Der Weihnachtsdieb
Bevor Packy Noonan ins Gefängnis ging, hat er seine gesamte Beute in einem Baum versteckt. Dumm, dass ausgerechnet diese Fichte zu Weihnachten vor dem Rockefeller Center stehen soll. Packy muss sich beeilen und bekommt es mit Detektivin Regan Reilly zu tun.
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Produktinformationen zu „Der Weihnachtsdieb “
Bevor Packy Noonan ins Gefängnis ging, hat er seine gesamte Beute in einem Baum versteckt. Dumm, dass ausgerechnet diese Fichte zu Weihnachten vor dem Rockefeller Center stehen soll. Packy muss sich beeilen und bekommt es mit Detektivin Regan Reilly zu tun.
Lese-Probe zu „Der Weihnachtsdieb “
Der Weihnachtsdieb von Mary und Carol Higgins Clark Aus dem Amerikanischen von Marie Henriksen
1
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Mit größter Sorgfalt setzte Packy Noonan ein Kreuz in den Kalender, den er an seine Zellenwand geheftet hatte. Die Zelle befand sich in einem Bundesgefängnis unweit von Philadelphia, das sich »Stadt der brüderlichen Liebe« nannte. Packy strömte geradezu über vor lauter Liebe zu seinen Mitmenschen. Seit zwölf Jahren war er nun Gast der Regierung der Vereinigten Staaten, genauer gesagt seit zwölf Jahren, vier Monaten und zwei Tagen. Aber weil er mehr als fünfundachtzig Prozent seiner Strafe absolviert hatte, und dies bei stets tadelloser Führung, hatte der Haftrichter nach einigem Zögern beschlossen, Packy zum 12. November auf freien Fuß zu setzen. Noch zwei Wochen. Packy, der mit vollem Namen Patrick Coogan Noonan hieß, war ein Weltmeister in der Kunst des Betruges, und sein Verbrechen hatte darin bestanden, gutgläubigen Investoren insgesamt fast einhundert Millionen US-Dollar abzuschwatzen - für eine nach außen hin blitzsaubere Firma, die er selbst gegründet hatte. Als das Kartenhaus schließlich eingestürzt war, konnte niemand sagen, wo das Geld geblieben war - immerhin fast achtzig Millionen Dollar, wenn man das abzog, was Packy für Häuser, Autos, Schmuck, Schmiergelder und halbseidene Damen ausgegeben hatte. In den Jahren seiner Haft war Packy stets bei seiner ursprünglichen Geschichte geblieben: Er bestand darauf, dass seine beiden abgetauchten Compagnons mit dem restlichen Geld verschwunden waren und dass er, ebenso wie die Investoren, ein Opfer der eigenen Gutgläubigkeit geworden sei. Er war fünfzig Jahre alt, hatte ein schmales Gesicht mit einer Hakennase und eng stehenden Augen, schütteres braunes Haar und ein Vertrauen erweckendes Lächeln. Seine Haftjahre hatte er mit stoischer Ruhe hinter sich gebracht. Schließlich wusste er, wenn der Tag seiner Entlassung kam, würde ihn sein Notgroschen von achtzig Millionen Dollar für manche Unannehmlichkeit entschädigen. Sobald er die Beute an sich gebracht hätte, würde er sich eine neue Identität verschaffen, und dann würde ihn ein Privatjet nach Brasilien bringen, wo bereits ein hoch qualifizierter Chirurg auf ihn wartete, um die scharfen Gesichtszüge ein wenig in Ordnung zu bringen, die allzu leicht als Blaupause seiner ebenso scharfen Gedanken hätten dienen können. Alle diese Arrangements waren von seinen beiden abgetauchten Compagnons in die Wege geleitet worden, die bereits in Brasilien lebten und dort von zehn Millionen Dollar aus den fehlenden Kundengeldern zehrten. Das restliche Vermögen hatte Packy vor seiner Verhaftung noch in Sicherheit bringen können - ein Umstand, der ihm die Kooperationsbereitschaft seiner Komplizen sicherte. Der Plan, seit langer Zeit ausgearbeitet, sah vor, dass Packy nach seiner Entlassung brav in das Übergangswohnheim in New York traben sollte, wie es die Bewährungsauflagen für seine vorzeitige Entlassung verlangten. Dort würde er einen Tag lang allen Regeln folgen, dann würde er eventuelle Verfolger abschütteln, seine Komplizen treffen und mit ihnen nach Stowe in Vermont fahren. Dort gab es ein angemietetes Bauernhaus, einen Tieflader und eine Scheune, um ihn zu verstecken, und das Werkzeug, das man brauchte, um einen sehr hohen Baum zu fällen. »Warum gerade Vermont?«, hatte Giuseppe Como gefragt, besser bekannt als Jo-Jo. »Du hast doch gesagt, du hast die Beute in New Jersey versteckt. Du wirst uns doch nicht belogen haben, Packy?«
»Wie sollte ich euch jemals belügen?«, hatte Packy mit dramatischem Tonfall gefragt. »Vielleicht wollte ich nur nicht, dass ihr im Schlaf sprecht.« Jo-Jo und Benny, die 42-jährigen Zwillinge, waren in den Coup von Anfang an einbezogen gewesen, gaben aber beide bereitwillig zu, dass keiner von ihnen den Kopf besaß, um sich derart große Pläne auszudenken. Sie akzeptierten ihre Rolle als Packys Fußtruppe und freuten sich über die Brosamen, die von seinem Tisch fielen, umso mehr, als es sich in der Regel um äußerst lukrative Brosamen handelte. »O Tannenbaum, mein Tannenbaum«, summte Packy vor sich hin, als er sich vorstellte, wie er den einen ganz speziellen Ast an dem einen ganz speziellen Baum in Vermont wieder finden würde und wie es sich anfühlen würde, die Thermosflasche mit den schier unbezahlbaren Diamanten wieder in der Hand zu halten, die seit mehr als dreizehn Jahren dort saß wie ein Vogel im Nest.
2
Es war frisch an diesem Nachmittag mitten im November, aber Alvirah und Willy Meehan beschlossen dennoch, den Weg von ihrer Selbsthilfegruppe für Lotteriegewinner nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Zu Hause, das war eine Wohnung in dem Viertel südlich des Central Parks. Alvirah hatte die Selbsthilfegruppe gegründet, als sie und Willy die vierzig Millionen Dollar gewonnen hatten. Damals hatten sie eine ganze Reihe warnender E-Mails von Leuten erhalten, die ihnen schrieben, dass auch sie Berge von Geld gewonnen hätten und dass ihnen diese gewaltigen Summen in null Komma nichts zwischen den Fingern zerronnen seien. Diesen Monat hatten sie das Treffen der Gruppe ein paar Tage vorverlegt, denn sie wollten nach Stowe in Vermont fahren, um dort im »Hotel Trapp-Familie« (benannt nach dem in den Vierzigern so populären Familienchor, der aus Österreich in die USA geflohen war) ein langes Wochenende zu verbringen, gemeinsam mit ihrer guten Freundin, der Privatdetektivin Regan Reilly. Regan würde ihren Verlobten Jack Reilly mitbringen, den Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen bei der New Yorker Polizei, und ihre Eltern Luke und Nora. Nora war eine bekannte Krimi-Autorin; Luke besaß ein Bestattungsunternehmen. Die Geschäfte waren derzeit geradezu hektisch, aber Luke hatte gesagt, keine noch so dringende Leiche werde ihn von diesem Kurzurlaub abhalten.
Alvirah und Willy hatten damals gerade die Sechzig vollendet und waren seit vierzig Jahren verheiratet, als jener schicksalhafte Abend hereinbrach. Sie hatten in Flushing, Queens, gelebt, an jenem Abend, als die kleinen Kugeln fielen, jede mit einer Zahl darauf und exakt in jener Folge, die die Meehans seit Jahren spielten: eine Kombination aus ihren Geburtstagen und ihrem Hochzeitstag. Alvirah hatte im Wohnzimmer gesessen und ein Fußbad genommen, denn sie hatte einen harten Tag auf ihrer Freitags-Putzstelle hinter sich - ihre dortige Auftraggeberin, Mrs O'Keefe, war ein entsetzlicher Schmutzfink. Willy, der eine Installationswerkstatt sein Eigen nannte, war gerade nach Hause gekommen, nachdem er noch schnell in dem alten Mietshaus auf dem Grundstück nebenan eine Toilette repariert hatte. Im ersten Augenblick war Alvirah wie gelähmt gewesen, dann war sie aufgesprungen und hatte prompt ihr Fußbad verschüttet. Auf nassen, nackten Füßen war sie mit Willy durchs Zimmer getanzt, und sie hatten beide gleichzeitig gelacht und geweint. Nach diesem ersten Gefühlsausbruch waren sie vernünftig und vorsichtig gewesen. Die einzige Extravaganz, die sie sich geleistet hatten, war die Dreizimmerwohnung mit Terrasse über dem Central Park gewesen. Und selbst hier waren sie vorsichtig genug, die Wohnung in Flushing zu behalten für den Fall, dass der Staat New York Pleite ging und die Zahlungen an sie einstellte. Die Hälfte des Geldes, das sie jedes Jahr ausgezahlt bekamen, sparten sie und investierten es klug. Alvirahs flammend orangerotes Haar hatte einen goldenen Ton angenommen, seit der Starfriseur Antonio Hand daran anlegte. Ihre Freundin Baronesse Min von Schreiber hatte mit ihr den schönen Hosenanzug aus Tweed ausgesucht, den sie trug. Min hatte sie irgendwann gebeten, niemals allein shoppen zu gehen: Alvirah, so sagte sie, sei leider eine allzu leichte Beute für Verkäufer, die ihren Kunden Ladenhüter aufschwatzen wollten.
Natürlich hatte Alvirah dem Schrubber und dem Putzeimer Lebewohl gesagt, aber in ihrem neuen Leben war sie beschäftigter als je zuvor. Ihr guter Riecher für Menschen, die in Schwierigkeiten waren, und ihr Talent, Probleme zu lösen, hatten sie zur Amateurdetektivin gemacht. Als kleine Arbeitshilfe hatte sie ein Mikrofon in ihrer großen Sonnenblumen-Brosche versteckt und schaltete es ein, wenn sie auch nur den leisen Eindruck gewann, ihr Gesprächspartner habe etwas zu verbergen. In den drei Jahren ihres Lebens als Multimillionärin hatte sie ein Dutzend Verbrechen aufgeklärt und darüber in der Wochenzeitung The New York Globe berichtet. Die Leser waren so begeistert von ihren Abenteuern, dass sie mittlerweile eine eigene zweiwöchentliche Kolumne hatte, auch wenn sie gerade über kein Verbrechen berichten konnte. Willy hatte sein Ein-Mann-Unternehmen ebenfalls aufgegeben, arbeitete aber genau wie seine Frau mehr denn je: Er widmete sein Talent nun der Verbesserung der Wohnverhältnisse armer Rentner auf der West Side, unterstützt von der Ältesten aus seiner großen Geschwisterschar, Schwester Cordelia, einer höchst beeindruckenden Nonne aus einem Dominikanerinnenkonvent. Heute hatte sich die Selbsthilfegruppe in einer großartigen Wohnung im Trump Tower getroffen, die Herman Hicks erstanden hatte, ein Neuzugang unter den Lotteriegewinnern, der, wie Alvirah soeben leicht beunruhigt zu Willy sagte, sein Geld entschieden zu schnell ausgab. Gerade näherten sie sich der Ampel an der Fifth Avenue gegenüber dem Plaza Hotel. »Es wird schon gelb«, sagte Willy. »Bei diesem Verkehr möchte ich lieber nicht mitten auf der Straße stehen bleiben. Die sind im Stande und fahren uns in Grund und Boden.«
Wenn es nach Alvirah gegangen wäre, hätten sie einfach mehr Tempo gemacht. Sie hasste es, eine Ampelphase auszulassen, aber Willy war eben sehr vorsichtig. Das ist der Unterschied zwischen uns, dachte sie mit einem milden Lächeln, die Risikofreudigere von uns beiden bin ich. »Ich denke, Herman kriegt das schon hin«, sagte Willy beruhigend. »Wie er schon sagte, er hat sein Leben lang davon geträumt, im Trump Tower zu wohnen, und eine Immobilie ist doch immer eine gute Investition. Die Möbel hat er den Vorbesitzern zu einem fairen Preis abgekauft, und die einzige Extravaganz, die er sich geleistet hat, war dieser Designerschrank von Paul Stewart.« »Mag schon sein, aber ein siebzigjähriger kinderloser Witwer mit zwanzig Millionen nach Abzug aller Steuern wird wohl keinen Mangel an Damen haben, die ihn mit Tunfischauflauf oder ähnlichen Leckereien beglücken wollen«, stellte Alvirah besorgt fest. »Wenn er doch bloß merken würde, was für eine wunderbare Frau Opal ist.« Opal Fogarty war ein Gründungsmitglied der Selbsthilfegruppe. Sie hatte sich ihnen angeschlossen, nachdem sie in Alvirahs Kolumne im New York Globe davon gelesen hatte, denn, wie sie zu sagen pflegte: »Ich bin das Musterbeispiel einer Lotteriegewinnerin, die alles verloren hat. Und ich würde gern einige Anfänger warnen, damit sie nicht einem von diesen aalglatten Typen in die Finger geraten.« Heute waren zwei neue Mitglieder dabei gewesen, und Opal hatte ihre Geschichte erzählt, wie sie in eine Spedition investiert hatte, deren Eigner nichts anderes transportiert hatte als das Geld aus ihrer Tasche in die seine. »Ich hatte sechs Millionen Dollar in der Lotterie gewonnen «, erklärte sie. »Nach Abzug aller Steuern waren mir drei Millionen geblieben. Und dann kam dieser Kerl namens Patrick Noonan und überredete mich, in seine windige Firma zu investieren. Ich habe den heiligen Patrick immer sehr verehrt, und irgendwie dachte ich, jeder, der seinen Namen trägt, müsste ein ehrlicher Mensch sein. Konnte ich denn ahnen, dass der Schurke überall nur Packy genannt wird? Na, jedenfalls kommt der Kerl nächste Woche aus dem Gefängnis «, seufzte sie, »und ich wünschte nur, ich könnte mich unsichtbar machen und mich an seine Fersen heften, denn ich weiß genau, dass er irgendwo das ganze Geld versteckt hat.« Opals blaue Augen füllten sich regelmäßig mit Zornes- tränen bei dem Gedanken, dass es Packy Noonan womöglich gelingen könnte, wieder an die Beute zu kommen - an das Geld, das er ihr abgenommen hatte. »Haben Sie damals Ihr ganzes Geld verloren?«, hatte Herman voll Mitgefühl gefragt, und der freundliche Ton in seiner Stimme hatte Alvirah, die im Grunde ihres Herzens eine geborene und leidenschaftliche Heiratsvermittlerin war, in einen fröhlichen Alarmzustand versetzt. »Achthunderttausend Dollar haben sie noch bei ihm gefunden, aber die Anwaltskanzlei, die vom Gericht mit der Wiederbeschaffung des Geldes beauftragt war, verlangte eine Million für ihre Tätigkeit, also blieb für uns Opfer nichts mehr übrig.«
Wie so häufig sprach Willy aus, was Alvirah dachte. »Opals Geschichte hat großen Eindruck auf das junge Paar gemacht, das sechshunderttausend mit einem einzigen Rubbel-Los gewonnen hat«, sagte er jetzt. »Aber was hilft es ihr? Ich meine, da ist sie nun siebenundsechzig Jahre alt und arbeitet immer noch als Bedienung in diesem elenden Diner. Dabei kann sie die schweren Tabletts kaum noch tragen.«
»Demnächst hat sie Urlaub«, ergänzte Alvirah. »Aber ich wette, sie kann es sich nicht leisten, zu verreisen. Ach, Willy, wir haben so viel Glück gehabt!« Sie schenkte ihrem Mann ein kleines Lächeln, und zum zehnten Mal an diesem Tag schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, wie gut er doch aussah. Mit seinem weißen Haarschopf, der gesunden Gesichtsfarbe, den lebhaften blauen Augen und der kräftigen Statur erinnerte er viele Menschen an den verstorbenen Tip O'Neill, den legendären Sprecher des Repräsentantenhauses. Die Ampel wurde grün, sie überquerten die Fifth Avenue und spazierten am Rand des Central Parks entlang zu ihrer Wohnung, die gleich hinter der Seventh Avenue lag. Alvirah deutete auf ein junges Paar, das gerade in eine Pferdekutsche stieg, um eine Fahrt durch den Park zu unternehmen. »Ob er ihr wohl einen Heiratsantrag macht?«, bemerkte sie. »Genau bei so einer Fahrt hast du mich doch damals auch gefragt, ob ich dich heiraten will, erinnerst du dich noch?« »Natürlich erinnere ich mich«, gab Willy zurück. »Und die ganze Zeit habe ich gebangt, ob ich wohl noch genug Geld hätte, um die Fahrt zu bezahlen. Im Restaurant hatte ich nämlich dem Oberkellner fünf Dollar Trinkgeld geben wollen und hatte blöderweise einen Fünfziger erwischt. Das habe ich aber erst gemerkt, als ich den Ring aus der Tasche zog, den ich dir an den Finger stecken wollte. - Na, jedenfalls bin ich froh, dass wir mit den Reillys nach Vermont fahren. Vielleicht können wir dort mal eine Fahrt mit dem Pferdeschlitten machen.« »Ski laufen will ich jedenfalls nicht«, sagte Alvirah. »Deshalb habe ich erst so gezögert, als Regan den Vorschlag machte. Sie und Jack und auch Nora und Luke sind allesamt gute Skifahrer, aber wir können ja langlaufen, außerdem habe ich ein paar Bücher dabei, und Wanderwege gibt es auch. Auf die eine oder andere Weise werden wir uns schon beschäftigen.«
Eine Viertelstunde später, in ihrem schönen Wohnzimmer mit der wunderbaren Aussicht über den Central Park, öffnete sie das Päckchen, das ihr der Portier mitgegeben hatte. »Also, Willy, es ist doch nicht zu glauben«, sagte sie. »Wir haben noch nicht einmal Thanksgiving, und Molloy, McDermott, McFadden und Markey schicken uns schon ein Weihnachtsgeschenk.« Die 4M, wie die Investment- Firma an der Wall Street auch genannt wurde, war von Alvirah und Willy damit beauftragt, das angesparte Geld in Staatsanleihen oder ertragssicheren Aktien anzulegen. »Was schicken sie uns denn?«, rief Willy aus der Küche, wo er ihren Lieblings-Nachmittags-Cocktail zubereitete: einen Manhattan. »Ich hab's noch nicht aufgemacht«, rief Alvirah zurück. »Dieses ganze Plastikzeug, das sie als Verpackung drum herum tun! Aber es sieht aus wie eine Flasche oder ein Krug. Auf der Karte steht: Fröhliche Weihnachten. Du lieber Himmel, warum haben sie es denn so eilig? Es ist doch noch nicht mal Thanksgiving.« »Was auch immer drin ist, mach dir nicht die Fingernägel kaputt«, sagte Willy von der Küche aus. »Ich helf dir gleich.« Mach dir nicht die Fingernägel kaputt. Alvirah lächelte in sich hinein und dachte an die vielen Jahre, in denen es reine Zeitverschwendung gewesen wäre, auch nur einen Tropfen Nagellack auf ihren Fingernägeln zu verteilen, weil die Bleichmittel und die scharfen Seifen, die sie beim Putzen verwendete, jedem Versuch der Handpflege kurzen Prozess gemacht hätten.
Willy kam mit dem Tablett ins Zimmer: zwei Cocktailgläser und ein Teller mit Käse und Crackern. Herman hatte die Bewirtung bei dem Treffen mit Twinkies und Pulverkaffee bestritten, und sie hatten beides dankend abgelehnt. Willy stellte das Tablett ab und griff nach dem gut verschweißten Päckchen. Mit einem kräftigen Ruck zog er die Klebefolie weg und wickelte das Präsent aus seiner Verpackung. Sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck wandelte sich zu Überraschung und schließlich zu ungläubigem Staunen. »Sag mal, wie viel Geld haben wir über 4M investiert?«, fragte er. Alvirah nannte ihm die Summe. »Eben, und jetzt sieh dir das mal an. Sie haben uns einen Krug mit Ahornsirup geschickt. Was sind das denn für Weihnachtsgeschenke?« »Die spinnen doch!«, rief Alvirah aus und nahm ihm den Krug kopfschüttelnd aus der Hand. Dann las sie das Etikett. »Willy, sieh doch!«, rief sie. »Sie haben uns nicht einfach einen Krug mit Ahornsirup geschenkt, sondern einen ganzen Baum! Hier steht's: ›Dieser Sirup stammt von dem Baum, der ausschließlich für Willy und Alvirah Meehan reserviert ist. Bitte kommen Sie, und zapfen Sie Ihren Baum wieder an, wenn der Krug leer ist.‹ Wo der Baum wohl stehen mag?« Willy wühlte sich durch das Verpackungsmaterial. »Hier ist eine Beschreibung. Nein, es ist sogar eine Landkarte.« Er betrachtete sie und fing an zu lachen. »Siehst du, mein Schatz, jetzt haben wir in Stowe noch mehr Beschäftigung. Wir können nämlich unseren Baum suchen. Nach der Karte müsste er gleich beim ›Hotel Trapp-Familie‹ stehen.« Das Telefon klingelte, und am anderen Ende der Leitung war Regan Reilly, die aus Los Angeles anrief.
»Na, seid ihr reisefertig?«, fragte sie. »Es wird sich doch niemand drücken wollen?« »Nie im Leben, Regan«, beruhigte Alvirah sie. »Ich habe mächtig viel zu tun in Stowe. Schließlich muss ich einen Baum finden.«
© Copyright by WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
Mit größter Sorgfalt setzte Packy Noonan ein Kreuz in den Kalender, den er an seine Zellenwand geheftet hatte. Die Zelle befand sich in einem Bundesgefängnis unweit von Philadelphia, das sich »Stadt der brüderlichen Liebe« nannte. Packy strömte geradezu über vor lauter Liebe zu seinen Mitmenschen. Seit zwölf Jahren war er nun Gast der Regierung der Vereinigten Staaten, genauer gesagt seit zwölf Jahren, vier Monaten und zwei Tagen. Aber weil er mehr als fünfundachtzig Prozent seiner Strafe absolviert hatte, und dies bei stets tadelloser Führung, hatte der Haftrichter nach einigem Zögern beschlossen, Packy zum 12. November auf freien Fuß zu setzen. Noch zwei Wochen. Packy, der mit vollem Namen Patrick Coogan Noonan hieß, war ein Weltmeister in der Kunst des Betruges, und sein Verbrechen hatte darin bestanden, gutgläubigen Investoren insgesamt fast einhundert Millionen US-Dollar abzuschwatzen - für eine nach außen hin blitzsaubere Firma, die er selbst gegründet hatte. Als das Kartenhaus schließlich eingestürzt war, konnte niemand sagen, wo das Geld geblieben war - immerhin fast achtzig Millionen Dollar, wenn man das abzog, was Packy für Häuser, Autos, Schmuck, Schmiergelder und halbseidene Damen ausgegeben hatte. In den Jahren seiner Haft war Packy stets bei seiner ursprünglichen Geschichte geblieben: Er bestand darauf, dass seine beiden abgetauchten Compagnons mit dem restlichen Geld verschwunden waren und dass er, ebenso wie die Investoren, ein Opfer der eigenen Gutgläubigkeit geworden sei. Er war fünfzig Jahre alt, hatte ein schmales Gesicht mit einer Hakennase und eng stehenden Augen, schütteres braunes Haar und ein Vertrauen erweckendes Lächeln. Seine Haftjahre hatte er mit stoischer Ruhe hinter sich gebracht. Schließlich wusste er, wenn der Tag seiner Entlassung kam, würde ihn sein Notgroschen von achtzig Millionen Dollar für manche Unannehmlichkeit entschädigen. Sobald er die Beute an sich gebracht hätte, würde er sich eine neue Identität verschaffen, und dann würde ihn ein Privatjet nach Brasilien bringen, wo bereits ein hoch qualifizierter Chirurg auf ihn wartete, um die scharfen Gesichtszüge ein wenig in Ordnung zu bringen, die allzu leicht als Blaupause seiner ebenso scharfen Gedanken hätten dienen können. Alle diese Arrangements waren von seinen beiden abgetauchten Compagnons in die Wege geleitet worden, die bereits in Brasilien lebten und dort von zehn Millionen Dollar aus den fehlenden Kundengeldern zehrten. Das restliche Vermögen hatte Packy vor seiner Verhaftung noch in Sicherheit bringen können - ein Umstand, der ihm die Kooperationsbereitschaft seiner Komplizen sicherte. Der Plan, seit langer Zeit ausgearbeitet, sah vor, dass Packy nach seiner Entlassung brav in das Übergangswohnheim in New York traben sollte, wie es die Bewährungsauflagen für seine vorzeitige Entlassung verlangten. Dort würde er einen Tag lang allen Regeln folgen, dann würde er eventuelle Verfolger abschütteln, seine Komplizen treffen und mit ihnen nach Stowe in Vermont fahren. Dort gab es ein angemietetes Bauernhaus, einen Tieflader und eine Scheune, um ihn zu verstecken, und das Werkzeug, das man brauchte, um einen sehr hohen Baum zu fällen. »Warum gerade Vermont?«, hatte Giuseppe Como gefragt, besser bekannt als Jo-Jo. »Du hast doch gesagt, du hast die Beute in New Jersey versteckt. Du wirst uns doch nicht belogen haben, Packy?«
»Wie sollte ich euch jemals belügen?«, hatte Packy mit dramatischem Tonfall gefragt. »Vielleicht wollte ich nur nicht, dass ihr im Schlaf sprecht.« Jo-Jo und Benny, die 42-jährigen Zwillinge, waren in den Coup von Anfang an einbezogen gewesen, gaben aber beide bereitwillig zu, dass keiner von ihnen den Kopf besaß, um sich derart große Pläne auszudenken. Sie akzeptierten ihre Rolle als Packys Fußtruppe und freuten sich über die Brosamen, die von seinem Tisch fielen, umso mehr, als es sich in der Regel um äußerst lukrative Brosamen handelte. »O Tannenbaum, mein Tannenbaum«, summte Packy vor sich hin, als er sich vorstellte, wie er den einen ganz speziellen Ast an dem einen ganz speziellen Baum in Vermont wieder finden würde und wie es sich anfühlen würde, die Thermosflasche mit den schier unbezahlbaren Diamanten wieder in der Hand zu halten, die seit mehr als dreizehn Jahren dort saß wie ein Vogel im Nest.
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Es war frisch an diesem Nachmittag mitten im November, aber Alvirah und Willy Meehan beschlossen dennoch, den Weg von ihrer Selbsthilfegruppe für Lotteriegewinner nach Hause zu Fuß zurückzulegen. Zu Hause, das war eine Wohnung in dem Viertel südlich des Central Parks. Alvirah hatte die Selbsthilfegruppe gegründet, als sie und Willy die vierzig Millionen Dollar gewonnen hatten. Damals hatten sie eine ganze Reihe warnender E-Mails von Leuten erhalten, die ihnen schrieben, dass auch sie Berge von Geld gewonnen hätten und dass ihnen diese gewaltigen Summen in null Komma nichts zwischen den Fingern zerronnen seien. Diesen Monat hatten sie das Treffen der Gruppe ein paar Tage vorverlegt, denn sie wollten nach Stowe in Vermont fahren, um dort im »Hotel Trapp-Familie« (benannt nach dem in den Vierzigern so populären Familienchor, der aus Österreich in die USA geflohen war) ein langes Wochenende zu verbringen, gemeinsam mit ihrer guten Freundin, der Privatdetektivin Regan Reilly. Regan würde ihren Verlobten Jack Reilly mitbringen, den Leiter der Abteilung für Kapitalverbrechen bei der New Yorker Polizei, und ihre Eltern Luke und Nora. Nora war eine bekannte Krimi-Autorin; Luke besaß ein Bestattungsunternehmen. Die Geschäfte waren derzeit geradezu hektisch, aber Luke hatte gesagt, keine noch so dringende Leiche werde ihn von diesem Kurzurlaub abhalten.
Alvirah und Willy hatten damals gerade die Sechzig vollendet und waren seit vierzig Jahren verheiratet, als jener schicksalhafte Abend hereinbrach. Sie hatten in Flushing, Queens, gelebt, an jenem Abend, als die kleinen Kugeln fielen, jede mit einer Zahl darauf und exakt in jener Folge, die die Meehans seit Jahren spielten: eine Kombination aus ihren Geburtstagen und ihrem Hochzeitstag. Alvirah hatte im Wohnzimmer gesessen und ein Fußbad genommen, denn sie hatte einen harten Tag auf ihrer Freitags-Putzstelle hinter sich - ihre dortige Auftraggeberin, Mrs O'Keefe, war ein entsetzlicher Schmutzfink. Willy, der eine Installationswerkstatt sein Eigen nannte, war gerade nach Hause gekommen, nachdem er noch schnell in dem alten Mietshaus auf dem Grundstück nebenan eine Toilette repariert hatte. Im ersten Augenblick war Alvirah wie gelähmt gewesen, dann war sie aufgesprungen und hatte prompt ihr Fußbad verschüttet. Auf nassen, nackten Füßen war sie mit Willy durchs Zimmer getanzt, und sie hatten beide gleichzeitig gelacht und geweint. Nach diesem ersten Gefühlsausbruch waren sie vernünftig und vorsichtig gewesen. Die einzige Extravaganz, die sie sich geleistet hatten, war die Dreizimmerwohnung mit Terrasse über dem Central Park gewesen. Und selbst hier waren sie vorsichtig genug, die Wohnung in Flushing zu behalten für den Fall, dass der Staat New York Pleite ging und die Zahlungen an sie einstellte. Die Hälfte des Geldes, das sie jedes Jahr ausgezahlt bekamen, sparten sie und investierten es klug. Alvirahs flammend orangerotes Haar hatte einen goldenen Ton angenommen, seit der Starfriseur Antonio Hand daran anlegte. Ihre Freundin Baronesse Min von Schreiber hatte mit ihr den schönen Hosenanzug aus Tweed ausgesucht, den sie trug. Min hatte sie irgendwann gebeten, niemals allein shoppen zu gehen: Alvirah, so sagte sie, sei leider eine allzu leichte Beute für Verkäufer, die ihren Kunden Ladenhüter aufschwatzen wollten.
Natürlich hatte Alvirah dem Schrubber und dem Putzeimer Lebewohl gesagt, aber in ihrem neuen Leben war sie beschäftigter als je zuvor. Ihr guter Riecher für Menschen, die in Schwierigkeiten waren, und ihr Talent, Probleme zu lösen, hatten sie zur Amateurdetektivin gemacht. Als kleine Arbeitshilfe hatte sie ein Mikrofon in ihrer großen Sonnenblumen-Brosche versteckt und schaltete es ein, wenn sie auch nur den leisen Eindruck gewann, ihr Gesprächspartner habe etwas zu verbergen. In den drei Jahren ihres Lebens als Multimillionärin hatte sie ein Dutzend Verbrechen aufgeklärt und darüber in der Wochenzeitung The New York Globe berichtet. Die Leser waren so begeistert von ihren Abenteuern, dass sie mittlerweile eine eigene zweiwöchentliche Kolumne hatte, auch wenn sie gerade über kein Verbrechen berichten konnte. Willy hatte sein Ein-Mann-Unternehmen ebenfalls aufgegeben, arbeitete aber genau wie seine Frau mehr denn je: Er widmete sein Talent nun der Verbesserung der Wohnverhältnisse armer Rentner auf der West Side, unterstützt von der Ältesten aus seiner großen Geschwisterschar, Schwester Cordelia, einer höchst beeindruckenden Nonne aus einem Dominikanerinnenkonvent. Heute hatte sich die Selbsthilfegruppe in einer großartigen Wohnung im Trump Tower getroffen, die Herman Hicks erstanden hatte, ein Neuzugang unter den Lotteriegewinnern, der, wie Alvirah soeben leicht beunruhigt zu Willy sagte, sein Geld entschieden zu schnell ausgab. Gerade näherten sie sich der Ampel an der Fifth Avenue gegenüber dem Plaza Hotel. »Es wird schon gelb«, sagte Willy. »Bei diesem Verkehr möchte ich lieber nicht mitten auf der Straße stehen bleiben. Die sind im Stande und fahren uns in Grund und Boden.«
Wenn es nach Alvirah gegangen wäre, hätten sie einfach mehr Tempo gemacht. Sie hasste es, eine Ampelphase auszulassen, aber Willy war eben sehr vorsichtig. Das ist der Unterschied zwischen uns, dachte sie mit einem milden Lächeln, die Risikofreudigere von uns beiden bin ich. »Ich denke, Herman kriegt das schon hin«, sagte Willy beruhigend. »Wie er schon sagte, er hat sein Leben lang davon geträumt, im Trump Tower zu wohnen, und eine Immobilie ist doch immer eine gute Investition. Die Möbel hat er den Vorbesitzern zu einem fairen Preis abgekauft, und die einzige Extravaganz, die er sich geleistet hat, war dieser Designerschrank von Paul Stewart.« »Mag schon sein, aber ein siebzigjähriger kinderloser Witwer mit zwanzig Millionen nach Abzug aller Steuern wird wohl keinen Mangel an Damen haben, die ihn mit Tunfischauflauf oder ähnlichen Leckereien beglücken wollen«, stellte Alvirah besorgt fest. »Wenn er doch bloß merken würde, was für eine wunderbare Frau Opal ist.« Opal Fogarty war ein Gründungsmitglied der Selbsthilfegruppe. Sie hatte sich ihnen angeschlossen, nachdem sie in Alvirahs Kolumne im New York Globe davon gelesen hatte, denn, wie sie zu sagen pflegte: »Ich bin das Musterbeispiel einer Lotteriegewinnerin, die alles verloren hat. Und ich würde gern einige Anfänger warnen, damit sie nicht einem von diesen aalglatten Typen in die Finger geraten.« Heute waren zwei neue Mitglieder dabei gewesen, und Opal hatte ihre Geschichte erzählt, wie sie in eine Spedition investiert hatte, deren Eigner nichts anderes transportiert hatte als das Geld aus ihrer Tasche in die seine. »Ich hatte sechs Millionen Dollar in der Lotterie gewonnen «, erklärte sie. »Nach Abzug aller Steuern waren mir drei Millionen geblieben. Und dann kam dieser Kerl namens Patrick Noonan und überredete mich, in seine windige Firma zu investieren. Ich habe den heiligen Patrick immer sehr verehrt, und irgendwie dachte ich, jeder, der seinen Namen trägt, müsste ein ehrlicher Mensch sein. Konnte ich denn ahnen, dass der Schurke überall nur Packy genannt wird? Na, jedenfalls kommt der Kerl nächste Woche aus dem Gefängnis «, seufzte sie, »und ich wünschte nur, ich könnte mich unsichtbar machen und mich an seine Fersen heften, denn ich weiß genau, dass er irgendwo das ganze Geld versteckt hat.« Opals blaue Augen füllten sich regelmäßig mit Zornes- tränen bei dem Gedanken, dass es Packy Noonan womöglich gelingen könnte, wieder an die Beute zu kommen - an das Geld, das er ihr abgenommen hatte. »Haben Sie damals Ihr ganzes Geld verloren?«, hatte Herman voll Mitgefühl gefragt, und der freundliche Ton in seiner Stimme hatte Alvirah, die im Grunde ihres Herzens eine geborene und leidenschaftliche Heiratsvermittlerin war, in einen fröhlichen Alarmzustand versetzt. »Achthunderttausend Dollar haben sie noch bei ihm gefunden, aber die Anwaltskanzlei, die vom Gericht mit der Wiederbeschaffung des Geldes beauftragt war, verlangte eine Million für ihre Tätigkeit, also blieb für uns Opfer nichts mehr übrig.«
Wie so häufig sprach Willy aus, was Alvirah dachte. »Opals Geschichte hat großen Eindruck auf das junge Paar gemacht, das sechshunderttausend mit einem einzigen Rubbel-Los gewonnen hat«, sagte er jetzt. »Aber was hilft es ihr? Ich meine, da ist sie nun siebenundsechzig Jahre alt und arbeitet immer noch als Bedienung in diesem elenden Diner. Dabei kann sie die schweren Tabletts kaum noch tragen.«
»Demnächst hat sie Urlaub«, ergänzte Alvirah. »Aber ich wette, sie kann es sich nicht leisten, zu verreisen. Ach, Willy, wir haben so viel Glück gehabt!« Sie schenkte ihrem Mann ein kleines Lächeln, und zum zehnten Mal an diesem Tag schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, wie gut er doch aussah. Mit seinem weißen Haarschopf, der gesunden Gesichtsfarbe, den lebhaften blauen Augen und der kräftigen Statur erinnerte er viele Menschen an den verstorbenen Tip O'Neill, den legendären Sprecher des Repräsentantenhauses. Die Ampel wurde grün, sie überquerten die Fifth Avenue und spazierten am Rand des Central Parks entlang zu ihrer Wohnung, die gleich hinter der Seventh Avenue lag. Alvirah deutete auf ein junges Paar, das gerade in eine Pferdekutsche stieg, um eine Fahrt durch den Park zu unternehmen. »Ob er ihr wohl einen Heiratsantrag macht?«, bemerkte sie. »Genau bei so einer Fahrt hast du mich doch damals auch gefragt, ob ich dich heiraten will, erinnerst du dich noch?« »Natürlich erinnere ich mich«, gab Willy zurück. »Und die ganze Zeit habe ich gebangt, ob ich wohl noch genug Geld hätte, um die Fahrt zu bezahlen. Im Restaurant hatte ich nämlich dem Oberkellner fünf Dollar Trinkgeld geben wollen und hatte blöderweise einen Fünfziger erwischt. Das habe ich aber erst gemerkt, als ich den Ring aus der Tasche zog, den ich dir an den Finger stecken wollte. - Na, jedenfalls bin ich froh, dass wir mit den Reillys nach Vermont fahren. Vielleicht können wir dort mal eine Fahrt mit dem Pferdeschlitten machen.« »Ski laufen will ich jedenfalls nicht«, sagte Alvirah. »Deshalb habe ich erst so gezögert, als Regan den Vorschlag machte. Sie und Jack und auch Nora und Luke sind allesamt gute Skifahrer, aber wir können ja langlaufen, außerdem habe ich ein paar Bücher dabei, und Wanderwege gibt es auch. Auf die eine oder andere Weise werden wir uns schon beschäftigen.«
Eine Viertelstunde später, in ihrem schönen Wohnzimmer mit der wunderbaren Aussicht über den Central Park, öffnete sie das Päckchen, das ihr der Portier mitgegeben hatte. »Also, Willy, es ist doch nicht zu glauben«, sagte sie. »Wir haben noch nicht einmal Thanksgiving, und Molloy, McDermott, McFadden und Markey schicken uns schon ein Weihnachtsgeschenk.« Die 4M, wie die Investment- Firma an der Wall Street auch genannt wurde, war von Alvirah und Willy damit beauftragt, das angesparte Geld in Staatsanleihen oder ertragssicheren Aktien anzulegen. »Was schicken sie uns denn?«, rief Willy aus der Küche, wo er ihren Lieblings-Nachmittags-Cocktail zubereitete: einen Manhattan. »Ich hab's noch nicht aufgemacht«, rief Alvirah zurück. »Dieses ganze Plastikzeug, das sie als Verpackung drum herum tun! Aber es sieht aus wie eine Flasche oder ein Krug. Auf der Karte steht: Fröhliche Weihnachten. Du lieber Himmel, warum haben sie es denn so eilig? Es ist doch noch nicht mal Thanksgiving.« »Was auch immer drin ist, mach dir nicht die Fingernägel kaputt«, sagte Willy von der Küche aus. »Ich helf dir gleich.« Mach dir nicht die Fingernägel kaputt. Alvirah lächelte in sich hinein und dachte an die vielen Jahre, in denen es reine Zeitverschwendung gewesen wäre, auch nur einen Tropfen Nagellack auf ihren Fingernägeln zu verteilen, weil die Bleichmittel und die scharfen Seifen, die sie beim Putzen verwendete, jedem Versuch der Handpflege kurzen Prozess gemacht hätten.
Willy kam mit dem Tablett ins Zimmer: zwei Cocktailgläser und ein Teller mit Käse und Crackern. Herman hatte die Bewirtung bei dem Treffen mit Twinkies und Pulverkaffee bestritten, und sie hatten beides dankend abgelehnt. Willy stellte das Tablett ab und griff nach dem gut verschweißten Päckchen. Mit einem kräftigen Ruck zog er die Klebefolie weg und wickelte das Präsent aus seiner Verpackung. Sein erwartungsvoller Gesichtsausdruck wandelte sich zu Überraschung und schließlich zu ungläubigem Staunen. »Sag mal, wie viel Geld haben wir über 4M investiert?«, fragte er. Alvirah nannte ihm die Summe. »Eben, und jetzt sieh dir das mal an. Sie haben uns einen Krug mit Ahornsirup geschickt. Was sind das denn für Weihnachtsgeschenke?« »Die spinnen doch!«, rief Alvirah aus und nahm ihm den Krug kopfschüttelnd aus der Hand. Dann las sie das Etikett. »Willy, sieh doch!«, rief sie. »Sie haben uns nicht einfach einen Krug mit Ahornsirup geschenkt, sondern einen ganzen Baum! Hier steht's: ›Dieser Sirup stammt von dem Baum, der ausschließlich für Willy und Alvirah Meehan reserviert ist. Bitte kommen Sie, und zapfen Sie Ihren Baum wieder an, wenn der Krug leer ist.‹ Wo der Baum wohl stehen mag?« Willy wühlte sich durch das Verpackungsmaterial. »Hier ist eine Beschreibung. Nein, es ist sogar eine Landkarte.« Er betrachtete sie und fing an zu lachen. »Siehst du, mein Schatz, jetzt haben wir in Stowe noch mehr Beschäftigung. Wir können nämlich unseren Baum suchen. Nach der Karte müsste er gleich beim ›Hotel Trapp-Familie‹ stehen.« Das Telefon klingelte, und am anderen Ende der Leitung war Regan Reilly, die aus Los Angeles anrief.
»Na, seid ihr reisefertig?«, fragte sie. »Es wird sich doch niemand drücken wollen?« »Nie im Leben, Regan«, beruhigte Alvirah sie. »Ich habe mächtig viel zu tun in Stowe. Schließlich muss ich einen Baum finden.«
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Autoren-Porträt von Mary & Carol Higgins Clark
Mary Higgins Clark ist eine der erfolgreichsten Krimiautorinnen der Welt. Sie hat weit über 20 Romane verfasst, die auch in Deutschland zu Bestsellern wurden. Außerdem legte sie einen Band mit Memoiren vor. Mary Higgins Clark kebt mir ihrem Mann John Conheeney in Saddle River, New York.Carol Higgins Clark hat mehrere erfolgreiche Krimis um die Privatdetektivin Regan Reilly verfasst, von denen einige auch auf Deutsch vorliegen. Sie lebt in New York City.
Bibliographische Angaben
- Autor: Mary & Carol Higgins Clark
- 224 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863655370
- ISBN-13: 9783863655372
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