Der Täter
Miami 1995. Als seine Nachbarin erdrosselt aufgefunden wird, ist Detective Simon Winter klar, dass ihre Angst berechtigt war: Tags zuvor hatte die Holocaustüberlebende ihm verzweifelt berichtet, ihr sei der Schattenmann begegnet - jener Nazi-Scherge,...
Leider schon ausverkauft
Weltbild Ausgabe
4.99 €
- Lastschrift, Kreditkarte, Paypal, Rechnung
- Kostenlose Rücksendung
Produktdetails
Produktinformationen zu „Der Täter “
Miami 1995. Als seine Nachbarin erdrosselt aufgefunden wird, ist Detective Simon Winter klar, dass ihre Angst berechtigt war: Tags zuvor hatte die Holocaustüberlebende ihm verzweifelt berichtet, ihr sei der Schattenmann begegnet - jener Nazi-Scherge, der damals untergetauchte Juden ans Messer lieferte. Offenbar ist er zurückgekehrt, um die letzten Zeugen seiner Taten zu beseitigen. Detective Winter begibt sich auf eine lebensgefährliche Jagd.
Lese-Probe zu „Der Täter “
Der Täter von John Katzenbach1
Ein verhinderter Tod
... mehr
In den frühen Abendstunden einer drückend schwülen Hochsommernacht in Miami Beach beschloss Simon Winter, ein alter Mann, der sich über viele Jahre beruflich mit dem Tod beschäftigt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Auch wenn es ihm leidtat, anderen einige Drecksarbeit zu hinter-lassen, begab er sich langsam zu einem Wandschrank im Schlafzimmer und zog eine verkratzte, kurzläufige Detective Special aus einem ausgeblichenen, schweißverfleckten Lederholster. Mit Mühe klappte er die Trommel auf, holte fünf der sechs Kugeln heraus und steckte sie sich in die Hosentasche. Auf diese Weise, hoffte er, wäre jeder Zweifel an seinen Ab-sichten ausgeräumt.
Ohne den Revolver aus der Hand zu legen, begann er, nach Stift und Papier zu kramen, um einen Abschiedsbrief zu schreiben. Zu seinem Ärger nahm das einige Minuten in An-spruch, und erst nachdem er in der Schublade seiner Kommode einige weiße, gebügelte Taschentücher, Krawattennadeln und Manschettenknöpfe zur Seite geschoben hatte, entdeckte er ein einziges, unbeschriebenes Blatt blauliniertes Notiz-papier und einen billigen Kugelschreiber. Nun denn, dachte er, dann fass dich eben kurz.
Während er überlegte, ob er noch etwas vergessen hatte, machte er vor dem Spiegel halt und betrachtete sich. Recht passabel. Sein kariertes Freizeithemd war ebenso wie seine khakifarbene Hose, die Socken und Unterwäsche sauber. Vielleicht sollte er sich rasieren, überlegte er, als er mit dem Rücken der Hand, in der er die Waffe hielt, über die Stoppeln strich, doch dann fand er es übertrieben. Ein Haarschnitt hätte nicht geschadet, doch stattdessen strich er sich nur einmal mit der Hand durch den weißen Schopf. Keine Zeit, dachte er. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er als Junge einmal gehört hatte, die Haare würden auch nach dem Tod noch weiterwachsen.
Haare und Nägel. Er wünschte sich, dass es stimmte. So etwas gehörte zu den Geschichten, die unter Kindern in heiligem Ernst als Flüsterpost die Runde machten und in dunklen Zimmern unweigerlich zu Gespenstergeschichten überleite-ten. Zu den Widernissen des Älterwerdens, dachte Simon Winter, gehörte der Verlust der Mythen.
Er wandte sich vom Spiegel ab und warf einen flüchtigen Blick durchs Zimmer - das Bett war gemacht, in der Ecke lag kein Haufen schmutziger Wäsche. Seine Einschlaflektüre - Taschenbuchausgaben von Krimis und Abenteuergeschichten - war auf dem Nachttisch gestapelt und wenn auch nicht eben ordentlich, so doch einigermaßen vorzeigbar, etwa so wie er selbst. Jedenfalls ging das Maß an Durcheinander nicht über das hinaus, was man von einem alten Junggesellen oder, nebenbei gesagt, auch von einem Kind erwarten durfte. Die Parallele beschäftigte ihn eine Weile und gab ihm am Ende das unverhoffte Gefühl, irgendwie werde alles gut.
Durch den Türspalt ins Badezimmer fiel sein Blick auf das Fläschchen Schlaftabletten, und er spielte mit dem Gedanken, statt seines alten Dienstrevolvers diese zu verwenden, fand es dann aber feige, sich auf solche Weise umzubringen. Innerlich redete er sich gut zu: Du solltest so viel Schneid aufbringen, in den Lauf deiner Waffe zu blicken, und dir nicht einfach einen Haufen Pillen reinwerfen, um sanft, doch unwiderruflich hinüberzudämmern. Er ging in die Küche. Im Ausguss stand der Abwasch eines Tages. Während er darauf starrte, krabbelte eine riesige Schabe auf den Rand eines Tellers und rührte sich nicht mehr vom Fleck, als verfolgte sie gespannt, was Simon Winter als Nächstes vorhatte.
»Widerliche Biester«, knurrte er laut, »verfluchte Kakerlake.« Er hob den Revolver und zielte. »Peng«, sagte er. »Ein einziger Schuss. Hast du übrigens gewusst, Viech, dass ich immer die besten Trefferquoten erreicht habe?«
Bei dem Gedanken seufzte er, bevor er mit einem Lächeln die Waffe und das Blatt Papier auf die Arbeitsplatte aus billigem, weißem Linoleum legte, sich das Geschirrspülmittel griff und zügig mit dem Abwasch begann. »Sauberkeit ist das halbe Leben.«
Zwar kam es ihm ein wenig albern vor, als letzten Akt auf Erden Teller zu spülen, andererseits war ihm klar, dass es an jemand anderem hängenbleiben würde, falls er es unterließ. Das wiederum war nicht seine Art: Er machte keine halben Sachen, die andere zu Ende führen mussten.
Die Kakerlake roch wohl die Seifenlauge, spürte, dass sie sich in tödlicher Gefahr befand, ergriff quer über die Platte die Flucht und entkam seinem halbherzigen Schlag mit dem Schwamm.
»Na ja, du magst davonlaufen, aber entkommen wirst du mir nicht.«
Er griff unter den Ausguss und fand eine Dose Insektenspray. Er schüttelte sie energisch, dann richtete er einen Strahl in die ungefähre Richtung, in die das Insekt sich verkrochen hatte. »Wir werden wohl zusammen das Zeitliche segnen, Ungeziefer«, stellte er fest. Die Wikinger, fiel ihm wieder ein, töteten einen Hund und legten ihn einem Mann zu Füßen, bevor sie ihn bestatteten, damit ihm das Tier auf dem Weg nach Walhall Gesellschaft leistete. Konnte man sich einen besseren Gefährten denken als einen Hund, der wahrscheinlich darüber hinwegsehen würde, dass die barbarische Sitte seinem eigenen Leben ein vorzeitiges Ende setzte? Wenn ich einen Hund besäße, dachte Simon Winter, dann könnte ich ihn zuerst er-schießen, doch ich habe keinen, und außerdem würde ich es nicht tun, also muss ich als Weggefährtin zu meinem Walhall mit einer Kakerlake vorliebnehmen.
Er schmunzelte bei der Frage, worüber er und das Ungeziefer sich wohl unterhalten würden; bei Lichte betrachtet gab es durchaus Gemeinsamkeiten, denn sie hatten beide in den weniger appetitlichen Ritzen und Winkeln des alltäglichen Lebens herumgewühlt. Mit einer schwungvollen Geste wischte er den Ausguss sauber, legte den Schwamm in die Ecke und kehrte mit dem Blatt Papier sowie dem alten Revolver in sein bescheidenes Wohnzimmer zurück. Er setzte sich auf das fadenscheinige Sofa und legte die Waffe vor sich auf den Tisch. Dann nahm er das Blatt sowie den Kugelschreiber, dachte einen Moment nach und schrieb:
Erklärung
Ich bin von eigener Hand gestorben.
Ich bin alt, müde und einsam und habe schon seit Jahren nichts Nützliches mehr geleistet.
Tja, das stimmt alles, dachte er, aber die Welt scheint mit jedem Toten ganz gut zurechtzukommen, demnach besagt das hier nicht viel. Er tippte sich ein paarmal mit der Kugelschreiberspitze an die Zähne. Sag, was du wirklich meinst, mahnte sich Simon Winter in schulmeisterlicher Manier. Zügig schrieb er weiter:
Ich fühle mich wie jemand, der allzu spät bemerkt, dass es an der Zeit ist, abzutreten.
Schon besser, dachte er mit einem trockenen Lächeln. Und nun zum geschäftlichen Teil. Ich habe etwas über fünftausend Dollar auf einem Sparkonto bei der First Federal. Ein Teil davon soll darauf verwendet werden, diese alten Knochen zu verbrennen. Falls jemand die Freundlichkeit besäße, meine Asche am Government Cut ins Wasser zu streuen, wüsste ich das zu schätzen.
Simon Winter hielt im Schreiben inne. Es wäre schön, überlegte er, wenn in dem Moment ein Schwarm Tarpune, die sich dort tummelten, an die Oberfläche käme, um nach Luft zu schnappen und sich auf die Meerbrassen oder die kleinen Makrelen zu stürzen. Das sind prächtige Tiere. Mit ihren riesigen Silberschuppen und den mächtigen, sensenförmigen Flossen erinnern sie an fahrende Ritter im Panzerhemd. Sie gehören zu einem urzeitlichen Stamm, der die Jahrhunderte unverändert überdauert hat, und einige von denen sind wahrscheinlich so alt wie ich. Ihm kam die Frage in den Sinn, ob ein Tarpun jemals des Schwimmens müde wurde, und wenn ja, was er dann tat. Vielleicht drosselte er nur das Tempo und hatte es nicht so eilig, wenn ein Hammerhai den Schwarm verfolgte. Wäre nicht das Schlechteste, als Tarpun wiedergeboren zu werden. Er schrieb weiter:
Das verbleibende Geld sollte an den Witwenfonds der Polizeidienststelle Miami Beach gehen, oder wie auch immer das heute heißt. Es sind keine Angehörigen zu benachrichtigen. Ich hatte einen Bruder, der jedoch gestorben ist, und von seinen Kindern habe ich seit Jahren nichts gehört.
Ich habe das Leben genossen und das eine oder andere zuwege gebracht. Falls jemand interessiert ist: Im Schlafzimmer ist ein Album mit ein paar Zeitungsausschnitten zu meinen alten Fällen.
Zuletzt gestattete er sich ein kleines Eigenlob, bevor er mit einer Entschuldigung schloss:
Es gab einmal eine Zeit, da konnte ich es mit jedem aufnehmen.
Tut mir leid, solche Umstände zu machen.
Er überlegte, las die Nachricht noch einmal durch und unterzeichnete mit einem eleganten Namenszug:
Simon Winter. Detective a. D.
Er holte einmal tief Luft und hob die Hand in Augenhöhe. Sie war ruhig. Er betrachtete seine Zeilen. Auch in seiner Schrift war kein Zittern zu erkennen. Dann wollen wir mal, dachte er. Du hast schon Schlimmeres durchgemacht. Worauf wartest du also noch?
Er packte die Waffe und legte den Finger an den Abzug. Jede Phase im Bewegungsablauf spürte er bis ins kleinste Detail. Die Spannung in seinem Finger am Abzug aktivierte die Seh-ne an seinem Handrücken. Als er die Waffe hob und das Handgelenk ausrichtete, um sie ruhig zu halten, fühlte er die Muskeln im Unterarm. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Im Kopf stieg ihm eine Flut von Erinnerungen auf. Er befahl seinen Augenlidern, sich zusammenzukneifen, um keinen Funken Zweifel zuzulassen. Also, dachte er. Los. Es ist so weit.
Simon Winter drückte sich den Lauf seines Revolvers gegen den Gaumen und fragte sich, ob er den tödlichen Schuss noch spüren würde. Und in dieser Sekunde des Zauderns, dieser winzigen Verzögerung wurde die Stille, die er um sich legte, durch ein lautes, energisches Klopfen an der Wohnungstür erschüttert.
Das Geräusch krachte in seine selbstmörderische Konzentration und ließ ihn heftig zusammenzucken.
Im selben Moment wurden ihm Dutzende kleiner Empfindungen bewusst, als forderte die Welt mit einem Schlag seine Aufmerksamkeit. Vom Druck, den er mit seinem Finger am Abzug ausübte, schien ihm jeden Moment die Haut zu platzen; wo er mit einem glühenden Schmerz und rascher Umnachtung gerechnet hatte, schmeckte er jetzt das beißende Metall des Revolverlaufs und würgte vom stechenden Geruch der öligen Reinigungsmittel, mit denen er die Waffe gesäubert hatte. Seine Zungenspitze stieß an den eisigen Stahl des Abzugbügels, und er hörte seinen pfeifenden Atem.
In der Ferne dröhnte der Dieselmotor eines Busses vorbei. Er überlegte, ob es der A-30 Richtung Ocean Drive oder der A-42 auf dem Weg zur Collins Avenue war. An der Fensterscheibe summte in Panik ein Insekt, und ihm fiel ein, dass an einem der Fliegengitter ein Riss zu flicken war. Er öffnete die Augen und ließ die Waffe sinken.
Es klopfte ein zweites Mal und noch energischer an der Tür. Die Eindringlichkeit setzte seine Entschlusskraft außer Gefecht. Er legte seinen Revolver auf den Abschiedsbrief und stand auf.
Draußen hörte er jemanden rufen: »Mr. Winter, bitte ... «
Die Stimme klang schrill und verängstigt. Die Stimme klang vertraut.
Es ist schon dunkel, dachte er. Seit zwanzig Jahren hat nach Sonnenuntergang niemand mehr an meine Tür geklopft. Für einen Moment vergaß er, dass ihm das Alter in den Knochen saß, und eilte zur Tür. »Ich komm ja schon, ich komm ja schon ... «, rief er laut, bevor er mit der vagen Hoffnung öffnete, etwas Bedeutsames hereinzubitten.
Die ältere Frau, die vor der Wohnung stand, versprühte Angst wie einen Funkenregen. Ihr Gesicht war blass und starr, aufs äußerste angespannt, und sie sah Simon Winter derart hilflos an, dass er wie unter einer starken Böe einen Schritt zurücktrat und einen Moment brauchte, bis er seine Nachbarin, die seit nunmehr zehn Jahren ihm gegenüber wohnte, wiedererkannte.
»Mrs. Millstein, was ist denn passiert?«
Die Frau streckte die Hand aus und packte ihn am Arm, während sie immer wieder den Kopf schüttelte, als wollte sie ihm mitteilen, dass ihr vor Angst jedes Wort im Halse stecken bleibe.
»Fehlt Ihnen etwas?«
»Mr. Winter«, brachte die Frau schließlich langsam zwischen kaum geöffneten Lippen heraus, »Gott sei Dank sind Sie zu Hause. Ich bin so allein, und ich wusste mir nicht zu helfen ... «
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Was ist passiert?« Sophie Millstein trat schwankend näher. Wie ein Bergsteiger, der in den Abgrund zu stürzen droht, grub sie Simon Winter die Nägel in den Arm.
»Ich hab's zuerst nicht geglaubt, Mr. Winter«, fing Sophie Millstein leise an, doch dann gewann sie an Fahrt, bis sich ihre Worte förmlich überschlugen. »Ich glaube, keiner von uns konnte es glauben. Es schien alles so lange her. Wie konnte er hier sein? Ausgerechnet hier? Nein, das schien einfach zu absurd, also hat es keiner von uns geglaubt. Weder der Rabbi noch Mr. Silver, noch Frieda Kroner. Aber wir haben uns geirrt, Mr. Winter. Er ist hier. Ich habe ihn heute selbst gesehen. Heute Abend vor der Eisdiele in der Lincoln Road Mall. Ich kam raus, und da stand er. Er hat mich nur angeblickt, Mr. Winter, und da wusste ich es. Er hat Augen wie Rasierklingen, Mr. Winter. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Leo hätte es gewusst. ›Sophie‹, hätte er gesagt, ›wir müssen jemanden anrufen‹, und er hätte die Nummer gleich parat gehabt. Aber Leo lebt nicht mehr, ich bin ganz allein, und jetzt ist er hier.«
Sie sah Simon Winter hilflos an.
»Er wird auch mich umbringen«, erklärte sie und schnappte nach Luft.
Simon Winter geleitete Sophie Millstein in sein Wohnzimmer und verfrachtete sie auf sein durchgesessenes Sofa. »Niemand bringt irgendwen um, Mrs. Millstein. Jetzt hol ich Ihnen erst mal was Kaltes zu trinken, und dann können Sie mir erklären, was Sie so in Panik versetzt.«
Sie sah ihn mit einem gehetzten Blick an. »Ich muss die anderen warnen!«
»Ja, schon gut. Ich werde Ihnen helfen, aber jetzt trinken Sie erst was und erzählen mir dann der Reihe nach, was los ist. « Sie machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch dann fehlten ihr die Worte. Als wollte sie überprüfen, ob sie Fieber habe, legte sie die Hand an die Stirn und sagte: »Ja, ja. Eistee, falls Sie welchen haben. Es ist so heiß. Manchmal kommt es mir im Sommer so vor, als verbrauchte die Hitze sämtlichen Sauerstoff.«
Simon Winter nahm hastig seinen Abschiedsbrief und den Revolver vom Sofatisch und eilte in die Küche. Er fand ein sauberes Glas, goss Wasser, Eiswürfel und eine Mischung Instant-Tee hinein. Seinen Brief ließ er auf der Arbeitsplatte liegen, doch bevor er Sophie Millstein ihr Glas zurückbrachte, blieb er stehen, lud seinen Revolver wieder mit den fünf Kugeln aus seiner Hosentasche. Er hob den Kopf und sah, wie die alte Frau ins Leere starrte, als nähmen vor ihrem geistigen Auge Erinnerungen Gestalt an. Er spürte, wie ihn eine seltsame Erregung und ein Gefühl der Dringlichkeit packte. Sophie Millsteins Angst schien ihr die Kehle zuzuschnüren und wie dichter Rauch über dem Raum zu liegen. Er atmete tief durch und eilte an ihre Seite.
»Jetzt trinken Sie das erst mal«, sagte er wie zu einem kranken Kind. »Und dann schildern Sie in Ruhe, was los ist.«
Sophie Millstein nickte und nahm ihr Glas in beide Hände, um die schaumige braune Flüssigkeit mit gierigen Schlucken hinunterzuspülen. Sie holte tief Luft und drückte sich das kühle Glas an die Stirn. Simon Winter sah, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
»Er bringt mich um«, beteuerte sie wieder. »Und ich will nicht sterben.«
»Mrs. Millstein, bitte«, erwiderte Simon Winter. »Wer?« Sophie Millstein lief ein Schauer über den ganzen Körper, dann flüsterte sie auf Deutsch: »Der Schattenmann.«
»Wer? Ist das ein Name?«
Sie funkelte ihn an. »Niemand kannte seinen Namen, Mr. Winter, jedenfalls niemand, der überlebt hat.«
»Aber wer ... «
»Er war ein Gespenst.«
»Ich verstehe nicht ... «
»Ein Dämon.«
»Wer?«
»Er war teuflisch, Mr. Winter, so teuflisch, dass es Ihre Vorstellungskraft übersteigt. Und jetzt ist er hier. Wir wollten es nicht glauben, aber da lagen wir falsch. Mr. Stein hat uns gewarnt, aber wir kannten ihn nicht, wieso sollten wir ihm also glauben?«
Sophie Millstein zitterte sichtlich.
»Ich bin alt«, flüsterte sie. »Ich bin alt, aber ich will nicht sterben.«
Simon Winter hob die Hand. »Mrs. Millstein, bitte, Sie müssen das erklären. Lassen Sie sich Zeit und sagen Sie mir, um wen es geht und wieso Sie solche Angst haben.«
Sie nahm noch einen ausgiebigen Schluck von ihrem Eistee und stellte das Glas vorsichtig ab. Dann nickte sie langsam und versuchte, sich ein wenig zu fassen. Als sie die Hand erneut an die Stirn hob, strich sie sich mit den Fingern sachte über die Brauen, als könne sie auf diese Weise eine verhärtete Erinnerung lösen, und dann wischte sie die Tränen weg, die in ihren Augen standen. Sie holte tief Luft und blickte zu ihm auf. Er sah, wie sie die Hand bis zum Hals sinken ließ, wo sie für einen kurzen Moment die Halskette berührte, die sie trug. Sie war auffällig; ein dünnes Goldkettchen mit einem Schildchen daran, in das ihr Vorname eingraviert war, doch was dieses Halsband von denen unterschied, die jeder zweite Teenager trug, war ein Paar kleine Diamanten an den beiden Enden des S in Sophie. Simon Winter wusste, dass ihr verstorbener Mann dafür zu ihrem Geburtstag tief in seine bescheidene Pensionskasse gegriffen hatte, bevor er an Herzversagen starb, und genauso wie den Ehering an ihrem Finger legte sie es niemals ab.
»Es ist so schwer, das zu erzählen, wissen Sie. Seitdem sind so viele Jahre vergangen, dass es mir manchmal vorkommt wie ein böser Alptraum. Doch der Alptraum ist wirklich passiert, Mr. Winter, nur ist es fünfzig Jahre her. «
»Erzählen Sie weiter, Mrs. Millstein.«
»1943 waren wir, meine Familie - Mama, Papa, mein Bruder Hansi -, immer noch in Berlin. Versteckt ... «
»Fahren Sie fort.«
»Es war ein entsetzliches Leben. Nicht eine Sekunde, nicht einen einzigen Herzschlag lang konnten wir uns sicher fühlen. Es gab nicht viel zu essen, und wir froren die ganze Zeit, und jeden Morgen dachten wir beim Erwachen, das wäre unsere letzte gemeinsame Nacht gewesen. Mit jeder Sekunde, so kam es uns vor, wuchs die Gefahr. Ein Nachbar konnte neugierig werden. Ein Polizist verlangte vielleicht nach den Papieren. Stieg man in den Straßenbahnwaggon, begegnete man womöglich jemandem, der einen aus den Vorkriegsjahren, der Zeit vor den gelben Sternen kannte. Vielleicht rutschte einem auch irgendetwas heraus, Mr. Winter, eine Belanglosigkeit. Oder es genügte eine Geste, eine Tonlage, das geringste Anzeichen von Nervosität, irgendetwas, das einen verriet. Auf der ganzen Welt finden Sie keine misstrauischeren Menschen als die Deutschen. Ich muss es wissen. Ich war mal eine von ihnen. Das genügte - das geringste Zögern oder ein ängstlicher Blick, irgendetwas konnte verraten, dass man nicht dazugehörte. Und dann war es aus. 1943 wussten wir Bescheid. Verhaftung bedeutete den Tod. So einfach war das. Manchmal lag ich nachts wach und betete, dass irgendein britischer Bomber danebentreffen und seine Ladung direkt über uns abwerfen würde, so dass wir alle zusammen gehen würden und die Angst endlich ein Ende hätte. Zitternd lag ich dann da und betete darum, zu sterben. Dann kam mein Bruder Hansi oft herüber und hielt mir die Hand, bis ich einschlief. Er war so stark. Und einfallsreich. Wenn wir nichts zu essen hatten, trieb er irgendwo Kartoffeln auf. Wenn wir keinen Unterschlupf hatten, fand er für uns irgendwo eine neue Wohnung oder einen Keller, wo wir keine Fragen zu fürchten hatten und wieder eine Woche oder länger bleiben konnten - immer noch zusammen, immer noch am Leben.«
»Was ist mit Ihrem ... «
»Er ist umgekommen. Sie sind alle umgekommen.« Sophie Millstein holte tief Luft.
»Wie gesagt, er hat sie ermordet. Er hat uns gefunden, und sie sind gestorben.«
Simon Winter wollte eine weitere Frage einwerfen, doch sie wehrte mit zitternder Hand ab.
»Lassen Sie mich das zu Ende bringen, solange ich noch die Kraft dazu habe. Es gab so vieles, das einem Angst und Schrecken einjagte, doch das Schlimmste waren vermutlich die Greifer.«
»Die Greifer?«
»Juden wie wir. Juden, die für die Gestapo arbeiteten. Da gab es dieses Haus in der Iranischen Straße. Eins von diesen schrecklichen grauen Gebäuden, wie sie die Deutschen so lieben. Der jüdische Fahndungsdienst, wie sie das nannten. Da hat er gearbeitet, wie all die anderen auch. Ihre eigene Freiheit hing davon ab, uns aus unseren Löchern zu holen.«
»Und Sie glauben, dass Sie heute diesen Mann gesehen haben ... «
»Einige waren berühmt-berüchtigt, Mr. Winter. Rolf Isaak-sohn, der war jung und arrogant, und dann die schöne Stella Kübler. Sie sah wie eines ihrer nordischen Mädel aus. Sie hat ihren eigenen Mann ausgeliefert. Und es gab andere. Sie nahmen sich die Sterne ab und zogen wie Raubvögel durch die Stadt.«
»Der Mann heute ... «
»Der Schattenmann. Er suchte uns alle in unseren Alpträumen heim. Es ging das Gerücht, er würde einen Juden in einer Menschenmenge ausmachen, weil ihm auch nicht das zarteste Flackern in den Augen oder der leiseste Hauch von Nervosität entging. Vielleicht erkannte er einen sogar am Gang oder am Geruch. Wir hatten keine Ahnung. Wir wussten nur, wenn er kam, klopfte der Tod an die Tür. Man erzählte sich, er stünde dort in der Dunkelheit, wenn sie einen holten, und er sähe dabei zu, wenn sie seine Beute im frühen Morgengrauen auf die Güterzüge nach Auschwitz verfrachteten. Aber, wissen Sie, man konnte nicht sicher sein, denn niemand sah sein Gesicht und keiner kannte seinen Namen. Falls man sein Gesicht zu sehen bekam, so hieß es, dann brachten sie einen in den Keller des Gefängnisses Plötzensee; dort herrschte ewige Nacht, und niemand kam je wieder heraus. Und er war dort,...
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
In den frühen Abendstunden einer drückend schwülen Hochsommernacht in Miami Beach beschloss Simon Winter, ein alter Mann, der sich über viele Jahre beruflich mit dem Tod beschäftigt hatte, seinem Leben ein Ende zu setzen. Auch wenn es ihm leidtat, anderen einige Drecksarbeit zu hinter-lassen, begab er sich langsam zu einem Wandschrank im Schlafzimmer und zog eine verkratzte, kurzläufige Detective Special aus einem ausgeblichenen, schweißverfleckten Lederholster. Mit Mühe klappte er die Trommel auf, holte fünf der sechs Kugeln heraus und steckte sie sich in die Hosentasche. Auf diese Weise, hoffte er, wäre jeder Zweifel an seinen Ab-sichten ausgeräumt.
Ohne den Revolver aus der Hand zu legen, begann er, nach Stift und Papier zu kramen, um einen Abschiedsbrief zu schreiben. Zu seinem Ärger nahm das einige Minuten in An-spruch, und erst nachdem er in der Schublade seiner Kommode einige weiße, gebügelte Taschentücher, Krawattennadeln und Manschettenknöpfe zur Seite geschoben hatte, entdeckte er ein einziges, unbeschriebenes Blatt blauliniertes Notiz-papier und einen billigen Kugelschreiber. Nun denn, dachte er, dann fass dich eben kurz.
Während er überlegte, ob er noch etwas vergessen hatte, machte er vor dem Spiegel halt und betrachtete sich. Recht passabel. Sein kariertes Freizeithemd war ebenso wie seine khakifarbene Hose, die Socken und Unterwäsche sauber. Vielleicht sollte er sich rasieren, überlegte er, als er mit dem Rücken der Hand, in der er die Waffe hielt, über die Stoppeln strich, doch dann fand er es übertrieben. Ein Haarschnitt hätte nicht geschadet, doch stattdessen strich er sich nur einmal mit der Hand durch den weißen Schopf. Keine Zeit, dachte er. Plötzlich fiel ihm wieder ein, dass er als Junge einmal gehört hatte, die Haare würden auch nach dem Tod noch weiterwachsen.
Haare und Nägel. Er wünschte sich, dass es stimmte. So etwas gehörte zu den Geschichten, die unter Kindern in heiligem Ernst als Flüsterpost die Runde machten und in dunklen Zimmern unweigerlich zu Gespenstergeschichten überleite-ten. Zu den Widernissen des Älterwerdens, dachte Simon Winter, gehörte der Verlust der Mythen.
Er wandte sich vom Spiegel ab und warf einen flüchtigen Blick durchs Zimmer - das Bett war gemacht, in der Ecke lag kein Haufen schmutziger Wäsche. Seine Einschlaflektüre - Taschenbuchausgaben von Krimis und Abenteuergeschichten - war auf dem Nachttisch gestapelt und wenn auch nicht eben ordentlich, so doch einigermaßen vorzeigbar, etwa so wie er selbst. Jedenfalls ging das Maß an Durcheinander nicht über das hinaus, was man von einem alten Junggesellen oder, nebenbei gesagt, auch von einem Kind erwarten durfte. Die Parallele beschäftigte ihn eine Weile und gab ihm am Ende das unverhoffte Gefühl, irgendwie werde alles gut.
Durch den Türspalt ins Badezimmer fiel sein Blick auf das Fläschchen Schlaftabletten, und er spielte mit dem Gedanken, statt seines alten Dienstrevolvers diese zu verwenden, fand es dann aber feige, sich auf solche Weise umzubringen. Innerlich redete er sich gut zu: Du solltest so viel Schneid aufbringen, in den Lauf deiner Waffe zu blicken, und dir nicht einfach einen Haufen Pillen reinwerfen, um sanft, doch unwiderruflich hinüberzudämmern. Er ging in die Küche. Im Ausguss stand der Abwasch eines Tages. Während er darauf starrte, krabbelte eine riesige Schabe auf den Rand eines Tellers und rührte sich nicht mehr vom Fleck, als verfolgte sie gespannt, was Simon Winter als Nächstes vorhatte.
»Widerliche Biester«, knurrte er laut, »verfluchte Kakerlake.« Er hob den Revolver und zielte. »Peng«, sagte er. »Ein einziger Schuss. Hast du übrigens gewusst, Viech, dass ich immer die besten Trefferquoten erreicht habe?«
Bei dem Gedanken seufzte er, bevor er mit einem Lächeln die Waffe und das Blatt Papier auf die Arbeitsplatte aus billigem, weißem Linoleum legte, sich das Geschirrspülmittel griff und zügig mit dem Abwasch begann. »Sauberkeit ist das halbe Leben.«
Zwar kam es ihm ein wenig albern vor, als letzten Akt auf Erden Teller zu spülen, andererseits war ihm klar, dass es an jemand anderem hängenbleiben würde, falls er es unterließ. Das wiederum war nicht seine Art: Er machte keine halben Sachen, die andere zu Ende führen mussten.
Die Kakerlake roch wohl die Seifenlauge, spürte, dass sie sich in tödlicher Gefahr befand, ergriff quer über die Platte die Flucht und entkam seinem halbherzigen Schlag mit dem Schwamm.
»Na ja, du magst davonlaufen, aber entkommen wirst du mir nicht.«
Er griff unter den Ausguss und fand eine Dose Insektenspray. Er schüttelte sie energisch, dann richtete er einen Strahl in die ungefähre Richtung, in die das Insekt sich verkrochen hatte. »Wir werden wohl zusammen das Zeitliche segnen, Ungeziefer«, stellte er fest. Die Wikinger, fiel ihm wieder ein, töteten einen Hund und legten ihn einem Mann zu Füßen, bevor sie ihn bestatteten, damit ihm das Tier auf dem Weg nach Walhall Gesellschaft leistete. Konnte man sich einen besseren Gefährten denken als einen Hund, der wahrscheinlich darüber hinwegsehen würde, dass die barbarische Sitte seinem eigenen Leben ein vorzeitiges Ende setzte? Wenn ich einen Hund besäße, dachte Simon Winter, dann könnte ich ihn zuerst er-schießen, doch ich habe keinen, und außerdem würde ich es nicht tun, also muss ich als Weggefährtin zu meinem Walhall mit einer Kakerlake vorliebnehmen.
Er schmunzelte bei der Frage, worüber er und das Ungeziefer sich wohl unterhalten würden; bei Lichte betrachtet gab es durchaus Gemeinsamkeiten, denn sie hatten beide in den weniger appetitlichen Ritzen und Winkeln des alltäglichen Lebens herumgewühlt. Mit einer schwungvollen Geste wischte er den Ausguss sauber, legte den Schwamm in die Ecke und kehrte mit dem Blatt Papier sowie dem alten Revolver in sein bescheidenes Wohnzimmer zurück. Er setzte sich auf das fadenscheinige Sofa und legte die Waffe vor sich auf den Tisch. Dann nahm er das Blatt sowie den Kugelschreiber, dachte einen Moment nach und schrieb:
Erklärung
Ich bin von eigener Hand gestorben.
Ich bin alt, müde und einsam und habe schon seit Jahren nichts Nützliches mehr geleistet.
Tja, das stimmt alles, dachte er, aber die Welt scheint mit jedem Toten ganz gut zurechtzukommen, demnach besagt das hier nicht viel. Er tippte sich ein paarmal mit der Kugelschreiberspitze an die Zähne. Sag, was du wirklich meinst, mahnte sich Simon Winter in schulmeisterlicher Manier. Zügig schrieb er weiter:
Ich fühle mich wie jemand, der allzu spät bemerkt, dass es an der Zeit ist, abzutreten.
Schon besser, dachte er mit einem trockenen Lächeln. Und nun zum geschäftlichen Teil. Ich habe etwas über fünftausend Dollar auf einem Sparkonto bei der First Federal. Ein Teil davon soll darauf verwendet werden, diese alten Knochen zu verbrennen. Falls jemand die Freundlichkeit besäße, meine Asche am Government Cut ins Wasser zu streuen, wüsste ich das zu schätzen.
Simon Winter hielt im Schreiben inne. Es wäre schön, überlegte er, wenn in dem Moment ein Schwarm Tarpune, die sich dort tummelten, an die Oberfläche käme, um nach Luft zu schnappen und sich auf die Meerbrassen oder die kleinen Makrelen zu stürzen. Das sind prächtige Tiere. Mit ihren riesigen Silberschuppen und den mächtigen, sensenförmigen Flossen erinnern sie an fahrende Ritter im Panzerhemd. Sie gehören zu einem urzeitlichen Stamm, der die Jahrhunderte unverändert überdauert hat, und einige von denen sind wahrscheinlich so alt wie ich. Ihm kam die Frage in den Sinn, ob ein Tarpun jemals des Schwimmens müde wurde, und wenn ja, was er dann tat. Vielleicht drosselte er nur das Tempo und hatte es nicht so eilig, wenn ein Hammerhai den Schwarm verfolgte. Wäre nicht das Schlechteste, als Tarpun wiedergeboren zu werden. Er schrieb weiter:
Das verbleibende Geld sollte an den Witwenfonds der Polizeidienststelle Miami Beach gehen, oder wie auch immer das heute heißt. Es sind keine Angehörigen zu benachrichtigen. Ich hatte einen Bruder, der jedoch gestorben ist, und von seinen Kindern habe ich seit Jahren nichts gehört.
Ich habe das Leben genossen und das eine oder andere zuwege gebracht. Falls jemand interessiert ist: Im Schlafzimmer ist ein Album mit ein paar Zeitungsausschnitten zu meinen alten Fällen.
Zuletzt gestattete er sich ein kleines Eigenlob, bevor er mit einer Entschuldigung schloss:
Es gab einmal eine Zeit, da konnte ich es mit jedem aufnehmen.
Tut mir leid, solche Umstände zu machen.
Er überlegte, las die Nachricht noch einmal durch und unterzeichnete mit einem eleganten Namenszug:
Simon Winter. Detective a. D.
Er holte einmal tief Luft und hob die Hand in Augenhöhe. Sie war ruhig. Er betrachtete seine Zeilen. Auch in seiner Schrift war kein Zittern zu erkennen. Dann wollen wir mal, dachte er. Du hast schon Schlimmeres durchgemacht. Worauf wartest du also noch?
Er packte die Waffe und legte den Finger an den Abzug. Jede Phase im Bewegungsablauf spürte er bis ins kleinste Detail. Die Spannung in seinem Finger am Abzug aktivierte die Seh-ne an seinem Handrücken. Als er die Waffe hob und das Handgelenk ausrichtete, um sie ruhig zu halten, fühlte er die Muskeln im Unterarm. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Im Kopf stieg ihm eine Flut von Erinnerungen auf. Er befahl seinen Augenlidern, sich zusammenzukneifen, um keinen Funken Zweifel zuzulassen. Also, dachte er. Los. Es ist so weit.
Simon Winter drückte sich den Lauf seines Revolvers gegen den Gaumen und fragte sich, ob er den tödlichen Schuss noch spüren würde. Und in dieser Sekunde des Zauderns, dieser winzigen Verzögerung wurde die Stille, die er um sich legte, durch ein lautes, energisches Klopfen an der Wohnungstür erschüttert.
Das Geräusch krachte in seine selbstmörderische Konzentration und ließ ihn heftig zusammenzucken.
Im selben Moment wurden ihm Dutzende kleiner Empfindungen bewusst, als forderte die Welt mit einem Schlag seine Aufmerksamkeit. Vom Druck, den er mit seinem Finger am Abzug ausübte, schien ihm jeden Moment die Haut zu platzen; wo er mit einem glühenden Schmerz und rascher Umnachtung gerechnet hatte, schmeckte er jetzt das beißende Metall des Revolverlaufs und würgte vom stechenden Geruch der öligen Reinigungsmittel, mit denen er die Waffe gesäubert hatte. Seine Zungenspitze stieß an den eisigen Stahl des Abzugbügels, und er hörte seinen pfeifenden Atem.
In der Ferne dröhnte der Dieselmotor eines Busses vorbei. Er überlegte, ob es der A-30 Richtung Ocean Drive oder der A-42 auf dem Weg zur Collins Avenue war. An der Fensterscheibe summte in Panik ein Insekt, und ihm fiel ein, dass an einem der Fliegengitter ein Riss zu flicken war. Er öffnete die Augen und ließ die Waffe sinken.
Es klopfte ein zweites Mal und noch energischer an der Tür. Die Eindringlichkeit setzte seine Entschlusskraft außer Gefecht. Er legte seinen Revolver auf den Abschiedsbrief und stand auf.
Draußen hörte er jemanden rufen: »Mr. Winter, bitte ... «
Die Stimme klang schrill und verängstigt. Die Stimme klang vertraut.
Es ist schon dunkel, dachte er. Seit zwanzig Jahren hat nach Sonnenuntergang niemand mehr an meine Tür geklopft. Für einen Moment vergaß er, dass ihm das Alter in den Knochen saß, und eilte zur Tür. »Ich komm ja schon, ich komm ja schon ... «, rief er laut, bevor er mit der vagen Hoffnung öffnete, etwas Bedeutsames hereinzubitten.
Die ältere Frau, die vor der Wohnung stand, versprühte Angst wie einen Funkenregen. Ihr Gesicht war blass und starr, aufs äußerste angespannt, und sie sah Simon Winter derart hilflos an, dass er wie unter einer starken Böe einen Schritt zurücktrat und einen Moment brauchte, bis er seine Nachbarin, die seit nunmehr zehn Jahren ihm gegenüber wohnte, wiedererkannte.
»Mrs. Millstein, was ist denn passiert?«
Die Frau streckte die Hand aus und packte ihn am Arm, während sie immer wieder den Kopf schüttelte, als wollte sie ihm mitteilen, dass ihr vor Angst jedes Wort im Halse stecken bleibe.
»Fehlt Ihnen etwas?«
»Mr. Winter«, brachte die Frau schließlich langsam zwischen kaum geöffneten Lippen heraus, »Gott sei Dank sind Sie zu Hause. Ich bin so allein, und ich wusste mir nicht zu helfen ... «
»Kommen Sie rein, kommen Sie rein. Was ist passiert?« Sophie Millstein trat schwankend näher. Wie ein Bergsteiger, der in den Abgrund zu stürzen droht, grub sie Simon Winter die Nägel in den Arm.
»Ich hab's zuerst nicht geglaubt, Mr. Winter«, fing Sophie Millstein leise an, doch dann gewann sie an Fahrt, bis sich ihre Worte förmlich überschlugen. »Ich glaube, keiner von uns konnte es glauben. Es schien alles so lange her. Wie konnte er hier sein? Ausgerechnet hier? Nein, das schien einfach zu absurd, also hat es keiner von uns geglaubt. Weder der Rabbi noch Mr. Silver, noch Frieda Kroner. Aber wir haben uns geirrt, Mr. Winter. Er ist hier. Ich habe ihn heute selbst gesehen. Heute Abend vor der Eisdiele in der Lincoln Road Mall. Ich kam raus, und da stand er. Er hat mich nur angeblickt, Mr. Winter, und da wusste ich es. Er hat Augen wie Rasierklingen, Mr. Winter. Ich wusste nicht, was ich machen sollte. Leo hätte es gewusst. ›Sophie‹, hätte er gesagt, ›wir müssen jemanden anrufen‹, und er hätte die Nummer gleich parat gehabt. Aber Leo lebt nicht mehr, ich bin ganz allein, und jetzt ist er hier.«
Sie sah Simon Winter hilflos an.
»Er wird auch mich umbringen«, erklärte sie und schnappte nach Luft.
Simon Winter geleitete Sophie Millstein in sein Wohnzimmer und verfrachtete sie auf sein durchgesessenes Sofa. »Niemand bringt irgendwen um, Mrs. Millstein. Jetzt hol ich Ihnen erst mal was Kaltes zu trinken, und dann können Sie mir erklären, was Sie so in Panik versetzt.«
Sie sah ihn mit einem gehetzten Blick an. »Ich muss die anderen warnen!«
»Ja, schon gut. Ich werde Ihnen helfen, aber jetzt trinken Sie erst was und erzählen mir dann der Reihe nach, was los ist. « Sie machte den Mund auf, um etwas zu erwidern, doch dann fehlten ihr die Worte. Als wollte sie überprüfen, ob sie Fieber habe, legte sie die Hand an die Stirn und sagte: »Ja, ja. Eistee, falls Sie welchen haben. Es ist so heiß. Manchmal kommt es mir im Sommer so vor, als verbrauchte die Hitze sämtlichen Sauerstoff.«
Simon Winter nahm hastig seinen Abschiedsbrief und den Revolver vom Sofatisch und eilte in die Küche. Er fand ein sauberes Glas, goss Wasser, Eiswürfel und eine Mischung Instant-Tee hinein. Seinen Brief ließ er auf der Arbeitsplatte liegen, doch bevor er Sophie Millstein ihr Glas zurückbrachte, blieb er stehen, lud seinen Revolver wieder mit den fünf Kugeln aus seiner Hosentasche. Er hob den Kopf und sah, wie die alte Frau ins Leere starrte, als nähmen vor ihrem geistigen Auge Erinnerungen Gestalt an. Er spürte, wie ihn eine seltsame Erregung und ein Gefühl der Dringlichkeit packte. Sophie Millsteins Angst schien ihr die Kehle zuzuschnüren und wie dichter Rauch über dem Raum zu liegen. Er atmete tief durch und eilte an ihre Seite.
»Jetzt trinken Sie das erst mal«, sagte er wie zu einem kranken Kind. »Und dann schildern Sie in Ruhe, was los ist.«
Sophie Millstein nickte und nahm ihr Glas in beide Hände, um die schaumige braune Flüssigkeit mit gierigen Schlucken hinunterzuspülen. Sie holte tief Luft und drückte sich das kühle Glas an die Stirn. Simon Winter sah, wie ihr die Tränen in die Augen traten.
»Er bringt mich um«, beteuerte sie wieder. »Und ich will nicht sterben.«
»Mrs. Millstein, bitte«, erwiderte Simon Winter. »Wer?« Sophie Millstein lief ein Schauer über den ganzen Körper, dann flüsterte sie auf Deutsch: »Der Schattenmann.«
»Wer? Ist das ein Name?«
Sie funkelte ihn an. »Niemand kannte seinen Namen, Mr. Winter, jedenfalls niemand, der überlebt hat.«
»Aber wer ... «
»Er war ein Gespenst.«
»Ich verstehe nicht ... «
»Ein Dämon.«
»Wer?«
»Er war teuflisch, Mr. Winter, so teuflisch, dass es Ihre Vorstellungskraft übersteigt. Und jetzt ist er hier. Wir wollten es nicht glauben, aber da lagen wir falsch. Mr. Stein hat uns gewarnt, aber wir kannten ihn nicht, wieso sollten wir ihm also glauben?«
Sophie Millstein zitterte sichtlich.
»Ich bin alt«, flüsterte sie. »Ich bin alt, aber ich will nicht sterben.«
Simon Winter hob die Hand. »Mrs. Millstein, bitte, Sie müssen das erklären. Lassen Sie sich Zeit und sagen Sie mir, um wen es geht und wieso Sie solche Angst haben.«
Sie nahm noch einen ausgiebigen Schluck von ihrem Eistee und stellte das Glas vorsichtig ab. Dann nickte sie langsam und versuchte, sich ein wenig zu fassen. Als sie die Hand erneut an die Stirn hob, strich sie sich mit den Fingern sachte über die Brauen, als könne sie auf diese Weise eine verhärtete Erinnerung lösen, und dann wischte sie die Tränen weg, die in ihren Augen standen. Sie holte tief Luft und blickte zu ihm auf. Er sah, wie sie die Hand bis zum Hals sinken ließ, wo sie für einen kurzen Moment die Halskette berührte, die sie trug. Sie war auffällig; ein dünnes Goldkettchen mit einem Schildchen daran, in das ihr Vorname eingraviert war, doch was dieses Halsband von denen unterschied, die jeder zweite Teenager trug, war ein Paar kleine Diamanten an den beiden Enden des S in Sophie. Simon Winter wusste, dass ihr verstorbener Mann dafür zu ihrem Geburtstag tief in seine bescheidene Pensionskasse gegriffen hatte, bevor er an Herzversagen starb, und genauso wie den Ehering an ihrem Finger legte sie es niemals ab.
»Es ist so schwer, das zu erzählen, wissen Sie. Seitdem sind so viele Jahre vergangen, dass es mir manchmal vorkommt wie ein böser Alptraum. Doch der Alptraum ist wirklich passiert, Mr. Winter, nur ist es fünfzig Jahre her. «
»Erzählen Sie weiter, Mrs. Millstein.«
»1943 waren wir, meine Familie - Mama, Papa, mein Bruder Hansi -, immer noch in Berlin. Versteckt ... «
»Fahren Sie fort.«
»Es war ein entsetzliches Leben. Nicht eine Sekunde, nicht einen einzigen Herzschlag lang konnten wir uns sicher fühlen. Es gab nicht viel zu essen, und wir froren die ganze Zeit, und jeden Morgen dachten wir beim Erwachen, das wäre unsere letzte gemeinsame Nacht gewesen. Mit jeder Sekunde, so kam es uns vor, wuchs die Gefahr. Ein Nachbar konnte neugierig werden. Ein Polizist verlangte vielleicht nach den Papieren. Stieg man in den Straßenbahnwaggon, begegnete man womöglich jemandem, der einen aus den Vorkriegsjahren, der Zeit vor den gelben Sternen kannte. Vielleicht rutschte einem auch irgendetwas heraus, Mr. Winter, eine Belanglosigkeit. Oder es genügte eine Geste, eine Tonlage, das geringste Anzeichen von Nervosität, irgendetwas, das einen verriet. Auf der ganzen Welt finden Sie keine misstrauischeren Menschen als die Deutschen. Ich muss es wissen. Ich war mal eine von ihnen. Das genügte - das geringste Zögern oder ein ängstlicher Blick, irgendetwas konnte verraten, dass man nicht dazugehörte. Und dann war es aus. 1943 wussten wir Bescheid. Verhaftung bedeutete den Tod. So einfach war das. Manchmal lag ich nachts wach und betete, dass irgendein britischer Bomber danebentreffen und seine Ladung direkt über uns abwerfen würde, so dass wir alle zusammen gehen würden und die Angst endlich ein Ende hätte. Zitternd lag ich dann da und betete darum, zu sterben. Dann kam mein Bruder Hansi oft herüber und hielt mir die Hand, bis ich einschlief. Er war so stark. Und einfallsreich. Wenn wir nichts zu essen hatten, trieb er irgendwo Kartoffeln auf. Wenn wir keinen Unterschlupf hatten, fand er für uns irgendwo eine neue Wohnung oder einen Keller, wo wir keine Fragen zu fürchten hatten und wieder eine Woche oder länger bleiben konnten - immer noch zusammen, immer noch am Leben.«
»Was ist mit Ihrem ... «
»Er ist umgekommen. Sie sind alle umgekommen.« Sophie Millstein holte tief Luft.
»Wie gesagt, er hat sie ermordet. Er hat uns gefunden, und sie sind gestorben.«
Simon Winter wollte eine weitere Frage einwerfen, doch sie wehrte mit zitternder Hand ab.
»Lassen Sie mich das zu Ende bringen, solange ich noch die Kraft dazu habe. Es gab so vieles, das einem Angst und Schrecken einjagte, doch das Schlimmste waren vermutlich die Greifer.«
»Die Greifer?«
»Juden wie wir. Juden, die für die Gestapo arbeiteten. Da gab es dieses Haus in der Iranischen Straße. Eins von diesen schrecklichen grauen Gebäuden, wie sie die Deutschen so lieben. Der jüdische Fahndungsdienst, wie sie das nannten. Da hat er gearbeitet, wie all die anderen auch. Ihre eigene Freiheit hing davon ab, uns aus unseren Löchern zu holen.«
»Und Sie glauben, dass Sie heute diesen Mann gesehen haben ... «
»Einige waren berühmt-berüchtigt, Mr. Winter. Rolf Isaak-sohn, der war jung und arrogant, und dann die schöne Stella Kübler. Sie sah wie eines ihrer nordischen Mädel aus. Sie hat ihren eigenen Mann ausgeliefert. Und es gab andere. Sie nahmen sich die Sterne ab und zogen wie Raubvögel durch die Stadt.«
»Der Mann heute ... «
»Der Schattenmann. Er suchte uns alle in unseren Alpträumen heim. Es ging das Gerücht, er würde einen Juden in einer Menschenmenge ausmachen, weil ihm auch nicht das zarteste Flackern in den Augen oder der leiseste Hauch von Nervosität entging. Vielleicht erkannte er einen sogar am Gang oder am Geruch. Wir hatten keine Ahnung. Wir wussten nur, wenn er kam, klopfte der Tod an die Tür. Man erzählte sich, er stünde dort in der Dunkelheit, wenn sie einen holten, und er sähe dabei zu, wenn sie seine Beute im frühen Morgengrauen auf die Güterzüge nach Auschwitz verfrachteten. Aber, wissen Sie, man konnte nicht sicher sein, denn niemand sah sein Gesicht und keiner kannte seinen Namen. Falls man sein Gesicht zu sehen bekam, so hieß es, dann brachten sie einen in den Keller des Gefängnisses Plötzensee; dort herrschte ewige Nacht, und niemand kam je wieder heraus. Und er war dort,...
Übersetzung: Anke und Eberhard Kreutzer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von John Katzenbach
John Katzenbach, geboren 1950, war Gerichtsreporter für den Miami Herald und die Miami News, bevor er sich der Schriftstellerei zuwandte. Er hat in den USA bereits zehn Kriminalromane veröffentlicht, darunter die Bestseller Das Rätsel, Die Anstalt, und Der Patient, die demnächst in Hollywood verfilmt werden. Zweimal war er für den Edgar Award, den renommiertesten Krimipreis der USA, nominiert. Er lebt mit seiner Familie in Amherst, im Westen des US-Bundesstaates Massachusetts.
Bibliographische Angaben
- Autor: John Katzenbach
- 2012, 1, 592 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 386800744X
- ISBN-13: 9783868007442
Kommentare zu "Der Täter"
0 Gebrauchte Artikel zu „Der Täter“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
4 von 5 Sternen
5 Sterne 9Schreiben Sie einen Kommentar zu "Der Täter".
Kommentar verfassen