurz vor dem Kochen. Dann kommt das Licht.
Überall auf den Zelten erscheinen kleine Lichter, als wäre ein Schwarm gleißender Glühwürmchen auf dem Zirkus gelandet. Die wartende Menge verstummt beim Anblick des strahlenden Schauspiels. In deiner Nähe hält jemand die Luft an. Ein kleines Kind klatscht verzückt in die Hände.
Und dann erscheint vor den funkelnden Zelten am nächtlichen Himmel ein Schild.
Hoch über dem Eingang, verborgen hinter schmiedeeisernen Schnörkeln, blitzen weitere Glühlichter auf. Sie knistern und werden immer heller, manchmal versprühen sie auch weiße Funken und Rauch. Die Leute am Eingang treten ein paar Schritte zurück.
Am Anfang ist es nur wie ein zufälliges Flackern. Doch dann wird deutlich, dass die Glühwürmchen Buchstaben bilden. Der erste erkennbare Buchstabe ist ein C. Dann folgen sonderbarerweise ein q und mehrere e. Als die letzte Glühbirne erstrahlt und Rauch und Funken sich zerstreut haben, ist das hell leuchtende Schild in seiner ganzen Kunstfertigkeit zu lesen. Du lehnst dich nach links, um besser sehen zu können, und entzifferst den Schriftzug:
Le Cirque des Rêves
Einige in der Menge lächeln wissend, andere runzeln die Stirn und schauen fragend zu ihrem Nachbarn. Ein Kind neben dir zupft seine Mutter am Ärmel und will von ihr wissen, was da steht.
»Der Zirkus der Träume«, lautet die Antwort. Das Mädchen lächelt glücklich.
Dann bebt das Eisentor kurz und öffnet sich wie von selbst. Die Torflügel schwingen auf und laden die Menschen ein.
Jetzt ist der Zirkus geöffnet.
Jetzt darfst du eintreten.
Teil 1
Primor Dium
Der Cirque des Rêves besteht aus einer Fülle von Kreisen. Vielleicht liegt darin ein Tribut an die Ursprünge des Wortes »Zirkus«, das von Griechisch kirkos abstammt, was so viel heißt wie Kreis oder Ring. Es gibt viele solcher Querverbindungen zum Phänomen Zirkus im historischen Sinn, auch wenn dieser hier mit einem traditionellen Zirkus wenig zu tun hat. Statt aus einem einzelnen großen runden Zelt setzt sich dieser Zirkus aus pyramidenartigen Zeltgruppen zusammen, einige größer, andere recht klein. Sie stehen an ringförmigen Pfaden, umgeben von einem ringförmigen Zaun. Durchgängig und geschlossen.
- Friedrick Thiessen, 1892 Der Träumer braucht nur den Mond, um sich zurechtzufinden, und zur Strafe sieht er den Morgen schon vor dem Rest der Welt.
- Oscar Wilde, 1888
Unerwartete Post
NEW YORK, FEBRUAR 1873
Der Zauberkünstler Prospero bekommt immer ziemlich viel Post über das Theaterbüro, aber dies ist der erste Abschiedsbrief einer Toten, der ihn erreicht, und auch der erste Brief, der ihm am Mantelaufschlag eines fünfjährigen Mädchens überbracht wird.
Der Rechtsanwalt, der mit dem Mädchen ins Theater kommt, verweigert dem protestierenden Direktor jede Erklärung, er setzt es einfach ab, zuckt die Schultern, tippt sich an den Hut und verschwindet.
Der Theaterdirektor muss den Brief gar nicht erst lesen, um zu wissen, wer das Mädchen ist. Die hellen Augen unter den unbändigen braunen Locken sind kleine, weit geöffnete Abbilder der Augen des Zauberers. Er nimmt sie an die Hand, ihre kleinen Finger liegen zaghaft in seinen. Trotz der Wärme im Theater weigert sie sich, ihren Mantel auszuziehen, und schüttelt auf Fragen nach dem Grund immer nur beharrlich den Kopf.
Der Direktor nimmt das Mädchen mit in sein Büro, da er nicht weiß, was er sonst mit ihr anfangen soll. Umgeben von Schachteln mit Eintrittskarten und Kassenbelegen, sitzt sie still auf einem unbequemen Stuhl unter einer Reihe alter eingerahmter Zirkusplakate. Der Direktor bringt ihr einen Tee mit einem Extrastück Zucker, den sie aber nicht trinkt und kalt werden lässt.
Das Mädchen rührt und regt sich nicht auf seinem Stuhl. Mit im Schoß gefalteten Händen sitzt sie mucksmäuschenstill da. Ihr Blick ist auf ihre knapp über dem Boden baumelnden Stiefel gerichtet. Eine Schuhspitze ist abgewetzt, aber sie sind tadellos gebunden. Der versiegelte Umschlag bleibt am zweitobersten Knopf ihres Mantels hängen, bis Prospero eintrifft.
Sie hört ihn, noch ehe sich die Tür öffnet, denn im Gegensatz zum vorsichtigen Gang des Direktors, der mehrmals wie auf Samtpfoten ein und aus gegangen war, hallen Prosperos schwere Schritte im Gang wider.
»Da ist noch eine, ähm, Sendung für Sie«, sagt der Direktor beim Öffnen der Tür, führt ihn in das beengte Büro und stiehlt sich davon, um andere Angelegenheiten zu erledigen und dem Treffen nicht beiwohnen zu müssen.
Der Zauberer steht in seinem weißgesäumten Samtumhang mit einem Stapel Briefe in der Hand im Büro und schaut sich nach einer Schachtel oder Kiste um. Erst als das Mädchen zu ihm aufblickt und er seine eigenen Augen erkennt, versteht er, was der Direktor gemeint hat.
Zauberer Prosperos erste Reaktion auf die Begegnung mit seiner Tochter ist ein schlichtes »Verdammt«.
Das Mädchen blickt wieder auf seine Schuhe.
Der Zauberer schließt die Tür hinter sich, lässt den Briefstapel auf den Schreibtisch neben die Teetasse fallen und mustert das Mädchen.
Er reißt ihr den Umschlag vom Mantel, ohne die Klammer vom Knopf zu lösen.
Obwohl der Brief an seinen Künstlernamen adressiert ist, wird er im beiliegenden Schreiben mit seinem richtigen Namen angesprochen: Hector Bowen.
Er überfliegt den Inhalt, ohne auch nur die geringste Regung zu zeigen, die der Verfasser gewünscht haben könnte. Nur eine Stelle ist ihm wichtig und lässt ihn innehalten: dass dieses Mädchen, das sich nun in seiner Obhut befindet, offenbar seine Tochter ist und dass sie Celia heißt.
»Sie hätte dich Miranda nennen sollen«, sagt der Zauberer kichernd zu dem Mädchen. »Aber wahrscheinlich war sie dazu nicht schlau genug.«
Das Mädchen blickt wieder zu ihm hoch. Dunkle schmale Augen unter üppigen Locken.
Die Teetasse auf dem Schreibtisch beginnt zu wackeln. Die Oberfläche der Flüssigkeit schlägt kleine Wellen, und über die Glasur ziehen sich Risse; dann zerfällt das geblümte Porzellan in Scherben. Der kalte Tee überschwemmt die Untertasse und tropft auf den Boden, wo er auf dem gebohnerten Holz klebrige Spuren zieht.
Das Lächeln des Zauberers verschwindet. Mit gerunzelter Stirn schaut er auf den Schreibtisch, und die Teepfütze erhebt sich langsam wieder vom Boden. Die Scherben fliegen auf und ordnen sich um die Flüssigkeit herum, bis die Tasse wieder heil ist und feiner Dampf von ihr aufsteigt.
Das Mädchen starrt mit großen Augen auf die Tasse.
Hector Bowen nimmt das Gesicht seiner Tochter in seine behandschuhte Hand und schaut sie prüfend an. Als er sie wieder loslässt, sind auf ihren Wangen die roten Abdrücke seiner Finger zu sehen.
»Du könntest interessant sein«, sagt er.
Das Mädchen bleibt stumm.
In den folgenden Wochen unternimmt er mehrere Versuche, ihr einen neuen Namen zu geben, aber sie hört nur auf Celia.
*
Einige Monate später - der Zauberer ist zu dem Schluss gekommen, dass sie nun so weit sei - schreibt er seinerseits einen Brief. Und obwohl er ihn nicht adressiert, erreicht er seinen Bestimmungsort jenseits des Ozeans ohne Probleme.
Eine Wette unter Ehrenmännern
LONDON, OKTOBER 1873
Heute Abend ist die letzte Vorstellung eines sehr kurzen Engagements. Zauberer Prospero hat London schon seit einiger Zeit nicht mehr beehrt und war nur für eine Woche gebucht, Abendauftritte, keine Nachmittage.
Trotz der unverschämt teuren Preise waren die Eintrittskarten schnell ausverkauft, und das Theater ist so voll, dass sich viele Damen gegen die stickige Hitze, die trotz des herbstlichen Wetters draußen im Zuschauerraum herrscht, Kühlung ins Dekolleté fächern.
Irgendwann im Laufe des Abends verwandeln sich alle Fächer in kleine Vögel, die unter tosendem Applaus durch das Theater schwirren. Als die Vögel ihren Besitzerinnen dann wieder ordentlich gefaltet in den Schoß fallen, nimmt der Applaus noch zu - obwohl einige Damen vor Staunen vergessen zu klatschen.
Ein Mann im grauen Anzug, der links der Bühne in einer Loge sitzt, applaudiert nicht, weder bei dieser noch bei anderen Darbietungen. Er beobachtet den Mann auf der Bühne während des gesamten Abends mit gleichbleibend prüfendem Blick. Selbst bei Kunststücken, die dem gebannten Publikum begeisterten Applaus oder erstaunte Ausrufe entlocken, zuckt er nicht mit der Wimper.
Nach der Vorstellung schiebt sich der Mann im grauen Anzug geschickt durch die Menschenmenge im Theaterfoyer. Unbemerkt schlüpft er durch eine Tür hinter einem Vorhang zu den Garderoben hinter der Bühne. Kein Bühnenarbeiter oder Ankleider schenkt ihm Beachtung.
© Ullstein TB (Verlag)
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Autoren-Porträt von Erin Morgenstern
Morgenstern, ErinErin Morgenstern ist bildende Künstlerin und Autorin. Sie lebt mit ihren zwei Katzen in Salem, Massachusetts. Der Nachtzirkus ist ihr erster Roman.www.erinmorgenstern.com
Bibliographische Angaben
- Autor: Erin Morgenstern
- 2013, 3. Aufl., 464 Seiten, Maße: 12 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung:Jakobeit, Brigitte
- Übersetzer: Brigitte Jakobeit
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 354828549X
- ISBN-13: 9783548285498
- Erscheinungsdatum: 11.10.2013
Rezension zu „Der Nachtzirkus “
"Auch sprachlich magisch." BÜCHER 20120531
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