Der Seelenbrecher
Wer in seine Fänge gerät, der ist nach nur einer Woche ein lebender Toter. Drei Frauen hat der Psychopath, den die Presse den "Seelenbrecher" nennt, schon zerstört. Nun hat er sich in eine Luxusklinik einliefern lassen - unerkannt....
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Produktinformationen zu „Der Seelenbrecher “
Wer in seine Fänge gerät, der ist nach nur einer Woche ein lebender Toter. Drei Frauen hat der Psychopath, den die Presse den "Seelenbrecher" nennt, schon zerstört. Nun hat er sich in eine Luxusklinik einliefern lassen - unerkannt. Ärzte und Patienten sitzen ahnungslos in der Falle.
Lese-Probe zu „Der Seelenbrecher “
71 Tage vor der Angst von Woody Allen Patientenakte Nr. 131071/VL
Zum Glück war alles nur ein Traum. Sie war nicht nackt. Und
ihre Beine waren auch nicht an diesen vorsintfl utlichen Gynäkologenstuhl
gefesselt, während der Wahnsinnige auf einem
verrosteten Beistelltisch seine Instrumente sortierte. Als er
sich umdrehte, konnte sie zunächst nicht erkennen, was er
in seiner blutverkrusteten Hand hielt. Dann, als sie es sah,
wollte sie die Augen schließen, doch es gelang ihr nicht. Sie
konnte den Blick nicht von dem glühenden Lötkolben wenden,
der sich langsam ihrer Körpermitte näherte. Der Fremde
mit dem verbrühten Gesicht hatte ihre beiden Lider nach oben
geklappt und mit einem Drucklufttacker in den Augenhöhlen
fixiert. Sie dachte, größere Schmerzen würde sie in dem
kurzen Rest ihres Lebens nicht mehr spüren. Doch als der Lötkolben
aus ihrem Gesichtsfeld verschwand und es zwischen
ihren Beinen immer heißer wurde, ahnte sie, dass die Qualen
der letzten Stunden nur ein Vorspiel gewesen waren.
Dann, in einem Moment, in dem sie bereits glaubte, den
Geruch versengten Fleisches zu riechen, wurde alles durchsichtig.
Der nasskalte Keller, in den man sie verschleppt hatte,
die zitternde Halogenlampe über ihrem Kopf, der Folterstuhl
und der Metalltisch verflüchtigten sich - zurück blieb
ein schwarzes Nichts.
Gott sei Dank, dachte sie, nur ein Traum. Sie schlug die Augen
auf. Und begriff nichts.
Der Alptraum, in dem sie eben noch gefangen gewesen war,
hatte seine Gestalt nicht verloren, sondern nur verändert.
Wo bin ich?
... mehr
Der Inneneinrichtung nach war es ein heruntergekommenes
Hotelzimmer. Die fleckige Tagesdecke auf dem altersschwachen
Doppelbett war ähnlich verdreckt und mit ebenso
vielen Brandlöchern übersät wie die grünbräunliche Auslegeware.
Die Tatsache, dass sie die rauen Teppichfasern unter
ihren Füßen spüren konnte, ließ sie auf dem unbequemen
Holzstuhl noch mehr verkrampfen.
Ich bin barfuß. Warum trage ich keine Schuhe? Und wieso
sitze ich in einer Hinterhofabsteige und starre auf das verschneite
Testbild eines Schwarzweißfernsehers?
Die Fragen knallten wie Billardkugeln an die Banden ihrer
Schädeldecke. Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte ihr
jemand einen Schlag verpasst. Dann sah sie zur Lärmquelle.
Zur Zimmertür. Sie bebte einmal, dann erneut, und schließlich
flog sie auf. Zwei Polizisten stürmten herein. Beide uniformiert,
beide bewaffnet, so viel konnte sie erkennen. Zuerst
zielten ihre Waffen auf ihren Oberkörper, doch dann senkten
sie sie langsam, und die angespannte Nervosität in ihren Gesichtern
wich fassungslosem Entsetzen.
»Verdammt, was ist denn hier passiert?«, hörte sie den
kleineren der beiden fragen, der die Tür eingetreten hatte
und zuerst hereingestürmt war. »Sanitäter«, brüllte der andere.
»Ein Arzt. Wir brauchen sofort Hilfe!«
Gott sei Dank, dachte sie nun zum zweiten Mal innerhalb
weniger Sekunden. Sie konnte vor Angst kaum atmen,
der ganze Körper tat ihr weh, und sie roch nach Kot und
Urin. Das alles und die Tatsache, dass sie nicht wusste, wie
sie hierhergekommen war, ließ sie fast wahnsinnig werden,
aber immerhin standen jetzt zwei Polizisten vor ihr und
wollten medizinische Hilfe holen. Das war nicht gut, aber
immer noch wesentlich besser als der Irre mit dem Lötkolben.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da stürmte ein kahlköpfiger
Rettungsarzt mit einem Ohrring in das Zimmer und kniete
neben ihr nieder. Offenbar waren die Einsatzkräfte bereits
mit einem Unfallwagen angerückt. Auch kein gutes Zeichen.
»Können Sie mich hören?«
»Ja ...«, antwortete sie dem Arzt, dessen Augenringe so aussahen,
als wären sie auf ewig in sein Gesicht tätowiert. »Sie
scheint mich nicht zu verstehen.«
»Doch, doch.« Sie wollte ihren Arm heben, doch ihre Muskeln
gehorchten ihr nicht.
»Wie heißen Sie?« Der Arzt nahm eine Kugelschreibertaschenlampe
aus der Brusttasche seines Hemdes und leuchtete
ihr in die Augen.
»Vanessa«, krächzte sie und ergänzte dann: »Vanessa
Strassmann.«
»Ist sie tot?«, hörte sie einen der Polizisten von hinten fragen.
»Verdammt, die Pupillen reagieren kaum auf Licht. Und sie
scheint uns weder zu hören noch zu sehen. Sie ist katatonisch,
vielleicht komatös.«
»Aber das ist doch Blödsinn«, schrie Vanessa jetzt und wollte
aufstehen, doch sie konnte noch nicht einmal ihren Arm
heben.
Was geht hier vor?
Sie wiederholte den Gedanken laut und gab sich Mühe, so
deutlich wie möglich zu sprechen. Niemand schien ihr zuhören
zu wollen. Stattdessen wandten sich alle von ihr ab und
redeten mit jemandem, den sie bislang noch gar nicht gesehen hatte.
»Und wie lange, sagten Sie, hat sie dieses Zimmer nicht
mehr verlassen?«
Der Kopf des Rettungsarztes versperrte ihr die Sicht zur Tür.
Von dort kam jetzt die Stimme einer jungen Frau: »Bestimmt
seit drei Tagen. Vielleicht auch länger. Hab mir schon gedacht,
dass mit der was nicht stimmt, als die eincheckte. Aber sie hat
gesagt, sie will nicht gestört werden.«
Was erzählt die für einen Quatsch? Vanessa schüttelte den
Kopf. Ich würde nie freiwillig hier absteigen. Nicht eine Nacht!
»Ich hätte sie ja auch nicht gerufen, aber dieses schreckliche
Röcheln wurde immer lauter, und ...«
»Schauen Sie mal!« Das war die Stimme des kleineren Polizisten,
direkt neben ihrem Ohr.
»Was?«
»Da ist doch was. Da.«
Vanessa spürte, wie der Arzt ihre Finger auseinanderbog
und vorsichtig mit der Pinzette etwas aus ihrer linken Hand
entfernte.
»Was ist das?«, fragte der Polizist.
Sie war ebenso erstaunt wie alle anderen im Zimmer. Vanessa
hatte gar nicht gemerkt, dass sie überhaupt etwas gehalten
hatte.
»Ein Notizzettel.«
Der Arzt öffnete das in der Mitte gefaltete Papier. Vanessa
verdrehte die Augen, sodass sie einen Blick darauf werfen
konnte, doch sie sah nur unverständliche Hieroglyphen. Der
Text war in einer ihr völlig fremden Sprache verfasst.
»Was steht drauf?«, fragte der andere Beamte von der Tür
aus.
»Komisch.« Der Arzt runzelte die Stirn und las vor: »Man
kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.«
Um Himmels willen. Die Tatsache, dass der Rettungsarzt die
wenigen Worte ohne zu zögern abgelesen hatte, machte ihr
das ganze Ausmaß des Alptraums deutlich, der sie gefangen
hielt. Aus irgendeinem Grund war ihr jegliche Kommunikationsfähigkeit
abhandengekommen. Vanessa konnte in diesem
Augenblick weder sprechen noch lesen, und sie ahnte, dass sie
sogar das Schreiben verlernt hatte.
Der Arzt leuchtete ihr wieder direkt in die Pupillen, und auf
einmal schienen auch ihre restlichen Sinne betäubt zu sein:
Sie konnte den Gestank ihres Körpers nicht mehr riechen, den
Teppich unter ihren nackten Füßen nicht mehr spüren, sie
merkte nur noch, wie die Angst in ihr immer größer und das
Stimmengewirr um sie herum immer leiser wurde. Denn kaum
hatte der Arzt den kurzen Satz auf dem Zettel vorgelesen,
hatte eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen.
»Man kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.«
Eine Macht, die ihre kalte Hand nach ihr ausstreckte und
sie hinabzog. Zurück an den Ort, den sie niemals im Leben
wiedersehen wollte und den sie erst vor wenigen Minuten
verlassen hatte.
Es war kein Traum. Oder doch?
Sie versuchte, dem Arzt ein Zeichen zu geben, doch als sich
dessen Konturen langsam auflösten, begann sie zu begreifen,
und nacktes Grauen ergriff sie. Man hatte sie wirklich nicht
gehört. Weder der Arzt, noch die Frau noch die Polizisten hatten
mit ihr reden können. Denn sie war nie in dieser Absteige
aufgewacht. Im Gegenteil. Als die Halogenlampe über ihr
wieder zu flackern begann, wusste sie es: Sie war ohnmächtig
geworden, als die Folter begann. Nicht der Irre, sondern das
Hotelzimmer war Teil eines Traums gewesen, der jetzt vor der
grausamen Realität die Flucht ergriff.
Oder irre ich mich schon wieder? Hilfe. Helft mir! Ich kann
nichts mehr unterscheiden. Was ist real? Was nicht?
Und schon war alles wieder so wie zuvor. Der nasse Keller,
der Metalltisch, der gynäkologische Stuhl, auf dem sie gefesselt
lag. Nackt. So nackt, dass sie den Atem des Wahnsinnigen
zwischen ihren Beinen spürte. Er hauchte sie an. Dort,
wo sie am empfindlichsten war. Dann tauchte sein vernarbtes
Gesicht kurz vor ihren Augen auf, und ein lippenloser Mund
sagte: »Hab die Stelle nur noch mal markiert. Jetzt kann es
losgehen.«
Er griff zum Lötkolben.
Heute, 10.14 Uhr -
Sehr viel später, viele Jahre
nach der Angst
Und, meine Damen und Herren, was sagen Sie zu dieser
Einführung? Eine Frau wacht aus einem Alptraum auf
und befindet sich sofort im nächsten. Interessant, oder?«
Der Professor stand von der langgestreckten Eichenholztafel
auf und sah in die verstörten Gesichter seiner Studenten.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Zuhörer sich heute Morgen
mehr Mühe mit ihrer Kleiderauswahl gegeben hatten als er
selbst. Er hatte wie immer blind irgendeinen zerknitterten Anzug
aus seinem Kleiderschrank gegriff en. Der Verkäufer hatte
ihn damals zu dem sündhaft teuren Kauf überredet, weil der
dunkle Zweireiher angeblich so hervorragend mit der Farbe
seiner schwarzen Haare harmoniere, die er seinerzeit in einem
lächerlichen Anflug postpubertärer Rebellion noch etwas länger
trug.
Wenn er heute, viele Jahre später, wieder etwas kaufen wollte,
was zu seiner Frisur passte, müsste der Anzug aschgrau sein,
lichte Stellen haben und auf dem Rücken ein Loch wie eine
Mönchstonsur aufweisen.
»Was sagen Sie?«
Er spürte ein brennendes Ziehen in seinem Meniskus, als
er unvernünftigerweise einen Schritt zur Seite trat. Nur sechs
hatten sich freiwillig gemeldet. Vier Frauen, zwei Männer. Typisch.
Bei derartigen Versuchen waren die Frauen immer in der
Überzahl. Entweder weil sie mutiger waren oder weil sie noch
dringender das Geld benötigten, das er in dem Aushang am
Schwarzen Brett für die Teilnahme an diesem psychiatrischen
Experiment ausgelobt hatte.
»Entschuldigen Sie, habe ich das richtig verstanden?«
Linke Seite, zweiter Platz. Der Professor sah auf die Liste vor
sich, um den Namen des Probanden zu ermitteln, der sich gerade
zu Wort gemeldet hatte: Florian Wessel, 3. Semester.
Der Student hatte beim Lesen der Einführung einen perfekt
gespitzten Bleistift über den Zeilen schweben lassen. Eine kleine,
halbmondförmige Narbe unter dem rechten Auge deutete
auf seine Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung.
Jetzt legte er das Schreibgerät zwischen die Seiten und schlug
die Akte zu. »Das hier soll ein medizinisches Behandlungsprotokoll
sein?«
»In der Tat.« Der Professor gab dem jungen Mann mit
einem gutmütigen Lächeln zu verstehen, dass er seine Verwunderung
gut nachvollziehen konnte. Sie war sozusagen Bestandteil
des Experiments.
»Lötkolben? Folter? Polizei? Mit Verlaub, aber das liest sich
eher wie der Beginn eines Thrillers und nicht wie eine Patientenakte.«
Mit Verlaub? Es war lange her, dass er diese antiquierte Phrase
gehört hatte. Der Professor fragte sich, ob der streng gescheitelte
Student immer so redete oder ob es nur die melancholische
Patina ihres ungewöhnlichen Aufenthaltsorts war,
die auf seinen Sprachgebrauch abfärbte. Er wusste, dass die
schreckliche Geschichte des Gebäudes einige von der Teilnahme
abgeschreckt hatte. Zweihundert Euro hin, zweihundert
Euro her.
Aber genau darin lag ja der Reiz. Das Experiment genau
hier durchzuführen und nicht woanders. Es gab für den Test
keinen besseren Ort, auch wenn es im ganzen Komplex nach
Schimmel roch und es so kalt war, dass sie kurzfristig überlegt
hatten, ob sie nicht den Kamin von dem Müll befreien und in
Gang setzen sollten. Immerhin war heute der dreiundzwanzigste
Dezember, und die Temperaturen lagen deutlich unter
dem Gefrierpunkt. Schließlich hatten sie zwei Ölradiatoren
gemietet, die den hohen Raum jedoch nur unzureichend aufheizten.
»Sie sagen, es liest sich wie ein Thriller?«, wiederholte der
Professor. »Nun, damit liegen Sie gar nicht so falsch.«
Er presste seine Handflächen in spitzer Gebetshaltung zusammen
und roch an seinen verschrumpelten Fingerspitzen.
Sie erinnerten ihn an die groben Hände seines Großvaters.
Doch der hatte, im Gegensatz zu ihm, sein Leben lang im Freien
arbeiten müssen.
»Der Arzt, in dessen Praxisnachlass man das Dokument gefunden
hat, das Sie gerade in Händen halten, war einer meiner
Kollegen, ein Psychiater. Viktor Larenz. Sein Name dürfte Ihnen
im Laufe Ihres Studiums bereits begegnet sein.«
»Larenz? Ist der nicht tot?«, wollte ein Student wissen, der
sich erst gestern für den Versuch angemeldet hatte.
Der Professor sah wieder auf die Liste und identifi zierte den
Mann mit den schwarzgefärbten Haaren als Patrick Hayden.
Er und seine Freundin Lydia saßen dicht nebeneinander. Die
Lücke zwischen ihren Körpern war so schmal, dass man selbst
mit Zahnseide nur schwer dazwischengekommen wäre, was
vor allem auf Patricks Initiative zurückzuführen war. Wann
immer Lydia sich etwas mehr Bewegungsfreiheit verschaff en
wollte, legte er den Arm noch fester um ihre Schultern und zog
sie besitzergreifend wieder an sich zurück. Er trug ein Sportsweatshirt
mit dem intelligenten Aufdruck »Jesus liebt dich«.
Knapp darunter stand kaum leserlich: »Jeder andere denkt, du
bist ein Arschloch.« Patrick hatte es schon einmal getragen, als
er zu ihm gekommen war, um sich über eine schlechte Klausurnote
zu beschweren.
»Viktor Larenz tut hier nichts zur Sache«, winkte der Professor
ab. »Seine Geschichte ist für den Test heute Abend nicht
von Relevanz.«
»Und worum geht es dann?«, wollte Patrick wissen. Er
schlug die Beine unter dem Tisch zusammen. Die Schnürsenkel
seiner Lederstiefel waren nicht zugebunden, damit die
professionell zerrissene Jeans nicht einfach so über die umgeklappte
Lasche fallen konnte. Sonst würde ja niemand das Designerlabel
am Knöchel sehen.
Der Professor musste lächeln. Offene Schuhe, zerrissene
Hosen, blasphemische Sweatshirts. Irgendjemand in der
Modeindustrie musste es sich zur Aufgabe gemacht haben,
die Alpträume seiner konservativen Eltern zu Geld zu machen.
»Nun, Sie müssen wissen ...« Er setzte sich wieder an seinen
Platz am Kopfende der Tafel und öffnete eine zerschlissene Ledertasche,
die so aussah, als würde sie von einem Haustier als
Kratzbaum benutzt.
»Das, was Sie gerade gelesen haben, ist wirklich geschehen.
Die Handakten, die ich Ihnen ausgeteilt habe, sind nur einfache
Kopien eines wahren Tatsachenberichts.« Der Professor
zog ein altes Taschenbuch hervor. »Das hier ist das Original.«
Er stellte den dünnen Band auf den Tisch.
Der Seelenbrecher stand in roten Lettern auf dem grünlichen
Einband. Darüber zog das schemenhafte Bild eines Mannes
die Aufmerksamkeit auf sich, der durch einen nebelartigen
Schneesturm in ein dunkles Gebäude zu fl üchten schien.
»Lassen Sie sich von der äußeren Form nicht täuschen. Es
wirkt auf den ersten Blick wie ein herkömmlicher Roman.
Aber es steckt sehr viel mehr dahinter.«
Er ließ die etwa dreihundert Seiten des Buches von hinten
nach vorne durch seine Finger fächern.
»Viele glauben, dieses Protokoll stamme aus der Feder eines
seiner Patienten. Larenz hat früher viele Künstler behandelt,
darunter auch Schriftsteller.« Der Professor blinzelte. Dann
fügte er leise hinzu: »Es gibt aber auch eine andere Th eorie.«
Alle Studenten sahen ihn aufmerksam an.
»Eine Minderheit ist der Meinung, Viktor Larenz selbst
habe das hier zu Papier gebracht.«
»Aber wieso?«
Diesmal hatte sich Lydia zu Wort gemeldet. Das Mädchen
mit den dunkelblonden Haaren und dem mausgrauen Rollkragenpulli
war seine beste Studentin. Was sie an dem unrasierten
Langzeitstudenten neben sich anziehend fand, konnte er sich
nicht erklären. Ebenso wenig begriff er, warum man ihr trotz
Einserabitur ein Stipendium verwehrt hatte.
»Dieser Larenz hat seine Aufzeichnungen zu einem Th riller
umgedichtet? Warum sollte er sich diese unglaubliche Mühe
machen?«
»Das gilt es, heute Abend herauszufinden. Das ist das Ziel
des Experiments.«
Der Professor machte sich eine Notiz auf dem Schreibblock
neben der Teilnehmerliste und sprach dann die Frauengruppe
zu seiner Rechten an, die noch kein einziges Wort gesagt hatte.
»Wenn Sie zweifeln, dann habe ich dafür volles Verständnis,
meine Damen.«
Eine Rothaarige hob den Kopf, die anderen beiden starrten
weiter auf die Akte vor ihnen.
»Sie alle hier können es sich gerne noch einmal überlegen.
Der eigentliche Versuch hat noch nicht begonnen. Sie können
abbrechen und jetzt nach Hause gehen. Noch ist Zeit.«
Die Frauen nickten unschlüssig.
Florian beugte sich nach vorne, dann fuhr er sich nervös mit
dem Zeigefinger über die Haarnarbe seines Seitenscheitels.
»Aber was ist dann mit den zweihundert Euro?«, fragte er.
»Die gibt es nur bei aktiver Teilnahme. Und auch nur dann,
wenn Sie sich an den vorgeschriebenen Ablauf halten, wie er
im Aushang beschrieben war. Sie müssen die gesamte Akte lesen
und dürfen dabei nur wenige kurze Pausen machen.«
»Und danach? Was passiert, wenn wir durch sind?«
»Auch das ist Teil des Versuchs.«
Der Psychiater bückte sich erneut und tauchte dann mit
einem kleinen Stapel Formulare wieder auf, die das Wappen
der Privatuniversität schmückte.
»Alle, die bleiben, bitte ich, das hier zu unterschreiben.«
Er teilte die Einverständniserklärungen aus, mit denen die
Probanden die Universität von jeder Haftung für etwaige psychosomatische
Schäden freisprachen, die in dem Zusammenhang
mit der freiwilligen Teilnahme an dem Versuch entstehen
könnten.
Florian Wessel nahm das Blatt entgegen, hielt es gegen das
Licht und schüttelte beim Anblick des Wasserzeichens der Medizinischen
Fakultät energisch den Kopf. »Das ist mir zu heikel.«
Er zog seinen Bleistift wieder aus der Akte, griff sich seinen
Rucksack und stand auf.
»Ich glaube, ich weiß, worauf das hier hinausläuft. Und
wenn es das ist, was ich vermute, dann habe ich davor viel zu
große Angst.«
»Ihre Offenheit ehrt Sie.« Der Professor sammelte Florians
Vordruck wieder ein und griff nach seiner Akte. Dann sah er
zu den drei Studentinnen hinüber, die gerade ihre Köpfe zusammengesteckt
hatten.
»Wir wissen zwar nicht, worum es geht, aber wenn Florian
abbricht, dann lassen wir besser auch die Finger davon.«
Wieder war es die Rothaarige, die als Einzige mit ihm kommunizierte.
»Wie Sie wünschen. Kein Problem.«
Er sammelte auch hier die Plastikordner ein, während die
jungen Frauen ihre Wintermäntel von den Stuhllehnen nahmen.
Florian stand bereits in Kapuzenjacke und Handschuhen
am Ausgang und wartete.
»Und was ist mit Ihnen?«
Er sah auf Lydia und Patrick hinab, die noch unschlüssig in
den Akten blätterten.
Schließlich zuckten beide synchron mit den Achseln.
»Was soll's. Hauptsache, mir wird kein Blut abgenommen«,
sagte Patrick.
»Ja, was soll's.« Lydia gelang es endlich, etwas von ihrem
Freund abzurücken.
»Sie sind doch die ganze Zeit bei uns, oder?«
»Ja.«
»Und wir müssen nichts weiter tun als lesen? Nicht mehr?«
»So ist es.«
Hinter ihnen fi el die Tür ins Schloss. Die Abbrecher waren
grußlos gegangen.
»Dann mach ich mit. Ich kann das Geld gut gebrauchen.«
Lydia schenkte dem Professor einen Blick, der ihr nie off en
ausgesprochenes Schweigegelübde erneut besiegelte.
Ich weiß, sagte er in Gedanken und nickte ihr zu. Nur
knapp. Nicht zu auff ällig.
Natürlich brauchst du das Geld.
Es war an einem viel zu heißen Aprilwochenende gewesen,
als ihn eine Welle des Selbstmitleids in ihr Privatleben gespült
hatte.
Sein einziger Freund hatte ihm den Rat gegeben, aus seinen
üblichen »Erlebnisschemata« zu springen, wenn er die Vergangenheit
endlich vergessen wollte. Er müsse etwas tun, was er in
seinem Leben noch nie getan habe. Drei Gläser später waren
sie in diese Bar gegangen. Nichts Aufregendes. Es war nur eine
harmlose, langweilige Show gewesen. Abgesehen davon, dass
die Mädchen oben ohne tanzten, bewegten sie sich nicht viel
anzüglicher als die meisten Teenager in einer Disco. Und, soweit
er es erkennen konnte, gab es auch kein Hinterzimmer.
Dennoch kam er sich wie ein asozialer alter Mann vor, als
Lydia plötzlich mit der Cocktailkarte vor ihm stand. Ohne
Rollkragenpulli und Haarreif, sondern im Rock einer Schulmädchenuniform.
Sonst trug sie nichts.
Er bezahlte einen Cocktail, ohne ihn zu trinken, ließ seinen
Freund sitzen und freute sich, sie in der nächsten Vorlesung
wieder in der ersten Reihe zu sehen. Sie hatten nie ein
Wort darüber verloren, und er war sich sicher, dass Patrick
nichts von der Nebenbeschäftigung seiner Freundin wusste.
Obwohl er selbst wie jemand aussah, der in derartigen Clubs
den Barkeeper beim Namen kannte, wirkte er nicht sehr tolerant,
wenn es um seine eigenen Interessen ging.
Lydia seufzte leise und setzte ihren Namenszug unter die
Haftungsfreizeichnung.
»Was kann schon passieren?«, fragte sie beim Schreiben. Der
Professor räusperte sich, sagte aber nichts. Stattdessen warf er
einen prüfenden Blick auf beide Unterschriften und sah dann auf seine Uhr.
»Schön, dann wären wir also so weit.«
Er lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war.
»Das Experiment beginnt.«
17.49 Uhr, einen Tag vor Heiligabend -
Neun Stunden und neunundvierzig
Minuten vor der Angst
Patientenakte Nr. 131071/VL
Nur weiterlesen
unter medizinischer Aufsicht.
»Stellen Sie sich folgende Situation vor ...«
Caspar hörte die Stimme der alten Dame, zu deren Füßen
er kniete, nur dumpf, wie durch eine geschlossene Tür hindurch.
»Vater und Sohn fahren nachts auf einer verschneiten Straße
durch den dunklen Wald. Der Vater verliert die Kontrolle
über seinen Wagen. Die beiden prallen gegen einen Baum,
und der Vater ist sofort tot. Der Junge überlebt schwerverletzt
und wird in ein Krankenhaus gebracht, wo man ihn sofort
in die Unfallchirurgie bringt. Der Chirurg kommt, erstarrt
und sagt panisch: ›O mein Gott, diesen Jungen kann ich nicht
operieren. Das ist mein Sohn!‹«
Die alte Dame auf dem Bett machte eine kurze Pause, dann
fragte sie triumphierend: »Wie ist das möglich, wenn der Junge
nicht zwei Väter hat?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Caspar hielt die Augen geschlossen und verließ sich voll
und ganz auf seinen Tastsinn, während er versuchte, den
Fernseher zu reparieren. Daher konnte er ihr schelmisches Lächeln
hinter seinem Rücken nur ahnen.
»Ach kommen Sie. Das Rätsel ist doch gar nicht so schwer
für einen Mann mit Ihrer Intelligenz.«
Er zog die Hand hinter dem klobigen Röhrengerät her-
vor und drehte sich kopfschüttelnd zu Greta Kaminsky herum.
Die neunundsiebzigjährige Bankierswitwe hatte erst vor
fünf Minuten an seine Tür geklopft und ihn gebeten, ob er
nicht mal nach ihrem »Quatschkasten« schauen könne. So
nannte sie den monströsen Standfernseher, der für ihr kleines
Krankenzimmer im Dachgeschoss der Teufelsbergklinik viel
zu groß dimensioniert war. Natürlich hatte er ihr den Gefallen
getan, obwohl Professor Raßfeld ihm das strengstens untersagt
hatte. Der Klinikleiter wollte nicht, dass Caspar ohne
Aufsicht sein Einzelzimmer verließ.
»Ich fürchte, Rätsel sind nicht ganz so mein Ding, Greta.«
Er atmete etwas Staub ein, der sich hinter dem Fernseher angesammelt
hatte, und musste husten.
»Außerdem bin ich keine Frau. Ich kann nicht zwei Dinge
auf einmal erledigen.«
Er presste den Kopf wieder seitlich gegen den Fernseher
und versuchte blind auf der Rückseite die winzige Steckdose
für das Antennenkabel zu finden. Das klobige Ding ließ sich
nicht einen Millimeter von der Wand rücken.
»Papperlapapp!«
Greta klopfte zweimal mit der flachen Hand auf die Matratze.
»Stellen Sie sich nicht so an, Caspar!«
Caspar.
Die Pfleger hatten ihm diesen Spitznamen verpasst.
Irgendwie musste man ihn ja ansprechen, solange man
nicht wusste, wie er wirklich hieß.
»Versuchen Sie es doch mal! Vielleicht entpuppen Sie sich
noch als Rätselkönig. Wer weiß, Sie können sich doch an
nichts mehr erinnern!«
»Falsch«, stöhnte er und schob seine Hand noch etwas
weiter in den Spalt zwischen Fernseher und Raufasertapete.
»Ich weiß, wie man sich eine Krawatte bindet, ein Buch liest
oder Fahrrad fährt. Nur meine Erlebnisse sind nicht mehr da.«
»Ihr Faktenwissen ist zum größten Teil unversehrt«, hatte
ihm Dr. Sophia Dorn, seine behandelnde Psychiaterin, gleich
zu Beginn ihrer ersten Sitzung erklärt. »Aber alles, was Sie
emotional definiert, also das, was Ihre Persönlichkeit ausmacht,
ist leider verschwunden.«
Retrograde Amnesie. Gedächtnisverlust.
Er konnte sich weder an seinen Namen noch an seine Familie
oder seinen Beruf erinnern. Er wusste noch nicht einmal,
wie er überhaupt in dieses luxuriöse Privatkrankenhaus
gelangt war. Das alte Gebäude der Teufelsbergklinik stand am
Rand der Stadt, auf dem höchsten Berg Berlins, künstlich aufgeschüttet
aus den Trümmern der Häuser, die den Bomben
des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen waren. Heute
war der Teufelsberg eine begrünte Deponie, auf dessen Spitze
die US-Armee in den Zeiten des Kalten Krieges ihre Abhöranlagen
installiert hatte. Die vierstöckige Krankenhausvilla,
in der Caspar behandelt wurde, hatte als Offi zierscasino
der Geheimdienstangehörigen fungiert, bis es nach dem Fall
der Mauer von dem renommierten Psychiater und Neuroradiologen
Professor Samuel Raßfeld ersteigert, luxusmodernisiert
und zu einem der führenden Krankenhäuser für psychosomatische
Störungen umgebaut worden war. Jetzt thronte
die Klinik wie eine von Zugbrücken abgeschirmte Burg hoch
über dem Grunewald und war nur durch eine schmale private
Zufahrtsstraße erreichbar, auf der man Caspar vor knapp zehn
Tagen gefunden hatte. Bewusstlos, von einer dünnen Schneeschicht
bedeckt und unterkühlt.
Dirk Bachmann, der Hausmeister der Teufelsbergklinik, hatte
Raßfeld an jenem Abend zu einem Termin ins Westend-
Krankenhaus gefahren. Wäre er nur eine Stunde später zurückgekehrt,
wäre Caspar am Wegesrand erfroren. Manchmal
fragte er sich, ob das einen Unterschied gemacht hätte.
Denn was ist ein Leben ohne Identität im Vergleich zum
Tod?
»Sie dürfen sich nicht so quälen«, mahnte Greta leicht tadelnd,
als hätte sie seine düsteren Gedanken gelesen. Sie
klang dabei wie eine Ärztin und nicht wie eine Mitpatientin,
die selbst unter Angstpsychosen litt, wenn sie zu lange alleine
war.
»Die Erinnerung ist wie eine schöne Frau«, erklärte sie ihm,
während er immer noch nach der verdammten Buchse für das
Antennenkabel suchte.
»Wenn Sie ihr hinterherlaufen, wird sie sich gelangweilt
abwenden. Beschäftigen Sie sich aber mit etwas anderem,
wird die eifersüchtige Schönheit ganz alleine zu Ihnen zurückkommen.«
Sie kicherte hell.
»So wie unsere hübsche Therapeutin, die sich so liebevoll
um Sie kümmert.«
»Wie meinen Sie das denn jetzt?«, fragte Caspar erstaunt.
»Na ja, das sieht doch selbst eine alte Oma. Ich fi nde Sophia
und Sie passen ganz gut zusammen, Caspaarrr.« Caspaarrr.
Mit dem langgezogenen A und dem rollenden R erinnerte
Gretas Stimme an die Filmdiven der Nachkriegszeit. Seit ihr
Mann vor sieben Jahren nach einem Schlaganfall auf dem
Golfplatz gestorben war, verbrachte sie jedes Weihnachtsfest
in der Privatklinik. Hier war sie nicht allein, wenn die
Feiertagsdepression über sie hereinbrach. Und deshalb war
es auch eine mittlere Katastrophe, wenn ihr Fernseher nicht
mehr funktionierte. Sie ließ den »Quatschkasten« ununterbrochen
laufen, um sich nicht zu einsam zu fühlen.
»Also, wenn ich noch jünger wäre, würde ich mich auch
mal mit Ihnen zum Tanztee verabreden«, kicherte sie.
»Herzlichen Dank«, lachte er.
»Ich meine es ernst. Als mein Mann in Ihrem Alter war, also
irgendwas Anfang vierzig, schätze ich jetzt mal, fi elen ihm
seine dunklen Haare auch so neckisch in die Stirn. Zudem
hatte er genauso ebenmäßige Hände wie Sie, Caspar. Und ...«,
Greta musste schon wieder kichern, »und er teilte meine Rätselleidenschaft!«
Sie klatschte zweimal in die Hände, als wäre sie eine Klassenlehrerin,
die die Pause beendet.
»So, und deshalb versuchen wir es jetzt noch einmal ...«
Caspar stöhnte belustigt auf, während Greta ihr Rätsel
wiederholte.
»Vater und Sohn haben einen Autounfall. Der Vater ist tot,
der Sohn überlebt.«
Trotz des gekippten Fensters begann Caspar zu schwitzen.
Der Vormittag war im Schneeregen versunken, und gegen
Mittag war die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen.
Hier draußen, mitten im Grunewald, musste es sogar noch
zwei Grad kälter sein als in der Innenstadt. Doch davon spürte
er im Moment nichts.
Ha! Sein Zeigefinger strich über einen runden Metallring
im Plastikgehäuse. Jetzt muss ich hier nur noch das Kabel einstöpseln
und ...
»Der schwerverletzte Sohn wird in die chirurgische Notauf-
nahme eingeliefert. Doch der Chirurg will ihn nicht operieren,
weil der Junge sein Sohn ist.«
Caspar kroch hinter der klobigen Mattscheibe hervor, stand
auf und griff sich die Fernbedienung.
»Wie geht das?«, fragte Greta spitzbübisch.
»So geht das«, sagte Caspar und schaltete den Fernseher
ein.
Zuerst flimmerte es, dann erfüllte die sonore Stimme eines
Nachrichtensprechers das Zimmer. Als sich schließlich auch
das dazu passende Bild aufbaute, klatschte Greta quietschvergnügt
in die Hände.
»Er funktioniert wieder. Wunderbar, Sie sind genial.«
Ich weiß nicht, was ich bin, dachte Caspar und klopfte den
Staub von seiner Jeans.
»Ich geh dann mal wieder auf mein Zimmer, bevor die
Schwester sauer wird ...«, wollte er ansetzen, doch Greta hob
ihre Hand und gebot ihm zu schweigen.
... gibt es wieder erschütternde Neuigkeiten von dem sogenannten
Seelenbrecher, der jetzt schon seit mehreren Wochen
die weibliche Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt ...
Greta stellte mit der Fernbedienung die Nachrichten lauter.
17.56 Uhr
Soeben erreicht uns die Meldung, dass sein erstes Opfer, die
26-jährige Schauspielschülerin Vanessa Strassmann, heute
Nachmittag auf der Intensivstation des Westend-Krankenhauses
verstorben ist. Sie war vor zweieinhalb Monaten spurlos
nach dem Unterricht verschwunden und wurde exakt eine
Woche später in einem heruntergekommenen Autobahnmotel
aufgegriffen. Nackt, verwahrlost und paralysiert.
Das Bild einer strahlenden Schönheit wurde eingeblendet,
so als reichten die dramatischen Worte des Nachrichtensprechers
nicht aus, um das gesamte Ausmaß der Tragödie zu
verdeutlichen. Ihr Foto wich zwei weiteren Aufnahmen. Auch
hier hatte sich jemand die Mühe gemacht, besonders attraktive
Bilder aus dem Familienalbum zu organisieren.
Wie die beiden späteren Opfer, Doreen Brandt, eine erfolgreiche
Anwältin, und die Grundschullehrerin Katja Adesi, war
auch Vanessa Strassmann äußerlich nahezu unversehrt. Nach
Aussagen der behandelnden Ärzte wurde sie weder vergewaltigt
noch geschlagen oder gefoltert. Dennoch war sie innerlich
zerstört und seelisch gebrochen. Bis zu ihrem heutigen
Todestag reagierte sie ausschließlich auf extreme Licht- und
Schallrefl exe und blieb ansonsten in einem wachkomaähnlichen
Zustand. Die Fotos verschwanden und wurden durch
die Außenansicht eines modernen Krankenhauskomplexes
ersetzt.
Die Todesursache gibt den Medizinern ein zusätzliches Rätsel
auf, weiterhin kann man sich nicht erklären, was mit den
jungen Frauen in der Gewalt des Täters geschieht. Einen Hinweis
könnten die kleinen Zettel geben, die man in den Händen
aller drei Opfer fand, über deren Inhalt die Polizei sich aber
in Schweigen hüllt. Bislang gibt es zum Glück keine weiteren
Vermisstenmeldungen, und wir können nur hoffen, dass diese
grauenhafte Serie nicht nur vorübergehend über die Feiertage
unterbrochen ist, sondern endgültig. Das größte Weihnachtsgeschenk
wäre sicherlich die Meldung über die Verhaftung des
Seelenbrechers, nicht wahr, Sandra?
Der Nachrichtensprecher drehte sich mit einem professi-
onellen Grinsen zu seiner Co-Moderatorin und leitete damit
zum Wetter über.
So ist es, Paul. Jetzt drücken wir aber erst einmal die Daumen,
dass auch die anderen Geschenke sicher und rechtzeitig
unter den Baum kommen, denn nach den stärksten Schneefällen
der letzten zwanzig Jahre bringt Blitzeis in vielen Großstädten
den Verkehr zum Erliegen. Zusätzlich ist mit heftigen
Stürmen zu rechnen ...
Blitzeis, dachte Caspar, als er die grafi schen Warnzeichen
über Berlin auf der Wetterkarte sah. Und dann geschah es
zum ersten Mal.
Die Wucht der Erinnerung traf ihn so unvermittelt und heftig,
dass er sie kaum festzuhalten vermochte.
© Weltbild
Der Inneneinrichtung nach war es ein heruntergekommenes
Hotelzimmer. Die fleckige Tagesdecke auf dem altersschwachen
Doppelbett war ähnlich verdreckt und mit ebenso
vielen Brandlöchern übersät wie die grünbräunliche Auslegeware.
Die Tatsache, dass sie die rauen Teppichfasern unter
ihren Füßen spüren konnte, ließ sie auf dem unbequemen
Holzstuhl noch mehr verkrampfen.
Ich bin barfuß. Warum trage ich keine Schuhe? Und wieso
sitze ich in einer Hinterhofabsteige und starre auf das verschneite
Testbild eines Schwarzweißfernsehers?
Die Fragen knallten wie Billardkugeln an die Banden ihrer
Schädeldecke. Plötzlich zuckte sie zusammen, als hätte ihr
jemand einen Schlag verpasst. Dann sah sie zur Lärmquelle.
Zur Zimmertür. Sie bebte einmal, dann erneut, und schließlich
flog sie auf. Zwei Polizisten stürmten herein. Beide uniformiert,
beide bewaffnet, so viel konnte sie erkennen. Zuerst
zielten ihre Waffen auf ihren Oberkörper, doch dann senkten
sie sie langsam, und die angespannte Nervosität in ihren Gesichtern
wich fassungslosem Entsetzen.
»Verdammt, was ist denn hier passiert?«, hörte sie den
kleineren der beiden fragen, der die Tür eingetreten hatte
und zuerst hereingestürmt war. »Sanitäter«, brüllte der andere.
»Ein Arzt. Wir brauchen sofort Hilfe!«
Gott sei Dank, dachte sie nun zum zweiten Mal innerhalb
weniger Sekunden. Sie konnte vor Angst kaum atmen,
der ganze Körper tat ihr weh, und sie roch nach Kot und
Urin. Das alles und die Tatsache, dass sie nicht wusste, wie
sie hierhergekommen war, ließ sie fast wahnsinnig werden,
aber immerhin standen jetzt zwei Polizisten vor ihr und
wollten medizinische Hilfe holen. Das war nicht gut, aber
immer noch wesentlich besser als der Irre mit dem Lötkolben.
Es dauerte nur wenige Sekunden, da stürmte ein kahlköpfiger
Rettungsarzt mit einem Ohrring in das Zimmer und kniete
neben ihr nieder. Offenbar waren die Einsatzkräfte bereits
mit einem Unfallwagen angerückt. Auch kein gutes Zeichen.
»Können Sie mich hören?«
»Ja ...«, antwortete sie dem Arzt, dessen Augenringe so aussahen,
als wären sie auf ewig in sein Gesicht tätowiert. »Sie
scheint mich nicht zu verstehen.«
»Doch, doch.« Sie wollte ihren Arm heben, doch ihre Muskeln
gehorchten ihr nicht.
»Wie heißen Sie?« Der Arzt nahm eine Kugelschreibertaschenlampe
aus der Brusttasche seines Hemdes und leuchtete
ihr in die Augen.
»Vanessa«, krächzte sie und ergänzte dann: »Vanessa
Strassmann.«
»Ist sie tot?«, hörte sie einen der Polizisten von hinten fragen.
»Verdammt, die Pupillen reagieren kaum auf Licht. Und sie
scheint uns weder zu hören noch zu sehen. Sie ist katatonisch,
vielleicht komatös.«
»Aber das ist doch Blödsinn«, schrie Vanessa jetzt und wollte
aufstehen, doch sie konnte noch nicht einmal ihren Arm
heben.
Was geht hier vor?
Sie wiederholte den Gedanken laut und gab sich Mühe, so
deutlich wie möglich zu sprechen. Niemand schien ihr zuhören
zu wollen. Stattdessen wandten sich alle von ihr ab und
redeten mit jemandem, den sie bislang noch gar nicht gesehen hatte.
»Und wie lange, sagten Sie, hat sie dieses Zimmer nicht
mehr verlassen?«
Der Kopf des Rettungsarztes versperrte ihr die Sicht zur Tür.
Von dort kam jetzt die Stimme einer jungen Frau: »Bestimmt
seit drei Tagen. Vielleicht auch länger. Hab mir schon gedacht,
dass mit der was nicht stimmt, als die eincheckte. Aber sie hat
gesagt, sie will nicht gestört werden.«
Was erzählt die für einen Quatsch? Vanessa schüttelte den
Kopf. Ich würde nie freiwillig hier absteigen. Nicht eine Nacht!
»Ich hätte sie ja auch nicht gerufen, aber dieses schreckliche
Röcheln wurde immer lauter, und ...«
»Schauen Sie mal!« Das war die Stimme des kleineren Polizisten,
direkt neben ihrem Ohr.
»Was?«
»Da ist doch was. Da.«
Vanessa spürte, wie der Arzt ihre Finger auseinanderbog
und vorsichtig mit der Pinzette etwas aus ihrer linken Hand
entfernte.
»Was ist das?«, fragte der Polizist.
Sie war ebenso erstaunt wie alle anderen im Zimmer. Vanessa
hatte gar nicht gemerkt, dass sie überhaupt etwas gehalten
hatte.
»Ein Notizzettel.«
Der Arzt öffnete das in der Mitte gefaltete Papier. Vanessa
verdrehte die Augen, sodass sie einen Blick darauf werfen
konnte, doch sie sah nur unverständliche Hieroglyphen. Der
Text war in einer ihr völlig fremden Sprache verfasst.
»Was steht drauf?«, fragte der andere Beamte von der Tür
aus.
»Komisch.« Der Arzt runzelte die Stirn und las vor: »Man
kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.«
Um Himmels willen. Die Tatsache, dass der Rettungsarzt die
wenigen Worte ohne zu zögern abgelesen hatte, machte ihr
das ganze Ausmaß des Alptraums deutlich, der sie gefangen
hielt. Aus irgendeinem Grund war ihr jegliche Kommunikationsfähigkeit
abhandengekommen. Vanessa konnte in diesem
Augenblick weder sprechen noch lesen, und sie ahnte, dass sie
sogar das Schreiben verlernt hatte.
Der Arzt leuchtete ihr wieder direkt in die Pupillen, und auf
einmal schienen auch ihre restlichen Sinne betäubt zu sein:
Sie konnte den Gestank ihres Körpers nicht mehr riechen, den
Teppich unter ihren nackten Füßen nicht mehr spüren, sie
merkte nur noch, wie die Angst in ihr immer größer und das
Stimmengewirr um sie herum immer leiser wurde. Denn kaum
hatte der Arzt den kurzen Satz auf dem Zettel vorgelesen,
hatte eine unsichtbare Macht von ihr Besitz ergriffen.
»Man kauft es nur, um es gleich wieder wegzuwerfen.«
Eine Macht, die ihre kalte Hand nach ihr ausstreckte und
sie hinabzog. Zurück an den Ort, den sie niemals im Leben
wiedersehen wollte und den sie erst vor wenigen Minuten
verlassen hatte.
Es war kein Traum. Oder doch?
Sie versuchte, dem Arzt ein Zeichen zu geben, doch als sich
dessen Konturen langsam auflösten, begann sie zu begreifen,
und nacktes Grauen ergriff sie. Man hatte sie wirklich nicht
gehört. Weder der Arzt, noch die Frau noch die Polizisten hatten
mit ihr reden können. Denn sie war nie in dieser Absteige
aufgewacht. Im Gegenteil. Als die Halogenlampe über ihr
wieder zu flackern begann, wusste sie es: Sie war ohnmächtig
geworden, als die Folter begann. Nicht der Irre, sondern das
Hotelzimmer war Teil eines Traums gewesen, der jetzt vor der
grausamen Realität die Flucht ergriff.
Oder irre ich mich schon wieder? Hilfe. Helft mir! Ich kann
nichts mehr unterscheiden. Was ist real? Was nicht?
Und schon war alles wieder so wie zuvor. Der nasse Keller,
der Metalltisch, der gynäkologische Stuhl, auf dem sie gefesselt
lag. Nackt. So nackt, dass sie den Atem des Wahnsinnigen
zwischen ihren Beinen spürte. Er hauchte sie an. Dort,
wo sie am empfindlichsten war. Dann tauchte sein vernarbtes
Gesicht kurz vor ihren Augen auf, und ein lippenloser Mund
sagte: »Hab die Stelle nur noch mal markiert. Jetzt kann es
losgehen.«
Er griff zum Lötkolben.
Heute, 10.14 Uhr -
Sehr viel später, viele Jahre
nach der Angst
Und, meine Damen und Herren, was sagen Sie zu dieser
Einführung? Eine Frau wacht aus einem Alptraum auf
und befindet sich sofort im nächsten. Interessant, oder?«
Der Professor stand von der langgestreckten Eichenholztafel
auf und sah in die verstörten Gesichter seiner Studenten.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass seine Zuhörer sich heute Morgen
mehr Mühe mit ihrer Kleiderauswahl gegeben hatten als er
selbst. Er hatte wie immer blind irgendeinen zerknitterten Anzug
aus seinem Kleiderschrank gegriff en. Der Verkäufer hatte
ihn damals zu dem sündhaft teuren Kauf überredet, weil der
dunkle Zweireiher angeblich so hervorragend mit der Farbe
seiner schwarzen Haare harmoniere, die er seinerzeit in einem
lächerlichen Anflug postpubertärer Rebellion noch etwas länger
trug.
Wenn er heute, viele Jahre später, wieder etwas kaufen wollte,
was zu seiner Frisur passte, müsste der Anzug aschgrau sein,
lichte Stellen haben und auf dem Rücken ein Loch wie eine
Mönchstonsur aufweisen.
»Was sagen Sie?«
Er spürte ein brennendes Ziehen in seinem Meniskus, als
er unvernünftigerweise einen Schritt zur Seite trat. Nur sechs
hatten sich freiwillig gemeldet. Vier Frauen, zwei Männer. Typisch.
Bei derartigen Versuchen waren die Frauen immer in der
Überzahl. Entweder weil sie mutiger waren oder weil sie noch
dringender das Geld benötigten, das er in dem Aushang am
Schwarzen Brett für die Teilnahme an diesem psychiatrischen
Experiment ausgelobt hatte.
»Entschuldigen Sie, habe ich das richtig verstanden?«
Linke Seite, zweiter Platz. Der Professor sah auf die Liste vor
sich, um den Namen des Probanden zu ermitteln, der sich gerade
zu Wort gemeldet hatte: Florian Wessel, 3. Semester.
Der Student hatte beim Lesen der Einführung einen perfekt
gespitzten Bleistift über den Zeilen schweben lassen. Eine kleine,
halbmondförmige Narbe unter dem rechten Auge deutete
auf seine Mitgliedschaft in einer schlagenden Verbindung.
Jetzt legte er das Schreibgerät zwischen die Seiten und schlug
die Akte zu. »Das hier soll ein medizinisches Behandlungsprotokoll
sein?«
»In der Tat.« Der Professor gab dem jungen Mann mit
einem gutmütigen Lächeln zu verstehen, dass er seine Verwunderung
gut nachvollziehen konnte. Sie war sozusagen Bestandteil
des Experiments.
»Lötkolben? Folter? Polizei? Mit Verlaub, aber das liest sich
eher wie der Beginn eines Thrillers und nicht wie eine Patientenakte.«
Mit Verlaub? Es war lange her, dass er diese antiquierte Phrase
gehört hatte. Der Professor fragte sich, ob der streng gescheitelte
Student immer so redete oder ob es nur die melancholische
Patina ihres ungewöhnlichen Aufenthaltsorts war,
die auf seinen Sprachgebrauch abfärbte. Er wusste, dass die
schreckliche Geschichte des Gebäudes einige von der Teilnahme
abgeschreckt hatte. Zweihundert Euro hin, zweihundert
Euro her.
Aber genau darin lag ja der Reiz. Das Experiment genau
hier durchzuführen und nicht woanders. Es gab für den Test
keinen besseren Ort, auch wenn es im ganzen Komplex nach
Schimmel roch und es so kalt war, dass sie kurzfristig überlegt
hatten, ob sie nicht den Kamin von dem Müll befreien und in
Gang setzen sollten. Immerhin war heute der dreiundzwanzigste
Dezember, und die Temperaturen lagen deutlich unter
dem Gefrierpunkt. Schließlich hatten sie zwei Ölradiatoren
gemietet, die den hohen Raum jedoch nur unzureichend aufheizten.
»Sie sagen, es liest sich wie ein Thriller?«, wiederholte der
Professor. »Nun, damit liegen Sie gar nicht so falsch.«
Er presste seine Handflächen in spitzer Gebetshaltung zusammen
und roch an seinen verschrumpelten Fingerspitzen.
Sie erinnerten ihn an die groben Hände seines Großvaters.
Doch der hatte, im Gegensatz zu ihm, sein Leben lang im Freien
arbeiten müssen.
»Der Arzt, in dessen Praxisnachlass man das Dokument gefunden
hat, das Sie gerade in Händen halten, war einer meiner
Kollegen, ein Psychiater. Viktor Larenz. Sein Name dürfte Ihnen
im Laufe Ihres Studiums bereits begegnet sein.«
»Larenz? Ist der nicht tot?«, wollte ein Student wissen, der
sich erst gestern für den Versuch angemeldet hatte.
Der Professor sah wieder auf die Liste und identifi zierte den
Mann mit den schwarzgefärbten Haaren als Patrick Hayden.
Er und seine Freundin Lydia saßen dicht nebeneinander. Die
Lücke zwischen ihren Körpern war so schmal, dass man selbst
mit Zahnseide nur schwer dazwischengekommen wäre, was
vor allem auf Patricks Initiative zurückzuführen war. Wann
immer Lydia sich etwas mehr Bewegungsfreiheit verschaff en
wollte, legte er den Arm noch fester um ihre Schultern und zog
sie besitzergreifend wieder an sich zurück. Er trug ein Sportsweatshirt
mit dem intelligenten Aufdruck »Jesus liebt dich«.
Knapp darunter stand kaum leserlich: »Jeder andere denkt, du
bist ein Arschloch.« Patrick hatte es schon einmal getragen, als
er zu ihm gekommen war, um sich über eine schlechte Klausurnote
zu beschweren.
»Viktor Larenz tut hier nichts zur Sache«, winkte der Professor
ab. »Seine Geschichte ist für den Test heute Abend nicht
von Relevanz.«
»Und worum geht es dann?«, wollte Patrick wissen. Er
schlug die Beine unter dem Tisch zusammen. Die Schnürsenkel
seiner Lederstiefel waren nicht zugebunden, damit die
professionell zerrissene Jeans nicht einfach so über die umgeklappte
Lasche fallen konnte. Sonst würde ja niemand das Designerlabel
am Knöchel sehen.
Der Professor musste lächeln. Offene Schuhe, zerrissene
Hosen, blasphemische Sweatshirts. Irgendjemand in der
Modeindustrie musste es sich zur Aufgabe gemacht haben,
die Alpträume seiner konservativen Eltern zu Geld zu machen.
»Nun, Sie müssen wissen ...« Er setzte sich wieder an seinen
Platz am Kopfende der Tafel und öffnete eine zerschlissene Ledertasche,
die so aussah, als würde sie von einem Haustier als
Kratzbaum benutzt.
»Das, was Sie gerade gelesen haben, ist wirklich geschehen.
Die Handakten, die ich Ihnen ausgeteilt habe, sind nur einfache
Kopien eines wahren Tatsachenberichts.« Der Professor
zog ein altes Taschenbuch hervor. »Das hier ist das Original.«
Er stellte den dünnen Band auf den Tisch.
Der Seelenbrecher stand in roten Lettern auf dem grünlichen
Einband. Darüber zog das schemenhafte Bild eines Mannes
die Aufmerksamkeit auf sich, der durch einen nebelartigen
Schneesturm in ein dunkles Gebäude zu fl üchten schien.
»Lassen Sie sich von der äußeren Form nicht täuschen. Es
wirkt auf den ersten Blick wie ein herkömmlicher Roman.
Aber es steckt sehr viel mehr dahinter.«
Er ließ die etwa dreihundert Seiten des Buches von hinten
nach vorne durch seine Finger fächern.
»Viele glauben, dieses Protokoll stamme aus der Feder eines
seiner Patienten. Larenz hat früher viele Künstler behandelt,
darunter auch Schriftsteller.« Der Professor blinzelte. Dann
fügte er leise hinzu: »Es gibt aber auch eine andere Th eorie.«
Alle Studenten sahen ihn aufmerksam an.
»Eine Minderheit ist der Meinung, Viktor Larenz selbst
habe das hier zu Papier gebracht.«
»Aber wieso?«
Diesmal hatte sich Lydia zu Wort gemeldet. Das Mädchen
mit den dunkelblonden Haaren und dem mausgrauen Rollkragenpulli
war seine beste Studentin. Was sie an dem unrasierten
Langzeitstudenten neben sich anziehend fand, konnte er sich
nicht erklären. Ebenso wenig begriff er, warum man ihr trotz
Einserabitur ein Stipendium verwehrt hatte.
»Dieser Larenz hat seine Aufzeichnungen zu einem Th riller
umgedichtet? Warum sollte er sich diese unglaubliche Mühe
machen?«
»Das gilt es, heute Abend herauszufinden. Das ist das Ziel
des Experiments.«
Der Professor machte sich eine Notiz auf dem Schreibblock
neben der Teilnehmerliste und sprach dann die Frauengruppe
zu seiner Rechten an, die noch kein einziges Wort gesagt hatte.
»Wenn Sie zweifeln, dann habe ich dafür volles Verständnis,
meine Damen.«
Eine Rothaarige hob den Kopf, die anderen beiden starrten
weiter auf die Akte vor ihnen.
»Sie alle hier können es sich gerne noch einmal überlegen.
Der eigentliche Versuch hat noch nicht begonnen. Sie können
abbrechen und jetzt nach Hause gehen. Noch ist Zeit.«
Die Frauen nickten unschlüssig.
Florian beugte sich nach vorne, dann fuhr er sich nervös mit
dem Zeigefinger über die Haarnarbe seines Seitenscheitels.
»Aber was ist dann mit den zweihundert Euro?«, fragte er.
»Die gibt es nur bei aktiver Teilnahme. Und auch nur dann,
wenn Sie sich an den vorgeschriebenen Ablauf halten, wie er
im Aushang beschrieben war. Sie müssen die gesamte Akte lesen
und dürfen dabei nur wenige kurze Pausen machen.«
»Und danach? Was passiert, wenn wir durch sind?«
»Auch das ist Teil des Versuchs.«
Der Psychiater bückte sich erneut und tauchte dann mit
einem kleinen Stapel Formulare wieder auf, die das Wappen
der Privatuniversität schmückte.
»Alle, die bleiben, bitte ich, das hier zu unterschreiben.«
Er teilte die Einverständniserklärungen aus, mit denen die
Probanden die Universität von jeder Haftung für etwaige psychosomatische
Schäden freisprachen, die in dem Zusammenhang
mit der freiwilligen Teilnahme an dem Versuch entstehen
könnten.
Florian Wessel nahm das Blatt entgegen, hielt es gegen das
Licht und schüttelte beim Anblick des Wasserzeichens der Medizinischen
Fakultät energisch den Kopf. »Das ist mir zu heikel.«
Er zog seinen Bleistift wieder aus der Akte, griff sich seinen
Rucksack und stand auf.
»Ich glaube, ich weiß, worauf das hier hinausläuft. Und
wenn es das ist, was ich vermute, dann habe ich davor viel zu
große Angst.«
»Ihre Offenheit ehrt Sie.« Der Professor sammelte Florians
Vordruck wieder ein und griff nach seiner Akte. Dann sah er
zu den drei Studentinnen hinüber, die gerade ihre Köpfe zusammengesteckt
hatten.
»Wir wissen zwar nicht, worum es geht, aber wenn Florian
abbricht, dann lassen wir besser auch die Finger davon.«
Wieder war es die Rothaarige, die als Einzige mit ihm kommunizierte.
»Wie Sie wünschen. Kein Problem.«
Er sammelte auch hier die Plastikordner ein, während die
jungen Frauen ihre Wintermäntel von den Stuhllehnen nahmen.
Florian stand bereits in Kapuzenjacke und Handschuhen
am Ausgang und wartete.
»Und was ist mit Ihnen?«
Er sah auf Lydia und Patrick hinab, die noch unschlüssig in
den Akten blätterten.
Schließlich zuckten beide synchron mit den Achseln.
»Was soll's. Hauptsache, mir wird kein Blut abgenommen«,
sagte Patrick.
»Ja, was soll's.« Lydia gelang es endlich, etwas von ihrem
Freund abzurücken.
»Sie sind doch die ganze Zeit bei uns, oder?«
»Ja.«
»Und wir müssen nichts weiter tun als lesen? Nicht mehr?«
»So ist es.«
Hinter ihnen fi el die Tür ins Schloss. Die Abbrecher waren
grußlos gegangen.
»Dann mach ich mit. Ich kann das Geld gut gebrauchen.«
Lydia schenkte dem Professor einen Blick, der ihr nie off en
ausgesprochenes Schweigegelübde erneut besiegelte.
Ich weiß, sagte er in Gedanken und nickte ihr zu. Nur
knapp. Nicht zu auff ällig.
Natürlich brauchst du das Geld.
Es war an einem viel zu heißen Aprilwochenende gewesen,
als ihn eine Welle des Selbstmitleids in ihr Privatleben gespült
hatte.
Sein einziger Freund hatte ihm den Rat gegeben, aus seinen
üblichen »Erlebnisschemata« zu springen, wenn er die Vergangenheit
endlich vergessen wollte. Er müsse etwas tun, was er in
seinem Leben noch nie getan habe. Drei Gläser später waren
sie in diese Bar gegangen. Nichts Aufregendes. Es war nur eine
harmlose, langweilige Show gewesen. Abgesehen davon, dass
die Mädchen oben ohne tanzten, bewegten sie sich nicht viel
anzüglicher als die meisten Teenager in einer Disco. Und, soweit
er es erkennen konnte, gab es auch kein Hinterzimmer.
Dennoch kam er sich wie ein asozialer alter Mann vor, als
Lydia plötzlich mit der Cocktailkarte vor ihm stand. Ohne
Rollkragenpulli und Haarreif, sondern im Rock einer Schulmädchenuniform.
Sonst trug sie nichts.
Er bezahlte einen Cocktail, ohne ihn zu trinken, ließ seinen
Freund sitzen und freute sich, sie in der nächsten Vorlesung
wieder in der ersten Reihe zu sehen. Sie hatten nie ein
Wort darüber verloren, und er war sich sicher, dass Patrick
nichts von der Nebenbeschäftigung seiner Freundin wusste.
Obwohl er selbst wie jemand aussah, der in derartigen Clubs
den Barkeeper beim Namen kannte, wirkte er nicht sehr tolerant,
wenn es um seine eigenen Interessen ging.
Lydia seufzte leise und setzte ihren Namenszug unter die
Haftungsfreizeichnung.
»Was kann schon passieren?«, fragte sie beim Schreiben. Der
Professor räusperte sich, sagte aber nichts. Stattdessen warf er
einen prüfenden Blick auf beide Unterschriften und sah dann auf seine Uhr.
»Schön, dann wären wir also so weit.«
Er lächelte, obwohl ihm nicht danach zumute war.
»Das Experiment beginnt.«
17.49 Uhr, einen Tag vor Heiligabend -
Neun Stunden und neunundvierzig
Minuten vor der Angst
Patientenakte Nr. 131071/VL
Nur weiterlesen
unter medizinischer Aufsicht.
»Stellen Sie sich folgende Situation vor ...«
Caspar hörte die Stimme der alten Dame, zu deren Füßen
er kniete, nur dumpf, wie durch eine geschlossene Tür hindurch.
»Vater und Sohn fahren nachts auf einer verschneiten Straße
durch den dunklen Wald. Der Vater verliert die Kontrolle
über seinen Wagen. Die beiden prallen gegen einen Baum,
und der Vater ist sofort tot. Der Junge überlebt schwerverletzt
und wird in ein Krankenhaus gebracht, wo man ihn sofort
in die Unfallchirurgie bringt. Der Chirurg kommt, erstarrt
und sagt panisch: ›O mein Gott, diesen Jungen kann ich nicht
operieren. Das ist mein Sohn!‹«
Die alte Dame auf dem Bett machte eine kurze Pause, dann
fragte sie triumphierend: »Wie ist das möglich, wenn der Junge
nicht zwei Väter hat?«
»Ich habe keine Ahnung.«
Caspar hielt die Augen geschlossen und verließ sich voll
und ganz auf seinen Tastsinn, während er versuchte, den
Fernseher zu reparieren. Daher konnte er ihr schelmisches Lächeln
hinter seinem Rücken nur ahnen.
»Ach kommen Sie. Das Rätsel ist doch gar nicht so schwer
für einen Mann mit Ihrer Intelligenz.«
Er zog die Hand hinter dem klobigen Röhrengerät her-
vor und drehte sich kopfschüttelnd zu Greta Kaminsky herum.
Die neunundsiebzigjährige Bankierswitwe hatte erst vor
fünf Minuten an seine Tür geklopft und ihn gebeten, ob er
nicht mal nach ihrem »Quatschkasten« schauen könne. So
nannte sie den monströsen Standfernseher, der für ihr kleines
Krankenzimmer im Dachgeschoss der Teufelsbergklinik viel
zu groß dimensioniert war. Natürlich hatte er ihr den Gefallen
getan, obwohl Professor Raßfeld ihm das strengstens untersagt
hatte. Der Klinikleiter wollte nicht, dass Caspar ohne
Aufsicht sein Einzelzimmer verließ.
»Ich fürchte, Rätsel sind nicht ganz so mein Ding, Greta.«
Er atmete etwas Staub ein, der sich hinter dem Fernseher angesammelt
hatte, und musste husten.
»Außerdem bin ich keine Frau. Ich kann nicht zwei Dinge
auf einmal erledigen.«
Er presste den Kopf wieder seitlich gegen den Fernseher
und versuchte blind auf der Rückseite die winzige Steckdose
für das Antennenkabel zu finden. Das klobige Ding ließ sich
nicht einen Millimeter von der Wand rücken.
»Papperlapapp!«
Greta klopfte zweimal mit der flachen Hand auf die Matratze.
»Stellen Sie sich nicht so an, Caspar!«
Caspar.
Die Pfleger hatten ihm diesen Spitznamen verpasst.
Irgendwie musste man ihn ja ansprechen, solange man
nicht wusste, wie er wirklich hieß.
»Versuchen Sie es doch mal! Vielleicht entpuppen Sie sich
noch als Rätselkönig. Wer weiß, Sie können sich doch an
nichts mehr erinnern!«
»Falsch«, stöhnte er und schob seine Hand noch etwas
weiter in den Spalt zwischen Fernseher und Raufasertapete.
»Ich weiß, wie man sich eine Krawatte bindet, ein Buch liest
oder Fahrrad fährt. Nur meine Erlebnisse sind nicht mehr da.«
»Ihr Faktenwissen ist zum größten Teil unversehrt«, hatte
ihm Dr. Sophia Dorn, seine behandelnde Psychiaterin, gleich
zu Beginn ihrer ersten Sitzung erklärt. »Aber alles, was Sie
emotional definiert, also das, was Ihre Persönlichkeit ausmacht,
ist leider verschwunden.«
Retrograde Amnesie. Gedächtnisverlust.
Er konnte sich weder an seinen Namen noch an seine Familie
oder seinen Beruf erinnern. Er wusste noch nicht einmal,
wie er überhaupt in dieses luxuriöse Privatkrankenhaus
gelangt war. Das alte Gebäude der Teufelsbergklinik stand am
Rand der Stadt, auf dem höchsten Berg Berlins, künstlich aufgeschüttet
aus den Trümmern der Häuser, die den Bomben
des Zweiten Weltkrieges zum Opfer gefallen waren. Heute
war der Teufelsberg eine begrünte Deponie, auf dessen Spitze
die US-Armee in den Zeiten des Kalten Krieges ihre Abhöranlagen
installiert hatte. Die vierstöckige Krankenhausvilla,
in der Caspar behandelt wurde, hatte als Offi zierscasino
der Geheimdienstangehörigen fungiert, bis es nach dem Fall
der Mauer von dem renommierten Psychiater und Neuroradiologen
Professor Samuel Raßfeld ersteigert, luxusmodernisiert
und zu einem der führenden Krankenhäuser für psychosomatische
Störungen umgebaut worden war. Jetzt thronte
die Klinik wie eine von Zugbrücken abgeschirmte Burg hoch
über dem Grunewald und war nur durch eine schmale private
Zufahrtsstraße erreichbar, auf der man Caspar vor knapp zehn
Tagen gefunden hatte. Bewusstlos, von einer dünnen Schneeschicht
bedeckt und unterkühlt.
Dirk Bachmann, der Hausmeister der Teufelsbergklinik, hatte
Raßfeld an jenem Abend zu einem Termin ins Westend-
Krankenhaus gefahren. Wäre er nur eine Stunde später zurückgekehrt,
wäre Caspar am Wegesrand erfroren. Manchmal
fragte er sich, ob das einen Unterschied gemacht hätte.
Denn was ist ein Leben ohne Identität im Vergleich zum
Tod?
»Sie dürfen sich nicht so quälen«, mahnte Greta leicht tadelnd,
als hätte sie seine düsteren Gedanken gelesen. Sie
klang dabei wie eine Ärztin und nicht wie eine Mitpatientin,
die selbst unter Angstpsychosen litt, wenn sie zu lange alleine
war.
»Die Erinnerung ist wie eine schöne Frau«, erklärte sie ihm,
während er immer noch nach der verdammten Buchse für das
Antennenkabel suchte.
»Wenn Sie ihr hinterherlaufen, wird sie sich gelangweilt
abwenden. Beschäftigen Sie sich aber mit etwas anderem,
wird die eifersüchtige Schönheit ganz alleine zu Ihnen zurückkommen.«
Sie kicherte hell.
»So wie unsere hübsche Therapeutin, die sich so liebevoll
um Sie kümmert.«
»Wie meinen Sie das denn jetzt?«, fragte Caspar erstaunt.
»Na ja, das sieht doch selbst eine alte Oma. Ich fi nde Sophia
und Sie passen ganz gut zusammen, Caspaarrr.« Caspaarrr.
Mit dem langgezogenen A und dem rollenden R erinnerte
Gretas Stimme an die Filmdiven der Nachkriegszeit. Seit ihr
Mann vor sieben Jahren nach einem Schlaganfall auf dem
Golfplatz gestorben war, verbrachte sie jedes Weihnachtsfest
in der Privatklinik. Hier war sie nicht allein, wenn die
Feiertagsdepression über sie hereinbrach. Und deshalb war
es auch eine mittlere Katastrophe, wenn ihr Fernseher nicht
mehr funktionierte. Sie ließ den »Quatschkasten« ununterbrochen
laufen, um sich nicht zu einsam zu fühlen.
»Also, wenn ich noch jünger wäre, würde ich mich auch
mal mit Ihnen zum Tanztee verabreden«, kicherte sie.
»Herzlichen Dank«, lachte er.
»Ich meine es ernst. Als mein Mann in Ihrem Alter war, also
irgendwas Anfang vierzig, schätze ich jetzt mal, fi elen ihm
seine dunklen Haare auch so neckisch in die Stirn. Zudem
hatte er genauso ebenmäßige Hände wie Sie, Caspar. Und ...«,
Greta musste schon wieder kichern, »und er teilte meine Rätselleidenschaft!«
Sie klatschte zweimal in die Hände, als wäre sie eine Klassenlehrerin,
die die Pause beendet.
»So, und deshalb versuchen wir es jetzt noch einmal ...«
Caspar stöhnte belustigt auf, während Greta ihr Rätsel
wiederholte.
»Vater und Sohn haben einen Autounfall. Der Vater ist tot,
der Sohn überlebt.«
Trotz des gekippten Fensters begann Caspar zu schwitzen.
Der Vormittag war im Schneeregen versunken, und gegen
Mittag war die Temperatur unter den Gefrierpunkt gefallen.
Hier draußen, mitten im Grunewald, musste es sogar noch
zwei Grad kälter sein als in der Innenstadt. Doch davon spürte
er im Moment nichts.
Ha! Sein Zeigefinger strich über einen runden Metallring
im Plastikgehäuse. Jetzt muss ich hier nur noch das Kabel einstöpseln
und ...
»Der schwerverletzte Sohn wird in die chirurgische Notauf-
nahme eingeliefert. Doch der Chirurg will ihn nicht operieren,
weil der Junge sein Sohn ist.«
Caspar kroch hinter der klobigen Mattscheibe hervor, stand
auf und griff sich die Fernbedienung.
»Wie geht das?«, fragte Greta spitzbübisch.
»So geht das«, sagte Caspar und schaltete den Fernseher
ein.
Zuerst flimmerte es, dann erfüllte die sonore Stimme eines
Nachrichtensprechers das Zimmer. Als sich schließlich auch
das dazu passende Bild aufbaute, klatschte Greta quietschvergnügt
in die Hände.
»Er funktioniert wieder. Wunderbar, Sie sind genial.«
Ich weiß nicht, was ich bin, dachte Caspar und klopfte den
Staub von seiner Jeans.
»Ich geh dann mal wieder auf mein Zimmer, bevor die
Schwester sauer wird ...«, wollte er ansetzen, doch Greta hob
ihre Hand und gebot ihm zu schweigen.
... gibt es wieder erschütternde Neuigkeiten von dem sogenannten
Seelenbrecher, der jetzt schon seit mehreren Wochen
die weibliche Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt ...
Greta stellte mit der Fernbedienung die Nachrichten lauter.
17.56 Uhr
Soeben erreicht uns die Meldung, dass sein erstes Opfer, die
26-jährige Schauspielschülerin Vanessa Strassmann, heute
Nachmittag auf der Intensivstation des Westend-Krankenhauses
verstorben ist. Sie war vor zweieinhalb Monaten spurlos
nach dem Unterricht verschwunden und wurde exakt eine
Woche später in einem heruntergekommenen Autobahnmotel
aufgegriffen. Nackt, verwahrlost und paralysiert.
Das Bild einer strahlenden Schönheit wurde eingeblendet,
so als reichten die dramatischen Worte des Nachrichtensprechers
nicht aus, um das gesamte Ausmaß der Tragödie zu
verdeutlichen. Ihr Foto wich zwei weiteren Aufnahmen. Auch
hier hatte sich jemand die Mühe gemacht, besonders attraktive
Bilder aus dem Familienalbum zu organisieren.
Wie die beiden späteren Opfer, Doreen Brandt, eine erfolgreiche
Anwältin, und die Grundschullehrerin Katja Adesi, war
auch Vanessa Strassmann äußerlich nahezu unversehrt. Nach
Aussagen der behandelnden Ärzte wurde sie weder vergewaltigt
noch geschlagen oder gefoltert. Dennoch war sie innerlich
zerstört und seelisch gebrochen. Bis zu ihrem heutigen
Todestag reagierte sie ausschließlich auf extreme Licht- und
Schallrefl exe und blieb ansonsten in einem wachkomaähnlichen
Zustand. Die Fotos verschwanden und wurden durch
die Außenansicht eines modernen Krankenhauskomplexes
ersetzt.
Die Todesursache gibt den Medizinern ein zusätzliches Rätsel
auf, weiterhin kann man sich nicht erklären, was mit den
jungen Frauen in der Gewalt des Täters geschieht. Einen Hinweis
könnten die kleinen Zettel geben, die man in den Händen
aller drei Opfer fand, über deren Inhalt die Polizei sich aber
in Schweigen hüllt. Bislang gibt es zum Glück keine weiteren
Vermisstenmeldungen, und wir können nur hoffen, dass diese
grauenhafte Serie nicht nur vorübergehend über die Feiertage
unterbrochen ist, sondern endgültig. Das größte Weihnachtsgeschenk
wäre sicherlich die Meldung über die Verhaftung des
Seelenbrechers, nicht wahr, Sandra?
Der Nachrichtensprecher drehte sich mit einem professi-
onellen Grinsen zu seiner Co-Moderatorin und leitete damit
zum Wetter über.
So ist es, Paul. Jetzt drücken wir aber erst einmal die Daumen,
dass auch die anderen Geschenke sicher und rechtzeitig
unter den Baum kommen, denn nach den stärksten Schneefällen
der letzten zwanzig Jahre bringt Blitzeis in vielen Großstädten
den Verkehr zum Erliegen. Zusätzlich ist mit heftigen
Stürmen zu rechnen ...
Blitzeis, dachte Caspar, als er die grafi schen Warnzeichen
über Berlin auf der Wetterkarte sah. Und dann geschah es
zum ersten Mal.
Die Wucht der Erinnerung traf ihn so unvermittelt und heftig,
dass er sie kaum festzuhalten vermochte.
© Weltbild
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Autoren-Porträt von Sebastian Fitzek
Sebastian Fitzek wurde 1971 in Berlin geboren, wo er heute als Journalist und Autor für zahlreiche Hörfunkstationen und TV-Sender tätig ist. Gleich sein erster Psychothriller "Die Therapie" eroberte die Taschenbuch-Bestsellerliste und begeisterte Kritiker wie Leser gleichermaßen. Mit den darauf folgenden Bestsellern "Amokspiel" und "Das Kind" festigte er seinen Ruf als neuer deutscher Star des Psychothrillers.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sebastian Fitzek
- 2011, 1, 319 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868006702
- ISBN-13: 9783868006704
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