Der Pestengel von Freiburg
"Ein Plädoyer für die Menschlichkeit und ein historischer Roman, wie man ihn sich wünscht."
STERN.DE
Die Pest hat im Freiburg des Jahres 1348 Einzug gehalten. Schon seit Kindertagen ist Benedikt in Esther verliebt, doch...
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Produktinformationen zu „Der Pestengel von Freiburg “
"Ein Plädoyer für die Menschlichkeit und ein historischer Roman, wie man ihn sich wünscht."
STERN.DE
Die Pest hat im Freiburg des Jahres 1348 Einzug gehalten. Schon seit Kindertagen ist Benedikt in Esther verliebt, doch eine Liebe zwischen einem Christen und einer Jüdin darf nicht sein. Benedikt gibt seiner Mutter Clara die Schuld am Scheitern seiner großen Liebe und sagt sich von ihr los. Clara hat nach dem Tod ihres Mannes Heinrich, einem Wundarzt, dessen Erbe angetreten. Und sie nimmt den Kampf gegen den Schwarzen Tod und den Hass gegen die Juden auf.
Lese-Probe zu „Der Pestengel von Freiburg “
Der Pestengel von Freiburg von Astrid FritzKapitel 1
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Schwefelgelb türmten sich die Wolken gen Süden, als ein Donnerschlag die umliegenden Berghänge erzittern ließ. Die Bauersleute starrten fassungslos auf die Flamme, die dem Wolkengebirge entwich - eine Flamme von grellem, unwirklichem Blau, die allmählich größer wurde und auf die Menschen zuströmte. Eine Frauengestalt in weißem Gewand löste sich daraus, das offene Haar schimmerte silbern, die Augen glänzten, um die Stirn strahlte ein feuriger Kranz. Majestätisch hob sie die Hand und schwebte auf den Ersten zu, einen mageren Burschen, der aufschrie und doch keinen Laut herausbrachte. Schon schleuderte sie einen Pfeil aus bleicher Hand, schon ging der Junge in die Knie, bäumte sich auf und sackte leblos in sich zusammen. Der Altbauer war der Nächste in der Reihe, nach ihm seine beiden Knechte, die Mägde, seine Frau, die jüngsten Kinder - keinen verschonte die Todesbotin. Vom nahen Dorf her begannen die Hunde zu heulen, als sich der letzte der dreizehn Leiber in die Erde schmiegte und verstarb.
«Der Pestengel», entfuhr es Clara. Sie stellte den Milchkrug so heftig auf dem Tisch ab, dass er überschwappte, und bekreuzigte sich.
Ihr Mann zog die Augenbrauen zusammen. «Ein dummer Traum, nichts weiter.»
«Mag sein.» Benedikt wirkte noch immer verstört. «Aber
ich bekomme das entsetzliche Bild nicht aus dem Kopf. Und dann - jedermann weiß doch, dass Träume in die Zukunft weisen können.»
Heinrich Grathwohl warf seiner Frau einen missbilligenden Blick zu. «Das hast du jetzt von deinem ewigen Gerede von Zeichen und Träumen. Schau dir nur mal die Johanna an -ganz verschreckt sieht sie aus.»
Eine Zeit lang war nur das Knacken des Herdfeuers zu vernehmen. Sein flackernder Schein spendete das einzige Licht an diesem dunklen Wintermorgen.
Clara gab sich einen Ruck.
«Euer Vater hat recht. Manchmal träumt man auch von Sachen, die einem nicht aus dem Sinn gehen.» Sie betrachtete Benedikt, ihren Ältesten, voller Zuneigung. Schon als Knabe war oft die Phantasie mit ihm durchgegangen, hatte er sich in Träumereien verloren, wo andre Kinder auf der Gasse sich um einen Ball gerauft hatten.
«Bei euch auf der Baustelle wird viel geschwatzt», fuhr sie fort. «Wahrscheinlich hast du da irgendwas aufgeschnappt.»
Das herrische Klopfen draußen an der Haustür unterbrach ihr Gespräch. Solcherart pflegte sich nur der Gerichtsbote anzukündigen.
Der Hausvater zog eine Grimasse und verließ die wohlig warme Küche Richtung Haustür. In der Regel hatte ein Besuch des Boten nichts Gutes zu bedeuten, schon gar nicht zu so früher Stunde. Clara hörte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde, dann die knarzende Stimme des Büttels. Als ihr Mann mit einem Schwall kalter Luft zurückkehrte, zerrte er Hut und Umhang vom Wandhaken.
«Ich muss zur Gerichtsschau. Ein totes Neugeborenes, im Weinkeller vom Spital.»
«Heilige Elisabeth, wie furchtbar!» Clara bekreuzigte sich zum zweiten Mal an diesem Morgen. «Willst du nicht wenigstens noch fertig essen?»
Heinrich Grathwohl schüttelte den Kopf. «Behaimer wartet schon. Ach, das hätt ich beinah vergessen.»
Er zog einen verschlossenen Tiegel vom Küchenbord und reichte ihn Benedikt.
«Eine Paste aus Eibischwurzel. Bring sie rasch zu den Grünbaums, ich hab es bereits für gestern versprochen. - Ihr Arzt ist mal wieder krank», fügte er, in Claras Richtung, fast entschuldigend hinzu. Dann war er auch schon aus der Küche verschwunden.
Clara riss ihrem Sohn das Töpfchen aus der Hand.
«Lass nur, ich mach das. Ich muss ohnehin nachher zum Apotheker und zum Markt.» Sie tat, als bemerke sie die Enttäuschung in Benedikts Blick nicht. «Und du, Johanna, geh die Kleinen wecken. Es ist ja schon helllichter Tag. - Was glaubst du, Benedikt», sie versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben, «wirst du heut nach der Arbeit wieder mit Meister Johannes zu Tisch gehen?»
Benedikt zuckte die Schultern. «Ich weiß es nicht.»
«Ach, mein Junge. Ich bin so stolz auf dich. In so kurzer Zeit schon Meisterknecht.»
Sie strich ihm über das dichte, wellige Haar, das mit den Jahren immer dunkler wurde. Als kleiner Junge hatte er goldblonde Locken gehabt, die ihm bis über die Schulter fielen, und es hatte ihr im Herzen wehgetan, dass sie sie eines Tages abschneiden musste. Die Gassenbuben hatten ihn nämlich als «Mägdelein» zu hänseln begonnen.
«Mutter!» Benedikt entwand sich ihrer Zärtlichkeit. «Ich bin kein Kind mehr.»
Clara zog ihre Hand zurück. «Ich weiß. Viel zu schnell werdet ihr alle groß.»
Sie betrachtete Johanna, die in zwei Jahren, wenn sie sechzehn wurde, Benedikts Kinderfreund heiraten würde, den Tucher Meinwart. Mit dessen Eltern war bereits alles abgesprochen. Clara unterdrückte einen Seufzer.
«Und vergiss nicht wieder deine Handschuhe. Es ist bitterkalt draußen.»
Als sie ihren Sohn zur Haustür brachte, musste sie an sich halten, ihm keinen Kuss auf die Stirn zu drücken. Benedikt hatte recht - am liebsten würde sie ihn noch immer hätscheln und umsorgen wie ein Kleinkind. Aber vielleicht wollte sie auch nur die Strenge ihres Ehegefährten ein wenig ausgleichen. Heinrich nämlich hatte nie verwunden, dass sein Ältester nicht in seine Fußstapfen getreten war und sich stattdessen in ungeahnter Starrköpfigkeit für eine Lehre als Steinmetz entschieden hatte. Dass der Junge in nur vier Jahren seine Lehrzeit durchlaufen hatte und bereits jetzt, mit gerade einmal zwanzig, vom Gesellen zum Meisterknecht berufen worden war und für die hochangesehene Kirchenbauhütte arbeitete, schien seinen Vater nur wenig zu versöhnen. Nicht einmal, dass er dereinst als Steinmetzmeister zu den bestbezahlten Handwerkern gehören würde.
Keine halbe Stunde später öffnete Clara das Hoftor und trat hinaus auf die Webergasse. Von hier waren es nur ein paar Schritte hinüber zur Großen Gass, wo die hiesigen Marktleute ihre Erzeugnisse feilboten. Eisiger Wind blies ihr entgegen, und sie schlang sich ihr wollenes Tuch enger um den Kopf. Die Holztrippen unter den Schuhen hätte sie sich heute ersparen können, so festgefroren war der Boden.
Jemand hatte das Trittbrett, das hier wie überall von der Haustür zu den Bohlen in der Straßenmitte führte, zur Seite gezogen. Das war sicher einer der Juden gewesen, die sich fortwährend darüber beklagten, mit ihren Karren nicht mehr durchzukommen vor lauter Brettern. Aber wie sonst hätte man in diesem bislang ganz und gar verregneten Winter aus dem Haus gekonnt? Die Böden waren am Ende völlig aufgeweicht und von tiefen Fahrrinnen durchzogen gewesen, nur mehr ein einziger Matsch aus Morast, Schweine-, Hunde- und Hühnerkot, der die Abwassergräben auf der Gassenmitte verstopfte. Und wie die Menschen nun mal waren: Sobald die Gassenfeger nicht mehr nachkamen, den durchnässten Unflat wegzuschaffen, kippten sie trotz strenger Verbote erst recht ihre Brunzkacheln und Essensreste aus dem Fenster und lockten damit noch mehr Viehzeug und Gestank an.
Clara schnaubte. Wenigstens hierin erwies es sich als Vorteil, Tür an Tür mit den Juden zu leben. Bei ihnen war es um einiges sauberer als in den restlichen Gassen der Stadt, wo man sogar über tote Säue und Katzen stolperte und sich die Misthaufen bis zu den Gräben häuften.
Sie schickte sich eben an, in Richtung Marktgasse zu gehen, als Johannas Rufen sie innehalten ließ.
«Du hast was vergessen, Mutter.»
Das Mädchen stand in der Haustür und hielt ihr den tönernen Tiegel entgegen.
«Ach herrje, die Paste. Ich dank dir, meine Liebe. Vergiss nicht, das restliche Kraut einzusäuern. Und wenn du Kathrins Verband wechselst, lass den Arm ein Weilchen an der frischen Luft. Das tut der Wunde gut.» Sie machte sich immer noch Sorgen um ihre Kleinste, die sich beim Spielen am Herdfeuer verbrannt hatte.
Johanna lächelte ihr feines Lächeln. «Ich weiß schon, Mutter.»
Clara nickte. Ihre Älteste war so ganz anders als Benedikt. So verständig und umsichtig, dazu fleißiger als jede Magd. Bald schon ein wenig zu uneigennützig, befand Clara. Einem Weib konnte das zum Schaden werden - und sie dachte dabei unwillkürlich an den jungen Tucher. Johanna hatte damals in das Eheversprechen eingewilligt, obgleich dem Mädchen der stille, schüchterne Sohn des Wollschlägers weitaus besser gefallen hatte. Aber als fünftes Kind einer ärmlichen Familie würde der wohl kaum jemals seine eigene Familie angemessen ernähren können. Meinwarts Vater hingegen war ein erfolgreicher Kaufherr, der seinen Handel bis nach Savoyen und ins Burgund betrieb. Zudem kannte man sich gut, da die Tuchers im Haus gegenüber gewohnt hatten und die Kinder miteinander aufgewachsen waren. Inzwischen allerdings waren sie in ein weitaus prächtigeres Haus am Markt gezogen - auch weil sie nicht länger am Eingang zum Judenviertel wohnen wollten. Und aus dem aufgeweckten, etwas wilden Knaben Meinwart war ein eitler Nichtsnutz und Daumendreher geworden, der jedem Weiberrock nachlief. Es war zu befürchten, dass er Johannas Selbstlosigkeit gehörig ausnutzen würde.
Als Clara ihren Mann einmal darauf angesprochen hatte, ob Meinwart wirklich der Richtige sei für ihre Tochter, hatte Heinrich gelacht. «Der Junge ist halt im Alter, wo er sich die Hörner abstößt. Besser jetzt als im Stand der Ehe. Unser Benedikt dürfte sich da ruhig was abschauen - so wie der sich immer nur in seine Arbeit vergräbt.»
Während der kurzen Wegstrecke hinüber ins Haus Zum Grünen Baum verlangsamten sich Claras Schritte. Sie verspürte keinerlei Lust, bei den Grünbaums vorbeizuschauen - aber immer noch besser sie selbst als ihr Sohn. Warum nur musste Heinrich immer gleich so voreilig seine Hilfe anbieten? Was ging es ihn an, wenn die Juden einen Arzt hatten, der selbst ständig krank war? Sollten sich die Grünbaums doch anderweitig um ihre Heilmittel und Kräuter kümmern.
Sie setzte ihren Einkaufskorb ab und rammte den goldfarbenen Türklopfer gegen das Holz. Dabei bemühte sie sich, ihren Blick vom rechten Türpfosten fernzuhalten, an dem, wie an allen Türen der Juden, eine längliche Metallkapsel befestigt war. Ihr Mann hatte zwar behauptet, sie enthalte einen Pergamentstreifen mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis, aber sie hielt es eher mit dem, was die Leute hier munkelten. Das geheimnisvolle Ding nämlich habe mit Zauberei zu tun, die die Hebräer heimlich ausübten. Die Flickschneiderin von der Oberen Linde behauptete gar, auf jenem Pergament sei der Pakt mit dem Leibhaftigen besiegelt, und zur Bekräftigung des Bundes küssten die Juden dieses Ding beim Übertreten der Schwelle, indem sie die Fingerspitzen der rechten Hand an die Metallkapsel und dann zum Mund führten.
Clara selbst hatte im letzten Jahr mit angehört, wie der alte Moische ben Chajm, nach seinem Haus allgemein Grünbaum genannt, beim Anbringen der Kapsel beschwörende Worte gesprochen hatte, die klangen wie: Bara Atah Adona. Das sei Hebräisch, hatte Heinrich ihr weismachen wollen, die Sprache ihrer Vorväter. Aber warum sollte sie das glauben, wo ihr Mann doch kein Wort Hebräisch verstand? Sie waren ums Haar in Streit geraten, wie schon häufiger, wenn es um die Grünbaums ging.
Sie klopfte erneut, als die Tür auch schon aufsprang. «Guten Morgen, Frau Nachbarin.» Das Dienstmädchen knickste höflich. «Kommt nur herein.»
Clara folgte dem Mädchen durch die düstere Eingangshalle die Treppe hinauf in die Wohnstube, an deren Türrahmen ebenfalls einer dieser metallenen Behälter hing. Mit gesenktem Blick ging sie daran vorbei und betrat das geräumige, hellerleuchtete Zimmer. Stickige Wärme schlug ihr entgegen.
Als ihr Blick durch den Raum schweifte, staunte sie einmal mehr über die prächtige Ausstattung im Innern des Hauses, das sich äußerlich so gar nicht unterschied von den eher schmucklosen Häusern in dieser Ecke der Stadt. Flauschige, bunte Teppiche aus dem fernen Morgenland bedeckten den Dielenboden, die Wände waren mit bestickten Vorhängen bespannt, auf den Bänken entlang der Wand luden dickgepolsterte Sitzkissen aus dunkelrotem Samt zum Ausruhen ein. Alles, was bei ihnen drüben aus blankem, rohem Holz gezimmert war, sah man hier mit weichen, warmen Stoffen überzogen, und wo nicht, boten sich dem Auge kunstvolle Schnitzereien oder kostbare Eisenbeschläge, wie bei den Türen und Truhen. Auf der Anrichte blitzte das Silber und Kupfer von Leuchtern und Trinkgefäßen, dazwischen fanden sich Dosen, Kästchen und Täfelchen, in die fremdartige Schriftzeichen geritzt waren. Allein die vielen Wachskerzen in den Leuchtern, die jetzt im Winter, wo die Fensterläden geschlossen waren, allesamt angesteckt waren, mussten ein Vermögen gekostet haben!
Ein röhrender Hustenanfall ließ Clara zusammenzucken. Auf einem gepolsterten Lehnstuhl, dicht bei der Ofenwandung, die mit jenen neuartigen, grünglasierten Kacheln verkleidet war, sah sie die Hausherrin sitzen. Kopf und Hals hatte sie mit einem dicken Tuch umhüllt.
«Grüß dich Gott, Deborah. Das hört sich gar nicht gut an.» «Friede sei mit dir», krächzte die Frau.
«Hier, das soll ich dir von meinem Heinrich geben. Eibischwurzel gegen den Husten. Soll er heut noch nach dir sehen?»
Deborah winkte ab. «Er hat die Paste doch wohl hoffentlich so zubereitet, wie Moische es ihm erklärt hat?»
«Das musst du ihn schon selbst fragen. Ich kenn mich mit euren Speisevorschriften nicht aus.»
Clara stellte den Tiegel auf der Tischplatte ab und blieb unschlüssig stehen.
«Sonst noch was?» Deborah kniff misslaunig die Augen zusammen.
«Wann ist euer Arzt eigentlich wieder gesund?»
«Willst du das wissen oder dein Mann?»
Clara schob verärgert die Unterlippe vor. «Kannst du mir nicht einfach eine Antwort geben?»
Stattdessen wurde Deborah von einem neuen Hustenanfall geschüttelt. Clara griff zu dem Wasserkrug, der in der Mauernische stand, goss den Becher daneben halb voll und drückte ihn Deborah in die Hand, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.
«Du musst viel trinken. Und frische Luft solltest auch mal reinlassen. Das ist ja zum Ersticken hier.»
Dann wandte sie sich ohne Gruß zur Tür, wo das Dienstmädchen wartete, um sie hinauszugeleiten. Unten in der Eingangsdiele begegnete sie Esther, die freundlich grüßte. Das Mädchen, die einzige Tochter der Grünbaums, war ausnehmend hübsch. Das schmale, ebenmäßig geschnittene Gesicht mit den vollen Lippen und den dunkelblauen Augen hatte selbst jetzt, in seiner winterlichen Blässe, einen zarten mattbraunen Schimmer. Es glich den Marienbildnissen, wie sie die Kirchenmaler darzustellen pflegten, und strahlte dieselbe Herzensgüte aus.
«Seit wann leidet deine Mutter unter diesem bellenden Husten?»
«Die zweite Woche nun schon.» Das Mädchen zog sich den Schleier von ihrem dunklen Haar. «Nachts ist es noch schlimmer.»
«Habt ihr Salbei im Haus?»
«Ich denke, ja.»
«Dann koch einen großen Kessel davon auf. Statt Wasser soll sie tagsüber von dem Sud trinken, mit viel Honig gesüßt.»
Ester nickte. «Das mach ich.» Sie senkte den Blick, und ein Hauch von Röte überzog ihre Wangen. «Mein Vater lässt fragen, ob Benedikt heute Abend nach unserem Herd in der Küche sehen kann. Er zieht nicht mehr richtig, und Aaron ist bis morgen in Straßburg. Außerdem», jetzt wirkte sie noch verlegener, «fängt doch nach Sonnenuntergang der Schabbat an.»
«Benedikt hat keine Zeit. Ich werde meinem Mann Bescheid geben.»
Clara war froh, als sie wieder draußen in der Winterkälte stand. Irgendwie empfand sie die Besuche bei ihren jüdischen Nachbarn immer wieder als beklemmend. Das lag nur zum Teil an dieser ganz unverhohlen ausgestellten Pracht und Eleganz, denn das Gefühl von Neid war Clara fremd. Eher schon hatte es mit der Hausherrin zu tun. Vor allem Clara gegenüber verhielt sich Deborah auf eine nahezu streitbare Weise herablassend, ja feindselig. Und seit jenem Vorfall vor einem Jahr, als Deborah behauptet hatte, Clara habe bei einem ihrer Besuche einen kostbaren Kelch mitgehen lassen, war ihr Verhältnis endgültig verdorben. Deborah hatte sich nicht einmal entschuldigt, nachdem herausgekommen war, dass ihr früheres Dienstmädchen den Diebstahl begangen hatte.
Nicht zuletzt waren da all diese fremdartigen Feierlichkeiten und Riten, diese Gebote und Vorschriften, denen sich die Hebräer unterwarfen und dabei doch angeblich an den Einen, denselben Gott glaubten wie die Christenmenschen. Allein diese unbegreiflichen Speisegesetze: Koscher und damit erlaubt war das Rind, weil es wiederkäute und gespaltene Hufe hatte, nicht indessen das Kamel, das zwar wiederkäute, aber keine gespaltenen Hufe hatte, oder gar das als höchst unrein verrufene Schwein, das zwar gespaltene Hufe aufwies, dafür nicht wiederkäute. Hering durfte gegessen werden, nicht aber Aal. Geflügel war erlaubt, Raubvögel hingegen nicht. Auch durfte Fleisch kein Quäntchen Blut mehr enthalten und nicht mit Milch in Berührung kommen, Fleischiges und Milchiges mussten somit in getrenntem Kochgeschirr zubereitet werden. Das sollte ein Mensch begreifen! Und an ihrem Schabbat, ihrem heiligen Ruhetag, durften sie nicht einmal eine Kerze entzünden oder eine Schreibfeder halten.
Kopfschüttelnd nahm Clara ihren Korb unter den Arm und bog in die Große Gass ein, die sich allmählich mit Dienstmägden, Hausfrauen und Kindern, mit frei laufenden Hunden und grunzenden Schweinen füllte. An Tagen, an denen die aufgesteckte rote Fahne auch fremdem Gewerbe und Handel Marktrecht verlieh, wenn obendrein noch der Vieh- und Rindermarkt abgehalten wurde, gab es hier, auf der Hauptstraße der Stadt, kein Durchkommen mehr. Dann überschrien die Ausrufer sich gegenseitig, um Kundschaft anzulocken, priesen Quacksalber ihre Wundermittel, Zahnbrecher ihre blutigen Dienste an, und nicht selten präsentierten Spielleute und Artisten ihre Künste. An gewöhnlichen Vormittagen wie heute war indessen nicht mal die Hälfte der Krambuden und Verkaufsstände geöffnet, die sich wie Perlen an einer Schnur auf der Straßenmitte aneinanderreihten. Es ging gemächlich zu, und
an den friedlich plätschernden Brunnen trafen sich die Frauen zum Klatsch und Tratsch.
Auch wenn einem das Weibergeschwätz zu viel werden konnte, liebte Clara diesen Gang zum Markt, zumal an einem Morgen wie heute mit seiner frostklaren Luft. Den Nachmittag würde sie wieder Heinrich bei seinen Krankenbesuchen begleiten und Stunde um Stunde in stickigen Kammern verbringen. Doch auch das tat sie gern, seit einigen Jahren schon, denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die ihr Regiment auf das Reich zwischen Küche, Gemüsegarten und Hühnerstall beschränken mochten. «An dir ist ein halber Wundarzt verlorengegangen, schade nur, dass du eine Frau bist», neckte ihr Mann sie manchmal und nahm doch gern ihren Rat bei der Krankenvisitation an. Schlimm an seinem Handwerk war nur, dass es ab und an so abscheuliche Vorkommnisse gab wie heute der tote Säugling.
Unwillkürlich schwenkte ihr Blick hinüber zum Heilig-Geist-Spital, das an der Großen Gass einen gesamten Straßenblock einnahm und von den Bürgern nur Reiches Spital genannt wurde, seiner zahlreichen Besitztümer und der prächtig ausgestalteten Fassade wegen. Dort im Gewölbekeller frönten nun ihr Mann und dieser fettleibige Filibertus Behaimer, seines Zeichens Stadtmedicus wie auch gräflicher Leibarzt, ihrer traurigen Aufgabe. Wie immer würde Heinrich die Schmutzarbeit machen. Er würde den kleinen Leichnam auf tödliche Wunden untersuchen, währenddessen der studierte Physicus in gehörigem Abstand die anwesenden Ratsherren mit seinen spitzfindigen Erörterungen überschüttete. Clara wusste jetzt schon: Für den Rest des Tages würde ihr Mann mürrisch und schweigsam bleiben.
Seitdem Heinrich im letzten Jahr vor dem Rat der Stadt zum geschworenen Wundarzt vereidigt worden war, musste er nicht nur regelmäßig zur Beschau der Aussätzigen ins Gutleuthaus, sondern auch, als Behaimers rechte Hand gewissermaßen, zu den gerichtlich angeordneten Wundbesichtigungen und Leichenschauen. Mal waren es arme Seelen, denen der Schädel zertrümmert, die Augen ausgestochen oder die Brust aufgeschlitzt worden war, dann wieder wurde er zu halbtoten Delinquenten in die Verliese der Stadt gerufen. Nach vollzogener Marter hatte er deren Wunden genauestens zu protokollieren, ohne sie behandeln zu dürfen. Letzteres nämlich war Sache des Scharfrichters.
Zwar bescherte ihnen dieses Amt ein stattliches Zubrot auf ihre Einkünfte, nämlich zweieinhalb Pfund Pfennige Freiburger Münze und ein Fuder Holz auf jede der vier Fronfasten, aber Clara hätte darauf gut und gerne verzichtet. Zu schwer lagen ihrem Mann diese Pflichten auf der Seele.
Während sie weiterging, grüßte sie geistesabwesend nach links und rechts, wich geschickt der Steirer Elsbeth aus, die einem mit ihren vielen Zipperlein die Ohren vollzujammern pflegte, und beeilte sich, ihre Einkäufe zu erledigen. Sie wollte noch zum Apotheker. Jetzt, am frühen Morgen, würde Christoffel Ceste noch die Zeit haben, eine neue Rezeptur zur Gichtbehandlung durchzusprechen. Sie mochte Meister Christoffel, der seine Kräuter selbst zog, in einem Apothekergärtchen vor der Stadtmauer. Und sie mochte die kleine, freundliche Apotheke in der Salzgasse, in der es immer so herrlich nach Gewürzen, Rauchwerk, Marzipan und Parfüm duftete. Ordentlich aufgereiht standen Heiltränke und Pulver, Pillen und Salben auf Regalen bis unter die Decke, verstaut in bunten Krügen oder in hübsch bemalten hölzernen Dosen und Kästchen.
Als Clara die Laube der Geldwechsler passierte, sah sie, wie
Moische ben Chajm zusammen mit Eli und Jossele, seinen beiden Jüngsten, ein schadhaftes Brett an ihrer Schranne austauschte. Jemand musste es in übelster Weise mit einer Spitzhacke malträtiert haben, denn das Holz war an mehreren Stellen gespalten. Clara wollte schon vorbeieilen, als ihr erst die Knaben fröhlich zuwinkten, dann der Vater den Kopf hob.
«Clara!», rief er und richtete sich auf. An seinem abgewetzten dunklen Mantel, der viel zu weit war für den schmächtigen Körper, hingen Eiskristalle und Holzspäne. «Gut, dass ich dich treffe.»
Sie trat näher. «Was ist denn mit eurer Bank geschehen?»
«Ein dummer Bubenstreich, nichts weiter.» Moische verzog sein bärtiges Gesicht zu einem Lächeln und nahm drei Silberpfennige aus einer Schatulle. «Das schuld ich noch deinem lieben Mann für die Behandlung. Und grüß ihn recht herzlich von mir.»
Sie nickte. «Ich war eben bei Deborah. Ihr Husten gefällt mir gar nicht.»
Moische wiegte bekümmert den Kopf. «Nu ja, ich weiß. Aber mit unserem guten alten Nathan - das wird wohl nicht mehr. Nächsten Monat schickt uns die Straßburger Gemeinde einen neuen Arzt, ein junges Grünschnabele namens Schlomo ben Jacob, genannt Gutlieb. Weißt, Clara, am liebsten würd ich bei deinem Heinrich bleiben. Aber du kennst ja meine Deborah ...»
Clara zuckte nur die Schultern. «Da misch ich mich nicht ein. Das Geld kannst du Heinrich übrigens heut Abend selbst geben. Er soll doch nach eurem Ofen schauen.»
«Ich dacht eigentlich eher an euren Benedikt, das gute Jungele - ich will doch deinen Mann nicht belästigen - nur weil der Schabbes beginnt ...» Vor Verlegenheit war Moische ins Stottern geraten.
«Benedikt hat keine Zeit», sagte sie schärfer als beabsichtigt. «Alsdann - ich muss weiter. Einen schönen Tag noch.»
«Dir auch, Clara, dir auch. Und Friede sei mit dir und den Deinen.»
Jetzt tat es ihr leid, dass sie dem alten Moische so über den Mund gefahren war. Eigentlich hatte sie nichts gegen die Grünbaums - von der selbstgefälligen, hochnäsigen Deborah einmal abgesehen. Der alte Moische ben Chajm war ein durch und durch sanftmütiger Mensch, seine beiden älteren Söhne höflich und sehr klug. Aaron arbeitete als Schulmeister und Schreiber in der Synagoge, der sechzehnjährige Jochai studierte in der Talmudschule zu Speyer, einer der drei heiligen jüdischen Gemeinden, um später Rabbiner zu werden. Nein, eigentlich hatte sie überhaupt nichts gegen die Hebräer, solange sie ihren seltsamen Gebräuchen in den eigenen vier Wänden nachgingen.
Hier in Freiburg, wie allerorten entlang des Rheins, lebten sie friedlich mit den übrigen Bürgern zusammen, als unauffällige, freundliche und sehr reinliche Nachbarn, die dieselbe Sprache sprachen, wenngleich ihr Jüdischdeutsch manchmal etwas seltsam klang und in diesen verschnörkelten Buchstaben geschrieben wurde. Man begegnete ihnen auf dem Markt, am Brunnen oder ab und an beim Spaziergang im Stadtgraben; die Männer durften ihre Tracht selbst wählen und mussten sich nicht, wie anderswo, gelbe Ringe auf den Mantel nähen lassen und gelbe Spitzhüte tragen oder gar des Freitags die Türen und Fenster ihrer Häuser geschlossen halten. Lediglich einmal im Jahr, von Karfreitag bis Ostern, dem höchsten Fest der Christenheit, durften sie die Gassen nicht betreten.
Gut ein Dutzend Familien mitsamt ihren jüdischen Dienstboten wohnte hier in der Webergasse, gleich hinter ihrem Haus, sowie in der benachbarten Tromlosengasse. Dort befand sich auch ihr Gemeinde- und Gotteshaus, Synagoge oder Schul genannt. Es war eine eigene, fremdartige Welt, an dessen Rande Clara mit ihrer Familie lebte. Zwar war das jüdische Viertel nicht, wie in manch anderen Städten, ummauert, aber man hatte ein eigenes Backhaus, einen eigenen Schlachter, Schächter genannt, eine Elementarschule und eine eigene Badestätte. Das war eine Art Tauchbad, tief drunten in einem Schacht.
Die Hebräer genossen den persönlichen Schutz der Grafen von Freiburg oben auf der Burghalde und durften sogar Haus und Weinberg besitzen. Doch trotz dieses äußerlichen Friedens waren sie bei einem Teil der Bürgerschaft nicht sonderlich beliebt. Da sie nämlich keinem gewöhnlichen Gewerbe nachgehen durften, von Ämtern und Handwerk ausgeschlossen waren, hatten sich die meisten auf Geldgeschäfte spezialisiert. Und Clara wollte gar nicht wissen, wer alles von den Bürgern bei ihnen verschuldet war.
Letzten Endes kümmerte sie das keinen Deut, schließlich konnten die Juden nichts für diese althergebrachten Gesetze. Nur: Musste ausgerechnet ihr eigener Mann sich ihnen als Schabbesgoi andienen, als der freundliche nichtjüdische Nachbar, der am Schabbat den Juden das Essen aufwärmte und den Ofen nachfeuerte? Vor allem aber beunruhigte sie, dass die junge Esther, mit der ihr Ältester aufgewachsen war und auf der Gasse gespielt hatte, von Tag zu Tag schöner wurde. Clara würde mehr denn je ein Auge auf Benedikt haben müssen - wenn es denn schon die Grünbaums ganz offensichtlich nicht für nötig hielten. Denn eine Liebesverbindung zwischen Christen und Juden war bei Strafe der Exkommunizierung verboten.
Auf Höhe der Metzgerlauben kreuzte der Karrenbäcker mit seinem rauchenden Öfchen auf dem Handwagen ihren Weg. Der verführerische Duft frischer Spitzwecken stieg ihr in die Nase. Sie beschloss, sich und den Kindern etwas Gutes zu tun, und kramte eine Münze aus ihrer Geldkatze.
«Vier von den hellen, Karrenbeck.»
«Hat dir dein Alter wohl nichts vom Morgenessen gelassen?» Der Mann grinste und reichte ihr vier besonders große Wecken. «Sag, Clara, könnt heut noch einer von euch nach meiner alten Mutter sehen? Ihr ist wieder die Hex' ins Kreuz gefahren.»
«Ja freilich, aber erst gegen Abend. Sie soll keinesfalls aufstehen, am besten die Beine hochlegen.»
«Sag ich ihr. Dabei hat die Arme eben erst ihren Winterkatarrh hinter sich. Na ja, wenn's nur das ist - jetzt grad hustet und rotzt ja die halbe Stadt.» Er hielt Clara am Arm fest. «Hast du schon von dem Totenschiff von Sizilien gehört?»
Sie schüttelte unwillig den Kopf.
«Da soll eine Galeere im Hafen eingelaufen sein, nur mit Toten und Sterbenden zwischen den Ruderbänken. Alle voll eitriger, ekliger Beulen und schwarzer Flecken! Und wer noch nicht hinüber war, der hat gebrüllt vor Schmerz. Du bist doch die Frau vom Wundarzt - was kann das für eine Krankheit sein?»
«Wer erzählt so was?»
«Ich hab's von Meisterin Margarete, der Siechenmutter im Spital.»
«Affengeschwätz!» Sie machte eine abwehrende Handbewegung. Immer wieder hörte man von tödlichen Pestilenzen in fernen Ländern, und die Leute schienen sich regelrecht zu ergötzen an dem Grauen.
«Außerdem ist dieses Sizilien weit weg von uns», fügte sie
hinzu, ohne es selbst genau zu wissen. Jetzt bereute sie, bei dem schwatzhaften Karrenbäcker angehalten zu haben. Erst im letzten Sommer hatte er auf dem Markt verbreitet, dass es in einem Land namens China giftige Würmer und Eidechsen gehagelt habe und dass hernach Feuerbälle groß wie Menschenköpfe vom Himmel gefallen seien. Wer nicht gleich tot umfiel, habe tagelang Blut gespuckt, unter qualvollen Krämpfen. Und durch den Gestank der Leichen sei das gesamte Land mit giftigen Dämpfen überzogen worden. Sie hatte bislang immer die Ohren vor diesen Geschichten verschlossen, doch mit Benedikts Traum heute Morgen fühlte auch sie plötzlich so etwas wie Angst in sich aufsteigen.
Sie starrte auf die knusprigen Spitzwecken in ihrem Korb. Der Appetit war ihr jedenfalls gründlich vergangen.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Schwefelgelb türmten sich die Wolken gen Süden, als ein Donnerschlag die umliegenden Berghänge erzittern ließ. Die Bauersleute starrten fassungslos auf die Flamme, die dem Wolkengebirge entwich - eine Flamme von grellem, unwirklichem Blau, die allmählich größer wurde und auf die Menschen zuströmte. Eine Frauengestalt in weißem Gewand löste sich daraus, das offene Haar schimmerte silbern, die Augen glänzten, um die Stirn strahlte ein feuriger Kranz. Majestätisch hob sie die Hand und schwebte auf den Ersten zu, einen mageren Burschen, der aufschrie und doch keinen Laut herausbrachte. Schon schleuderte sie einen Pfeil aus bleicher Hand, schon ging der Junge in die Knie, bäumte sich auf und sackte leblos in sich zusammen. Der Altbauer war der Nächste in der Reihe, nach ihm seine beiden Knechte, die Mägde, seine Frau, die jüngsten Kinder - keinen verschonte die Todesbotin. Vom nahen Dorf her begannen die Hunde zu heulen, als sich der letzte der dreizehn Leiber in die Erde schmiegte und verstarb.
«Der Pestengel», entfuhr es Clara. Sie stellte den Milchkrug so heftig auf dem Tisch ab, dass er überschwappte, und bekreuzigte sich.
Ihr Mann zog die Augenbrauen zusammen. «Ein dummer Traum, nichts weiter.»
«Mag sein.» Benedikt wirkte noch immer verstört. «Aber
ich bekomme das entsetzliche Bild nicht aus dem Kopf. Und dann - jedermann weiß doch, dass Träume in die Zukunft weisen können.»
Heinrich Grathwohl warf seiner Frau einen missbilligenden Blick zu. «Das hast du jetzt von deinem ewigen Gerede von Zeichen und Träumen. Schau dir nur mal die Johanna an -ganz verschreckt sieht sie aus.»
Eine Zeit lang war nur das Knacken des Herdfeuers zu vernehmen. Sein flackernder Schein spendete das einzige Licht an diesem dunklen Wintermorgen.
Clara gab sich einen Ruck.
«Euer Vater hat recht. Manchmal träumt man auch von Sachen, die einem nicht aus dem Sinn gehen.» Sie betrachtete Benedikt, ihren Ältesten, voller Zuneigung. Schon als Knabe war oft die Phantasie mit ihm durchgegangen, hatte er sich in Träumereien verloren, wo andre Kinder auf der Gasse sich um einen Ball gerauft hatten.
«Bei euch auf der Baustelle wird viel geschwatzt», fuhr sie fort. «Wahrscheinlich hast du da irgendwas aufgeschnappt.»
Das herrische Klopfen draußen an der Haustür unterbrach ihr Gespräch. Solcherart pflegte sich nur der Gerichtsbote anzukündigen.
Der Hausvater zog eine Grimasse und verließ die wohlig warme Küche Richtung Haustür. In der Regel hatte ein Besuch des Boten nichts Gutes zu bedeuten, schon gar nicht zu so früher Stunde. Clara hörte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde, dann die knarzende Stimme des Büttels. Als ihr Mann mit einem Schwall kalter Luft zurückkehrte, zerrte er Hut und Umhang vom Wandhaken.
«Ich muss zur Gerichtsschau. Ein totes Neugeborenes, im Weinkeller vom Spital.»
«Heilige Elisabeth, wie furchtbar!» Clara bekreuzigte sich zum zweiten Mal an diesem Morgen. «Willst du nicht wenigstens noch fertig essen?»
Heinrich Grathwohl schüttelte den Kopf. «Behaimer wartet schon. Ach, das hätt ich beinah vergessen.»
Er zog einen verschlossenen Tiegel vom Küchenbord und reichte ihn Benedikt.
«Eine Paste aus Eibischwurzel. Bring sie rasch zu den Grünbaums, ich hab es bereits für gestern versprochen. - Ihr Arzt ist mal wieder krank», fügte er, in Claras Richtung, fast entschuldigend hinzu. Dann war er auch schon aus der Küche verschwunden.
Clara riss ihrem Sohn das Töpfchen aus der Hand.
«Lass nur, ich mach das. Ich muss ohnehin nachher zum Apotheker und zum Markt.» Sie tat, als bemerke sie die Enttäuschung in Benedikts Blick nicht. «Und du, Johanna, geh die Kleinen wecken. Es ist ja schon helllichter Tag. - Was glaubst du, Benedikt», sie versuchte, ihrer Stimme einen munteren Klang zu geben, «wirst du heut nach der Arbeit wieder mit Meister Johannes zu Tisch gehen?»
Benedikt zuckte die Schultern. «Ich weiß es nicht.»
«Ach, mein Junge. Ich bin so stolz auf dich. In so kurzer Zeit schon Meisterknecht.»
Sie strich ihm über das dichte, wellige Haar, das mit den Jahren immer dunkler wurde. Als kleiner Junge hatte er goldblonde Locken gehabt, die ihm bis über die Schulter fielen, und es hatte ihr im Herzen wehgetan, dass sie sie eines Tages abschneiden musste. Die Gassenbuben hatten ihn nämlich als «Mägdelein» zu hänseln begonnen.
«Mutter!» Benedikt entwand sich ihrer Zärtlichkeit. «Ich bin kein Kind mehr.»
Clara zog ihre Hand zurück. «Ich weiß. Viel zu schnell werdet ihr alle groß.»
Sie betrachtete Johanna, die in zwei Jahren, wenn sie sechzehn wurde, Benedikts Kinderfreund heiraten würde, den Tucher Meinwart. Mit dessen Eltern war bereits alles abgesprochen. Clara unterdrückte einen Seufzer.
«Und vergiss nicht wieder deine Handschuhe. Es ist bitterkalt draußen.»
Als sie ihren Sohn zur Haustür brachte, musste sie an sich halten, ihm keinen Kuss auf die Stirn zu drücken. Benedikt hatte recht - am liebsten würde sie ihn noch immer hätscheln und umsorgen wie ein Kleinkind. Aber vielleicht wollte sie auch nur die Strenge ihres Ehegefährten ein wenig ausgleichen. Heinrich nämlich hatte nie verwunden, dass sein Ältester nicht in seine Fußstapfen getreten war und sich stattdessen in ungeahnter Starrköpfigkeit für eine Lehre als Steinmetz entschieden hatte. Dass der Junge in nur vier Jahren seine Lehrzeit durchlaufen hatte und bereits jetzt, mit gerade einmal zwanzig, vom Gesellen zum Meisterknecht berufen worden war und für die hochangesehene Kirchenbauhütte arbeitete, schien seinen Vater nur wenig zu versöhnen. Nicht einmal, dass er dereinst als Steinmetzmeister zu den bestbezahlten Handwerkern gehören würde.
Keine halbe Stunde später öffnete Clara das Hoftor und trat hinaus auf die Webergasse. Von hier waren es nur ein paar Schritte hinüber zur Großen Gass, wo die hiesigen Marktleute ihre Erzeugnisse feilboten. Eisiger Wind blies ihr entgegen, und sie schlang sich ihr wollenes Tuch enger um den Kopf. Die Holztrippen unter den Schuhen hätte sie sich heute ersparen können, so festgefroren war der Boden.
Jemand hatte das Trittbrett, das hier wie überall von der Haustür zu den Bohlen in der Straßenmitte führte, zur Seite gezogen. Das war sicher einer der Juden gewesen, die sich fortwährend darüber beklagten, mit ihren Karren nicht mehr durchzukommen vor lauter Brettern. Aber wie sonst hätte man in diesem bislang ganz und gar verregneten Winter aus dem Haus gekonnt? Die Böden waren am Ende völlig aufgeweicht und von tiefen Fahrrinnen durchzogen gewesen, nur mehr ein einziger Matsch aus Morast, Schweine-, Hunde- und Hühnerkot, der die Abwassergräben auf der Gassenmitte verstopfte. Und wie die Menschen nun mal waren: Sobald die Gassenfeger nicht mehr nachkamen, den durchnässten Unflat wegzuschaffen, kippten sie trotz strenger Verbote erst recht ihre Brunzkacheln und Essensreste aus dem Fenster und lockten damit noch mehr Viehzeug und Gestank an.
Clara schnaubte. Wenigstens hierin erwies es sich als Vorteil, Tür an Tür mit den Juden zu leben. Bei ihnen war es um einiges sauberer als in den restlichen Gassen der Stadt, wo man sogar über tote Säue und Katzen stolperte und sich die Misthaufen bis zu den Gräben häuften.
Sie schickte sich eben an, in Richtung Marktgasse zu gehen, als Johannas Rufen sie innehalten ließ.
«Du hast was vergessen, Mutter.»
Das Mädchen stand in der Haustür und hielt ihr den tönernen Tiegel entgegen.
«Ach herrje, die Paste. Ich dank dir, meine Liebe. Vergiss nicht, das restliche Kraut einzusäuern. Und wenn du Kathrins Verband wechselst, lass den Arm ein Weilchen an der frischen Luft. Das tut der Wunde gut.» Sie machte sich immer noch Sorgen um ihre Kleinste, die sich beim Spielen am Herdfeuer verbrannt hatte.
Johanna lächelte ihr feines Lächeln. «Ich weiß schon, Mutter.»
Clara nickte. Ihre Älteste war so ganz anders als Benedikt. So verständig und umsichtig, dazu fleißiger als jede Magd. Bald schon ein wenig zu uneigennützig, befand Clara. Einem Weib konnte das zum Schaden werden - und sie dachte dabei unwillkürlich an den jungen Tucher. Johanna hatte damals in das Eheversprechen eingewilligt, obgleich dem Mädchen der stille, schüchterne Sohn des Wollschlägers weitaus besser gefallen hatte. Aber als fünftes Kind einer ärmlichen Familie würde der wohl kaum jemals seine eigene Familie angemessen ernähren können. Meinwarts Vater hingegen war ein erfolgreicher Kaufherr, der seinen Handel bis nach Savoyen und ins Burgund betrieb. Zudem kannte man sich gut, da die Tuchers im Haus gegenüber gewohnt hatten und die Kinder miteinander aufgewachsen waren. Inzwischen allerdings waren sie in ein weitaus prächtigeres Haus am Markt gezogen - auch weil sie nicht länger am Eingang zum Judenviertel wohnen wollten. Und aus dem aufgeweckten, etwas wilden Knaben Meinwart war ein eitler Nichtsnutz und Daumendreher geworden, der jedem Weiberrock nachlief. Es war zu befürchten, dass er Johannas Selbstlosigkeit gehörig ausnutzen würde.
Als Clara ihren Mann einmal darauf angesprochen hatte, ob Meinwart wirklich der Richtige sei für ihre Tochter, hatte Heinrich gelacht. «Der Junge ist halt im Alter, wo er sich die Hörner abstößt. Besser jetzt als im Stand der Ehe. Unser Benedikt dürfte sich da ruhig was abschauen - so wie der sich immer nur in seine Arbeit vergräbt.»
Während der kurzen Wegstrecke hinüber ins Haus Zum Grünen Baum verlangsamten sich Claras Schritte. Sie verspürte keinerlei Lust, bei den Grünbaums vorbeizuschauen - aber immer noch besser sie selbst als ihr Sohn. Warum nur musste Heinrich immer gleich so voreilig seine Hilfe anbieten? Was ging es ihn an, wenn die Juden einen Arzt hatten, der selbst ständig krank war? Sollten sich die Grünbaums doch anderweitig um ihre Heilmittel und Kräuter kümmern.
Sie setzte ihren Einkaufskorb ab und rammte den goldfarbenen Türklopfer gegen das Holz. Dabei bemühte sie sich, ihren Blick vom rechten Türpfosten fernzuhalten, an dem, wie an allen Türen der Juden, eine längliche Metallkapsel befestigt war. Ihr Mann hatte zwar behauptet, sie enthalte einen Pergamentstreifen mit dem jüdischen Glaubensbekenntnis, aber sie hielt es eher mit dem, was die Leute hier munkelten. Das geheimnisvolle Ding nämlich habe mit Zauberei zu tun, die die Hebräer heimlich ausübten. Die Flickschneiderin von der Oberen Linde behauptete gar, auf jenem Pergament sei der Pakt mit dem Leibhaftigen besiegelt, und zur Bekräftigung des Bundes küssten die Juden dieses Ding beim Übertreten der Schwelle, indem sie die Fingerspitzen der rechten Hand an die Metallkapsel und dann zum Mund führten.
Clara selbst hatte im letzten Jahr mit angehört, wie der alte Moische ben Chajm, nach seinem Haus allgemein Grünbaum genannt, beim Anbringen der Kapsel beschwörende Worte gesprochen hatte, die klangen wie: Bara Atah Adona. Das sei Hebräisch, hatte Heinrich ihr weismachen wollen, die Sprache ihrer Vorväter. Aber warum sollte sie das glauben, wo ihr Mann doch kein Wort Hebräisch verstand? Sie waren ums Haar in Streit geraten, wie schon häufiger, wenn es um die Grünbaums ging.
Sie klopfte erneut, als die Tür auch schon aufsprang. «Guten Morgen, Frau Nachbarin.» Das Dienstmädchen knickste höflich. «Kommt nur herein.»
Clara folgte dem Mädchen durch die düstere Eingangshalle die Treppe hinauf in die Wohnstube, an deren Türrahmen ebenfalls einer dieser metallenen Behälter hing. Mit gesenktem Blick ging sie daran vorbei und betrat das geräumige, hellerleuchtete Zimmer. Stickige Wärme schlug ihr entgegen.
Als ihr Blick durch den Raum schweifte, staunte sie einmal mehr über die prächtige Ausstattung im Innern des Hauses, das sich äußerlich so gar nicht unterschied von den eher schmucklosen Häusern in dieser Ecke der Stadt. Flauschige, bunte Teppiche aus dem fernen Morgenland bedeckten den Dielenboden, die Wände waren mit bestickten Vorhängen bespannt, auf den Bänken entlang der Wand luden dickgepolsterte Sitzkissen aus dunkelrotem Samt zum Ausruhen ein. Alles, was bei ihnen drüben aus blankem, rohem Holz gezimmert war, sah man hier mit weichen, warmen Stoffen überzogen, und wo nicht, boten sich dem Auge kunstvolle Schnitzereien oder kostbare Eisenbeschläge, wie bei den Türen und Truhen. Auf der Anrichte blitzte das Silber und Kupfer von Leuchtern und Trinkgefäßen, dazwischen fanden sich Dosen, Kästchen und Täfelchen, in die fremdartige Schriftzeichen geritzt waren. Allein die vielen Wachskerzen in den Leuchtern, die jetzt im Winter, wo die Fensterläden geschlossen waren, allesamt angesteckt waren, mussten ein Vermögen gekostet haben!
Ein röhrender Hustenanfall ließ Clara zusammenzucken. Auf einem gepolsterten Lehnstuhl, dicht bei der Ofenwandung, die mit jenen neuartigen, grünglasierten Kacheln verkleidet war, sah sie die Hausherrin sitzen. Kopf und Hals hatte sie mit einem dicken Tuch umhüllt.
«Grüß dich Gott, Deborah. Das hört sich gar nicht gut an.» «Friede sei mit dir», krächzte die Frau.
«Hier, das soll ich dir von meinem Heinrich geben. Eibischwurzel gegen den Husten. Soll er heut noch nach dir sehen?»
Deborah winkte ab. «Er hat die Paste doch wohl hoffentlich so zubereitet, wie Moische es ihm erklärt hat?»
«Das musst du ihn schon selbst fragen. Ich kenn mich mit euren Speisevorschriften nicht aus.»
Clara stellte den Tiegel auf der Tischplatte ab und blieb unschlüssig stehen.
«Sonst noch was?» Deborah kniff misslaunig die Augen zusammen.
«Wann ist euer Arzt eigentlich wieder gesund?»
«Willst du das wissen oder dein Mann?»
Clara schob verärgert die Unterlippe vor. «Kannst du mir nicht einfach eine Antwort geben?»
Stattdessen wurde Deborah von einem neuen Hustenanfall geschüttelt. Clara griff zu dem Wasserkrug, der in der Mauernische stand, goss den Becher daneben halb voll und drückte ihn Deborah in die Hand, nachdem sie wieder zu Atem gekommen war.
«Du musst viel trinken. Und frische Luft solltest auch mal reinlassen. Das ist ja zum Ersticken hier.»
Dann wandte sie sich ohne Gruß zur Tür, wo das Dienstmädchen wartete, um sie hinauszugeleiten. Unten in der Eingangsdiele begegnete sie Esther, die freundlich grüßte. Das Mädchen, die einzige Tochter der Grünbaums, war ausnehmend hübsch. Das schmale, ebenmäßig geschnittene Gesicht mit den vollen Lippen und den dunkelblauen Augen hatte selbst jetzt, in seiner winterlichen Blässe, einen zarten mattbraunen Schimmer. Es glich den Marienbildnissen, wie sie die Kirchenmaler darzustellen pflegten, und strahlte dieselbe Herzensgüte aus.
«Seit wann leidet deine Mutter unter diesem bellenden Husten?»
«Die zweite Woche nun schon.» Das Mädchen zog sich den Schleier von ihrem dunklen Haar. «Nachts ist es noch schlimmer.»
«Habt ihr Salbei im Haus?»
«Ich denke, ja.»
«Dann koch einen großen Kessel davon auf. Statt Wasser soll sie tagsüber von dem Sud trinken, mit viel Honig gesüßt.»
Ester nickte. «Das mach ich.» Sie senkte den Blick, und ein Hauch von Röte überzog ihre Wangen. «Mein Vater lässt fragen, ob Benedikt heute Abend nach unserem Herd in der Küche sehen kann. Er zieht nicht mehr richtig, und Aaron ist bis morgen in Straßburg. Außerdem», jetzt wirkte sie noch verlegener, «fängt doch nach Sonnenuntergang der Schabbat an.»
«Benedikt hat keine Zeit. Ich werde meinem Mann Bescheid geben.»
Clara war froh, als sie wieder draußen in der Winterkälte stand. Irgendwie empfand sie die Besuche bei ihren jüdischen Nachbarn immer wieder als beklemmend. Das lag nur zum Teil an dieser ganz unverhohlen ausgestellten Pracht und Eleganz, denn das Gefühl von Neid war Clara fremd. Eher schon hatte es mit der Hausherrin zu tun. Vor allem Clara gegenüber verhielt sich Deborah auf eine nahezu streitbare Weise herablassend, ja feindselig. Und seit jenem Vorfall vor einem Jahr, als Deborah behauptet hatte, Clara habe bei einem ihrer Besuche einen kostbaren Kelch mitgehen lassen, war ihr Verhältnis endgültig verdorben. Deborah hatte sich nicht einmal entschuldigt, nachdem herausgekommen war, dass ihr früheres Dienstmädchen den Diebstahl begangen hatte.
Nicht zuletzt waren da all diese fremdartigen Feierlichkeiten und Riten, diese Gebote und Vorschriften, denen sich die Hebräer unterwarfen und dabei doch angeblich an den Einen, denselben Gott glaubten wie die Christenmenschen. Allein diese unbegreiflichen Speisegesetze: Koscher und damit erlaubt war das Rind, weil es wiederkäute und gespaltene Hufe hatte, nicht indessen das Kamel, das zwar wiederkäute, aber keine gespaltenen Hufe hatte, oder gar das als höchst unrein verrufene Schwein, das zwar gespaltene Hufe aufwies, dafür nicht wiederkäute. Hering durfte gegessen werden, nicht aber Aal. Geflügel war erlaubt, Raubvögel hingegen nicht. Auch durfte Fleisch kein Quäntchen Blut mehr enthalten und nicht mit Milch in Berührung kommen, Fleischiges und Milchiges mussten somit in getrenntem Kochgeschirr zubereitet werden. Das sollte ein Mensch begreifen! Und an ihrem Schabbat, ihrem heiligen Ruhetag, durften sie nicht einmal eine Kerze entzünden oder eine Schreibfeder halten.
Kopfschüttelnd nahm Clara ihren Korb unter den Arm und bog in die Große Gass ein, die sich allmählich mit Dienstmägden, Hausfrauen und Kindern, mit frei laufenden Hunden und grunzenden Schweinen füllte. An Tagen, an denen die aufgesteckte rote Fahne auch fremdem Gewerbe und Handel Marktrecht verlieh, wenn obendrein noch der Vieh- und Rindermarkt abgehalten wurde, gab es hier, auf der Hauptstraße der Stadt, kein Durchkommen mehr. Dann überschrien die Ausrufer sich gegenseitig, um Kundschaft anzulocken, priesen Quacksalber ihre Wundermittel, Zahnbrecher ihre blutigen Dienste an, und nicht selten präsentierten Spielleute und Artisten ihre Künste. An gewöhnlichen Vormittagen wie heute war indessen nicht mal die Hälfte der Krambuden und Verkaufsstände geöffnet, die sich wie Perlen an einer Schnur auf der Straßenmitte aneinanderreihten. Es ging gemächlich zu, und
an den friedlich plätschernden Brunnen trafen sich die Frauen zum Klatsch und Tratsch.
Auch wenn einem das Weibergeschwätz zu viel werden konnte, liebte Clara diesen Gang zum Markt, zumal an einem Morgen wie heute mit seiner frostklaren Luft. Den Nachmittag würde sie wieder Heinrich bei seinen Krankenbesuchen begleiten und Stunde um Stunde in stickigen Kammern verbringen. Doch auch das tat sie gern, seit einigen Jahren schon, denn sie gehörte nicht zu den Frauen, die ihr Regiment auf das Reich zwischen Küche, Gemüsegarten und Hühnerstall beschränken mochten. «An dir ist ein halber Wundarzt verlorengegangen, schade nur, dass du eine Frau bist», neckte ihr Mann sie manchmal und nahm doch gern ihren Rat bei der Krankenvisitation an. Schlimm an seinem Handwerk war nur, dass es ab und an so abscheuliche Vorkommnisse gab wie heute der tote Säugling.
Unwillkürlich schwenkte ihr Blick hinüber zum Heilig-Geist-Spital, das an der Großen Gass einen gesamten Straßenblock einnahm und von den Bürgern nur Reiches Spital genannt wurde, seiner zahlreichen Besitztümer und der prächtig ausgestalteten Fassade wegen. Dort im Gewölbekeller frönten nun ihr Mann und dieser fettleibige Filibertus Behaimer, seines Zeichens Stadtmedicus wie auch gräflicher Leibarzt, ihrer traurigen Aufgabe. Wie immer würde Heinrich die Schmutzarbeit machen. Er würde den kleinen Leichnam auf tödliche Wunden untersuchen, währenddessen der studierte Physicus in gehörigem Abstand die anwesenden Ratsherren mit seinen spitzfindigen Erörterungen überschüttete. Clara wusste jetzt schon: Für den Rest des Tages würde ihr Mann mürrisch und schweigsam bleiben.
Seitdem Heinrich im letzten Jahr vor dem Rat der Stadt zum geschworenen Wundarzt vereidigt worden war, musste er nicht nur regelmäßig zur Beschau der Aussätzigen ins Gutleuthaus, sondern auch, als Behaimers rechte Hand gewissermaßen, zu den gerichtlich angeordneten Wundbesichtigungen und Leichenschauen. Mal waren es arme Seelen, denen der Schädel zertrümmert, die Augen ausgestochen oder die Brust aufgeschlitzt worden war, dann wieder wurde er zu halbtoten Delinquenten in die Verliese der Stadt gerufen. Nach vollzogener Marter hatte er deren Wunden genauestens zu protokollieren, ohne sie behandeln zu dürfen. Letzteres nämlich war Sache des Scharfrichters.
Zwar bescherte ihnen dieses Amt ein stattliches Zubrot auf ihre Einkünfte, nämlich zweieinhalb Pfund Pfennige Freiburger Münze und ein Fuder Holz auf jede der vier Fronfasten, aber Clara hätte darauf gut und gerne verzichtet. Zu schwer lagen ihrem Mann diese Pflichten auf der Seele.
Während sie weiterging, grüßte sie geistesabwesend nach links und rechts, wich geschickt der Steirer Elsbeth aus, die einem mit ihren vielen Zipperlein die Ohren vollzujammern pflegte, und beeilte sich, ihre Einkäufe zu erledigen. Sie wollte noch zum Apotheker. Jetzt, am frühen Morgen, würde Christoffel Ceste noch die Zeit haben, eine neue Rezeptur zur Gichtbehandlung durchzusprechen. Sie mochte Meister Christoffel, der seine Kräuter selbst zog, in einem Apothekergärtchen vor der Stadtmauer. Und sie mochte die kleine, freundliche Apotheke in der Salzgasse, in der es immer so herrlich nach Gewürzen, Rauchwerk, Marzipan und Parfüm duftete. Ordentlich aufgereiht standen Heiltränke und Pulver, Pillen und Salben auf Regalen bis unter die Decke, verstaut in bunten Krügen oder in hübsch bemalten hölzernen Dosen und Kästchen.
Als Clara die Laube der Geldwechsler passierte, sah sie, wie
Moische ben Chajm zusammen mit Eli und Jossele, seinen beiden Jüngsten, ein schadhaftes Brett an ihrer Schranne austauschte. Jemand musste es in übelster Weise mit einer Spitzhacke malträtiert haben, denn das Holz war an mehreren Stellen gespalten. Clara wollte schon vorbeieilen, als ihr erst die Knaben fröhlich zuwinkten, dann der Vater den Kopf hob.
«Clara!», rief er und richtete sich auf. An seinem abgewetzten dunklen Mantel, der viel zu weit war für den schmächtigen Körper, hingen Eiskristalle und Holzspäne. «Gut, dass ich dich treffe.»
Sie trat näher. «Was ist denn mit eurer Bank geschehen?»
«Ein dummer Bubenstreich, nichts weiter.» Moische verzog sein bärtiges Gesicht zu einem Lächeln und nahm drei Silberpfennige aus einer Schatulle. «Das schuld ich noch deinem lieben Mann für die Behandlung. Und grüß ihn recht herzlich von mir.»
Sie nickte. «Ich war eben bei Deborah. Ihr Husten gefällt mir gar nicht.»
Moische wiegte bekümmert den Kopf. «Nu ja, ich weiß. Aber mit unserem guten alten Nathan - das wird wohl nicht mehr. Nächsten Monat schickt uns die Straßburger Gemeinde einen neuen Arzt, ein junges Grünschnabele namens Schlomo ben Jacob, genannt Gutlieb. Weißt, Clara, am liebsten würd ich bei deinem Heinrich bleiben. Aber du kennst ja meine Deborah ...»
Clara zuckte nur die Schultern. «Da misch ich mich nicht ein. Das Geld kannst du Heinrich übrigens heut Abend selbst geben. Er soll doch nach eurem Ofen schauen.»
«Ich dacht eigentlich eher an euren Benedikt, das gute Jungele - ich will doch deinen Mann nicht belästigen - nur weil der Schabbes beginnt ...» Vor Verlegenheit war Moische ins Stottern geraten.
«Benedikt hat keine Zeit», sagte sie schärfer als beabsichtigt. «Alsdann - ich muss weiter. Einen schönen Tag noch.»
«Dir auch, Clara, dir auch. Und Friede sei mit dir und den Deinen.»
Jetzt tat es ihr leid, dass sie dem alten Moische so über den Mund gefahren war. Eigentlich hatte sie nichts gegen die Grünbaums - von der selbstgefälligen, hochnäsigen Deborah einmal abgesehen. Der alte Moische ben Chajm war ein durch und durch sanftmütiger Mensch, seine beiden älteren Söhne höflich und sehr klug. Aaron arbeitete als Schulmeister und Schreiber in der Synagoge, der sechzehnjährige Jochai studierte in der Talmudschule zu Speyer, einer der drei heiligen jüdischen Gemeinden, um später Rabbiner zu werden. Nein, eigentlich hatte sie überhaupt nichts gegen die Hebräer, solange sie ihren seltsamen Gebräuchen in den eigenen vier Wänden nachgingen.
Hier in Freiburg, wie allerorten entlang des Rheins, lebten sie friedlich mit den übrigen Bürgern zusammen, als unauffällige, freundliche und sehr reinliche Nachbarn, die dieselbe Sprache sprachen, wenngleich ihr Jüdischdeutsch manchmal etwas seltsam klang und in diesen verschnörkelten Buchstaben geschrieben wurde. Man begegnete ihnen auf dem Markt, am Brunnen oder ab und an beim Spaziergang im Stadtgraben; die Männer durften ihre Tracht selbst wählen und mussten sich nicht, wie anderswo, gelbe Ringe auf den Mantel nähen lassen und gelbe Spitzhüte tragen oder gar des Freitags die Türen und Fenster ihrer Häuser geschlossen halten. Lediglich einmal im Jahr, von Karfreitag bis Ostern, dem höchsten Fest der Christenheit, durften sie die Gassen nicht betreten.
Gut ein Dutzend Familien mitsamt ihren jüdischen Dienstboten wohnte hier in der Webergasse, gleich hinter ihrem Haus, sowie in der benachbarten Tromlosengasse. Dort befand sich auch ihr Gemeinde- und Gotteshaus, Synagoge oder Schul genannt. Es war eine eigene, fremdartige Welt, an dessen Rande Clara mit ihrer Familie lebte. Zwar war das jüdische Viertel nicht, wie in manch anderen Städten, ummauert, aber man hatte ein eigenes Backhaus, einen eigenen Schlachter, Schächter genannt, eine Elementarschule und eine eigene Badestätte. Das war eine Art Tauchbad, tief drunten in einem Schacht.
Die Hebräer genossen den persönlichen Schutz der Grafen von Freiburg oben auf der Burghalde und durften sogar Haus und Weinberg besitzen. Doch trotz dieses äußerlichen Friedens waren sie bei einem Teil der Bürgerschaft nicht sonderlich beliebt. Da sie nämlich keinem gewöhnlichen Gewerbe nachgehen durften, von Ämtern und Handwerk ausgeschlossen waren, hatten sich die meisten auf Geldgeschäfte spezialisiert. Und Clara wollte gar nicht wissen, wer alles von den Bürgern bei ihnen verschuldet war.
Letzten Endes kümmerte sie das keinen Deut, schließlich konnten die Juden nichts für diese althergebrachten Gesetze. Nur: Musste ausgerechnet ihr eigener Mann sich ihnen als Schabbesgoi andienen, als der freundliche nichtjüdische Nachbar, der am Schabbat den Juden das Essen aufwärmte und den Ofen nachfeuerte? Vor allem aber beunruhigte sie, dass die junge Esther, mit der ihr Ältester aufgewachsen war und auf der Gasse gespielt hatte, von Tag zu Tag schöner wurde. Clara würde mehr denn je ein Auge auf Benedikt haben müssen - wenn es denn schon die Grünbaums ganz offensichtlich nicht für nötig hielten. Denn eine Liebesverbindung zwischen Christen und Juden war bei Strafe der Exkommunizierung verboten.
Auf Höhe der Metzgerlauben kreuzte der Karrenbäcker mit seinem rauchenden Öfchen auf dem Handwagen ihren Weg. Der verführerische Duft frischer Spitzwecken stieg ihr in die Nase. Sie beschloss, sich und den Kindern etwas Gutes zu tun, und kramte eine Münze aus ihrer Geldkatze.
«Vier von den hellen, Karrenbeck.»
«Hat dir dein Alter wohl nichts vom Morgenessen gelassen?» Der Mann grinste und reichte ihr vier besonders große Wecken. «Sag, Clara, könnt heut noch einer von euch nach meiner alten Mutter sehen? Ihr ist wieder die Hex' ins Kreuz gefahren.»
«Ja freilich, aber erst gegen Abend. Sie soll keinesfalls aufstehen, am besten die Beine hochlegen.»
«Sag ich ihr. Dabei hat die Arme eben erst ihren Winterkatarrh hinter sich. Na ja, wenn's nur das ist - jetzt grad hustet und rotzt ja die halbe Stadt.» Er hielt Clara am Arm fest. «Hast du schon von dem Totenschiff von Sizilien gehört?»
Sie schüttelte unwillig den Kopf.
«Da soll eine Galeere im Hafen eingelaufen sein, nur mit Toten und Sterbenden zwischen den Ruderbänken. Alle voll eitriger, ekliger Beulen und schwarzer Flecken! Und wer noch nicht hinüber war, der hat gebrüllt vor Schmerz. Du bist doch die Frau vom Wundarzt - was kann das für eine Krankheit sein?»
«Wer erzählt so was?»
«Ich hab's von Meisterin Margarete, der Siechenmutter im Spital.»
«Affengeschwätz!» Sie machte eine abwehrende Handbewegung. Immer wieder hörte man von tödlichen Pestilenzen in fernen Ländern, und die Leute schienen sich regelrecht zu ergötzen an dem Grauen.
«Außerdem ist dieses Sizilien weit weg von uns», fügte sie
hinzu, ohne es selbst genau zu wissen. Jetzt bereute sie, bei dem schwatzhaften Karrenbäcker angehalten zu haben. Erst im letzten Sommer hatte er auf dem Markt verbreitet, dass es in einem Land namens China giftige Würmer und Eidechsen gehagelt habe und dass hernach Feuerbälle groß wie Menschenköpfe vom Himmel gefallen seien. Wer nicht gleich tot umfiel, habe tagelang Blut gespuckt, unter qualvollen Krämpfen. Und durch den Gestank der Leichen sei das gesamte Land mit giftigen Dämpfen überzogen worden. Sie hatte bislang immer die Ohren vor diesen Geschichten verschlossen, doch mit Benedikts Traum heute Morgen fühlte auch sie plötzlich so etwas wie Angst in sich aufsteigen.
Sie starrte auf die knusprigen Spitzwecken in ihrem Korb. Der Appetit war ihr jedenfalls gründlich vergangen.
...
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Astrid Fritz
Astrid Fritz, Jahrgang 1959, ist im nordbadischen Pforzheim aufgewachsen. In München, Avignon und Freiburg studierte sie Germanistik und Romanistik. Nach dem Studium arbeitet sie zunächst als Fachzeitschriftenredakteurin, dann als Schulungsreferentin und technische Redakteurin für ein Freiburger Softwarehaus. 1994 ging sie mit ihrer Familie für drei Jahre nach Santiago de Chile, wo sie als freie Mitarbeiterin für eine deutsch-chilenische Wochenzeitung schrieb und ihr erstes Romanmanuskript entstand.Inzwischen ist sie freiberufliche Texterin und Autorin und lebt mit ihrer Familie in Waiblingen bei Stuttgart.
Autoren-Interview mit Astrid Fritz
Interview mit Astrid Fritz Ihr neues Buch „Der Pestengel von Freiburg" führt uns in eine wahrlich dunkle Zeit. Wie ging es Ihnen bei der Recherche zu diesem Thema und später beim Schreiben des Buches?
Spätestens beim Schreiben der „Hexe von Freiburg" habe ich mir eine gewisse Distanz zu meiner eigenen Betroffenheit zulegen müssen. Nur so konnte ich meinen Hauptfiguren ein Leben ausfantasieren, das nicht nur von Grausamkeiten bestimmt ist.
Aus heutiger Sicht ist der damalige Wissensstand zur Pest leicht zu belächeln. Der Zusammenbruch der Gesellschaftsordnung, das gesetzlose Leben folgten ... Was meinen Sie: Könnte das auch uns passieren, wenn ein Virus ähnlich dramatisch wüten würde oder sind wir „weiter" als die Menschen damals?
Spontan würde ich sagen: Wir sind weiter als damals. Wenn ich allerdings an das Hitler-Regime denke, kommen mir Zweifel ....
Sie lieben historische Stoffe. Noch nie überlegt, einen modernen Stoff zu verarbeiten, einen heutigen Roman zu schreiben? Wenn nein: Warum nicht, was geht daran für Sie nicht? Wenn doch: Wie geht es weiter, gibt es aktuelle Pläne?
Wenn ich das Genre wechseln würde, dann auf jeden Fall nicht in Richtung Krimi, Science-Fiction oder Wissenschaftsthriller. Denn das wäre ebenso rechercheintensiv wie der historische Roman, würde mir aber weitaus weniger Spaß beim Forschen machen. Was ich mir hingegen vorstellen könnte: einen Gegenwartsroman, der in einem bestimmten Mikrokosmos spielt; etwa in einem Mietshaus, einer Ferienanlage in Tunesien, in einem Neubaugebiet. Die Schwierigkeit ist: Ich bin als Autorin historischer Romane bekannt und würde möglicherweise mit einem ganz neuen Genre meine angestammte Leserschaft gehörig irritieren. Aber wer weiß - vielleicht lege ich mir ja dann ein
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Pseudonym zu ...
Ihr Resümee aus der Geschichte: Lernen wir etwas aus früheren Fehlern?
Jein. Zum einen sehe ich, dass wir Menschen der sogenannten Alten Welt gehörige Fortschritte gemacht haben, wie etwa in der Emanzipation, in der Teilhabe an der Herrschaft, in der sozialen Absicherung. Dieser Fortschritt kam natürlich nicht geradlinig, sondern mit Rückschlägen, aber wir sind enorm viel weitergekommen. Allerdings kommt jetzt, mit der Globalisierung, etwas Neues hinzu, und ob wir diese Herausforderung meistern, weiß ich nicht. Aber ich hoffe es, um unserer Kinder und Kindeskinder willen!
Welche historische(n) Persönlichkeit(en) würden Sie gern treffen und warum?
Wallenstein, weil er nicht nur der knallharte Feldherr war, sondern eine schillernde Persönlichkeit mit vielen Facetten. Dann Paracelsus, der ein ungeheuer interessanter Mensch gewesen sein muss. Von den Frauen Johanna von Orléans, um herauszufinden, was an ihr Legende, was Wirklichkeit ist. Und Hildegard von Bingen, weil sie sich nicht nur als Frau im Mittelalter, sondern auch als Nonne in einer von Männern beherrschten Welt verwirklicht und ihren Widersachern Paroli geboten hat.
Passiert es Ihnen, dass sich Ihre Figuren wehren gegen Dinge, die Sie eigentlich mit ihnen vorhatten - ein Eigenleben entwickeln?
Nein, das passiert mir eigentlich eher nicht, da ich zumindest die Hauptfiguren und deren Entwicklung weitgehend im Kopf habe, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Bei den Nebenfiguren können schon mal Unwägbarkeiten vorkommen, wenn sie sich plötzlich positiver oder auch negativer entwickeln als zuvor gedacht. Wo allerdings tatsächlich Diskrepanzen entstanden: bei meiner „Hexe von Freiburg" und meiner „Vagabundin"; sie musste ich nämlich sterben lassen, da es his-torische Figuren sind. Und dagegen habe ich mich gewehrt, nicht meine Figuren.
Wie können wir uns einen Ihrer Schreibarbeitstage vorstellen? Wo arbeiten Sie am liebsten und warum, in welchem Raum (im Freien)?
Mein Arbeitstag verläuft, wenn ich nicht auf Lesereise bin, recht banal. Morgens gegen acht, halb neun an den Schreibtisch bis zur Mittagszeit, dann Kochen und Essen mit meiner Tochter, sofern sie nicht in der Schule bleibt. Nachmittags dann Organisatorisches, Lesungsvorbereitung oder Bürokram wie Rechnungen, Finanzamt. Dazwischen und vor allem am Wochenende Haushalt und Ähnliches. Und Familienleben, was auch unsere Tiere mit einschließt. Ich brauche natürlich viel Ruhe, und die finde ich in meinem kleinen Arbeitszimmer, das mit Büchern vollgestellt ist. Hätte ich allerdings einen kleinen Bauerngarten, still und uneinsehbar, dann würde ich tatsächlich lieber im Freien arbeiten!
Auch in Ihrem aktuellen Buch „Der Pestengel von Freiburg" ist eine Frau, Clara, die Haupt-figur. Sie kämpft tapfer für Menschlichkeit, rettet die jüngsten jüdischen Kinder ihrer Nachbarn vor dem Flammentod und zieht sie auf und ist eine geschickte Medizinerin. Eine starke Frau - wie viele Ihrer Romanfiguren; ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Geschichtsschreibung, in der Frauen, wenn überhaupt, nur am Rand vorkommen. Was wollen Sie transportieren?
Eben das ist ja der Grund - die Geschichtsschreibung scheint nur von Männern gemacht und auch belebt. Wo bleiben die Frauen, wenn sie nicht gerade Katharina die Große oder Maria Stuart heißen? Die Männer haben das Weltgeschehen gelenkt, Kriege entfacht, Gesetze gemacht - die Frauen, als Mütter, Ehefrauen, Töchter, haben darauf reagieren müssen. Oder waren gar zum Opfer geworden.
Welche Bücher lesen Sie aktuell, welches Buch hat sie jüngst bewegt, begeistert, fasziniert?
Aktuell lese ich, wie meistens, Sachbücher, die mir zur Recherche dienen. Zuletzt habe ich in meinem Kurzurlaub Petra Hammesfahr gelesen, die ich sehr mag. Das Buch, das mich zuletzt bewegt hat, liegt schon einige Zeit zurück: „Das Mädchen im roten Mantel". Darin geht es um ein kleines Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebt hat.
Erste Leseerinnerungen? Lieblingsbücher als Kind? Wurde Ihnen vorgelesen und wenn ja, von wem und wann?
Ganz banal: „Hanni und Nanni" und die „Fünf Freunde"-Bücher von Enid Blyton. Ach ja: und das „Nesthäkchen"! „Oliver Twist" hingegen fand ich als Kind so traurig, dass ich es weglegen musste. Vorgelesen wurde mir als Kind hin und wieder von meiner Mutter. Und mit meiner Oma hatte ich immer gemeinsam „Heim und Welt" gelesen ... Gibt es diese Zeitung heute überhaupt noch?
An welchem Buch arbeiten Sie aktuell? Können Sie uns schon etwas über die Geschichte verraten und wann erscheint es?
Mein nächstes Projekt handelt vom Schicksal zweier Schwestern, die kurz vor der Reformation und der Bauernkriege ins Kloster kommen - die eine freiwillig, da sie einen fast fanatischen Glauben lebt, die andere erzwungen. Es wird in der Ortenau und im Südbadischen spielen.
Interview: Literaturtest
Ihr Resümee aus der Geschichte: Lernen wir etwas aus früheren Fehlern?
Jein. Zum einen sehe ich, dass wir Menschen der sogenannten Alten Welt gehörige Fortschritte gemacht haben, wie etwa in der Emanzipation, in der Teilhabe an der Herrschaft, in der sozialen Absicherung. Dieser Fortschritt kam natürlich nicht geradlinig, sondern mit Rückschlägen, aber wir sind enorm viel weitergekommen. Allerdings kommt jetzt, mit der Globalisierung, etwas Neues hinzu, und ob wir diese Herausforderung meistern, weiß ich nicht. Aber ich hoffe es, um unserer Kinder und Kindeskinder willen!
Welche historische(n) Persönlichkeit(en) würden Sie gern treffen und warum?
Wallenstein, weil er nicht nur der knallharte Feldherr war, sondern eine schillernde Persönlichkeit mit vielen Facetten. Dann Paracelsus, der ein ungeheuer interessanter Mensch gewesen sein muss. Von den Frauen Johanna von Orléans, um herauszufinden, was an ihr Legende, was Wirklichkeit ist. Und Hildegard von Bingen, weil sie sich nicht nur als Frau im Mittelalter, sondern auch als Nonne in einer von Männern beherrschten Welt verwirklicht und ihren Widersachern Paroli geboten hat.
Passiert es Ihnen, dass sich Ihre Figuren wehren gegen Dinge, die Sie eigentlich mit ihnen vorhatten - ein Eigenleben entwickeln?
Nein, das passiert mir eigentlich eher nicht, da ich zumindest die Hauptfiguren und deren Entwicklung weitgehend im Kopf habe, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Bei den Nebenfiguren können schon mal Unwägbarkeiten vorkommen, wenn sie sich plötzlich positiver oder auch negativer entwickeln als zuvor gedacht. Wo allerdings tatsächlich Diskrepanzen entstanden: bei meiner „Hexe von Freiburg" und meiner „Vagabundin"; sie musste ich nämlich sterben lassen, da es his-torische Figuren sind. Und dagegen habe ich mich gewehrt, nicht meine Figuren.
Wie können wir uns einen Ihrer Schreibarbeitstage vorstellen? Wo arbeiten Sie am liebsten und warum, in welchem Raum (im Freien)?
Mein Arbeitstag verläuft, wenn ich nicht auf Lesereise bin, recht banal. Morgens gegen acht, halb neun an den Schreibtisch bis zur Mittagszeit, dann Kochen und Essen mit meiner Tochter, sofern sie nicht in der Schule bleibt. Nachmittags dann Organisatorisches, Lesungsvorbereitung oder Bürokram wie Rechnungen, Finanzamt. Dazwischen und vor allem am Wochenende Haushalt und Ähnliches. Und Familienleben, was auch unsere Tiere mit einschließt. Ich brauche natürlich viel Ruhe, und die finde ich in meinem kleinen Arbeitszimmer, das mit Büchern vollgestellt ist. Hätte ich allerdings einen kleinen Bauerngarten, still und uneinsehbar, dann würde ich tatsächlich lieber im Freien arbeiten!
Auch in Ihrem aktuellen Buch „Der Pestengel von Freiburg" ist eine Frau, Clara, die Haupt-figur. Sie kämpft tapfer für Menschlichkeit, rettet die jüngsten jüdischen Kinder ihrer Nachbarn vor dem Flammentod und zieht sie auf und ist eine geschickte Medizinerin. Eine starke Frau - wie viele Ihrer Romanfiguren; ganz im Gegensatz zur herkömmlichen Geschichtsschreibung, in der Frauen, wenn überhaupt, nur am Rand vorkommen. Was wollen Sie transportieren?
Eben das ist ja der Grund - die Geschichtsschreibung scheint nur von Männern gemacht und auch belebt. Wo bleiben die Frauen, wenn sie nicht gerade Katharina die Große oder Maria Stuart heißen? Die Männer haben das Weltgeschehen gelenkt, Kriege entfacht, Gesetze gemacht - die Frauen, als Mütter, Ehefrauen, Töchter, haben darauf reagieren müssen. Oder waren gar zum Opfer geworden.
Welche Bücher lesen Sie aktuell, welches Buch hat sie jüngst bewegt, begeistert, fasziniert?
Aktuell lese ich, wie meistens, Sachbücher, die mir zur Recherche dienen. Zuletzt habe ich in meinem Kurzurlaub Petra Hammesfahr gelesen, die ich sehr mag. Das Buch, das mich zuletzt bewegt hat, liegt schon einige Zeit zurück: „Das Mädchen im roten Mantel". Darin geht es um ein kleines Mädchen, das das Warschauer Ghetto überlebt hat.
Erste Leseerinnerungen? Lieblingsbücher als Kind? Wurde Ihnen vorgelesen und wenn ja, von wem und wann?
Ganz banal: „Hanni und Nanni" und die „Fünf Freunde"-Bücher von Enid Blyton. Ach ja: und das „Nesthäkchen"! „Oliver Twist" hingegen fand ich als Kind so traurig, dass ich es weglegen musste. Vorgelesen wurde mir als Kind hin und wieder von meiner Mutter. Und mit meiner Oma hatte ich immer gemeinsam „Heim und Welt" gelesen ... Gibt es diese Zeitung heute überhaupt noch?
An welchem Buch arbeiten Sie aktuell? Können Sie uns schon etwas über die Geschichte verraten und wann erscheint es?
Mein nächstes Projekt handelt vom Schicksal zweier Schwestern, die kurz vor der Reformation und der Bauernkriege ins Kloster kommen - die eine freiwillig, da sie einen fast fanatischen Glauben lebt, die andere erzwungen. Es wird in der Ortenau und im Südbadischen spielen.
Interview: Literaturtest
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Bibliographische Angaben
- Autor: Astrid Fritz
- 416 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868009620
- ISBN-13: 9783868009620
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