Die Abgestellten
Einst prägte die Schicht der gut verdienenden, angestellten Gehaltsempfänger Deutschland mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe. Doch nun gerät die Angestelltengruppe in ihre erste große Krise, die Zahl der Festangestellten schrumpft täglich. Es gilt...
Einst prägte die Schicht der gut verdienenden, angestellten Gehaltsempfänger Deutschland mehr als jede andere Bevölkerungsgruppe. Doch nun gerät die Angestelltengruppe in ihre erste große Krise, die Zahl der Festangestellten schrumpft täglich. Es gilt Abschied zu nehmen von der Angestelltenrepublik. Günter Ogger enthüllt die Fakten dieser bitteren Wahrheit.
Jeder zweite Boarbeitsplatz ist akut gefrdet.
(Studie Hans-Bkler-Institut)
92% der befragten Angestellten vermissen ein festes Einkommen, 88% die Sicherheit des Arbeitsplatzes, 84% die Anerkennung durch ihre Vorgesetzten.
Die Angst der Mitarbeiter frt zu Minderleistungen von ca. 100 Milliarden Euro im Jahr.
Die Abgestellten von Günter Ogger
LESEPROBE
I - Das Drama der Angestellten
Was mir vor35 Jahren relativ leicht gelang, ist heute für viele Angestellte eine bittereNotwendigkeit. Nicht aus eigenem ntrieb, sondern weilihnen keine andere Wahl bleibt, verabschieden sich immer mehr Deutsche ausdem, was die Arbeitsmarktstatistiker ein unbefristetes sozialversicherungspflichtigesBeschäftigungsverhältnis nennen. Millionen halten sich bereits mit Mini- oderMidi-Jobs über Wasser, malochen als Teilzeitkräfte oder vorübergehend.Beschäftigungslose Zeiten überbrücken sie mit einer Ich-AG,und nicht wenige von ihnen hoffen, als Mikro- Unternehmer in freier Wildbahnüberleben zu können. Flexibilität heißt das Gebot der Stunde, und wer nichtschnell genug den nächsten Auftrag an Land zieht, bleibt auf der Strecke.
DieKündigungswelle, die derzeit durchs Land rollt, ist deswegen so erschreckend,weil sie unsere Gesellschaft grundlegend verändern wird. Die Jobs, die jetztwegrationalisiert werden, kommen in dieser Qualität nicht wieder. Ersetztwerden sie allenfalls durch flexible Beschäftigungsverhältnisse, die schlechterbezahlt, weniger geschützt und jederzeit kündbar sind. Als Krupp das StahlwerkRheinhausen dichtmachte, Opel Tausende von Autobauern nach Hause schickte undim Osten die Industriekombinate der DDR abgewickelt wurden, da war das für dieBetroffenen zwar eine Katastrophe, aber Deutschland blieb, was es war - einWohlfahrtsstaat, der auch unter der Last von fünf MillionenArbeitslosennicht zusammenbrach. Was ihn zusammenhielt, war jene staatstragende Schicht dergut verdienenden Angestellten, die sich jetzt allmählich aufzulösen beginnt.
DerNiedergang der Arbeiterklasse erscheint harmlos im Vergleich zu dem Drama, dasdie rund 18 Millionen Angestellten der Nation erfasst hat. Eliminiert, ersetztoder ausgelagert werden jetzt nicht mehr die Muskeln der deutschen Wirtschaft,sondern ihr Gehirn. Optimierte Betriebsabläufe und verschlankteOrganisationsstrukturen machen einen Großteil des bisherigen Middlemanagements überflüssig. Moderne Informationstechnik ersetztin immer schnellerem Tempo Entwickler und Konstrukteure, Buchhalter undController, Produktionsplaner und Vertriebsleute. Und was sich nichtautomatisieren lässt, wird dort erledigt, wo die Kosten gering sind. Imfrüheren Ostblock wie in China, auf dem indischen Subkontinent wie inSüdostasien warten Millionen gut ausgebildeter Ersatzleute auf ihre Chance, füreinen Bruchteil der deutschen Gehälter Daten einzugeben und auszuwerten,Rechnungen zu kontieren oder Computerprogramme zuschreiben. Jeder zweite Büroarbeitsplatz ist, nach einer Studie dergewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung, akutgefährdet.
Entlassungenmit Kursgewinnen belohnt
»Büroflächenzu vermieten« - die Plakate zieren Neubauten in bester Zentrumslage ebenso wieleer gefegte Industriedenkmäler am Rande der Stadt. Wohin sind wohl all dieMenschen verschwunden, die hier einst den Schriftverkehr abwickelten, Tabellentippten, Kalkulationen erstellten oder Angebote verfassten? Und wo sind die,die hier einziehen sollten? Sitzen sie vielleicht irgendwo in Ungarn, wo AudiMotoren bauen, Lufthansa Tickets abrechnen und SAP Software entwickeln lässt?In Rumänien, wo Hunderte von Ingenieuren für Conti an Steuerungssystemen fürFahrwerke tüfteln? Oder gar in Indien, wo die Deutsche Bank zuletzt dreiMilliarden investierte und 4000 Mitarbeiter einstellte? Jedenfalls sind sienicht mehr da, wo sie eigentlich hingehörten, und das ist das Thema diesesBuches.
Es ist nochnicht lang her, da wurde Deutschlands Mittelklasse in der ganzen Weltbewundert und beneidet. Nirgendwo sonst verdienten abhängig Beschäftigte soviel Geld für so wenig Arbeit. Selbst die saturierten Schweizer oder dieölreichen Norweger mussten fürs gleiche Gehalt länger malochen als die Bewohnerdes Angestelltenparadieses zwischen Füssen und Flensburg. Die Privilegiendeutscher Arbeitnehmer, vom Kündigungsschutz über die Lohnfortzahlung imKrankheitsfall bis hin zum Weihnachtsgeld, waren ebenso sprichwörtlich wie ihr inBlech gestanzter Wohlstand. Mit ihren Urlaubsbudgets finanzierten sie halb Südeuropa,und ihr Hunger nach immer teureren Autos machten Daimler & Co zurmächtigsten Industrie des Kontinents. Sie selbst hielten ihre sozialenBesitzstände für selbstverständlich und Kanzler Helmut Kohl, als er über den»kollektiven Freizeitpark Deutschland« lästerte, für einen Spielverderber.
Inzwischenhat sich, jeder weiß es, das Blatt gewendet. Maßen die Bosse der Wirtschaftihre Bedeutung einst an der Zahl der Leute, die sie beschäftigten, so gilt inihren Kreisen heute jeder, der noch viele Leute auf der Payrollstehen hat, als bedauernswerter Tropf. Gnadenlos strafen die FinanzmärkteKonzerne mit überdimensionierten Belegschaften ab - wie Post und Telekom. Entlassungenhingegen werden mit Kursgewinnen belohnt - bei VW und DaimlerChryslerwie bei Allianz, Deutscher Bank und Siemens. Die Rendite aufs eingesetzteKapital ist jetzt die Messzahl, auf die es ankommt. Das einst hochgelobte »Humankapital« steht nur noch als Kostenfaktorin der Bilanz, und die Möglichkeiten, ihn zu minimieren, sind heute größerdenn je.
Binnenweniger Jahre hat sich das weltweite Angebot an ausgebildeten Arbeitskräftenvon 1,46 auf 2,98 Milliarden Menschen verdoppelt; China verfügt bereits über1,6 Millionen Ingenieure, die zu lächerlichen Stundensätzen auch füreuropäische Auftraggeber arbeiten, und jedes Jahr verlässt eine weitere Milliondie Hochschulen; Indiens Ingenieure vermehren sich jährlich um 400 000.Angesichts der für sie paradiesischen Zustände stellen Deutschlands Arbeitgeberihre Beschäftigten vor die Wahl: schlechtere Jobs oder keine Jobs. Der nachHaustarif bezahlte Luxusangestellte ist, ob man es zugeben mag oder nicht, einAuslaufmodell, und die alte, sozialdemokratisch legitimierte Arbeitnehmerherrlichkeitwird nie wieder zurückkehren.
Zubesichtigen ist eine sterbende Kaste. Auch wenn sich unsere Politiker ob deraktuell wieder etwas freundlicheren Botschaften aus der NürnbergerBundesanstalt auf die Schultern klopfen und regierungsfromme Medien voreiligvon einem »Durch bruch am Arbeitsmarkt«schwadronieren - der jüngste Konjunkturaufschwung verdeckt in Wahrheit nur dieTatsache, dass die meisten der neu eingestellten Arbeitskräfte in atypischenJobs landen. Sozialwissenschaftler verstehen darunter geringfügig oderbefristet Beschäftigte ebenso wie Teilzeitkräfte oder Leiharbeiter.
DerMittelstand bricht weg
Während dasHeer der atypisch Beschäftigten von Tag zu Tag mit erstaunlichem Tempo wächst,schrumpft der große Rest immer weiter zusammen. Erfreuten sich 1968 noch über75 Prozent aller Erwerbspersonen in Westdeutschland einer unbefristetenVollzeitstelle, so waren es Ende 2006 nur noch gut die Hälfte; rund 4,6Millionen steckten bereits in Teilzeitjobs. Alarmierend ist der hohe Anteilder »prekären« Arbeitsverhältnisse, die so wenig abwerfen, dass es kaum zumLeben reicht. Nach einer 2006 veröffentlichten Studie der IG Metall muss sichjeder vierte Arbeitnehmer unter 30 mit einem Hungerleiderjob zufriedengeben.
Alle Weltredet über den »demographischen Faktor«. Wegen der drohenden Überalterung derGesellschaft sorgen sich Politiker um die gesetzlichen Renten- undKrankenkassen, fürchten Un ternehmerund Manager die nachlassende Kaufkraft der Kund schaft,beklagen Sender, Verlage und Werbeagenturen das schwindende Medieninteresse.Kaum jemand hat den mindestens ebenso bedeutsamen »Flexibilitätsfaktor« aufdem Radarschirm: Wenn der Großteil der erwerbsfähigen Bevölkerung nur noch»flexibel« beschäftigt ist, schwinden Stabilität und Zukunftsvertrauen. Junge Leute werden sich kaum noch auf Ehen und Kinder einlassen, diemittleren Jahrgänge auf Häuser und Hypotheken verzichten. Man lebt von derKreditkarte in den Mund, scheut langfristige Verpflichtungen, wechselt denPartner fast ebenso leicht wie die Partei, den Wohnort oder die Automarke. Wersich jung und stark fühlt, verlässt das Land, wer über gefragte Kenntnisse undFähigkeiten verfügt, bietet sein Know- how auf dem Weltmarkt an. Etwa 150 000 Deutsche wanderten imJahr 2006 aus; die meisten zog es in die Schweiz.
Nichteinmal die Wiedervereinigung hat die Nation so sehr durcheinandergewirbeltwie die Flexibilisierung des Arbeitsmarktes. Altbewährte Strukturen werdenüber Nacht obsolet, ganze Wirtschaftszweige geraten in Gefahr. Das fängt mitden vielen unvermieteten Büros an und hört mit dem nachlassenden Interesse anLebensversicherungen und Bausparverträgen nicht auf. Banken und Bausparkassen,Geburtskliniken und Gesangsvereine, Kindergärten undKreditkartenorganisationen, Makler und Möbelhäuser müssen sich auf die neueMobilität der Deutschen einstellen. Die Frage ist nur, ob die neu gewonneneFreiheit zu so viel mehr Dynamik führt, dass die Nation über leben kann.
BeklagtenPolitiker, Unternehmer und Medien in den letzten Jahren Verkrustung und Bräsigkeit der deutschen Gesellschaft, so fährt ihnenjetzt, da der Mittelstand wegzubrechen beginnt, derSchreck in die Knochen. »Schluss mit den Reformen«, forderte kategorisch derSPD-Vorsitzende Kurt Beck, und auch in der Union entdecken Spitzenpolitiker wieNRW-Landesvater Jürgen Rüttgers ihr soziales Gewissen. Ein Deutschland ohneseine teuren, aber verwöhnten, fleißigen, aber schwer kündbaren Angestelltenvermag sich niemand vorzustellen. Ein Land, das nicht mehr von braven Häuslebauern, sondern von unberechenbaren Jobnomadenbewohnt wird, stellt nicht nur für seine Nachbarn, sondern auch für seineGläubiger ein erhöhtes Risiko dar. Wer soll die überbordenden Staatsschuldenzurückzahlen, wer die maroden Sozialkassen füllen, wenn die Konzerne in Steueroasenflüchten und ihre freigesetzten Angestellten sich mit Gelegenheitsjobs überWasser halten?
Lassen sichdemographische Faktoren wie Geburtenzahlen und Altersdurchschnitte anhand derBevölkerungsstatistik ohne größeren Aufwand präzise bestimmen, so umgibt den»Flexibilitätsfaktor« ein dichter Nebel. Eigenartigerweise weisen weder dieoffizielle Arbeitsmarktstatistik noch die Erhebungen der verschiedenenForschungsinstitute den Anteil der flexibel Beschäftigten zuverlässig aus.Gezählt werden neben der Gesamtzahl der Erwerbstätigen (2006: durchschnittlich39,0 Millionen) nur die sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätze: 2006waren das 26,36 Millionen.
© Verlag C.Bertelsmann
- Autor: Günter Ogger
- 2007, 1, 287 Seiten, Maße: 14,2 x 21,8 cm, Gebunden, Deutsch
- Verlag: C. Bertelsmann
- ISBN-10: 3570009602
- ISBN-13: 9783570009604
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