Der Stundensammler
Nie mehr wird er es...
Nie mehr wird er es zulassen, so schwört Severin, dass die Zeit ohne ihn verrinnt. Und so wird die Suche nach einer Uhr, die er immer bei sich tragen könnte, zu seinem Lebensinhalt.
Ein historisches Epos über den Ursprung der Neuzeit!
DerStundensammler von MarenWinter
LESEPROBE
ImSchutz des Waldsaumes saß Severin auf einem Baumstamm und zählte. Von Weitemhätte man den stämmigen Elfjährigen für einen Halbwüchsigen halten können, und aucher selbst kam sich bedeutender vor als sonst. Wenn er alle seine Fingerumgeklappt hatte, schob er mit dem Fuß einen Zweig zurecht. Danach zählte erdie Zweige und die übrigen eingeklappten Finger. Vierundzwanzig. Eine schöneZahl, denn sie bedeutete, dass alle Schafe lebten und keines verloren gegangenwar. Das zuletzt gezählte löste diese Erleichterung aus, das letzte war etwasBesonderes. Sobald man den Schafen Namen gab, verschwand diese Art von Besonderheit,und die Tiere verloren das Verhältnis zur Herde. Mit eigenem Namen wurden siezu Einzelwesen und dadurch sicher sehr einsam. Manchmal wünschte er sich, unterden Geschwistern der siebente zu sein und nicht bloß Severin. Doch seineFamilie scherte sich nicht um Zahlen, ebenso wenig, wie die wollige Schar, diesich über die ganze Länge des Tales verteilt hatte. Manchmal hoben die Schafeunschlüssig ihre Köpfe oder blökten, weil es bereits dämmerte und sie gewohntwaren, um diese Zeit nach Hause getrieben zu werden. Doch ihr umsichtiger Hirtesaß stramm auf einem umgestürzten Baum und bedachte jedes von ihnengewissenhaft mit einer Ziffer, welche es von allen anderen unterschied und ihmzudem einen Platz in der Gemeinschaft zusicherte. So tat es auch Gott mit denSternen. Es war das erste Mal, dass Severin alleine hütete. Er hatte eine sichereWeide dafür gewählt. Am Hang im Westen erhob sich der Wald mit dichtemUnterholz, und auf der anderen Seite wand sich ein Bach durch die Wiese. DasFrühjahrswasser stand hoch, keins der Schafe würde versuchen darüber zu springen.Der Bursche kniff die Augen zusammen, um die entfernteren Tiere vom Buschwerkzu unterscheiden. Sie sahen inzwischen wie große Findlinge aus, die ein Rieseüber die Weide gekullert hatte. Bei Einbruch der Dunkelheit mussten sie zurücksein. Auf keinen Fall früher, der Vater hatte mit Prügel gedroht, wenn die Tierenicht genügend fraßen. Für den Weg brauchte er vierzehn Paternoster, das hatteer abgezählt. Aber wie sollte er es anstellen, dass es genau dann finsterwurde, wenn er zu Hause ankam? Der Himmel hatte schon den ganzen Taggleichmäßig grau gewirkt, mal bleich, mal stumpf, unmöglich, den Sonnenstand zubestimmen. Nur sein Magen beteuerte, dass es Zeit fürs Abendessen sei,allerdings hatte er das schon den ganzen Tag behauptet. Im Gegensatz zu seinenGeschwistern wurde Severin kurz nach dem Frühmahl wieder hungrig. Er wuchs ebenschneller als die anderen, daran konnte er nichts ändern. Severin beschloss,noch etwas auszuharren. Es tat wohl, endlich eine Arbeit zu tun, die für seineFamilie lebenswichtig war. Vielleicht würde seine Mutter ihm heute Abend Honigin die Grütze rühren, und vielleicht würde der Vater ihm sogar lobend über denKopf streichen. Bisher war ja alles gut gegangen, kein Fuchs, kein Wolf undkein verirrtes Lämmchen. Fast wünschte er sich, einem Dieb zu begegnen, den erin die Flucht schlagen konnte. Die Ringkämpfe mit seinen älteren Brüdern gewanner schließlich regelmäßig durch sein größeres Gewicht und weil er die Schlägekommen sah, bevor sein Gegner überhaupt daran dachte. Er bewegte seine nacktenZehen im Gras, es fühlte sich feucht und ziemlich kalt an. Schnell zog er dieKnie hoch und strich sich den Kittel bis über die Füße. Die Schafe waren zu beneiden,sie trugen weiche Wollmäntel. Mittlerweile konnte er die Tiere nur nochschemenhaft ausmachen, selbst, wenn er die Lider zusammenkniff und seine Augenwinkelmit den Fingern etwas nach außen zog. Er rutschte vom Baumstamm und ging einStück in Richtung Waldsaum. Hier war es schon richtig finster. »Kume, kum!«,rief er und klatschte in die Hände. Wollige Schatten trabten ihm entgegen,hüpften unruhig durcheinander, rempelten und blökten. »Nicht so schnell.«Severin wedelte mit den Armen, damit sie ihn in der Düsternis besser erkennen sollten.»Wartet, nicht da entlang!« Normalerweise fanden sie den Weg von selbst, manmusste nur darauf achten, dass sie nicht in die eben grünenden Felder liefen. ZweiTiere brachen seitlich aus. »Halt! Kommt zurück!«, schrie er, mit dem Ergebnis,dass die anderen auseinander stoben. Severin lief hinterher, über Steine undKuhlen, lockte und trieb, sprang nach rechts, nach links, rannte zurück Erstolperte im Dunklen und schürfte sich die Knie auf. Doch was bedeutete dasschon, er musste sie nach Hause bringen - alle! Nach und nach gelang es ihm,die aufgeregten Tiere zur Biegung des Baches zu drängen. Mit ausgebreitetenArmen stand er vor ihnen. Seine Muskeln zitterten. »Ruhig, ganz ruhig, meine Guten.«Entwischen konnten sie nicht mehr, sie wimmelten ängstlich durcheinander, undmanche versuchten, sich über die Rücken ihrer Artgenossen vor ihm zu retten. »Beruhigteuch, bitte, ich bin es doch nur«, keuchte er. Plötzlich ein klatschendesGeräusch im Wasser und direkt danach der Angstruf eines Schafes. Severinserster Impuls war, hinterherzuspringen. Seine Bewegung hatte die anderen Tiereerschreckt. Schon blökten sie furchtsam und wichen vor ihm zurück. Er erstarrtesogleich und hob vorsichtig wieder die Arme. Er durfte sie nicht erneutverstören, nicht ein weiteres in den Fluss treiben. Verzweifelt schloss er dieAugen und versuchte, die schrillen Laute zu überhören, die einer menschlichenStimme so ähnlich waren. Rasch und gleichmäßig entfernten sich die Schreie. DieWiese verschwamm hinter einem Tränenschleier. Mechanisch lenkte er seine Herdefort vom Bach, durch das Erlenwäldchen auf den aufgeweichten Feldweg. EinKäuzchen rief ihm Unheil hinterher. Aber es mahnte zu spät, es hätte rufen sollen,als es Zeit für den Rücktrieb war. Dunkel gurgelte das Wasser, und dieAngstlaute hallten immer noch in seinen Ohren nach. Es war ein freundlichesSchaf gewesen, vielleicht hätte es bald ein Lamm zur Welt gebracht. Er führtedie Tiere in den Stall und schloss sorgfältig die Tür. Die wenigen Schritte biszur Schwelle des niedrigen Fachwerkhauses kamen ihm unendlich vor. Letztes Jahrhatte der Vater die Fensteröffnung mit ölgetränktem Papier verschlossen, undSeverin konnte im Flackerlicht den Schattenriss des Männerrückens erkennen. Erwischte sich mit dem Ärmel übers Gesicht, atmete tief ein und öffnete die Tür.Alle Köpfe hoben sich, und seine Mutter riss die Augen auf. »Ach, du liebe Zeit,was ist mit deinen Kleidern geschehen? Hast du dich im Schlamm gewälzt?« Miteiner Handbewegung brachte Georg Geiss sein Weib zum Schweigen und erhob sich.Er stand immer mit etwas vorgerecktem Kopf im Haus, da sein störrisches Haarsonst die Deckenbalken streifte. »Du kommst zu spät.« Der Junge schloss die Türhinter sich, senkte den Blick und machte einen Schritt auf den Vater zu. »Ichhabe ein Schaf verloren. « Die flache Hand traf ihn so heftig ins Gesicht, dasser zur Seite taumelte. Bevor er stürzte, riss der Vater ihn am Arm zurück undschleuderte ihn gegen die Wand. Severin krümmte sich und versuchte so gut wiemöglich seinen Kopf zu schützen. Er wusste, dass der Vater seine Wut austobenmusste, bevor er irgendeine Erklärung aufnehmen konnte. »Ahnst du überhaupt,was ein Schaf bedeutet?« Der Hieb donnerte auf Severins Schulter. »Käse undFleisch für Monate.« Die nächsten trafen seinen Rücken und die Arme. »Du meinstwohl, deine Kleider wüchsen in der Truhe?« Wieder schlug der Vater zu. Aber dieWucht schien etwas schwächer geworden zu sein, und Severin wagte einen scheuenBlick. »Sieh mich nicht an, verdammt noch mal.« Schwer atmend stand der GeorgGeiss über ihm. Rasch senkte Severin den Kopf und flüsterte: »Es tut mir Leid,das Schaf ist in den Bach gesprungen. Ich konnte es nicht retten, sonst wärenmir die anderen davongelaufen. Es wird nie wieder vorkommen.« »Das wird esbestimmt nicht. Morgen geht Hanns auf die Weide. Ich habe wirklich keine Ahnungmehr, wozu man dich gebrauchen kann. Aber glaube nicht, dass du ungeschorendavonkommst. Diesmal wirst du deine Schuld bezahlen. Du wirst weder Milch nochFleisch, noch Käse anrühren, bis das Tier abgegolten ist.« »Ja, Vater.« Severinrappelte sich auf und schlich in geduckter Haltung an ihm vorbei zur Leiter,die in die Dachkammer hinaufführte. Auf den Strohsäcken kroch er in denhintersten Winkel. Die Schulter tat ihm weh, und sein Kiefer pochte. Seine Unterlippeschwoll dick an und schmeckte nach Blut. Halb auf dem Bauch war die Lage amerträglichsten. Alle Wolldecken zog er über sich. Bis seine Geschwister sich zuihm gesellten, brauchte er wenigstens nicht zu frieren. Nun würdeVierundzwanzig nur noch Dreiundzwanzig sein. Nie wieder würde das letzte SchafErleichterung auslösen, sondern im Gegenteil, es würde den Verlust jedes Malerneut heraufbeschwören. (...)
© Heyne Verlag
- Autor: Maren Winter
- 2006, 493 Seiten, 2 Abbildungen, Maße: 12 x 18,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 3453401468
- ISBN-13: 9783453401464
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
3 von 5 Sternen
5 Sterne 0Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Stundensammler".
Kommentar verfassen