Der Pferdejunge
Die Heilung meines Sohnes
Rowan ist Autist. Seinen Eltern bleibt seine Welt ein Rätsel. Nur im Umgang mit Pferden scheint er sich ein bisschen zu öffnen. Da hat Rupert, Rowans Vater, eine Idee: Er bricht mit seinem Sohn in die Mongolei auf und hofft bei Pferden und Schamanen auf Heilung.
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Pferdejunge “
Rowan ist Autist. Seinen Eltern bleibt seine Welt ein Rätsel. Nur im Umgang mit Pferden scheint er sich ein bisschen zu öffnen. Da hat Rupert, Rowans Vater, eine Idee: Er bricht mit seinem Sohn in die Mongolei auf und hofft bei Pferden und Schamanen auf Heilung.
Klappentext zu „Der Pferdejunge “
Eine Reise ans Ende der Welt - eine Reise in die Seele des eigenen KindesAls Journalist hat Rupert Isaacson die entlegensten Winkel der Erde erkundet, die Welt seines eigenen Sohnes aber bleibt ihm verschlossen. Denn Rowan ist Autist.
Verzweifelt versuchen seine Eltern, ihm zu helfen. Doch keine Therapie schafft es, eine Bresche in die unsichtbare Mauer zu schlagen, die Rowan umgibt. Bis Rupert ihn, einer Eingebung folgend, zum Reiten mitnimmt. Und nun geschieht, worauf niemand zu hoffen gewagt hat: Im Umgang mit Pferden öffnet Rowan erstmals einen Spalt breit das Tor zu seiner Welt. Rupert ist überzeugt: Der Weg in diese Welt führt über das tiefe Verständnis zwischen Rowan und den Pferden. So bricht er mit seinem Sohn - gegen viele Widerstände - zu einer abenteuerlichen Reise auf. In der Mongolei, bei Pferden und Schamanen, hofft er Heilung für Rowan zu finden. Was er aber schließlich erlebt, übertrifft selbst seine kühnsten Erwartungen.
Lese-Probe zu „Der Pferdejunge “
Der Pferdejunge von Rupert IsaacsonKAPITEL 1
Das Siebenjahreskind
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Im April 2004 wurde bei meinem Sohn Rowan Autismus diagnostiziert. Es war, als hätte man mir mit einem Baseballschläger ins Gesicht geschlagen. Ich empfand Trauer und Scham - eine seltsame, irrationale Scham, als hätte ich diesem Kind fehlerhafte Gene mitgegeben, es irgendwie verflucht und auf Lebenszeit dazu verurteilt, als Fremdling unter Menschen zu leben. Entsetzt sah ich es wegdriften, wie durch dickes Glas oder den Schleier eines Traums von mir getrennt.
Ich musste einen Weg in seine Welt, in seinen Kopf finden. Und ich fand ihn, wie durch ein Wunder, dank einem Pferd namens Betsy.
Aber fangen wir von vorne an.
27. Dezember 2001. Das Jahr, als die Welt noch unter dem Schock der Zerstörung der Twin Towers in New York stand. Meine hochgewachsene, dunkeläugige, dunkelhaarige und im achten Monat schwangere Frau Kristin und ich waren bei Freunden zum Tee, als sie plötzlich - wie im Film - blass wurde und aufstand.
»O Gott!« Sie starrte über ihren dicken Bauch hinweg aufs Parkett, wo sich eine große, klare Pfütze ausbreitete.
»Ach du Schande!«, sagte ich und griff nach dem Telefon.
Nach einer rasanten Fahrt über die regennasse Autobahn (Pendler hupten und blendeten auf, weil ich wie verrückt die Fahrspuren wechselte), ging es im Eiltempo durch die Notaufnahme in den Kreißsaal, zum Notkaiserschnitt. Kristin schrie die ganze Zeit, weil die Wehen lückenlos aufeinanderfolgten, eine endlos währende Qual, die aus der Tiefe ihres gepeinigten Körpers Töne von schauerlicher Intensität hervorbrachten. Der Muttermund öffnete sich nicht weit genug, und obendrein lag Rowan in Steißlage. Genau in dieser Woche hätte er gedreht werden sollen. »Dafür ist es jetzt zu spät!«, bemerkte der Doktor, als Kristin in den OP-Saal gerollt wurde. Dann schaute er mich an: »Wollen Sie dabei sein?«
Aus der Traum von einer natürlichen, ganzheitlichen Geburt. Klinischer hätte es nicht zugehen können. Und ich, der ich normalerweise nicht einmal Blut sehen konnte, beobachtete jetzt aufmerksam, wie sie Kristin aufschnitten, ihre Innereien zur Seite schoben und ein blau verfärbtes, erstaunlich großes Menschenkind herauszogen. Das Einzige, was ich dachte, war: »Bitte, lieber Gott, mach, dass er ganz ist.«
Während sie Kristin noch aus der Betäubung zurückholten, stand ich bereits allein mit Rowan in einem Einzelzimmer (er war, obwohl einen ganzen Monat zu früh gekommen, fast sieben Pfund schwer) und sah ihn an, wie er da in Tücher gewickelt auf dem Rücken in einer Art Plastikwanne lag. Seine blauen, halb geöffneten Augen schauten in meine, seine winzige rechte Hand umklammerte meinen Zeigefinger. Die Uhr an der Wand zeigte auf ein paar Minuten nach Mitternacht.
Mir wurde plötzlich klar, was das bedeutete: Rowan hatte beschlossen, auf den Tag genau sieben Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Kristin auf die Welt zu kommen und das auch noch - nachdem ich den Zeitunterschied ausgerechnet hatte - fast zu der Stunde, wo wir zum ersten Mal miteinander gesprochen hatten.
Was erstaunlich war, denn als ich sie zum ersten Mal sah, hatte sie gar nicht mit mir sprechen wollen.
»Oje, schon wieder so ein Hippie«, hatte sie gedacht und sich abgewendet. Wir waren in Südindien, in Mysore. Ich sollte für einen Verlag einen Reiseführer über die Region schreiben. Sie war dort, um Recherchen für ihre Promotion in Psychologie zu betreiben. Ich hatte langes Haar, das mir bis weit über den Rücken hing, war oben in den Regenwäldern der Westghats herumgereist und hatte dort bei den Bergvölkern übernachtet. Sie hatte indische Mädchen interviewt, denen arrangierte Ehen bevorstanden, um herauszufinden, an welchem Punkt sie ihren natürlichen Sinn für Gerechtigkeit beiseiteschoben und ein System akzeptierten, in dem eine Frau sich jeder Laune ihres Ehemannes unterwerfen muss. Wir hatten uns noch nicht kennengelernt, aber wir hätten unterschiedlicher kaum sein können - Kristin war ein Vorstadtkind aus Kalifornien, ich ein Brite und Kind südafrikanischer Eltern, teils mitten in London, teils auf einem Bauernhof auf dem Land groß geworden, wo ich Pferde trainierte.
Aber in dem Moment, wo ich sie sah - bequem in einem Liegestuhl am Schwimmbecken des Southern Star Hotels sitzend, langbeinig, braungebrannt und träge wie ein Topmodel am Strand von Cannes, mit seltsam sprühenden, schwarzen Augen -, spürte ich ein Ziehen in der Magengrube, und eine Stimme in meinem Inneren sagte klar und deutlich: Das ist deine Frau.
Nein, dachte ich, das kann nicht sein. Und sprang ins Wasser.
Aber als ich wieder auftauchte, war die Stimme immer noch da. Das IST deine Frau. Geh und sprich mit ihr. Jetzt.
Tatsächlich dauerte es zwanzig volle Stunden, bis sie sich dazu herabließ. Inzwischen war mein letzter Tag in dieser Stadt gekommen. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, den eng gesteckten Zeitplan für meine Arbeit an dem Reiseführer einzuhalten. In einer offensiven Mischung aus Charme und Verzweiflung brachte ich sie schließlich dazu, den Abend mit mir zu verbringen. Da ich dem Impuls nicht widerstehen konnte, erzählte ich ihr, was die Stimme in meinem Kopf gesagt hatte, und bereitete mich auf das Unvermeidliche vor. »Du bist verrückt.« Was auch wirklich als Erstes aus ihrem Munde kam.
Dann erstaunte sie mich. »Andererseits bin ich selber ganz schön verrückt. Ehrlich gesagt«, fügte sie hinzu, »kann ich keinem raten, mir zu nah zu kommen.«
Tatsächlich hatte ihre Geschichte es in sich: Im Jahr davor hatte sie ihren Mann wegen eines anderen verlassen und wartete jetzt darauf, dass dieser andere dasselbe mit seiner Frau tat. Aber er kam nicht in die Gänge. »Ich stecke fest«, sagte sie, »das gebe ich gern zu. Aber ich bin nicht zu haben.«
Das wirkte auf mich wie ein rotes Tuch auf einen Stier.
Ich zog alle Register und schaffte es, sie zu überzeugen, zusammen mit einigen ihrer Freunde in die nächste große Stadt mitzukommen, wo mir ein protziges Hotelzimmer zur Verfügung stand, in dem wir alle schlafen konnten. In diesem Moment begann - trotz ihres anfänglichen Widerstandes - unser sieben Jahre währendes Abenteuer: Von den abgelegeneren Winkeln Indiens verschlug es uns nach London, wo sie ein Jahr Pause von ihrer Promotionsarbeit nahm, um mit mir zusammen zu sein; dann gingen wir für einen weiteren Reiseführer nach Südafrika und schließlich - weil sie in die Staaten zurückmusste, um ihren Abschluss zu machen - nach Berkeley, Kalifornien. Wir heirateten, und da ich als Reiseschriftsteller so ziemlich überall leben kann, war ich der ideale Ehemann für eine Akademikerin. So konnte ich sie zuerst nach Colorado begleiten, wo sie eine Postdoc-Stelle bekam, und schließlich nach Texas an die Universität von Austin. Besser gesagt: in eine hitzegesättigte, von Zikadengesang erfüllte Landschaft aus Eichen und Wiesen, so dass ich zum ersten Mal seit meiner weitgehend im Sattel verbrachten Kindheit meinen Traum verwirklichen konnte, Pferde zu haben. Tatsächlich hatten mich meine Eltern schon in meiner frühen Kindheit draußen auf der Pferdeweide des Bauernhofes meiner Großtante in fröhlicher Zwiesprache mit den großen Tieren angetroffen. Ich fing bereits damals an, halb professionell zu reiten und Pferde aller Art zuzureiten und auszubilden. Um die Wahrheit zu sagen, ich war ein Fanatiker.
In der Zwischenzeit flog ich wegen eines Buchprojektes wiederholt zu den letzten Jägern und Sammlern Südafrikas, den Buschmännern in der Kalahari-Wüste, zu denen es in meiner Familie durch Heirat eine merkwürdige Verbindung gab. Ich recherchierte über die Buschmänner und über ihre seltsame Kultur des Heilens durch die Anwendung von Trance und schrieb über ihren Kampf um die verlorenen Jagdgründe, die ihnen zugunsten der Einrichtung von Nationalparks und Diamantenminen weggenommen worden waren. Kaum war das daraus entstandene Buch erschienen, verkündete Kristin, sie sei schwanger.
Wir beschlossen, das Kind Rowan zu nennen, nach der Eberesche, dem Baum der weißen Magie in alten britischen Sagen. (Ein Stück Ebereschenholz in der Jackentasche dient als Schutz gegen die bösen Feen.) Als zweiten Namen wählten wir Besa - nach einem Heiler der Buschmänner, mit dem ich mich angefreundet hatte. Und so stand ich zwei Tage nach Weihnachten 2001, kurz nach Mitternacht, in grüner OP-Kleidung und mit Duschhaube auf dem Kopf, voller Staunen vor dem physischen Ergebnis meiner Liebe zu der Frau, die ich sieben Jahre zuvor an einem Schwimmbecken in Indien kennengelernt hatte.
»Auf den Tag genau sieben Jahre«, flüsterte ich. »Willkommen auf der Welt, Rowan Besa Isaacson mit den himmelblauen Augen. Welche Abenteuer magst du für uns bereithalten?«
Wir nahmen ihn an einem der in Texas seltenen Frosttage mit nach Hause, um die Wirklichkeit des Elterndaseins anzugehen und ohne die Hilfe der zwar frechen, aber mütterlichen Krankenschwestern auszukommen, die sich im Krankenhaus um uns gekümmert hatten, da wir, wie die meisten jungen Eltern, nichts über Kinderpflege wussten. Wir konnten gar nicht fassen, was für ein Geschenk dieses außergewöhnliche kleine Wesen war. Nachts hatten wir schreckliche Angst, auf ihn zu rollen und ihn zu zerdrücken, prüften alle zehn Minuten, ob er im Schlaf noch atmete, und fürchteten, dass er womöglich zu wenig aß. Was äußerst unwahrscheinlich war, da er selbst im Schlaf die Brustwarze kaum aus dem Mund ließ. Wie die meisten kleinen Babys schlief Rowan die Hälfte der Zeit, die restlichen wachen Momente gluckste und kiekste er hinreißend und hämmerte mit den kleinen Fäusten wie ein winziger Sumo-Ringer auf den Brüsten seiner Mutter herum, bis er wieder einschlief. Er weinte nicht viel. Wir waren verblüfft, wie einfach es war, Eltern zu sein. Wie konnte man sich darüber nur beklagen?
Selbst als Kristin von ihrem kurzen Mutterschaftsurlaub zurück an die Arbeit musste, fiel es uns nicht weiter schwer. Ich nahm dann ein oder zwei Fläschchen Muttermilch aus dem Kühlschrank, schnallte mir die Babytrage mit Rowan darin um und machte mich schleunigst auf den Weg zur Scheune des Nachbarn, bei dem ich ein junges Pferd im Round-Pen trainierte, während Rowan gluckste und sabberte und mir ab und zu auf die Brust spuckte. Ich sagte mir, dass ich ihn nicht unter Druck setzen würde, ein Reiter zu werden. Das war natürlich gelogen, denn in Wahrheit stellte ich mir längst vor, wie ich ihm das Reiten beibringen und auf dem Pferderücken Abenteuer mit ihm erleben würde. Kristin ihrerseits, seit vielen Jahren Buddhistin, hing ihren eigenen Träumen nach, in denen sie eines Tages lange spirituelle und philosophische Gespräche mit ihrem intelligenten, spirituell und intellektuell natürlich frühreifen Sohn führen würde. Wie alle jungen Eltern projizierten wir unsere Träume und Wünsche auf unser Kind, und zwar gewaltig.
Rowan lernte früh laufen und sagte seine ersten Wörter, noch bevor er ein Jahr alt war. Wir waren überglücklich, fühlten uns seiner Frühreife sicher und waren bis zur Überheblichkeit geschmeichelt von dieser Spiegelung unserer eigenen, natürlich außergewöhnlichen Klugheit. Etwas verschnupft reagierten wir erst, als er, anstatt als erste Namen »Mama« und »Papa« auszusprechen, die Namen aller Loks aus Thomas, die kleine Lokomotive lernte. »Hen-rii!«, sagte er dann, wandte sich mit seltsamer Intensität mir zu und hielt die kleine Spielzeuglok hoch, die tatsächlich Henry hieß. »Hen-rii!«
Er stellte die Eisenbahnen und Spielzeugtiere zu schönen Formationen zusammen und verbrachte Stunden damit, sie nach Größe und Farbe auf dem Wohnzimmerfußboden anzuordnen. Wir lobten seinen Sinn für Ästhetik, dieses frühe und ja anscheinend instinktive Formverständnis, und phantasierten darüber, ob er wohl wie meine Mutter Künstler oder wie mein Vater Architekt werden würde. Als das schon immer sehr obsessive Stillen zunehmend von merkwürdigen Yogahaltungen begleitet wurde (die manchmal so endeten, dass sich Rowan verdrehte, auf den Boden plumpste und dabei der armen Kristin fast die Brust abriss), nickten wir weise, denn unser Sohn hatte ja offensichtlich die leidenschaftliche Natur eines Schriftstellers oder Forschers. Dann begann er, Dialogstückchen aus seinen Thomas-die-kleineLokomotive-Videos nachzuplappern, und wir lächelten in der Annahme, dass er schon früh ein unterhaltsamer Gesprächspartner werden würde.
Als Rowan achtzehn Monate alt war, begann Kristin, die als Psychologin eine Ausbildung in Kindesentwicklung hatte, sich etwas Sorgen zu machen. Rowan deutete nicht auf Sachen. Auch waren keine neuen Wörter zu seinem begrenzten Wortschatz hinzugekommen, außer dass er die Dialogenden der Kindervideos nachplapperte, die er anschaute (Autismus-Experten nennen das Echolalie). Außerdem zeigte er den Erwachsenen nicht, wie viele Kinder es tun, sein Spielzeug. Wenn jemand seinen Namen sagte, reagierte er nicht darauf.
In der Sorge, dass er möglicherweise eine Sprachentwicklungsstörung habe, wandten wir uns an die zuständige Stelle für frühkindliche Gesundheitsvorsorge und organisierten - wir waren ja schließlich verantwortungsbewusste Eltern - den wöchentlichen Besuch eines Logopäden. Rowan ignorierte den Therapeuten, konnte aber nach ein, zwei Monaten »Das ist Woody« sagen, wenn er seine Toy-Story-Puppe hochhielt. Er konnte »Toy Story« sagen, wenn er das verdammte Video anschauen wollte (was ungefähr achthundertmal am Tag der Fall war). Er konnte sagen: »Das ist ein Elefant«, wenn er einen Spielzeugelefanten oder einen echten im Fernsehen sah. Aber »Mama« oder »Papa« oder »Hallo« oder »Ich habe Hunger« oder »Kann ich haben?« oder »Ja« oder das von Kleinkindern am häufigsten gebrauchte »Nein« konnte er nicht sagen.
Er führte einen an der Hand zum Kühlschrank, wenn er etwas essen wollte (nur Knuspriges und Knackiges wie Äpfel oder gebratenen Schinkenspeck), oder zum Videogerät, wenn er Toy Story oder einen Tierdokumentarfilm sehen wollte (wählte man den falschen Film, schrie er so lange, bis man endlich das Richtige ausgesucht hatte).
Sowohl Kristins wie auch meine Eltern wohnten Tausende von Kilometern weit weg. »Ihr seid zu nachsichtig mit ihm«, beklagten sich Rowans Großmütter, wenn sie auf einen ihrer seltenen Besuche kamen und sahen, wie er uns ignorierte, wenn wir etwas von ihm wollten. »Ihr lasst ihm einfach alles durchgehen. Könnt ihr nicht strenger sein?«
»Ich weiß nicht«, sagte Kristin besorgt. »Ich weiß nicht.«
Dann ging es mit den Wutanfällen los. Es waren nicht die üblichen »Ich bin frustriert, weil ich nicht kriege, was ich will«-Wutanfälle, die alle Kinder haben. Die kannten wir schon. Jetzt kam etwas Neues hinzu: etwas Dämonisches, fast schon Besessenes, das plötzlich und wie aus dem Nichts aufzutauchen schien. In der einen Minute konnte er fröhlich seine Spielzeuge aufreihen oder mit dem Gartenschlauch spielen (auch Wasser war eine seiner Obsessionen) oder sogar schlafen, in der nächsten schrie er halb vor Wut, halb in scheinbarer Höllenqual. Manchmal stundenlang. Warum?
Irgendetwas stimmte nicht, aber wir hätten nie gedacht, dass es sich um Autismus handeln könnte. Emotional war er doch so mit uns verbunden. Er schaute uns in die Augen. Er kam mit ausgebreiteten Armen zum Kuscheln auf uns zu. Freunde versuchten uns zu beruhigen: »Ach, ich hab auch erst mit vier angefangen zu sprechen.« »Kaiserschnittbabys sind oft langsamer in der Entwicklung.« »Versucht es doch mit Logopädie.« Na ja, das hatten wir getan, und es hatte zu nichts geführt. Wir versuchten es mit Ergotherapie. Aber auch diese Therapeuten ignorierte Rowan. Er wütete und schrie, wenn er gezwungen wurde, sich zu ihnen zu setzen, und ging schnurstracks zurück zu seinen Tieren und Loks, reihte sie auf, schrie »Toy Story!« und »Das ist ein Elefant« und sonst nichts. Dann kamen sogar diese Phrasen immer seltener. Er starrte Löcher in die Luft. Sagte lange gar nichts, bis wieder einer dieser seltsamen, dämonischen Anfälle von ihm Besitz ergriff und ihn und uns einer ohrenbetäubenden, emotional zerrüttenden Hölle auslieferte. Unser Junge, unser wunderbarer Junge driftete von uns fort, und es gab nichts, was wir tun konnten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
Im April 2004 wurde bei meinem Sohn Rowan Autismus diagnostiziert. Es war, als hätte man mir mit einem Baseballschläger ins Gesicht geschlagen. Ich empfand Trauer und Scham - eine seltsame, irrationale Scham, als hätte ich diesem Kind fehlerhafte Gene mitgegeben, es irgendwie verflucht und auf Lebenszeit dazu verurteilt, als Fremdling unter Menschen zu leben. Entsetzt sah ich es wegdriften, wie durch dickes Glas oder den Schleier eines Traums von mir getrennt.
Ich musste einen Weg in seine Welt, in seinen Kopf finden. Und ich fand ihn, wie durch ein Wunder, dank einem Pferd namens Betsy.
Aber fangen wir von vorne an.
27. Dezember 2001. Das Jahr, als die Welt noch unter dem Schock der Zerstörung der Twin Towers in New York stand. Meine hochgewachsene, dunkeläugige, dunkelhaarige und im achten Monat schwangere Frau Kristin und ich waren bei Freunden zum Tee, als sie plötzlich - wie im Film - blass wurde und aufstand.
»O Gott!« Sie starrte über ihren dicken Bauch hinweg aufs Parkett, wo sich eine große, klare Pfütze ausbreitete.
»Ach du Schande!«, sagte ich und griff nach dem Telefon.
Nach einer rasanten Fahrt über die regennasse Autobahn (Pendler hupten und blendeten auf, weil ich wie verrückt die Fahrspuren wechselte), ging es im Eiltempo durch die Notaufnahme in den Kreißsaal, zum Notkaiserschnitt. Kristin schrie die ganze Zeit, weil die Wehen lückenlos aufeinanderfolgten, eine endlos währende Qual, die aus der Tiefe ihres gepeinigten Körpers Töne von schauerlicher Intensität hervorbrachten. Der Muttermund öffnete sich nicht weit genug, und obendrein lag Rowan in Steißlage. Genau in dieser Woche hätte er gedreht werden sollen. »Dafür ist es jetzt zu spät!«, bemerkte der Doktor, als Kristin in den OP-Saal gerollt wurde. Dann schaute er mich an: »Wollen Sie dabei sein?«
Aus der Traum von einer natürlichen, ganzheitlichen Geburt. Klinischer hätte es nicht zugehen können. Und ich, der ich normalerweise nicht einmal Blut sehen konnte, beobachtete jetzt aufmerksam, wie sie Kristin aufschnitten, ihre Innereien zur Seite schoben und ein blau verfärbtes, erstaunlich großes Menschenkind herauszogen. Das Einzige, was ich dachte, war: »Bitte, lieber Gott, mach, dass er ganz ist.«
Während sie Kristin noch aus der Betäubung zurückholten, stand ich bereits allein mit Rowan in einem Einzelzimmer (er war, obwohl einen ganzen Monat zu früh gekommen, fast sieben Pfund schwer) und sah ihn an, wie er da in Tücher gewickelt auf dem Rücken in einer Art Plastikwanne lag. Seine blauen, halb geöffneten Augen schauten in meine, seine winzige rechte Hand umklammerte meinen Zeigefinger. Die Uhr an der Wand zeigte auf ein paar Minuten nach Mitternacht.
Mir wurde plötzlich klar, was das bedeutete: Rowan hatte beschlossen, auf den Tag genau sieben Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Kristin auf die Welt zu kommen und das auch noch - nachdem ich den Zeitunterschied ausgerechnet hatte - fast zu der Stunde, wo wir zum ersten Mal miteinander gesprochen hatten.
Was erstaunlich war, denn als ich sie zum ersten Mal sah, hatte sie gar nicht mit mir sprechen wollen.
»Oje, schon wieder so ein Hippie«, hatte sie gedacht und sich abgewendet. Wir waren in Südindien, in Mysore. Ich sollte für einen Verlag einen Reiseführer über die Region schreiben. Sie war dort, um Recherchen für ihre Promotion in Psychologie zu betreiben. Ich hatte langes Haar, das mir bis weit über den Rücken hing, war oben in den Regenwäldern der Westghats herumgereist und hatte dort bei den Bergvölkern übernachtet. Sie hatte indische Mädchen interviewt, denen arrangierte Ehen bevorstanden, um herauszufinden, an welchem Punkt sie ihren natürlichen Sinn für Gerechtigkeit beiseiteschoben und ein System akzeptierten, in dem eine Frau sich jeder Laune ihres Ehemannes unterwerfen muss. Wir hatten uns noch nicht kennengelernt, aber wir hätten unterschiedlicher kaum sein können - Kristin war ein Vorstadtkind aus Kalifornien, ich ein Brite und Kind südafrikanischer Eltern, teils mitten in London, teils auf einem Bauernhof auf dem Land groß geworden, wo ich Pferde trainierte.
Aber in dem Moment, wo ich sie sah - bequem in einem Liegestuhl am Schwimmbecken des Southern Star Hotels sitzend, langbeinig, braungebrannt und träge wie ein Topmodel am Strand von Cannes, mit seltsam sprühenden, schwarzen Augen -, spürte ich ein Ziehen in der Magengrube, und eine Stimme in meinem Inneren sagte klar und deutlich: Das ist deine Frau.
Nein, dachte ich, das kann nicht sein. Und sprang ins Wasser.
Aber als ich wieder auftauchte, war die Stimme immer noch da. Das IST deine Frau. Geh und sprich mit ihr. Jetzt.
Tatsächlich dauerte es zwanzig volle Stunden, bis sie sich dazu herabließ. Inzwischen war mein letzter Tag in dieser Stadt gekommen. Ich fühlte mich moralisch verpflichtet, den eng gesteckten Zeitplan für meine Arbeit an dem Reiseführer einzuhalten. In einer offensiven Mischung aus Charme und Verzweiflung brachte ich sie schließlich dazu, den Abend mit mir zu verbringen. Da ich dem Impuls nicht widerstehen konnte, erzählte ich ihr, was die Stimme in meinem Kopf gesagt hatte, und bereitete mich auf das Unvermeidliche vor. »Du bist verrückt.« Was auch wirklich als Erstes aus ihrem Munde kam.
Dann erstaunte sie mich. »Andererseits bin ich selber ganz schön verrückt. Ehrlich gesagt«, fügte sie hinzu, »kann ich keinem raten, mir zu nah zu kommen.«
Tatsächlich hatte ihre Geschichte es in sich: Im Jahr davor hatte sie ihren Mann wegen eines anderen verlassen und wartete jetzt darauf, dass dieser andere dasselbe mit seiner Frau tat. Aber er kam nicht in die Gänge. »Ich stecke fest«, sagte sie, »das gebe ich gern zu. Aber ich bin nicht zu haben.«
Das wirkte auf mich wie ein rotes Tuch auf einen Stier.
Ich zog alle Register und schaffte es, sie zu überzeugen, zusammen mit einigen ihrer Freunde in die nächste große Stadt mitzukommen, wo mir ein protziges Hotelzimmer zur Verfügung stand, in dem wir alle schlafen konnten. In diesem Moment begann - trotz ihres anfänglichen Widerstandes - unser sieben Jahre währendes Abenteuer: Von den abgelegeneren Winkeln Indiens verschlug es uns nach London, wo sie ein Jahr Pause von ihrer Promotionsarbeit nahm, um mit mir zusammen zu sein; dann gingen wir für einen weiteren Reiseführer nach Südafrika und schließlich - weil sie in die Staaten zurückmusste, um ihren Abschluss zu machen - nach Berkeley, Kalifornien. Wir heirateten, und da ich als Reiseschriftsteller so ziemlich überall leben kann, war ich der ideale Ehemann für eine Akademikerin. So konnte ich sie zuerst nach Colorado begleiten, wo sie eine Postdoc-Stelle bekam, und schließlich nach Texas an die Universität von Austin. Besser gesagt: in eine hitzegesättigte, von Zikadengesang erfüllte Landschaft aus Eichen und Wiesen, so dass ich zum ersten Mal seit meiner weitgehend im Sattel verbrachten Kindheit meinen Traum verwirklichen konnte, Pferde zu haben. Tatsächlich hatten mich meine Eltern schon in meiner frühen Kindheit draußen auf der Pferdeweide des Bauernhofes meiner Großtante in fröhlicher Zwiesprache mit den großen Tieren angetroffen. Ich fing bereits damals an, halb professionell zu reiten und Pferde aller Art zuzureiten und auszubilden. Um die Wahrheit zu sagen, ich war ein Fanatiker.
In der Zwischenzeit flog ich wegen eines Buchprojektes wiederholt zu den letzten Jägern und Sammlern Südafrikas, den Buschmännern in der Kalahari-Wüste, zu denen es in meiner Familie durch Heirat eine merkwürdige Verbindung gab. Ich recherchierte über die Buschmänner und über ihre seltsame Kultur des Heilens durch die Anwendung von Trance und schrieb über ihren Kampf um die verlorenen Jagdgründe, die ihnen zugunsten der Einrichtung von Nationalparks und Diamantenminen weggenommen worden waren. Kaum war das daraus entstandene Buch erschienen, verkündete Kristin, sie sei schwanger.
Wir beschlossen, das Kind Rowan zu nennen, nach der Eberesche, dem Baum der weißen Magie in alten britischen Sagen. (Ein Stück Ebereschenholz in der Jackentasche dient als Schutz gegen die bösen Feen.) Als zweiten Namen wählten wir Besa - nach einem Heiler der Buschmänner, mit dem ich mich angefreundet hatte. Und so stand ich zwei Tage nach Weihnachten 2001, kurz nach Mitternacht, in grüner OP-Kleidung und mit Duschhaube auf dem Kopf, voller Staunen vor dem physischen Ergebnis meiner Liebe zu der Frau, die ich sieben Jahre zuvor an einem Schwimmbecken in Indien kennengelernt hatte.
»Auf den Tag genau sieben Jahre«, flüsterte ich. »Willkommen auf der Welt, Rowan Besa Isaacson mit den himmelblauen Augen. Welche Abenteuer magst du für uns bereithalten?«
Wir nahmen ihn an einem der in Texas seltenen Frosttage mit nach Hause, um die Wirklichkeit des Elterndaseins anzugehen und ohne die Hilfe der zwar frechen, aber mütterlichen Krankenschwestern auszukommen, die sich im Krankenhaus um uns gekümmert hatten, da wir, wie die meisten jungen Eltern, nichts über Kinderpflege wussten. Wir konnten gar nicht fassen, was für ein Geschenk dieses außergewöhnliche kleine Wesen war. Nachts hatten wir schreckliche Angst, auf ihn zu rollen und ihn zu zerdrücken, prüften alle zehn Minuten, ob er im Schlaf noch atmete, und fürchteten, dass er womöglich zu wenig aß. Was äußerst unwahrscheinlich war, da er selbst im Schlaf die Brustwarze kaum aus dem Mund ließ. Wie die meisten kleinen Babys schlief Rowan die Hälfte der Zeit, die restlichen wachen Momente gluckste und kiekste er hinreißend und hämmerte mit den kleinen Fäusten wie ein winziger Sumo-Ringer auf den Brüsten seiner Mutter herum, bis er wieder einschlief. Er weinte nicht viel. Wir waren verblüfft, wie einfach es war, Eltern zu sein. Wie konnte man sich darüber nur beklagen?
Selbst als Kristin von ihrem kurzen Mutterschaftsurlaub zurück an die Arbeit musste, fiel es uns nicht weiter schwer. Ich nahm dann ein oder zwei Fläschchen Muttermilch aus dem Kühlschrank, schnallte mir die Babytrage mit Rowan darin um und machte mich schleunigst auf den Weg zur Scheune des Nachbarn, bei dem ich ein junges Pferd im Round-Pen trainierte, während Rowan gluckste und sabberte und mir ab und zu auf die Brust spuckte. Ich sagte mir, dass ich ihn nicht unter Druck setzen würde, ein Reiter zu werden. Das war natürlich gelogen, denn in Wahrheit stellte ich mir längst vor, wie ich ihm das Reiten beibringen und auf dem Pferderücken Abenteuer mit ihm erleben würde. Kristin ihrerseits, seit vielen Jahren Buddhistin, hing ihren eigenen Träumen nach, in denen sie eines Tages lange spirituelle und philosophische Gespräche mit ihrem intelligenten, spirituell und intellektuell natürlich frühreifen Sohn führen würde. Wie alle jungen Eltern projizierten wir unsere Träume und Wünsche auf unser Kind, und zwar gewaltig.
Rowan lernte früh laufen und sagte seine ersten Wörter, noch bevor er ein Jahr alt war. Wir waren überglücklich, fühlten uns seiner Frühreife sicher und waren bis zur Überheblichkeit geschmeichelt von dieser Spiegelung unserer eigenen, natürlich außergewöhnlichen Klugheit. Etwas verschnupft reagierten wir erst, als er, anstatt als erste Namen »Mama« und »Papa« auszusprechen, die Namen aller Loks aus Thomas, die kleine Lokomotive lernte. »Hen-rii!«, sagte er dann, wandte sich mit seltsamer Intensität mir zu und hielt die kleine Spielzeuglok hoch, die tatsächlich Henry hieß. »Hen-rii!«
Er stellte die Eisenbahnen und Spielzeugtiere zu schönen Formationen zusammen und verbrachte Stunden damit, sie nach Größe und Farbe auf dem Wohnzimmerfußboden anzuordnen. Wir lobten seinen Sinn für Ästhetik, dieses frühe und ja anscheinend instinktive Formverständnis, und phantasierten darüber, ob er wohl wie meine Mutter Künstler oder wie mein Vater Architekt werden würde. Als das schon immer sehr obsessive Stillen zunehmend von merkwürdigen Yogahaltungen begleitet wurde (die manchmal so endeten, dass sich Rowan verdrehte, auf den Boden plumpste und dabei der armen Kristin fast die Brust abriss), nickten wir weise, denn unser Sohn hatte ja offensichtlich die leidenschaftliche Natur eines Schriftstellers oder Forschers. Dann begann er, Dialogstückchen aus seinen Thomas-die-kleineLokomotive-Videos nachzuplappern, und wir lächelten in der Annahme, dass er schon früh ein unterhaltsamer Gesprächspartner werden würde.
Als Rowan achtzehn Monate alt war, begann Kristin, die als Psychologin eine Ausbildung in Kindesentwicklung hatte, sich etwas Sorgen zu machen. Rowan deutete nicht auf Sachen. Auch waren keine neuen Wörter zu seinem begrenzten Wortschatz hinzugekommen, außer dass er die Dialogenden der Kindervideos nachplapperte, die er anschaute (Autismus-Experten nennen das Echolalie). Außerdem zeigte er den Erwachsenen nicht, wie viele Kinder es tun, sein Spielzeug. Wenn jemand seinen Namen sagte, reagierte er nicht darauf.
In der Sorge, dass er möglicherweise eine Sprachentwicklungsstörung habe, wandten wir uns an die zuständige Stelle für frühkindliche Gesundheitsvorsorge und organisierten - wir waren ja schließlich verantwortungsbewusste Eltern - den wöchentlichen Besuch eines Logopäden. Rowan ignorierte den Therapeuten, konnte aber nach ein, zwei Monaten »Das ist Woody« sagen, wenn er seine Toy-Story-Puppe hochhielt. Er konnte »Toy Story« sagen, wenn er das verdammte Video anschauen wollte (was ungefähr achthundertmal am Tag der Fall war). Er konnte sagen: »Das ist ein Elefant«, wenn er einen Spielzeugelefanten oder einen echten im Fernsehen sah. Aber »Mama« oder »Papa« oder »Hallo« oder »Ich habe Hunger« oder »Kann ich haben?« oder »Ja« oder das von Kleinkindern am häufigsten gebrauchte »Nein« konnte er nicht sagen.
Er führte einen an der Hand zum Kühlschrank, wenn er etwas essen wollte (nur Knuspriges und Knackiges wie Äpfel oder gebratenen Schinkenspeck), oder zum Videogerät, wenn er Toy Story oder einen Tierdokumentarfilm sehen wollte (wählte man den falschen Film, schrie er so lange, bis man endlich das Richtige ausgesucht hatte).
Sowohl Kristins wie auch meine Eltern wohnten Tausende von Kilometern weit weg. »Ihr seid zu nachsichtig mit ihm«, beklagten sich Rowans Großmütter, wenn sie auf einen ihrer seltenen Besuche kamen und sahen, wie er uns ignorierte, wenn wir etwas von ihm wollten. »Ihr lasst ihm einfach alles durchgehen. Könnt ihr nicht strenger sein?«
»Ich weiß nicht«, sagte Kristin besorgt. »Ich weiß nicht.«
Dann ging es mit den Wutanfällen los. Es waren nicht die üblichen »Ich bin frustriert, weil ich nicht kriege, was ich will«-Wutanfälle, die alle Kinder haben. Die kannten wir schon. Jetzt kam etwas Neues hinzu: etwas Dämonisches, fast schon Besessenes, das plötzlich und wie aus dem Nichts aufzutauchen schien. In der einen Minute konnte er fröhlich seine Spielzeuge aufreihen oder mit dem Gartenschlauch spielen (auch Wasser war eine seiner Obsessionen) oder sogar schlafen, in der nächsten schrie er halb vor Wut, halb in scheinbarer Höllenqual. Manchmal stundenlang. Warum?
Irgendetwas stimmte nicht, aber wir hätten nie gedacht, dass es sich um Autismus handeln könnte. Emotional war er doch so mit uns verbunden. Er schaute uns in die Augen. Er kam mit ausgebreiteten Armen zum Kuscheln auf uns zu. Freunde versuchten uns zu beruhigen: »Ach, ich hab auch erst mit vier angefangen zu sprechen.« »Kaiserschnittbabys sind oft langsamer in der Entwicklung.« »Versucht es doch mit Logopädie.« Na ja, das hatten wir getan, und es hatte zu nichts geführt. Wir versuchten es mit Ergotherapie. Aber auch diese Therapeuten ignorierte Rowan. Er wütete und schrie, wenn er gezwungen wurde, sich zu ihnen zu setzen, und ging schnurstracks zurück zu seinen Tieren und Loks, reihte sie auf, schrie »Toy Story!« und »Das ist ein Elefant« und sonst nichts. Dann kamen sogar diese Phrasen immer seltener. Er starrte Löcher in die Luft. Sagte lange gar nichts, bis wieder einer dieser seltsamen, dämonischen Anfälle von ihm Besitz ergriff und ihn und uns einer ohrenbetäubenden, emotional zerrüttenden Hölle auslieferte. Unser Junge, unser wunderbarer Junge driftete von uns fort, und es gab nichts, was wir tun konnten.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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Autoren-Porträt von Rupert Isaacson
Isaacson, RupertRupert Isaacson, geboren in London, Buchautor und Journalist, hat u.a. für den Daily Telegraph, Esquire, National Geographic, The Independent on Sunday geschrieben. Zuvor war er professioneller Pferdetrainer. Er ist verheiratet mit der US-Amerikanerin Kristin Neff, einer Entwicklungspsychologin. Von ihrem gemeinsamen Sohn Rowan handelt dieses Buch. Er ist der »Pferdejunge«.
Bibliographische Angaben
- Autor: Rupert Isaacson
- 2011, 5. Aufl., 400 Seiten, Maße: 12,5 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Elze, Judith
- Übersetzer: Judith Elze
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596179203
- ISBN-13: 9783596179206
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