Der Tag, an dem Marilyn starb
Ein tragischer und eindrucksvoller Familienroman über Liebe, Vergebung und Schuld. Und darüber, was es bedeuten kann, ein Geheimnis zu verschweigen statt es im richtigen Moment zu offenbaren.
Am 5. August 1962 stirbt Lucy...
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Produktinformationen zu „Der Tag, an dem Marilyn starb “
Ein tragischer und eindrucksvoller Familienroman über Liebe, Vergebung und Schuld. Und darüber, was es bedeuten kann, ein Geheimnis zu verschweigen statt es im richtigen Moment zu offenbaren.
Am 5. August 1962 stirbt Lucy Coultier. Ausgerechnet am selben Tag wie Marylin Monroe.
Es war ein tragischer Unfall auf einem Segelboot. Aber was machte Lucy auf diesem Boot? Und warum war sie betrunken, obwohl sie nie einen Tropfen Alkohol angerührt hat? Lucys Kinder sind verzweifelt. Und Lucys Mann wird neben seiner Trauer auch von Gewissensbissen gequält: Er trägt noch immer dieses Geheimnis in sich, das alles für ihn und auch für Lucy verändert hat. Warum hat er ihr nie die Wahrheit über seine Vergangenheit verraten?
Lese-Probe zu „Der Tag, an dem Marilyn starb “
Der Tag, an dem Marilyn starb von Donna Milner1
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Meine Mutter starb am selben Tag wie Marilyn Monroe, nämlich am 5. August 1962. Und genau
wie im Fall des Filmstars wurde die Leiche meiner Mutter erst am folgenden Tag entdeckt.
Zu ihren Lebzeiten war die Präsenz meiner Mutter unverwechselbar. Da sie sich bis zuletzt treu blieb, haftete auch ihrem Tod etwas Dramatisches an. Jedenfalls sollte er meinen Vater zwingen, zu seiner Familie zurückzukommen.
Auch wenn er während der ganzen elf Jahre meiner Existenz allabendlich in unser zweistöckiges, eigens für Veteranen des Zweiten Weltkriegs erbautes Haus in South Vancouver zurückkehrte, war doch ein großer Teil meines Vaters nicht wirklich da.
An seine Abwesenheit war ich gewöhnt. An ihre nicht.
Im Laufe der Zeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es diese Abwesenheit war, die mich am frühen Morgen, als alles noch dunkel war, aus dem Schlaf schreckte. Tatsächlich war es wohl eher eine Windbö, die mein Fenster zum Klappern brachte, oder das Trommeln des Regens gegen die Glasscheibe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, als ich die Augen aufschlug, unbedingt aufstehen und auf den schmalen Gang zwischen den beiden Schlafzimmern hinaustreten wollte. Mit pochendem Herzen stand ich oben auf der Treppe und horchte in die Stille des Hauses hinein.
Unten ging ich durch die offene Tür am Ende der Diele ins Schlafzimmer meiner Eltern. Der vertraute Duft von Mutters Soir de Paris stieg mir in die Nase, während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ich sah mich im Raum um. Als ich in der Ecke eine Gestalt bemerkte, stockte mir der Atem. Aber es war nur ein Kleid meiner Mutter, das an der Schranktür hing. Das Zimmer war leer.
Ich stieg über die Wäschestücke, die auf dem Boden verstreut lagen, und strich mit der Hand über den weichen Stoff von Moms Kleid. Es war ihr Lieblingskleid, das sie ihre »Haut-alle-um-Sonntagsrobe« nannte, und nur dieses Kleid hängte sie immer auf einen gepolsterten Bügel.
An dem Tag, als es der Eaton's Truck bei uns ablieferte, hatte sie mich, sobald sie es angezogen hatte, in ihr Zimmer gerufen. Sie beugte sich dicht zum Spiegel, um sich die Lippen anzumalen und den kleinen Hubbel auf ihrer Nase abzudecken, dann legte sie den Kopf zur Seite und studierte ihre Wirkung. Erfreut schob sie die Bücher, die Nylonstrümpfe und den halbgefüllten Aschenbecher auf dem Toilettentisch beiseite und trat einen Schritt zurück: »Wie findest du's, Ethie? «
In meinen Augen war sie perfekt, egal, was sie trug. Aber an diesem Kleid war etwas, was ihre grünen Augen noch mehr strahlen, ihre tizianfarbenen Locken noch mehr glänzen und ihre Sommersprossen, die auch Puder nicht unsichtbar machen konnte, noch exotischer aussehen ließ. »Du siehst schön aus«, sagte ich. »Wie ein Filmstar.«
Sie beugte sich zu mir, zog mich an sich und hüllte mich in ihr neues grünes Kleid und ihr Parfüm. »Ach, Ethie«, seufzte sie, »es ist wunderbar, wenn jemand einen schön nennt. Vor allem, wenn es mein liebes Töchterchen tut. «
Ich habe wohl schon damals geahnt, dass der Kauf dieses Kleides als Strafe für irgendein Vergehen meines Vaters gedacht war. Wenn sie böse auf ihn war, bestand Moms Lösung darin, den Katalog durchzublättern und etwas zu bestellen, was sie sich nicht leisten konnten. Bei uns zu Hause kümmerte sich Dad um die Finanzen. Alles, was wir brauchten, einschließlich der wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe, wurde angeschrieben, und am Ende jedes Monats war er es, der die Rechnungen bezahlte.
Bevor meine Mutter arbeiten ging, konnte sie nur über die monatliche Familienzulage verfügen, zehn Dollar pro Kind. Irgendwie schien Dad zu glauben, dass dreißig Dollar für alle Extraausgaben reichen müssten.
»Es ist ein besonderes Kleid, oder?«, fragte Mom, und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie mit dem, was sie sah, zufrieden war. Ich nickte, war mir aber ziemlich sicher, dass sie keine Antwort erwartete.
»Es ist ein Klassiker«, sagte sie, »und ich werde gut darauf aufpassen, damit du es tragen kannst, wenn du größer bist.« Jedes Mal, wenn sie das Kleid anzog, stellte ich mir vor, dass ich es eines Tages selbst anhaben würde. Doch es sollte anders kommen.
Als ich in der Dunkelheit eine Bewegung wahrnahm, fuhr ich herum. Aber ich sah nur die zerzausten roten Locken und das erschrockene Gesicht eines elfjährigen Mädchens, das mir aus dem Spiegel entgegenstarrte.
Das Blut pochte mir in den Ohren und ich schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Am anderen Ende des Flurs sah ich ins Wohnzimmer und ins Bad. Beide Räume waren leer. Dann ging ich in Richtung Küche und sah ihn - meinen Vater, der allein im Dunkeln saß und aus dem Fenster starrte.
Irgendwie ahnte ich, dass es nicht die Zeit war, meinen kleinen Ablenkungstanz aufzuführen, mit dem ich so oft versuchte, ihn zurückzuholen, wenn er in seine Trancezustände versank.
Plötzlich zuckte das Licht von Scheinwerfern über das Fenster. Ohne seinen Blick von der Straße zu wenden, nahm Dad die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in der Untertasse aus. Ich schlich zurück in den Gang und ins Wohnzimmer hinein, wo ich mich bei den Frontfenstern an die Wand lehnte und eine Ecke der dünnen Vorhänge beiseite zog.
Am Randstein draußen stand ein schwarz-weißes Auto. Lichtgefüllte Tröpfchen bedeckten die Windschutzscheibe und machten die Insassen unkenntlich. In dem Augenblick, als die Autotüren aufgingen, teilten sich die Schlafzimmergardinen auf der anderen Straßenseite. Mit einem Ruck wurden sie wieder zugezogen, aber so, dass ein kleiner Spalt offen blieb.
Mrs Manson. Die Nachbarin, der nichts entgeht, so nannte Mom sie - oder auch eine Wichtigtuerin. Und genau wie ich war sie gerade dabei, durch ihr Guckloch zu beobachten, wie vor unserem Haus zwei Polizisten aus dem Auto stiegen.
Ich rannte aus dem Wohnzimmer und flüchtete die Treppe hinauf. Atemlos setzte ich mich auf die Stufe über der Kehre und beugte mich vor, um besser lauschen zu können.
Das Klopfen an der Tür, das unser Leben für immer verändern sollte, war leise. Schon beim ersten zögernden Pochen öffnete sich quietschend die Eingangstür.
»Howard Coulter? « Die Stimme, die den Namen meines Vaters nannte, klang sehr jung. Noch jünger als die meines ältesten Bruders Frankie, der zwanzig war. Wie das Klopfen, so klang auch diese Stimme in meinen Ohren zu sanft und zu freundlich für einen Polizisten.
Mein Vater gab keine Antwort. Nach einem Moment des Schweigens fragte eine ältere, tiefere Stimme: »Dürfen wir hereinkommen, Mr Coulter? «
Plötzlich packte mich eine Hand an der Schulter. Ich fuhr herum und sah Kipper über mir mit seinem schlaffen Mund, der versuchte, ein Wort zu bilden. Ich hob einen Finger an die Lippen. Er lächelte und ahmte meine Pssst-Geste nach. Ich deutete auf die Stufe neben mir, und er ließ sich mit seinem großen Hintern darauf plumpsen. Obwohl drei Jahre älter, war mein Bruder mit seiner schweren Stehaufmännchenfigur kleiner als ich. Er legte seinen kurzen Arm um meine Schulter: Auch wenn er nicht begriff, was vor sich ging, freute er sich doch, Teil einer Verschwörung zu sein. Wir müssen ein merkwürdiges Paar abgegeben haben, wie wir so in der frühmorgendlichen Dunkelheit dasaßen: ich in meiner Unterwäsche, eine Haarlocke zwischen den Fingern drehend, und mein grinsender vierzehnjähriger Bruder in seinem blauen Teddybären-Pyjama und dem braunen Filzhut auf dem Kopf.
Dieser Hut mit der hochstehenden Krempe war fast mit Kipper verwachsen. Er nahm ihn nur zum Schlafen ab. Der Hut hing dann auf seinem Bettpfosten, bereit, in dem Augenblick, in dem Kipper aufwachte, auf seinem Kopf zu landen. Er hatte Dads Hut - ein Geburtstagsgeschenk von Mom - schon vor Jahren geerbt. Dad hatte ihn nie getragen.
Unten im Eingang wiederholte die allzu junge Stimme den Namen meines Vaters, und ich spürte, wie mich bei dem mitfühlenden Ton die Angst packte. Ich beugte mich vor und bemühte mich, um die Ecke zu schielen. Da fühlte ich eine andere Hand auf meiner Schulter, und schon zwängte sich mein Bruder Frankie, ohne Hemd und mit bloßen Füßen, zwischen Kipper und mir hindurch. Seine honigblonden Haare, die normalerweise zu einem perfekten Entenschwanz gekämmt waren, standen ihm wie Flügel vom Kopf ab. Ich konnte noch die Brylcreem riechen, ein Überbleibsel seines Rendezvous am Abend zuvor. Ohne stehen zu bleiben, sagte er: »Geht wieder ins Bett!«, und zog, während er die Treppen hinuntersprang, den Reißverschluss seiner Jeans hoch.
Kipper stand auf, wie stets bereit, Frankie widerspruchslos zu gehorchen. Gewöhnlich tat ich das auch. Aber dieses Mal nicht. Ich ging Frankie hinterher. Unten stand mein Vater regungslos da. Er wirkte klein und zusammengefallen in dem unbeleuchteten Eingang. Seine Hand lag wie angefroren auf dem Knauf der offenen Tür zur Eingangsveranda. Draußen prasselte im schwachen Morgenlicht der Regen auf die beiden Polizisten nieder.
2
Ich wusste, dass er anders war. Schon mit sechs Jahren war mir bewusst, dass mein
Vater nicht so war wie andere Väter. Andere Väter saßen nicht herum und starrten auf die Wand, auf einen Punkt ein paar Zentimeter über dem Fernsehgerät. Sie tauchten nicht regelmäßig in eine Welt des Schweigens ab und irrten auch nicht auf langen Wanderungen durch den Regen von Vancouver. Mein Vater verschwand manchmal für Stunden, ja sogar für ganze Tage, und kehrte von diesen Reisen mit müden Augen und bis auf die Knochen durchnässt zurück, aber immer irgendwie besserer Laune, so als hätte der Regen seine Stimmung ebenso aufgehellt, wie er die Luft der Stadt klärte.
Ich wusste, dass andere Väter mit ihren Söhnen Fangen spielten. Neidisch beobachtete ich, wenn sie ihre Töchter auf die Schultern hoben und Huckepack in ihren Gärten spazieren trugen. Und ich wusste, dass sie ihre Kinder wirklich wahrnahmen. Bei meinem Vater war ich mir da nicht immer sicher.
In meinem ersten Schuljahr erlaubte mir Mom, bis zum Ende der Barclay Street zu laufen und dort auf ihn zu warten, wenn er von der Arbeit im Sägewerk heimkam. Jeden Abend stand ich ungeduldig da, bis mein gut aussehender Vater, in dessen schütteren braunen Haaren noch Sägemehl hing, aus dem Bus stieg. Und jeden Abend bemerkte ich für einen Sekundenbruchteil Verwirrtheit in seinen Augen, wenn er mich dort stehen sah. Dann sagte er rasch: »Ach hallo, Ethie.« Er setzte mir seinen Schutzhelm auf und reichte mir seinen Henkelmann, der nach Metall und Sardinensandwich roch. Auf dem Nachhauseweg schlenkerte ich das Gefäß in der einen Hand, während ich mich mit der anderen an seine klammerte. Er tat so, als freute er sich, mich wiederzusehen.
Ich begriff früh, warum mein Vater so von der Welt entrückt war. Oder zumindest glaubte ich es zu wissen.
Es war »der Krieg«. Er hing bei uns zu Hause in der Luft wie ein Phantom. Er lauerte hinter dem leeren Blick meines Vaters und in den Whiskeyflaschen oben auf dem Kühlschrank. Manchmal schrie Dad mitten in der Nacht in seinen Albträumen und weckte mit seiner Raserei das ganze Haus. Für diese Fälle hielt Mom einen Besen neben ihrem Bett bereit. Einmal, nicht lange nach seiner Heimkehr aus dem Krieg, hatte sie den Fehler gemacht, ihn zu berühren, während er gegen die Schreckgespenster ankämpfte, die ihn im Schlaf quälten. Ein heftig um sich schlagender Arm traf sie direkt zwischen die Augen, brach ihr das Nasenbein und meinem Vater das Herz, erzählte sie. Also sprang sie in den folgenden siebzehn Jahren, wenn er neben ihr gegen seine Schreckensvisionen kämpfte, aus dem Bett und versetzte ihm einen Stoß mit dem Besenstiel. Sie legte sich erst wieder hin, wenn sie sicher war, dass er richtig wach war.
Dann lag ich oben in meinem Zimmer und lauschte, wie sie ihm in ihrer piepsigen Singstimme zusummte. Am nächsten Tag sahen die Augen meines Vaters leer und trocken aus, als warteten sie auf den nächsten Regen, der sie wieder beleben würde.
»Es ist der Krieg«, vertraute Mom Besuchern mit gedämpfter Stimme an, wenn sie versuchte, ihnen seine plötzlichen Rückzüge zu erklären. Als ich noch sehr klein war, hörte ich Mom und Frankie diese Worte im Zusammenhang mit den Absencen meines Vaters so oft sagen, dass ich »den Krieg« für eine Person hielt. Aber bald lernte ich, dass es nur Erinnerungen waren. Erinnerungen, die mein Vater mit niemandem teilte.
Auch wenn unser Haus in Fraserview, wie all die gleich aussehenden Häuser für Veteranen in diesem Viertel von South Vancouver, gemeinhin als »Kriegshaus« bezeichnet wurde, redeten wir selten vom Krieg. Und nie, wenn mein Vater da war. Der Krieg lauerte als düsteres Gespenst in den Winkeln unseres Lebens, bereit, jederzeit ohne Vorwarnung aufzutauchen und meinen Vater so lange in seinem stummen Griff zu halten, bis er nach seinen endlosen Spaziergängen durch die Stadt zurückkehren konnte. Als ich in die Grundschule kam, gewöhnte ich mir an, immer dann, wenn das Licht in den blauen Augen meines Vaters zu erlöschen begann, um Regen zu beten.
Es dauerte nie lange, bis meine Gebete erhört wurden.
»Niemand würde über das Wetter in Vancouver klagen, wenn er jemals in Tahsis gewohnt hätte«, sagte meine Mutter oft. »Dort war es wie in einer Autowaschanlage.«
Vor meiner Geburt hatte unsere Familie an der Nordwestküste von Vancouver Island gelebt. Mom sagte, sie habe immer vermutet, dass Dad nach seiner Rückkehr aus dem Krieg einen Job in einer besonders regenreichen Gegend gesucht habe. Als ein solcher Ort bot sich Tahsis an. Ich hatte Bilder gesehen und Moms Geschichten über die entlegene Stadt mit ihrer Holz verarbeitenden Industrie gehört, konnte mir aber kaum vorstellen, in einer Stadt zu leben, die nur per Schiff oder Wasserflugzeug zu erreichen war.
Einmal hörte ich Tante Mildred, Moms Schwester, sagen, die traumatische Flucht meiner Mutter von Tahsis nach Victoria an dem Tag, an dem mein Bruder geboren wurde, sei der Grund dafür gewesen, dass Kipper so auf die Welt kam, »wie er war«.
Ich erinnere mich, dass mir ihre Worte so große Angst machten, dass ich von der Wohnzimmercouch aufblickte und aufhörte, Kipper vorzulesen. Er saß neben mir und zog seinen Hut bis über die Augen herunter und seufzte schwer.
In der Küche, mit dem Rücken zu mir, saß Tante Mildred am Tisch. Sie hatte noch ihren Regenmantel an. Entweder muss ihr unser Haus zu kalt vorgekommen sein, oder sie fürchtete, ein Katzen- oder Hundehaar könnte an ihren teuren Kleidern hängen bleiben. Jedenfalls ließ sie immer ihren Mantel an, als wäre sie auf dem Sprung. Sie kam meistens dann zu Besuch, wenn Dad bei der Arbeit war.
Auf der anderen Seite des Tisches runzelte Mom die Stirn und blickte ihre Schwester über den Rand der Teetasse an. »Ich hab dir doch gesagt, dass das Down-Syndrom nichts mit den Umständen seiner Geburt zu tun hat«, seufzte sie. »Kippers Schicksal hat sich im Augenblick seiner Zeugung entschieden. Der Himmel hat es sich nicht im letzten Augenblick anders überlegt.«
»Leider«, murmelte meine Tante.
»Mildred! « In Mutters Stimme schwang eine Warnung mit.
Meine Tante schwieg einen Moment. Aber sie konnte sich nicht zurückhalten und hakte noch einmal nach: »Ich meine ja nur, Lucy, dass dieser Junge in eine Anstalt gehört. Je länger du damit wartest, umso schwieriger wird es. Es wäre für alle besser, und er wäre unter Seinesgleichen auch glücklicher.«
»Seinesgleichen - das sind wir«, sagte Mom. Dann sah sie an meiner Tante vorbei und fing meinen Blick auf. Sie lächelte. »Und er ist glücklich bei uns, Gott sei Dank.«
Das stimmte. Meistens.
Kippers wirklicher Name war Christopher Adam. »Nach dem heiligen Christophorus«, sagte Mom. Obwohl sie nicht katholisch war, hielt sie es für angebracht, ihren Sohn nach dem Schutzpatron der Fahrenden und Reisenden zu nennen, »denn auf dieser stürmischen Überfahrt nach Victoria Harbour hat jemand die Hand über mich gehalten«.
Sie hatte mir erzählt, dass ich für seinen Spitznamen verantwortlich sei. »Sobald du gehen konntest, bist du immer hinter ihm hergewackelt und hast seinen Namen gerufen. Kipper, das war es, was aus dir herauskam.« Der Name blieb an ihm hängen. Und bis auf Tante Mildred nannten ihn alle so.
Meinen Spitznamen hatte ich wiederum ihm zu verdanken. Da er mit seiner Zunge das »L« in Ethel nicht aussprechen konnte, wurde ich Ethie. Ein fairer Austausch und ein Geschenk, für das ich ihm ewig dankbar sein werde.
Wer außer Lucy Coulter hätte sein Töchterchen auch ausgerechnet Ethel genannt? Als ich alt genug war, um mich zu beklagen, erklärte mir Mom, sie habe mich Lily nennen wollen, aber Dad sei damit nicht einverstanden gewesen. »Es war, soweit ich mich erinnere, das einzige Mal, dass dein Vater sich auf die Hinterbeine gestellt hat.«
Kurz vor meiner Geburt schenkte Tante Mildred unserer Familie ihren alten Schwarzweißfernseher. Moms erstes Fernsehgerät. Und die erste Sendung, die sie ansah, war die erste Folge von I Love Lucy. Niemand außer meiner Mutter hätte aus all diesen Premieren das Zeichen herausgelesen, dass sie, wenn sie ein Mädchen bekäme - das sie nicht Lily nennen durfte -, es nach Lucy Riccardos Busenfreundin Ethel nennen sollte. Jedes Mal, wenn die Sendung anfing, zwitscherte Mom: »Da sind wir schon: Lucy und Ethel! «, als müsste ich daran erinnert werden, woher mein Name kam. Und jedes Mal drückte ich mir stöhnend ein Sofakissen aufs Gesicht. Wenn Kipper da war, schob er sich seinen Hut übers Gesicht und stöhnte ebenfalls.
Mein Bruder ahmte die Gefühle der Menschen nach, die er liebte. Das galt besonders für mich. Wenn ich lachte, lachte auch er, laut und bellend vor Freude. Wenn ich weinte, heulte er mit mir zusammen, schluchzte und schnappte nach Luft. Die Art, wie er meine Gefühle nachempfand, war so unmittelbar und intensiv, dass ich mir selbst oft erst dann, wenn ich seine Reaktion sah, bewusst wurde, was ich tatsächlich fühlte. Mit der Zeit lernte ich, solche Ausbrüche zu unterdrücken, weil ich wusste, dass sie bei Kipper einen Asthmaanfall auslösen konnten.
Dad gegenüber verhielt er sich vollkommen anders. Er war ruhig und friedlich, unabhängig davon, in welcher Verfassung Dad sich befand. Mom war der Meinung, dass Kipper unseren Vater am besten verstand. Wenn Dad in seine Stimmungen verfiel, in denen er sich sozusagen abmeldete, schmiegte sich mein Bruder mit seinem gedrungenen Körper an ihn. Dann legte er den Arm um Dads knochige Schulter und tätschelte ihm den Rücken, während sie schweigend vor dem Fernseher saßen, als wären sie zusammengewachsen.
In der letzten Woche hatte es heftig zu regnen angefangen. Während der ersten Augusttage schnitt Mom Artikel aus der Daily Province aus, die über eine Rekordzahl von Unfällen mit Blechschäden berichteten; die Zahl passte zur Rekordregenmenge. In den serienmäßig gebauten Veteranenhäusern, die sich in unserer Straße aneinanderreihten, brüteten Kindergesichter hinter regenverschlierten Fensterscheiben, während die Dachrinnen verstopften und die Abwässerkanäle überliefen. Zum Spielen ins Haus verbannt, fühlten sich die Kinder um den Rest ihrer Sommerferien betrogen. Ihre Mütter empfanden das genauso. Ich hörte, wie sie sich bei ihrem wöchentlichen Kaffeeklatsch in unserer Küche darüber unterhielten, dass ihre Männer den Wetterumschwung schon im Voraus gespürt hätten. Sie empfanden einen pochenden Schmerz um das Metall, das tief in ihren Muskeln steckte. Sie fühlten ihn in ihren vernarbten Kriegswunden. Und in den Knochen, die ihnen bei der Erinnerung an die windgepeitschten Brückenköpfe und die überfrorenen Schlachtfelder Europas wehtaten. Zu ihren Gesprächen leistete Mom keinen Beitrag. Im Gegensatz zu den anderen Vätern in unserer Straße war Dad äußerlich unversehrt aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt. In unserem Keller wurden keine Tapferkeitsmedaillen, zusammen mit einer eingemotteten Uniform, aufbewahrt. Anders als seine Nachbarn freute Dad sich über den Regen.
Auf dem Höhepunkt der sommerlichen Schlechtwetterperiode, am Donnerstagnachmittag, hatte Dad seine Lederbomberjacke aus dem Garderobenschrank geholt. Obwohl sie für ihn mindestens zwei Nummern zu groß und das braune Leder längst brüchig war, trug unser Vater auf seinen Rundgängen immer diese Fliegerjacke. Er zog sie sich über die Schultern, klappte den Schaffellkragen hoch und schlüpfte aus der Tür. Während wir anderen erleichtert aufatmeten, nahm Kipper seinen gelben Regenmantel und folgte ihm. Frankie sprang auf, um ihn aufzuhalten, aber Mom winkte ihn zurück. Wenn der Regen im Lauf des Tages nachließ, kamen Dad und Kipper ausgekühlt und nass nach Hause, aber beide erklärten, hungrig zu sein.
Sie setzten sich an den Esstisch, und Kipper nahm seinen nassen Hut ab. Sein dünnes Haar, eher orangefarben als rot, stand ihm in Büscheln vom Kopf ab. Mein Vater lächelte ihn melancholisch an und nannte ihn »meinen Leutesortierer«.
Meine Mutter starb am selben Tag wie Marilyn Monroe, nämlich am 5. August 1962. Und genau
wie im Fall des Filmstars wurde die Leiche meiner Mutter erst am folgenden Tag entdeckt.
Zu ihren Lebzeiten war die Präsenz meiner Mutter unverwechselbar. Da sie sich bis zuletzt treu blieb, haftete auch ihrem Tod etwas Dramatisches an. Jedenfalls sollte er meinen Vater zwingen, zu seiner Familie zurückzukommen.
Auch wenn er während der ganzen elf Jahre meiner Existenz allabendlich in unser zweistöckiges, eigens für Veteranen des Zweiten Weltkriegs erbautes Haus in South Vancouver zurückkehrte, war doch ein großer Teil meines Vaters nicht wirklich da.
An seine Abwesenheit war ich gewöhnt. An ihre nicht.
Im Laufe der Zeit bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es diese Abwesenheit war, die mich am frühen Morgen, als alles noch dunkel war, aus dem Schlaf schreckte. Tatsächlich war es wohl eher eine Windbö, die mein Fenster zum Klappern brachte, oder das Trommeln des Regens gegen die Glasscheibe. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, als ich die Augen aufschlug, unbedingt aufstehen und auf den schmalen Gang zwischen den beiden Schlafzimmern hinaustreten wollte. Mit pochendem Herzen stand ich oben auf der Treppe und horchte in die Stille des Hauses hinein.
Unten ging ich durch die offene Tür am Ende der Diele ins Schlafzimmer meiner Eltern. Der vertraute Duft von Mutters Soir de Paris stieg mir in die Nase, während sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnten. Ich sah mich im Raum um. Als ich in der Ecke eine Gestalt bemerkte, stockte mir der Atem. Aber es war nur ein Kleid meiner Mutter, das an der Schranktür hing. Das Zimmer war leer.
Ich stieg über die Wäschestücke, die auf dem Boden verstreut lagen, und strich mit der Hand über den weichen Stoff von Moms Kleid. Es war ihr Lieblingskleid, das sie ihre »Haut-alle-um-Sonntagsrobe« nannte, und nur dieses Kleid hängte sie immer auf einen gepolsterten Bügel.
An dem Tag, als es der Eaton's Truck bei uns ablieferte, hatte sie mich, sobald sie es angezogen hatte, in ihr Zimmer gerufen. Sie beugte sich dicht zum Spiegel, um sich die Lippen anzumalen und den kleinen Hubbel auf ihrer Nase abzudecken, dann legte sie den Kopf zur Seite und studierte ihre Wirkung. Erfreut schob sie die Bücher, die Nylonstrümpfe und den halbgefüllten Aschenbecher auf dem Toilettentisch beiseite und trat einen Schritt zurück: »Wie findest du's, Ethie? «
In meinen Augen war sie perfekt, egal, was sie trug. Aber an diesem Kleid war etwas, was ihre grünen Augen noch mehr strahlen, ihre tizianfarbenen Locken noch mehr glänzen und ihre Sommersprossen, die auch Puder nicht unsichtbar machen konnte, noch exotischer aussehen ließ. »Du siehst schön aus«, sagte ich. »Wie ein Filmstar.«
Sie beugte sich zu mir, zog mich an sich und hüllte mich in ihr neues grünes Kleid und ihr Parfüm. »Ach, Ethie«, seufzte sie, »es ist wunderbar, wenn jemand einen schön nennt. Vor allem, wenn es mein liebes Töchterchen tut. «
Ich habe wohl schon damals geahnt, dass der Kauf dieses Kleides als Strafe für irgendein Vergehen meines Vaters gedacht war. Wenn sie böse auf ihn war, bestand Moms Lösung darin, den Katalog durchzublättern und etwas zu bestellen, was sie sich nicht leisten konnten. Bei uns zu Hause kümmerte sich Dad um die Finanzen. Alles, was wir brauchten, einschließlich der wöchentlichen Lebensmitteleinkäufe, wurde angeschrieben, und am Ende jedes Monats war er es, der die Rechnungen bezahlte.
Bevor meine Mutter arbeiten ging, konnte sie nur über die monatliche Familienzulage verfügen, zehn Dollar pro Kind. Irgendwie schien Dad zu glauben, dass dreißig Dollar für alle Extraausgaben reichen müssten.
»Es ist ein besonderes Kleid, oder?«, fragte Mom, und ihr Gesichtsausdruck verriet, dass sie mit dem, was sie sah, zufrieden war. Ich nickte, war mir aber ziemlich sicher, dass sie keine Antwort erwartete.
»Es ist ein Klassiker«, sagte sie, »und ich werde gut darauf aufpassen, damit du es tragen kannst, wenn du größer bist.« Jedes Mal, wenn sie das Kleid anzog, stellte ich mir vor, dass ich es eines Tages selbst anhaben würde. Doch es sollte anders kommen.
Als ich in der Dunkelheit eine Bewegung wahrnahm, fuhr ich herum. Aber ich sah nur die zerzausten roten Locken und das erschrockene Gesicht eines elfjährigen Mädchens, das mir aus dem Spiegel entgegenstarrte.
Das Blut pochte mir in den Ohren und ich schlich auf Zehenspitzen aus dem Zimmer. Am anderen Ende des Flurs sah ich ins Wohnzimmer und ins Bad. Beide Räume waren leer. Dann ging ich in Richtung Küche und sah ihn - meinen Vater, der allein im Dunkeln saß und aus dem Fenster starrte.
Irgendwie ahnte ich, dass es nicht die Zeit war, meinen kleinen Ablenkungstanz aufzuführen, mit dem ich so oft versuchte, ihn zurückzuholen, wenn er in seine Trancezustände versank.
Plötzlich zuckte das Licht von Scheinwerfern über das Fenster. Ohne seinen Blick von der Straße zu wenden, nahm Dad die Zigarette aus dem Mund und drückte sie in der Untertasse aus. Ich schlich zurück in den Gang und ins Wohnzimmer hinein, wo ich mich bei den Frontfenstern an die Wand lehnte und eine Ecke der dünnen Vorhänge beiseite zog.
Am Randstein draußen stand ein schwarz-weißes Auto. Lichtgefüllte Tröpfchen bedeckten die Windschutzscheibe und machten die Insassen unkenntlich. In dem Augenblick, als die Autotüren aufgingen, teilten sich die Schlafzimmergardinen auf der anderen Straßenseite. Mit einem Ruck wurden sie wieder zugezogen, aber so, dass ein kleiner Spalt offen blieb.
Mrs Manson. Die Nachbarin, der nichts entgeht, so nannte Mom sie - oder auch eine Wichtigtuerin. Und genau wie ich war sie gerade dabei, durch ihr Guckloch zu beobachten, wie vor unserem Haus zwei Polizisten aus dem Auto stiegen.
Ich rannte aus dem Wohnzimmer und flüchtete die Treppe hinauf. Atemlos setzte ich mich auf die Stufe über der Kehre und beugte mich vor, um besser lauschen zu können.
Das Klopfen an der Tür, das unser Leben für immer verändern sollte, war leise. Schon beim ersten zögernden Pochen öffnete sich quietschend die Eingangstür.
»Howard Coulter? « Die Stimme, die den Namen meines Vaters nannte, klang sehr jung. Noch jünger als die meines ältesten Bruders Frankie, der zwanzig war. Wie das Klopfen, so klang auch diese Stimme in meinen Ohren zu sanft und zu freundlich für einen Polizisten.
Mein Vater gab keine Antwort. Nach einem Moment des Schweigens fragte eine ältere, tiefere Stimme: »Dürfen wir hereinkommen, Mr Coulter? «
Plötzlich packte mich eine Hand an der Schulter. Ich fuhr herum und sah Kipper über mir mit seinem schlaffen Mund, der versuchte, ein Wort zu bilden. Ich hob einen Finger an die Lippen. Er lächelte und ahmte meine Pssst-Geste nach. Ich deutete auf die Stufe neben mir, und er ließ sich mit seinem großen Hintern darauf plumpsen. Obwohl drei Jahre älter, war mein Bruder mit seiner schweren Stehaufmännchenfigur kleiner als ich. Er legte seinen kurzen Arm um meine Schulter: Auch wenn er nicht begriff, was vor sich ging, freute er sich doch, Teil einer Verschwörung zu sein. Wir müssen ein merkwürdiges Paar abgegeben haben, wie wir so in der frühmorgendlichen Dunkelheit dasaßen: ich in meiner Unterwäsche, eine Haarlocke zwischen den Fingern drehend, und mein grinsender vierzehnjähriger Bruder in seinem blauen Teddybären-Pyjama und dem braunen Filzhut auf dem Kopf.
Dieser Hut mit der hochstehenden Krempe war fast mit Kipper verwachsen. Er nahm ihn nur zum Schlafen ab. Der Hut hing dann auf seinem Bettpfosten, bereit, in dem Augenblick, in dem Kipper aufwachte, auf seinem Kopf zu landen. Er hatte Dads Hut - ein Geburtstagsgeschenk von Mom - schon vor Jahren geerbt. Dad hatte ihn nie getragen.
Unten im Eingang wiederholte die allzu junge Stimme den Namen meines Vaters, und ich spürte, wie mich bei dem mitfühlenden Ton die Angst packte. Ich beugte mich vor und bemühte mich, um die Ecke zu schielen. Da fühlte ich eine andere Hand auf meiner Schulter, und schon zwängte sich mein Bruder Frankie, ohne Hemd und mit bloßen Füßen, zwischen Kipper und mir hindurch. Seine honigblonden Haare, die normalerweise zu einem perfekten Entenschwanz gekämmt waren, standen ihm wie Flügel vom Kopf ab. Ich konnte noch die Brylcreem riechen, ein Überbleibsel seines Rendezvous am Abend zuvor. Ohne stehen zu bleiben, sagte er: »Geht wieder ins Bett!«, und zog, während er die Treppen hinuntersprang, den Reißverschluss seiner Jeans hoch.
Kipper stand auf, wie stets bereit, Frankie widerspruchslos zu gehorchen. Gewöhnlich tat ich das auch. Aber dieses Mal nicht. Ich ging Frankie hinterher. Unten stand mein Vater regungslos da. Er wirkte klein und zusammengefallen in dem unbeleuchteten Eingang. Seine Hand lag wie angefroren auf dem Knauf der offenen Tür zur Eingangsveranda. Draußen prasselte im schwachen Morgenlicht der Regen auf die beiden Polizisten nieder.
2
Ich wusste, dass er anders war. Schon mit sechs Jahren war mir bewusst, dass mein
Vater nicht so war wie andere Väter. Andere Väter saßen nicht herum und starrten auf die Wand, auf einen Punkt ein paar Zentimeter über dem Fernsehgerät. Sie tauchten nicht regelmäßig in eine Welt des Schweigens ab und irrten auch nicht auf langen Wanderungen durch den Regen von Vancouver. Mein Vater verschwand manchmal für Stunden, ja sogar für ganze Tage, und kehrte von diesen Reisen mit müden Augen und bis auf die Knochen durchnässt zurück, aber immer irgendwie besserer Laune, so als hätte der Regen seine Stimmung ebenso aufgehellt, wie er die Luft der Stadt klärte.
Ich wusste, dass andere Väter mit ihren Söhnen Fangen spielten. Neidisch beobachtete ich, wenn sie ihre Töchter auf die Schultern hoben und Huckepack in ihren Gärten spazieren trugen. Und ich wusste, dass sie ihre Kinder wirklich wahrnahmen. Bei meinem Vater war ich mir da nicht immer sicher.
In meinem ersten Schuljahr erlaubte mir Mom, bis zum Ende der Barclay Street zu laufen und dort auf ihn zu warten, wenn er von der Arbeit im Sägewerk heimkam. Jeden Abend stand ich ungeduldig da, bis mein gut aussehender Vater, in dessen schütteren braunen Haaren noch Sägemehl hing, aus dem Bus stieg. Und jeden Abend bemerkte ich für einen Sekundenbruchteil Verwirrtheit in seinen Augen, wenn er mich dort stehen sah. Dann sagte er rasch: »Ach hallo, Ethie.« Er setzte mir seinen Schutzhelm auf und reichte mir seinen Henkelmann, der nach Metall und Sardinensandwich roch. Auf dem Nachhauseweg schlenkerte ich das Gefäß in der einen Hand, während ich mich mit der anderen an seine klammerte. Er tat so, als freute er sich, mich wiederzusehen.
Ich begriff früh, warum mein Vater so von der Welt entrückt war. Oder zumindest glaubte ich es zu wissen.
Es war »der Krieg«. Er hing bei uns zu Hause in der Luft wie ein Phantom. Er lauerte hinter dem leeren Blick meines Vaters und in den Whiskeyflaschen oben auf dem Kühlschrank. Manchmal schrie Dad mitten in der Nacht in seinen Albträumen und weckte mit seiner Raserei das ganze Haus. Für diese Fälle hielt Mom einen Besen neben ihrem Bett bereit. Einmal, nicht lange nach seiner Heimkehr aus dem Krieg, hatte sie den Fehler gemacht, ihn zu berühren, während er gegen die Schreckgespenster ankämpfte, die ihn im Schlaf quälten. Ein heftig um sich schlagender Arm traf sie direkt zwischen die Augen, brach ihr das Nasenbein und meinem Vater das Herz, erzählte sie. Also sprang sie in den folgenden siebzehn Jahren, wenn er neben ihr gegen seine Schreckensvisionen kämpfte, aus dem Bett und versetzte ihm einen Stoß mit dem Besenstiel. Sie legte sich erst wieder hin, wenn sie sicher war, dass er richtig wach war.
Dann lag ich oben in meinem Zimmer und lauschte, wie sie ihm in ihrer piepsigen Singstimme zusummte. Am nächsten Tag sahen die Augen meines Vaters leer und trocken aus, als warteten sie auf den nächsten Regen, der sie wieder beleben würde.
»Es ist der Krieg«, vertraute Mom Besuchern mit gedämpfter Stimme an, wenn sie versuchte, ihnen seine plötzlichen Rückzüge zu erklären. Als ich noch sehr klein war, hörte ich Mom und Frankie diese Worte im Zusammenhang mit den Absencen meines Vaters so oft sagen, dass ich »den Krieg« für eine Person hielt. Aber bald lernte ich, dass es nur Erinnerungen waren. Erinnerungen, die mein Vater mit niemandem teilte.
Auch wenn unser Haus in Fraserview, wie all die gleich aussehenden Häuser für Veteranen in diesem Viertel von South Vancouver, gemeinhin als »Kriegshaus« bezeichnet wurde, redeten wir selten vom Krieg. Und nie, wenn mein Vater da war. Der Krieg lauerte als düsteres Gespenst in den Winkeln unseres Lebens, bereit, jederzeit ohne Vorwarnung aufzutauchen und meinen Vater so lange in seinem stummen Griff zu halten, bis er nach seinen endlosen Spaziergängen durch die Stadt zurückkehren konnte. Als ich in die Grundschule kam, gewöhnte ich mir an, immer dann, wenn das Licht in den blauen Augen meines Vaters zu erlöschen begann, um Regen zu beten.
Es dauerte nie lange, bis meine Gebete erhört wurden.
»Niemand würde über das Wetter in Vancouver klagen, wenn er jemals in Tahsis gewohnt hätte«, sagte meine Mutter oft. »Dort war es wie in einer Autowaschanlage.«
Vor meiner Geburt hatte unsere Familie an der Nordwestküste von Vancouver Island gelebt. Mom sagte, sie habe immer vermutet, dass Dad nach seiner Rückkehr aus dem Krieg einen Job in einer besonders regenreichen Gegend gesucht habe. Als ein solcher Ort bot sich Tahsis an. Ich hatte Bilder gesehen und Moms Geschichten über die entlegene Stadt mit ihrer Holz verarbeitenden Industrie gehört, konnte mir aber kaum vorstellen, in einer Stadt zu leben, die nur per Schiff oder Wasserflugzeug zu erreichen war.
Einmal hörte ich Tante Mildred, Moms Schwester, sagen, die traumatische Flucht meiner Mutter von Tahsis nach Victoria an dem Tag, an dem mein Bruder geboren wurde, sei der Grund dafür gewesen, dass Kipper so auf die Welt kam, »wie er war«.
Ich erinnere mich, dass mir ihre Worte so große Angst machten, dass ich von der Wohnzimmercouch aufblickte und aufhörte, Kipper vorzulesen. Er saß neben mir und zog seinen Hut bis über die Augen herunter und seufzte schwer.
In der Küche, mit dem Rücken zu mir, saß Tante Mildred am Tisch. Sie hatte noch ihren Regenmantel an. Entweder muss ihr unser Haus zu kalt vorgekommen sein, oder sie fürchtete, ein Katzen- oder Hundehaar könnte an ihren teuren Kleidern hängen bleiben. Jedenfalls ließ sie immer ihren Mantel an, als wäre sie auf dem Sprung. Sie kam meistens dann zu Besuch, wenn Dad bei der Arbeit war.
Auf der anderen Seite des Tisches runzelte Mom die Stirn und blickte ihre Schwester über den Rand der Teetasse an. »Ich hab dir doch gesagt, dass das Down-Syndrom nichts mit den Umständen seiner Geburt zu tun hat«, seufzte sie. »Kippers Schicksal hat sich im Augenblick seiner Zeugung entschieden. Der Himmel hat es sich nicht im letzten Augenblick anders überlegt.«
»Leider«, murmelte meine Tante.
»Mildred! « In Mutters Stimme schwang eine Warnung mit.
Meine Tante schwieg einen Moment. Aber sie konnte sich nicht zurückhalten und hakte noch einmal nach: »Ich meine ja nur, Lucy, dass dieser Junge in eine Anstalt gehört. Je länger du damit wartest, umso schwieriger wird es. Es wäre für alle besser, und er wäre unter Seinesgleichen auch glücklicher.«
»Seinesgleichen - das sind wir«, sagte Mom. Dann sah sie an meiner Tante vorbei und fing meinen Blick auf. Sie lächelte. »Und er ist glücklich bei uns, Gott sei Dank.«
Das stimmte. Meistens.
Kippers wirklicher Name war Christopher Adam. »Nach dem heiligen Christophorus«, sagte Mom. Obwohl sie nicht katholisch war, hielt sie es für angebracht, ihren Sohn nach dem Schutzpatron der Fahrenden und Reisenden zu nennen, »denn auf dieser stürmischen Überfahrt nach Victoria Harbour hat jemand die Hand über mich gehalten«.
Sie hatte mir erzählt, dass ich für seinen Spitznamen verantwortlich sei. »Sobald du gehen konntest, bist du immer hinter ihm hergewackelt und hast seinen Namen gerufen. Kipper, das war es, was aus dir herauskam.« Der Name blieb an ihm hängen. Und bis auf Tante Mildred nannten ihn alle so.
Meinen Spitznamen hatte ich wiederum ihm zu verdanken. Da er mit seiner Zunge das »L« in Ethel nicht aussprechen konnte, wurde ich Ethie. Ein fairer Austausch und ein Geschenk, für das ich ihm ewig dankbar sein werde.
Wer außer Lucy Coulter hätte sein Töchterchen auch ausgerechnet Ethel genannt? Als ich alt genug war, um mich zu beklagen, erklärte mir Mom, sie habe mich Lily nennen wollen, aber Dad sei damit nicht einverstanden gewesen. »Es war, soweit ich mich erinnere, das einzige Mal, dass dein Vater sich auf die Hinterbeine gestellt hat.«
Kurz vor meiner Geburt schenkte Tante Mildred unserer Familie ihren alten Schwarzweißfernseher. Moms erstes Fernsehgerät. Und die erste Sendung, die sie ansah, war die erste Folge von I Love Lucy. Niemand außer meiner Mutter hätte aus all diesen Premieren das Zeichen herausgelesen, dass sie, wenn sie ein Mädchen bekäme - das sie nicht Lily nennen durfte -, es nach Lucy Riccardos Busenfreundin Ethel nennen sollte. Jedes Mal, wenn die Sendung anfing, zwitscherte Mom: »Da sind wir schon: Lucy und Ethel! «, als müsste ich daran erinnert werden, woher mein Name kam. Und jedes Mal drückte ich mir stöhnend ein Sofakissen aufs Gesicht. Wenn Kipper da war, schob er sich seinen Hut übers Gesicht und stöhnte ebenfalls.
Mein Bruder ahmte die Gefühle der Menschen nach, die er liebte. Das galt besonders für mich. Wenn ich lachte, lachte auch er, laut und bellend vor Freude. Wenn ich weinte, heulte er mit mir zusammen, schluchzte und schnappte nach Luft. Die Art, wie er meine Gefühle nachempfand, war so unmittelbar und intensiv, dass ich mir selbst oft erst dann, wenn ich seine Reaktion sah, bewusst wurde, was ich tatsächlich fühlte. Mit der Zeit lernte ich, solche Ausbrüche zu unterdrücken, weil ich wusste, dass sie bei Kipper einen Asthmaanfall auslösen konnten.
Dad gegenüber verhielt er sich vollkommen anders. Er war ruhig und friedlich, unabhängig davon, in welcher Verfassung Dad sich befand. Mom war der Meinung, dass Kipper unseren Vater am besten verstand. Wenn Dad in seine Stimmungen verfiel, in denen er sich sozusagen abmeldete, schmiegte sich mein Bruder mit seinem gedrungenen Körper an ihn. Dann legte er den Arm um Dads knochige Schulter und tätschelte ihm den Rücken, während sie schweigend vor dem Fernseher saßen, als wären sie zusammengewachsen.
In der letzten Woche hatte es heftig zu regnen angefangen. Während der ersten Augusttage schnitt Mom Artikel aus der Daily Province aus, die über eine Rekordzahl von Unfällen mit Blechschäden berichteten; die Zahl passte zur Rekordregenmenge. In den serienmäßig gebauten Veteranenhäusern, die sich in unserer Straße aneinanderreihten, brüteten Kindergesichter hinter regenverschlierten Fensterscheiben, während die Dachrinnen verstopften und die Abwässerkanäle überliefen. Zum Spielen ins Haus verbannt, fühlten sich die Kinder um den Rest ihrer Sommerferien betrogen. Ihre Mütter empfanden das genauso. Ich hörte, wie sie sich bei ihrem wöchentlichen Kaffeeklatsch in unserer Küche darüber unterhielten, dass ihre Männer den Wetterumschwung schon im Voraus gespürt hätten. Sie empfanden einen pochenden Schmerz um das Metall, das tief in ihren Muskeln steckte. Sie fühlten ihn in ihren vernarbten Kriegswunden. Und in den Knochen, die ihnen bei der Erinnerung an die windgepeitschten Brückenköpfe und die überfrorenen Schlachtfelder Europas wehtaten. Zu ihren Gesprächen leistete Mom keinen Beitrag. Im Gegensatz zu den anderen Vätern in unserer Straße war Dad äußerlich unversehrt aus dem Zweiten Weltkrieg heimgekehrt. In unserem Keller wurden keine Tapferkeitsmedaillen, zusammen mit einer eingemotteten Uniform, aufbewahrt. Anders als seine Nachbarn freute Dad sich über den Regen.
Auf dem Höhepunkt der sommerlichen Schlechtwetterperiode, am Donnerstagnachmittag, hatte Dad seine Lederbomberjacke aus dem Garderobenschrank geholt. Obwohl sie für ihn mindestens zwei Nummern zu groß und das braune Leder längst brüchig war, trug unser Vater auf seinen Rundgängen immer diese Fliegerjacke. Er zog sie sich über die Schultern, klappte den Schaffellkragen hoch und schlüpfte aus der Tür. Während wir anderen erleichtert aufatmeten, nahm Kipper seinen gelben Regenmantel und folgte ihm. Frankie sprang auf, um ihn aufzuhalten, aber Mom winkte ihn zurück. Wenn der Regen im Lauf des Tages nachließ, kamen Dad und Kipper ausgekühlt und nass nach Hause, aber beide erklärten, hungrig zu sein.
Sie setzten sich an den Esstisch, und Kipper nahm seinen nassen Hut ab. Sein dünnes Haar, eher orangefarben als rot, stand ihm in Büscheln vom Kopf ab. Mein Vater lächelte ihn melancholisch an und nannte ihn »meinen Leutesortierer«.
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Autoren-Porträt von Donna Milner
Donna Milner lebt mit ihrem Mann im kanadischen Bundesstaat British Columbia. Nachdem ihr erster Roman "River" ein überwältigendes internationales Echo fand und in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde, widmete sie sich ganz dem Schreiben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Donna Milner
- 381 Seiten, Maße: 13,5 x 20,9 cm, Soft-Cover (Weltbild Reader)
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005463
- ISBN-13: 9783868005462
Rezension zu „Der Tag, an dem Marilyn starb “
"Der Autorin, die zuvor mit River für Aufsehen sorgte, ist erneut eine spannende, trotz der Zeitsprünge dichte Familiengeschichte gelungen. ( ) Ausgehend von historischen Tatsachen erzählt Donna Milner, was der Krieg aus Menschen macht." (Ostthüringer Zeitung)
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