Der Schock
Psychothriller
Laura Bjely gerät an der Côte d’Azur in ein Unwetter – und in einen Albtraum. Ihr Freund Jan findet später nur noch ihr Smartphone – mit einer verstörenden Filmsequenz darauf. Kurz darauf wird Jans Nachbarin in Berlin...
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Schock “
Laura Bjely gerät an der Côte d’Azur in ein Unwetter – und in einen Albtraum. Ihr Freund Jan findet später nur noch ihr Smartphone – mit einer verstörenden Filmsequenz darauf. Kurz darauf wird Jans Nachbarin in Berlin tot aufgefunden – mit einer letzten blutigen Nachricht an ihn. Allen Warnungen zum Trotz sucht Jan weiter nach Laura.
Klappentext zu „Der Schock “
Ohne Rücksicht auf Verluste - Bestseller-Autor Marc Raabe garantiert schlaflose Nächte! Bei einem Unwetter an der Cote d'Azur begegnet Laura Bjely ihrem schlimmsten Alptraum. Ihr Freund Jan findet später nur noch ihr Smartphone - mit einem verstörenden Film im Speicher. Kurz darauf wird in Berlin die Leiche von Jans Nachbarin entdeckt. Auf ihrer Stirn steht eine blutige Nachricht. Allen Warnungen zum Trotz sucht Jan weiter nach Laura. Dabei stößt er auf einen Abgrund aus Wahnsinn und Bösartigkeit. Vom Autor des Spiegel-Bestsellers »Schnitt«
Lese-Probe zu „Der Schock “
Der Schock von Marc RaabeKapitel 1
Èze - Côte d'Azur, 17. Oktober, 21:55 Uhr
Der Moment, als das Handy klingelte, war für Jan Floss der Moment, in dem alles losbrach.
17 Minuten zuvor hatte Jan nichtsahnend vor dem Panoramafenster gestanden und durch seine eigene Spiegelung hindurch in die Dunkelheit gestarrt. Vierhundert Meter unter ihm brandete das Meer. Das Azurblau der Côte d'Azur hatte sich in schwarzes Blei verwandelt, und der Himmel schien direkt ins Meer zu fließen.
Es goss in Strömen, bereits seit drei Tagen, und eine für diesen Teil der Küste untypische klamme Kälte kroch ihm in die Glieder. Verdammte Heizung. Verdammtes Haus. Seit wie vielen Jahren war sein Vater nicht mehr hier gewesen? Eigentlich seit Mutter ausgezogen war. Und da war Jan gerade zehn geworden. Also seit 24 Jahren. Kein Wunder, dass in diesem Haus nichts mehr funktionierte. Was für eine Schnapsidee, ausgerechnet hierher zu kommen. Zu wenig Heizung, zu viele Erinnerungen.
Seit drei Tagen hockten sie jetzt zu viert hier aufeinander, in einem 120qmFerienhaus, von dem gerade einmal 30 qm halbwegs bewohnbar waren: das alte Elternschlafzimmer und das große Wohnund Esszimmer mit dem Panoramafenster. Theos altes Kinderzimmer war immer noch abgeschlossen, als würde sein Geist hinter der Tür hausen. Jan wusste nicht, wo der Schlüssel für diese Tür war. Und selbst wenn er es gewusst hätte, er hätte es nicht über sich gebracht, sie zu öffnen.
Greg, Katy und Laura hatten es nicht mehr ausgehalten und waren mit Gregs Jeep zum Einkaufen runter in die Stadt - nach BeaulieusurMer, kurz vor Nizza.
... mehr
Jan hatte sich entschieden zu bleiben. 30 qm Haus gegen 4 qm Auto tauschen? Nein danke! Erst recht nicht bei diesem Regen. Außerdem konnte er seiner 37jährigen Schwester Katy nicht länger dabei zusehen, wie sie Greg anhimmelte, ganz so als gäbe es weder ihren Mann noch ihre Zwillinge. Dazu kam, dass Jan dem Einkaufen in Supermärkten nichts abgewinnen konnte. Endlose Regale, knallbunte Produkte und pausenloses Werbegedudel. Über Jahre hatte er diesen Mist und seine Wirkung auf Kunden untersucht. Die Psychologie von Tütensuppen war viel zu lange sein Lebensinhalt gewesen.
Als Greg und Katy verkündet hatten, dass sie nach BeaulieusurMer wollten, hatte Jan gehofft, dass Laura blieb. Die Erinnerung an letzte Nacht ließ sein Herz immer noch schneller schlagen. Doch Laura litt offenbar ebenfalls unter dem HüttenKoller, war in ihre Gummistiefel gestiegen und hatte mit Greg und Katy das Haus verlassen.
Jan starrte durch die Scheibe. Sein Spiegelbild trat deutlich auf dem Glas hervor; das erschöpfte Gesicht eines 34jährigen Einzelgängers. Seine braunen Augen waren schwarze Punkte; seine dunklen Haare standen wild von seinem Kopf ab, so wie ihm die Gedanken durchs Hirn flogen. Und dann war da noch das Feuermal, das sich wie eine rötliche Insel von seiner linken Schläfe über die Wange bis hinab zum Mundwinkel zog. Nach der Sache mit Theo war es ihm immer vorgekommen, als hätte jemand da oben vorgehabt, ihn schon bei seiner Geburt zu brandmarken. Seht her, dieser Junge zieht das Unglück an. Seid vorsichtig. Meidet ihn.
Als das Telefon klingelte, griff Jan einfach nach rechts, drückte blind die grüne Taste und hob das Gerät ans Ohr. Da sprudelte ihm schon ihre Stimme entgegen.
»Hey. Katy hier. Sag mal, ist Laura bei dir?«
»Was?«, fragte Jan.
»Spreche ich Spanisch? Ob Laura bei dir ist.«
Jan runzelte die Stirn. »Also eben hat sie noch neben dir im Auto gesessen, aber wart mal«, meinte Jan, »ich seh mal gerade nach, vielleicht steht sie hinter der Gardine hier.« Er wedelte lautstark mit dem Stoff. »Ups. Nein. Da ist sie nicht.«
»Haha. Sehr witzig, Bruderherz.«
»Garbage in, garbage out«, sagte Jan lakonisch.
»Hä?«
Er seufzte. »Na, wenn die Frage Müll ist, dann ist die Antwort eben auch Müll.«
»Kannst du mal aus deiner destruktiven Stimmung aussteigen und mir bitte helfen?«
»Ich bin nicht destruktiv«, sagte Jan, »mir geht's nur nicht besonders gut.«
»Kannst du mir jetzt bitte einfach sagen, ob Laura bei dir ist. Oder ob sie sich bei dir gemeldet hat.«
»Ist Laura denn weg?«
»Wie vom Erdboden verschluckt. Sonst würde ich ja wohl kaum fragen.«
»Wo seid ihr denn gerade?«
»Beim Supermarkt.«
»Bei welchem Supermarkt?«
Katy schnaubte. »Dem Hypermarché. Am Ortseingang von Beaulieu. Wo denn sonst. Könntest du mir jetzt einfach mal meine Frage beantworten?«
»Du hast dir deine Frage gerade selbst beantwortet.«
Katy stöhnte in den Hörer.
»Katy, bitte! Ihr seid vor 'ner halben Stunde losgefahren. Bis da unten braucht man mit dem Auto zehn Minuten. Den Berg hoch zu Fuß braucht man erheblich länger. Wenn Laura also nicht schon auf der Fahrt aus dem Auto gesprungen ist, weil sie Gregs Gequatsche nicht mehr ertragen hat, dann kann sie noch gar nicht hier sein.«
»Herzlichen Dank für den Kurzlehrgang in Sachen Logik! Ich mach mir einfach Sorgen, okay? Laura ist weg, und wir haben keine Ahnung, wieso. Also, wenn sie sich bei dir meldet oder bei dir auftaucht, dann sag wenigstens Bescheid«, sagte Katy bissig und legte abrupt auf.
Jan seufzte, als es in der Leitung knackte. Sofort tat ihm leid, dass er es mal wieder nicht hatte lassen können. Es war immer das Gleiche. Wenn er mit Katy sprach, saßen tausend kleine Teufel in seinem Gehirn, und er verfiel in Verhaltensmuster, die eher zu einem bockigen Teenager passten als zu einem erwachsenen Mann.
Er starrte hinaus in den Regen. Die Felskante, hinter der es steil abwärts zum Meer ging, war nur noch ein unscharfer gezackter Schatten in der Dunkelheit. Er dachte an Laura. Ihr Gesicht sah so ganz anders aus als damals in der Schule. Voller. Erwachsener. Nicht nur weil sie älter geworden war - da war noch etwas anderes. Etwas Verschlossenes, das ihn faszinierte, oder besser gesagt, ihn magisch anzog.
Schon damals in der Schule, mit 14, hatte Lauras Nähe ihn immer in Not gebracht. Sein Kopf wurde heiß, und er wusste nur zu gut, dass auch sein Feuermal dann noch deutlicher hervortrat. Dennoch suchte er immer wieder ihre Nähe. Nachts hatte er dann so intensive Träume, dass er tags darauf nur noch verlegener beiseitesah, wenn sich ihre Blicke trafen. Er wusste nicht, wie er mit all diesen Gefühlen fertig werden sollte, er kam sich dumm vor und irgendwie schuldig, als ob das alles nicht normal sei, was ihn da überwältigte.
Dann war Laura plötzlich weg gewesen, von einem Tag auf den anderen. Später erfuhr er, dass sie die Schule gewechselt hatte, aus einem Grund, den er bis heute nicht kannte. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen - bis Katy diesen unseligen Trip nach Frankreich vorgeschlagen hatte.
Er sah nach links, zu der schmalen Straße, die sich den Hang nach Èze emporwand. Das Wasser floss in breiten Bächen bis zum Wendehammer vor dem Haus und sammelte sich in großen Pfützen. Zu verschwinden, das schien irgendwie eine Eigenart von Laura zu sein. Aber warum ausgerechnet in einem französischen Kaff, bei diesem Wetter, vor einem Supermarkt, der in wenigen Minuten schloss? Ihm wurde mulmig.
Instinktiv griff er zum Handy. Lauras Nummer hatte er nicht, also rief er Katy an.
Ihr gewünschter Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar, tönte es aus dem Handy.
Na großartig! Und jetzt?
Für einen Moment kam er sich albern vor. Eine erwachsene Frau verschwand für ein paar Minuten, und schon drehte er durch. Es liegt am Regen, dachte er. Immer wenn es so regnet, drehst du durch.
Er schloss die Augen und lehnte sich mit der Stirn an die Scheibe. Das Glas drückte kalt gegen seine Haut.
Vermutlich saßen die drei im Jeep und waren irgendwo auf der Küstenstraße, auf dem Weg zu ihm. Auf der Corniche gab es bestimmt einige Stellen, an denen das Mobilfunknetz nicht gut funktionierte.
Noch zehn Minuten. Vielleicht auch etwas mehr. So lange dauerte es mit dem Wagen vom Hypermarché bis vors Haus.
So lange würde er noch warten.
Kapitel 2
Beaulieu-sur-Mer - Côte d'Azur, 17. Oktober, 22:05 Uhr
Die straffe Haut hatte kurz Wiederstand geleistet, dann war die Kanüle mit der scharfen Vförmigen Spitze eingedrungen. Unter der Haut schimmerten bläuliche Venen. Der dünne Schlauch an der Kanüle hatte sich mit Rot gefüllt. Eine weitere Ader, mit einem kleinen weißen Plastikhahn.
Dahinter war der Schlauch noch jungfräulich. Durchsichtig.
So lange, wie er es wollte.
Er begann sie zu rasieren. Nass. Etwas von dem weißen Schaum kleckste auf den Stahltisch. Frisch gefallener Schnee mit dunklen Schamhaaren. Eben hatte sie sich noch gewehrt. Gebettelt. Gerüttelt. Als er die Dreifachklinge nah ihrer Klitoris angesetzt hatte, war sie erstarrt. Jetzt flennte sie nur noch. Das beschissene Salz in den Tränen verdarb den Teint. Er musste sie wegtupfen, dabei hatte er gleichzeitig auf so vieles zu achten.
Der elektrische Gabelstapler stand bereit. Seit fünfzig Minuten härteten die ersten zwanzig Zentimeter auf dem Boden von Wanne eins aus. Es roch dementsprechend beißend. Die Lüftung lief auf Hochtouren. Sein Schwanz auch. Jeder Zug der Rasierklinge ließ ihn pulsieren.
Sie starrte an die Decke und flennte weiter.
Prinzessinnen flennten nicht.
Nicht seine.
Das nahm er ihr übel.
Selbst wenn es seinem Schwanz gefiel. Er wischte die Sauerei mit den viel zu dunklen Haaren weg. Kletterte auf die Stahlplatte. Stand über ihr, sein Glied wie ein Revolver. Jetzt sah sie ihn und wusste, dass es so weit war. Scheiße, es hatte lange gedauert. Aber jetzt war es so weit.
Er drang in sie ein, stieß zu, legte seine Linke um ihren Hals und drückte. Nur keine Würgemale. Mit der Rechten löste er die kleinen weißen Plastikhähne. Blut floss in die beiden Schläuche, und da, wo sie endeten, plätscherte es zu Boden. Sie wurde blasser und sein Schwanz immer noch steifer. Der Gestank der Chemikalien, der metallische Geruch des Blutes, seine heißlaufenden Erinnerungen, das alles war ein einziger großer Strudel.
Dann platzte etwas. Und spritzte.
Er sah auf. In Wanne eins lief Fixierer aus der Leitung, direkt ins Becken. Er sprang auf, wäre beinah in der klebrigen roten Lache ausgerutscht, und rannte zum Becken.
Aber es war schon zu spät.
Verfluchte Scheiße.
Der Zeitplan war im Arsch.
Er starrte auf den defekten Verbinder. Musste an den Verkäufer denken, der ihm das Zeug angedreht hatte. ›Klar ist das sicher. Das ist Plastik. Das hält ewig.‹ Schwachkopf, beschissener! Am liebsten hätte er ihm jeden Finger einzeln abgeschnitten.
Das war vor drei Tagen gewesen, in Berlin.
Heute musste er zugeben: Ohne die geplatzte Leitung wäre er sicher nicht noch einmal losgefahren. Dann hätte er sie nicht gesehen. Und dann wäre er jetzt nicht hier: im Regen, auf einem einsamen Parkplatz vor einem französischen Hypermarché.
Er konnte es förmlich riechen. Und sehen. Sie hatten Angst, der große Blonde und die Dunkelhaarige. Wie sie ums Auto staksten! Wie zwei blöde Flamingos.
Die Angst hüllte sie ein wie eine schwere süße Wolke Parfüm, die er gierig mit weit geöffneten Nasenflügeln einsog. Seit zwanzig Minuten waren sie in dieser Wolke, suchten, telefonierten und wurden pitschnass im Regen. Jetzt steckte die hübsche Dunkelhaarige wütend ihr Handy ein. Auch ihr Lover, der AllAmericanBoy mit seinem scheißbraunen Teint, sah nicht gerade glücklich aus. Eher so, als wünschte er sich auf sein Surfbrett nach Venice Beach.
Dann sah er sie.
Sie kam aus dem Supermarkt, ganz selbstverständlich, als wäre sie nicht mehr als ein paar Sekunden weg gewesen. Sie hatte diese Anmut in ihrem Gang. Der Schwung ihrer langen Haare erschlug ihn, und das obwohl sie nicht blond waren. Alles an ihr erschlug ihn. Das schmale Gesicht mit den so klaren Wangenknochen, wie eine Heilige, und dann die Augen, die wegen der hochstehenden Brauen immer etwas überrascht aussahen - und zugleich merkwürdig teilnahmslos, als würden sie eine stille Trauer verbergen. Trauer. Verbergen. Wie gut er das kannte! Sie war schon jetzt wie ein Teil von ihm. Und die Sache mit den Haaren - nun ja, Haare konnte er färben. Oder bleichen.
Bereits in Berlin, als er sie zufällig am Straßenrand gesehen hatte, wie sie mit ihrer Reisetasche zu den anderen stieß, hatte es ihm den Atem verschlagen. Er war auf dem Weg gewesen, Ersatzteile zu besorgen. Instinktiv hatte er auf die Bremse getreten und durch das getönte Heckfenster gespäht. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte geschworen, es gäbe so etwas wie Wiedergeburt, so sehr erinnerte sie ihn an Jenny.
© Ullstein TB
Jan hatte sich entschieden zu bleiben. 30 qm Haus gegen 4 qm Auto tauschen? Nein danke! Erst recht nicht bei diesem Regen. Außerdem konnte er seiner 37jährigen Schwester Katy nicht länger dabei zusehen, wie sie Greg anhimmelte, ganz so als gäbe es weder ihren Mann noch ihre Zwillinge. Dazu kam, dass Jan dem Einkaufen in Supermärkten nichts abgewinnen konnte. Endlose Regale, knallbunte Produkte und pausenloses Werbegedudel. Über Jahre hatte er diesen Mist und seine Wirkung auf Kunden untersucht. Die Psychologie von Tütensuppen war viel zu lange sein Lebensinhalt gewesen.
Als Greg und Katy verkündet hatten, dass sie nach BeaulieusurMer wollten, hatte Jan gehofft, dass Laura blieb. Die Erinnerung an letzte Nacht ließ sein Herz immer noch schneller schlagen. Doch Laura litt offenbar ebenfalls unter dem HüttenKoller, war in ihre Gummistiefel gestiegen und hatte mit Greg und Katy das Haus verlassen.
Jan starrte durch die Scheibe. Sein Spiegelbild trat deutlich auf dem Glas hervor; das erschöpfte Gesicht eines 34jährigen Einzelgängers. Seine braunen Augen waren schwarze Punkte; seine dunklen Haare standen wild von seinem Kopf ab, so wie ihm die Gedanken durchs Hirn flogen. Und dann war da noch das Feuermal, das sich wie eine rötliche Insel von seiner linken Schläfe über die Wange bis hinab zum Mundwinkel zog. Nach der Sache mit Theo war es ihm immer vorgekommen, als hätte jemand da oben vorgehabt, ihn schon bei seiner Geburt zu brandmarken. Seht her, dieser Junge zieht das Unglück an. Seid vorsichtig. Meidet ihn.
Als das Telefon klingelte, griff Jan einfach nach rechts, drückte blind die grüne Taste und hob das Gerät ans Ohr. Da sprudelte ihm schon ihre Stimme entgegen.
»Hey. Katy hier. Sag mal, ist Laura bei dir?«
»Was?«, fragte Jan.
»Spreche ich Spanisch? Ob Laura bei dir ist.«
Jan runzelte die Stirn. »Also eben hat sie noch neben dir im Auto gesessen, aber wart mal«, meinte Jan, »ich seh mal gerade nach, vielleicht steht sie hinter der Gardine hier.« Er wedelte lautstark mit dem Stoff. »Ups. Nein. Da ist sie nicht.«
»Haha. Sehr witzig, Bruderherz.«
»Garbage in, garbage out«, sagte Jan lakonisch.
»Hä?«
Er seufzte. »Na, wenn die Frage Müll ist, dann ist die Antwort eben auch Müll.«
»Kannst du mal aus deiner destruktiven Stimmung aussteigen und mir bitte helfen?«
»Ich bin nicht destruktiv«, sagte Jan, »mir geht's nur nicht besonders gut.«
»Kannst du mir jetzt bitte einfach sagen, ob Laura bei dir ist. Oder ob sie sich bei dir gemeldet hat.«
»Ist Laura denn weg?«
»Wie vom Erdboden verschluckt. Sonst würde ich ja wohl kaum fragen.«
»Wo seid ihr denn gerade?«
»Beim Supermarkt.«
»Bei welchem Supermarkt?«
Katy schnaubte. »Dem Hypermarché. Am Ortseingang von Beaulieu. Wo denn sonst. Könntest du mir jetzt einfach mal meine Frage beantworten?«
»Du hast dir deine Frage gerade selbst beantwortet.«
Katy stöhnte in den Hörer.
»Katy, bitte! Ihr seid vor 'ner halben Stunde losgefahren. Bis da unten braucht man mit dem Auto zehn Minuten. Den Berg hoch zu Fuß braucht man erheblich länger. Wenn Laura also nicht schon auf der Fahrt aus dem Auto gesprungen ist, weil sie Gregs Gequatsche nicht mehr ertragen hat, dann kann sie noch gar nicht hier sein.«
»Herzlichen Dank für den Kurzlehrgang in Sachen Logik! Ich mach mir einfach Sorgen, okay? Laura ist weg, und wir haben keine Ahnung, wieso. Also, wenn sie sich bei dir meldet oder bei dir auftaucht, dann sag wenigstens Bescheid«, sagte Katy bissig und legte abrupt auf.
Jan seufzte, als es in der Leitung knackte. Sofort tat ihm leid, dass er es mal wieder nicht hatte lassen können. Es war immer das Gleiche. Wenn er mit Katy sprach, saßen tausend kleine Teufel in seinem Gehirn, und er verfiel in Verhaltensmuster, die eher zu einem bockigen Teenager passten als zu einem erwachsenen Mann.
Er starrte hinaus in den Regen. Die Felskante, hinter der es steil abwärts zum Meer ging, war nur noch ein unscharfer gezackter Schatten in der Dunkelheit. Er dachte an Laura. Ihr Gesicht sah so ganz anders aus als damals in der Schule. Voller. Erwachsener. Nicht nur weil sie älter geworden war - da war noch etwas anderes. Etwas Verschlossenes, das ihn faszinierte, oder besser gesagt, ihn magisch anzog.
Schon damals in der Schule, mit 14, hatte Lauras Nähe ihn immer in Not gebracht. Sein Kopf wurde heiß, und er wusste nur zu gut, dass auch sein Feuermal dann noch deutlicher hervortrat. Dennoch suchte er immer wieder ihre Nähe. Nachts hatte er dann so intensive Träume, dass er tags darauf nur noch verlegener beiseitesah, wenn sich ihre Blicke trafen. Er wusste nicht, wie er mit all diesen Gefühlen fertig werden sollte, er kam sich dumm vor und irgendwie schuldig, als ob das alles nicht normal sei, was ihn da überwältigte.
Dann war Laura plötzlich weg gewesen, von einem Tag auf den anderen. Später erfuhr er, dass sie die Schule gewechselt hatte, aus einem Grund, den er bis heute nicht kannte. Seitdem hatte er sie nicht mehr gesehen - bis Katy diesen unseligen Trip nach Frankreich vorgeschlagen hatte.
Er sah nach links, zu der schmalen Straße, die sich den Hang nach Èze emporwand. Das Wasser floss in breiten Bächen bis zum Wendehammer vor dem Haus und sammelte sich in großen Pfützen. Zu verschwinden, das schien irgendwie eine Eigenart von Laura zu sein. Aber warum ausgerechnet in einem französischen Kaff, bei diesem Wetter, vor einem Supermarkt, der in wenigen Minuten schloss? Ihm wurde mulmig.
Instinktiv griff er zum Handy. Lauras Nummer hatte er nicht, also rief er Katy an.
Ihr gewünschter Gesprächspartner ist vorübergehend nicht erreichbar, tönte es aus dem Handy.
Na großartig! Und jetzt?
Für einen Moment kam er sich albern vor. Eine erwachsene Frau verschwand für ein paar Minuten, und schon drehte er durch. Es liegt am Regen, dachte er. Immer wenn es so regnet, drehst du durch.
Er schloss die Augen und lehnte sich mit der Stirn an die Scheibe. Das Glas drückte kalt gegen seine Haut.
Vermutlich saßen die drei im Jeep und waren irgendwo auf der Küstenstraße, auf dem Weg zu ihm. Auf der Corniche gab es bestimmt einige Stellen, an denen das Mobilfunknetz nicht gut funktionierte.
Noch zehn Minuten. Vielleicht auch etwas mehr. So lange dauerte es mit dem Wagen vom Hypermarché bis vors Haus.
So lange würde er noch warten.
Kapitel 2
Beaulieu-sur-Mer - Côte d'Azur, 17. Oktober, 22:05 Uhr
Die straffe Haut hatte kurz Wiederstand geleistet, dann war die Kanüle mit der scharfen Vförmigen Spitze eingedrungen. Unter der Haut schimmerten bläuliche Venen. Der dünne Schlauch an der Kanüle hatte sich mit Rot gefüllt. Eine weitere Ader, mit einem kleinen weißen Plastikhahn.
Dahinter war der Schlauch noch jungfräulich. Durchsichtig.
So lange, wie er es wollte.
Er begann sie zu rasieren. Nass. Etwas von dem weißen Schaum kleckste auf den Stahltisch. Frisch gefallener Schnee mit dunklen Schamhaaren. Eben hatte sie sich noch gewehrt. Gebettelt. Gerüttelt. Als er die Dreifachklinge nah ihrer Klitoris angesetzt hatte, war sie erstarrt. Jetzt flennte sie nur noch. Das beschissene Salz in den Tränen verdarb den Teint. Er musste sie wegtupfen, dabei hatte er gleichzeitig auf so vieles zu achten.
Der elektrische Gabelstapler stand bereit. Seit fünfzig Minuten härteten die ersten zwanzig Zentimeter auf dem Boden von Wanne eins aus. Es roch dementsprechend beißend. Die Lüftung lief auf Hochtouren. Sein Schwanz auch. Jeder Zug der Rasierklinge ließ ihn pulsieren.
Sie starrte an die Decke und flennte weiter.
Prinzessinnen flennten nicht.
Nicht seine.
Das nahm er ihr übel.
Selbst wenn es seinem Schwanz gefiel. Er wischte die Sauerei mit den viel zu dunklen Haaren weg. Kletterte auf die Stahlplatte. Stand über ihr, sein Glied wie ein Revolver. Jetzt sah sie ihn und wusste, dass es so weit war. Scheiße, es hatte lange gedauert. Aber jetzt war es so weit.
Er drang in sie ein, stieß zu, legte seine Linke um ihren Hals und drückte. Nur keine Würgemale. Mit der Rechten löste er die kleinen weißen Plastikhähne. Blut floss in die beiden Schläuche, und da, wo sie endeten, plätscherte es zu Boden. Sie wurde blasser und sein Schwanz immer noch steifer. Der Gestank der Chemikalien, der metallische Geruch des Blutes, seine heißlaufenden Erinnerungen, das alles war ein einziger großer Strudel.
Dann platzte etwas. Und spritzte.
Er sah auf. In Wanne eins lief Fixierer aus der Leitung, direkt ins Becken. Er sprang auf, wäre beinah in der klebrigen roten Lache ausgerutscht, und rannte zum Becken.
Aber es war schon zu spät.
Verfluchte Scheiße.
Der Zeitplan war im Arsch.
Er starrte auf den defekten Verbinder. Musste an den Verkäufer denken, der ihm das Zeug angedreht hatte. ›Klar ist das sicher. Das ist Plastik. Das hält ewig.‹ Schwachkopf, beschissener! Am liebsten hätte er ihm jeden Finger einzeln abgeschnitten.
Das war vor drei Tagen gewesen, in Berlin.
Heute musste er zugeben: Ohne die geplatzte Leitung wäre er sicher nicht noch einmal losgefahren. Dann hätte er sie nicht gesehen. Und dann wäre er jetzt nicht hier: im Regen, auf einem einsamen Parkplatz vor einem französischen Hypermarché.
Er konnte es förmlich riechen. Und sehen. Sie hatten Angst, der große Blonde und die Dunkelhaarige. Wie sie ums Auto staksten! Wie zwei blöde Flamingos.
Die Angst hüllte sie ein wie eine schwere süße Wolke Parfüm, die er gierig mit weit geöffneten Nasenflügeln einsog. Seit zwanzig Minuten waren sie in dieser Wolke, suchten, telefonierten und wurden pitschnass im Regen. Jetzt steckte die hübsche Dunkelhaarige wütend ihr Handy ein. Auch ihr Lover, der AllAmericanBoy mit seinem scheißbraunen Teint, sah nicht gerade glücklich aus. Eher so, als wünschte er sich auf sein Surfbrett nach Venice Beach.
Dann sah er sie.
Sie kam aus dem Supermarkt, ganz selbstverständlich, als wäre sie nicht mehr als ein paar Sekunden weg gewesen. Sie hatte diese Anmut in ihrem Gang. Der Schwung ihrer langen Haare erschlug ihn, und das obwohl sie nicht blond waren. Alles an ihr erschlug ihn. Das schmale Gesicht mit den so klaren Wangenknochen, wie eine Heilige, und dann die Augen, die wegen der hochstehenden Brauen immer etwas überrascht aussahen - und zugleich merkwürdig teilnahmslos, als würden sie eine stille Trauer verbergen. Trauer. Verbergen. Wie gut er das kannte! Sie war schon jetzt wie ein Teil von ihm. Und die Sache mit den Haaren - nun ja, Haare konnte er färben. Oder bleichen.
Bereits in Berlin, als er sie zufällig am Straßenrand gesehen hatte, wie sie mit ihrer Reisetasche zu den anderen stieß, hatte es ihm den Atem verschlagen. Er war auf dem Weg gewesen, Ersatzteile zu besorgen. Instinktiv hatte er auf die Bremse getreten und durch das getönte Heckfenster gespäht. Hätte er es nicht besser gewusst, er hätte geschworen, es gäbe so etwas wie Wiedergeburt, so sehr erinnerte sie ihn an Jenny.
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Autoren-Porträt von Marc Raabe
Marc Raabe hat eine TV- und Medienproduktion aufgebaut, bevor er sich 2021 für ein Leben als Autor entschied. Zu diesem Zeitpunkt begann er mit der Art-Mayer-Serie. Raabes Bestseller erscheinen in mehr als zehn Sprachen. Sein Handwerkszeug sind filmisches Erzählen, Schnitttechniken, Cliffhanger und Psychologie. Das Ergebnis: ein rasantes Kopfkino mit Tiefe. So wie seine Ermittlerfiguren bricht auch Marc Raabe hin und wieder Regeln.
Bibliographische Angaben
- Autor: Marc Raabe
- 2013, 3. Aufl., Maße: 12 x 19 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Ullstein TB
- ISBN-10: 3548285244
- ISBN-13: 9783548285245
- Erscheinungsdatum: 10.06.2013
Rezension zu „Der Schock “
"Die Szenen wechseln wie in einem rasanten Leinwand-Schocker. Spannend bis zur Atemlosigkeit." Westdeutsche Zeitung 20130914
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