Der Wanderchirurg
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Für jeden Liebhaber von historischen Romanen ist Wolf Sernos Werk ein Muss!
DerWanderchirurg von Wolf Serno
LESEPROBE
Der Fuhrmann Emilio
»Ich hab gelernt, dass es Menschen gibt, mit denen man eng zusammenlebt und dieeinem trotzdem nie näher kommen. Und dann gibt es welche, die kennt man kaum,und doch schließt man sie gleich ins Herz.«
Mit quietschenden Angeln fiel das Klostertor an der Nordmauer ins Schloss.Vitus trat zögernd ins Freie.
»Gott sei mit dir!«, hörte er hinter sich Bruder Castor brummen. Der Torsteherwar ein vom Alter gebeugter, stets kummervoll dreinblickender Mönch. Dass erauch an diesem Morgen Dienst tun musste, vermochte seine Laune nicht zubessern. Mit einiger Anstrengung schob er die eisernen Riegel wieder vor. Indem schweren, rumpelnden Geräusch lag etwas Endgültiges.
Vitus schaute sich um. Die Nebel der Nacht hingen noch über dem Tal, und dieBerge am Horizont bekamen eben erst Konturen. Es war schneidend kalt. Er hielteinen Kapaun in der Hand, den ihm der Küchenmeister von Campodios, BruderFestus, vor wenigen Minuten zugesteckt hatte. Alle nannten Festus >Cupadicens<, das sprechende Fass, und wer ihn ansah, musste zugeben, dass derSpitzname nicht übertrieben war.
»So, verlassen willst du uns also!«, hatte das Fass gedröhnt, als Vitus sichvon ihm verabschiedete. »Das tut mir Leid. Ich hörte bereits davon. Hast dirzum Reisebeginn ausgerechnet die Fastenzeit ausgesucht, mein Junge, da hab ichkaum was Rechtes als Wegzehrung.«
Suchend hatte der Küchenmeister sich umgeblickt und dabei laut überlegt: »Esgibt Klößchen von gehackten Fischen heut, mit Petersilienwurzeln und Weißbrotdrin, abgewürzt mit Pfeffer und Safran ...nicht schlecht für eine Fastenspeise,aber als Marschverpflegung? Doch halt! Hier haben wir das Richtige!«
Rasch hatte Cupa dicens einen knusprig gebratenen Kapaun aus dem Ofen geholtund verschwörerisch den Finger an die Lippen gelegt: »Wenn jemand fragt, weißtdu von nichts! Der Vogel ist dir einfach zugeflogen, klar?«
»Klar!«, hatte Vitus geantwortet.
»Lass ihn dir schmecken. Essen hält Leib und Seele zusammen! Denk an meineWorte, wenn es dir einmal schlecht ergeht.«
Bevor Vitus sich bedanken konnte, hatte Cupa dicens sich abgewandt und eingroßes Küchentuch ergriffen, um damit das Fett von seinen gewaltigen Pranken zuwischen. Zufrieden vor sich hin summend hatte der Küchenmeister sichanschließend wieder seinen Töpfen und Schüsseln gewidmet, hier etwasabgeschmeckt, da eine Zutat geprüft. Vitus schien er völlig vergessen zu haben.»Ist noch was, Junge?«, hatte er gefragt, als Vitus nach einer Weile noch immeran seiner Seite stand.
»Äh, nichts, aber ich danke Euch herzlich.«
Das Fass hatte irgendetwas gebrummt und so beschäftigt gewirkt, dass Vitus sichschließlich entfernte. Offenbar mochte Cupa dicens keine Abschiedsszenen.
Vitus wog den Kapaun in der Hand und fragte sich, wie er ihn am bestentransportieren sollte. Ein leiser Schnarchton durchbrach seine Gedanken. BruderCastor! Er musste grinsen. Der alte Mönch machte seinem Ruf, nicht gerade derWachsamste zu sein, wieder einmal alle Ehre. Ton für Ton wurde sein Schnarchenlauter. Ein sicheres Zeichen, dass er ins Land der Träume hinabtauchte.
Wohin nun mit dem Kapaun? Klar war, dass er zum Marschieren freie Händebrauchte. Also würde es am besten sein, den Vogel noch irgendwie in der Kiepe,die er auf dem Rücken trug, unterzubringen. Er nahm sie ab und betrachteteihren Inhalt:
Zuoberst lag da ein einfaches Kochgeschirr, bestehend aus Topf und eisernemDreibein. Ein Geschenk von Bruder Grimm aus der Klosterschmiede. Die nächsteSchicht bildeten zwei Hemden aus grobem Leinen. Darunter hatte seine ErsatzhosePlatz gefunden, ein Kleidungsstück, das diese Bezeichnung kaum verdiente, dennes war im Laufe der Jahre unzählige Male geflickt worden. Weiter unten befandsich ein grob gestricktes Wollwams und ganz am Boden schließlich ein Paarrindslederner Sandalen von sehr guter Qualität, frisch aus der Schuhmachereivon Campodios.
Die Kiepe selbst wies eine Besonderheit auf, die sich als großer Vorteilherausgestellt hatte: Sie besaß einen doppelten Boden. Der Geheimraum wargerade groß genug, um eine der seltenen Abschriften des Werkes De morbisaufzunehmen, die Pater Thomas ihm zum Abschied geschenkt hatte.
»Nimm es als meinen Dank für die Assistenz bei vielen Wundbehandlungen und fürdie Inspiration, die du mir bei der Erforschung der Kräuter gegeben hast«,hatte er am gestrigen Abend gesagt. »Es ist ein Duplikat, in dem mancheIllustrationen sogar noch schöner gelungen sind als im Original.«
Zögernd hatte Vitus nach dem kostbaren Exemplar gegriffen. »Ich weiß nicht, wieich Euch danken soll. Ich ...« Ihm hatten vor Freude die Worte gefehlt.
»Lass nur, Vitus. Wie du siehst, wird das Buch an der offenen Seite durch einstarkes Schloss zusammengehalten. Der Grund dafür ist einfach: Das Buch kannLeben retten, aber auch den Tod herbeiführen - wenn es in falsche Hände gerät.Gib deshalb immer darauf Acht.« Der hagere Mann hatte ihm ein ledernes Bandüber den Kopf gestreift, an dem der Schlüssel zum Schloss hing. »Lebe wohl,Vitus, der Herr sei mit dir und halte seine Hände schützend über dich!«
Neben einigen Heilpflanzen und chirurgischen Instrumenten, die ebenfalls imGeheimfach lagen, war dies schon alles, was er bei sich trug.
Ähnlich versteckt wie das Buch waren auch das rote Damasttuch und dieGoldescudos: geschützt vor neugierigen Blicken trug er das Tuch direkt auf demLeib; die Escudos hatte er im Saum seines Mantels eingenäht, Stück für Stück,damit sie beim Gehen nicht gegeneinander klirrten.
Nachdem auch der Kapaun verstaut war, schulterte er die Kiepe erneut undmarschierte entschlossen los. Der Weg führte in sanften Biegungen vom Klosterfort. Links und rechts traten vereinzelt graue Gesteinsblöcke auf, unterbrochenvon niedrigen, immergrünen Bodenpflanzen. Langsam schob die Sonne sich amHorizont empor, gewann an Kraft und sandte ihre ersten warmen Strahlen zurErde.
Nach vier Meilen führte der Weg durch einen torähnlichen Felsen, in dessenInnerem ein Madonnenschrein zum Gebet einlud. Vitus murmelte ein raschesAve-Maria, bevor er auf der anderen Seite den Weg nach Porta Mariae einschlug,einem Ort, der seinen Namen dem Felstor verdankte. Hier traf er außer ein paargackernden Hühnern und ein paar tratschenden Frauen niemanden an, denn andiesem Tag fand kein Markt statt.
Er verließ den Ort. Nach einer weiteren Meile erreichte er den Pajo, einFlüsschen, dessen Bett im Sommer regelmäßig ausgetrocknet war. Doch jetztführte es noch reichlich Wasser. Er trat ans Ufer. Mitten im Fluss entdeckte ereinen Ginsterbusch, an dem die Fluten gurgelnd vorbeischossen.
Prüfend tauchte er einen Fuß ins Wasser. Die Strömung war stark, aber der Buschstand da wie ein Fels, breit ausladend und mannshoch. Vitus fühlte sichunwiderstehlich von ihm angezogen.
Ohne nachzudenken, watete er durch das Wasser, bis er ganz dicht davorstand.Sein Blick fiel auf einen Zweig, der sich durch seine Beschaffenheit von allenanderen unterschied: Er war gerader und stärker und von besonderer Ebenmäßigkeit.Vitus beugte sich vor. Seine Finger reichten knapp heran. Er griff zu und zog,doch es war, als wollten die anderen Zweige ihm das Gewünschte verwehren, sowiderspenstig zeigten sie sich. Endlich, nach einem heftigen Ruck, kam etwasans Licht, das aussah wie ein Wanderstecken: zwei Männerdaumen dick und gutefünf Fuß lang. An einem Ende war der Stecken halbrund gebogen - wie einJakobsstab.
Staunend bemerkte Vitus, wie ausgewogen er in seiner Hand lag. Er packte ihnfest und spürte, wie die Wärme des Holzes in seine Arme überging. Probehalberließ er ihn durch die Luft sausen. Einmal ... zweimal ... dreimal.
Das singende Geräusch machte ihm Mut. (...)
© Droemer/Knaur Verlag
- Autor: Wolf Serno
- 2004, Neuausg., 810 Seiten, Maße: 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: DROEMER KNAUR
- ISBN-10: 3426628678
- ISBN-13: 9783426628676
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