Die Angst im Nacken
Roman
Harlow wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Der Verrückte, der sie vor 20 Jahren entführt hatte, lebt noch. Aus Angst beauftragt sie Detective Malone. Schon bald verbindet beide eine Affäre. Doch kann sie ihm trauen? Und welche Rolle spielt der Psychologe Dr. Ben Walker?
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Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Angst im Nacken “
Harlow wird von ihrer Vergangenheit eingeholt: Der Verrückte, der sie vor 20 Jahren entführt hatte, lebt noch. Aus Angst beauftragt sie Detective Malone. Schon bald verbindet beide eine Affäre. Doch kann sie ihm trauen? Und welche Rolle spielt der Psychologe Dr. Ben Walker?
Klappentext zu „Die Angst im Nacken “
Vor mehr als zwanzig Jahren hat Harlow Anastasia Grail einen wahren Albtraum überlebt. Ein Verrückter hat sie entführt und ihr den kleinen Finger abgeschnitten. Um die traumatische Vergangenheit vergessen zu können, hat Harlow ihren Namen geändert und alle Brücken hinter sich abgebrochen. Nun der Schock: Der Albtraum ist nicht vorbei der Mann von damals lebt. Aus Angst um ihr Leben beauftragt die junge Autorin Detective Quentin Malone. Schon bald verbindet die beiden eine leidenschaftliche Affäre. Doch kann sie ihm wirklich trauen? Und welche Rolle spielt der attraktive Psychologe Dr. Ben Walker? Ein dramatischer Wettlauf um Leben und Tod beginnt .
Lese-Probe zu „Die Angst im Nacken “
Die Angst im Nacken von Erica SpindlerAus dem Englischen von Margret Krätzig
Prolog
Juni 1978
Südkalifornien
Die dreizehnjährige Harlow Anastasia Grail litt Todesangst, während sie sich mit dem weinend an sie gekauerten Timmy in eine Ecke des dunklen, fensterlosen Raumes drückte.
Der Filzteppich roch leicht nach Urin, genau wie die Matratze, auf der sie vor Stunden mit Timmy erwacht war. Oder vor Tagen? Harlow hatte jegliches Zeitgefühl verloren, seit sie mit Timmy von Monica, der Kinderschwester, der ihr Vater vertraut hatte, in ein fremdes Auto gelockt worden war.
Er hatte drinnen gewartet, der Mann, den Monica Kurt nannte.
Harlow schauderte bei der Erinnerung an sein kaltes Lächeln. Sie hatte sofort gewusst, dass er ihr und Timmy etwas antun wollte. Schreiend hatte sie nach dem Türgriff gelangt. Er hatte sie fest gehalten, bis Monica ihr etwas spritzte, das ihre Welt in Dunkelheit versinken ließ.
"Ich will nach Hause!" wimmerte Timmy. "Ich will zu Mom."
Beschützend zog Harlow den Jungen enger an sich. Es war ihre Schuld, dass er hier war. Sie musste sich um ihn kümmern, sie war für ihn verantwortlich. "Es wird alles gut. Ich beschütze dich."
Aus dem Nachbarzimmer klang eine Fernsehreportage herüber:
"... im Entführungsfall der kleinen Harlow Grail und ihres Freundes Timmy Price. Harlow Grail, Tochter der Schauspielerin Savannah Grail und des Schönheitschirurgen Cornelius Grail aus Hollywood, war aus den Stallungen des Familienanwesens entführt worden. Der sechsjährige Sohn der Haushälterin war Harlow offenbar in die Stallungen gefolgt und wurde ebenfalls entführt. Die Behörden glauben, dass er nur ein zufälliges Opfer ist, und die FBI-Agenten ..."
... mehr
Ein Krachen, dann das Geräusch von splitterndem Holz. "Diese Hurensöhne!"
"Kurt, beruhige dich ..."
"Ich habe ihnen gesagt, was passiert, wenn sie die Polizei einschalten! Diese dämlichen Hollywood-Arschlöcher! Ich habs Ihnen gesagt ..."
"Kurt, um Himmels willen, nicht ..."
Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Kurt stand im Rahmen, heftig atmend, das Gesicht weiß vor Wut. Monica und die andere Frau, die sie Sis nannten, verharrten ängstlich hinter ihm.
"Deine Eltern haben nicht auf mich gehört!" sagte er leise, mit vor Hass vibrierender Stimme. "Schade um euch."
"Lassen Sie uns gehen!" flehte Harlow und hielt Timmy fest. Der Junge drückte sich hysterisch schluchzend an sie.
Kurt lachte grausam. "Verwöhnte kleine Göre. Wie soll ich bekommen, was ich haben will, wenn ich euch gehen lasse?"
Er war mit wenigen Schritten bei ihr und entriss ihr Timmy.
"Ha'low!" schrie der Junge angstvoll auf.
"Lassen Sie ihn los!" Als sie aufsprang, ihm zu helfen, schossen Monica und Sis vor und hielten sie zurück. Harlow wehrte sich, doch die beiden waren stark. Sie hielten sie an den Armen fest, dass sich ihre Nägel in ihr Fleisch bohrten.
Kurt warf den zappelnden Jungen auf die schmutzige Pritsche und hielt ihn nieder. "Sieh gut hin, Prinzessin!" forderte er sie auf. "Sieh dir an, was deine Eltern angerichtet haben. Sie haben nicht auf mich gehört. Ich hatte sie gewarnt, sich nicht an die Behörden zu wenden. Ich habe ihnen gesagt, welche Konsequenzen das hat. Sie haben das zu verantworten, diese dummen Hollywood-Arschlöcher." Damit schnappte er sich ein Kissen und presste es Timmy auf das Gesicht.
"Nein!" Ihr Schrei hallte von den Wänden wider. "Nein!"
Timmy kämpfte. Er zerkratzte Kurt die Hände, heftig zunächst, dann langsam schwächer werdend. Harlow sah entsetzt zu und flehte tränenüberströmt um sein Leben.
Schließlich lag Timmy still. "Nein!" schrie sie noch einmal. "Timmy!"
Kurt richtete sich auf. Er drehte sich ihr zu, die Lippen zu einem bösen Lächeln verzogen. "Du bist dran, Prinzessin."
Er und Monica zerrten sie in die Küche. Sie sagte sich, dass sie kämpfen müsse, doch das lähmende Entsetzen ließ sie nur noch flehen. Monica zerrte ihr die rechte Hand über das fleckige abgesplitterte Porzellanspülbecken.
"Bereit oder nicht, es geht los", sagte Kurt.
Harlow sah das Aufblitzen von Metall, eine Art Schere oder Zange, und wollte aufschreien.
Er nahm ihre rechte Hand, die Zange schloss sich um den kleinen Finger. Ein heißer, betäubender Schmerz, dann das Knacken von Knochen.
Der Spülstein färbte sich rot. Harlows Blick verschwamm, und die Welt versank in Dunkelheit.
Der Schmerz zog Harlow in heftigen an- und abschwellenden Wellen von der bandagierten Hand den Arm hinauf. Wenn er besonders schlimm war, erfüllte bitterer stählerner Geschmack ihren Mund und verursachte ihr Übelkeit. Sie biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht laut loszuheulen. Sie musste leise sein, absolut still. Kurt und die anderen glaubten, sie schliefe, benebelt von den Schmerztabletten, die Monica ihr gegeben hatte. Doch sie hatte nur so getan, als hätte sie sie geschluckt.
Eine neue Schmerzwelle verging, und Harlow hatte einige Sekunden Ruhe vor den Qualen. Tränen des Entsetzens und der Hoffnungslosigkeit standen ihr in den Augen. Eine neue Schmerzwelle zog heran. Schwindelig, am Rande einer Bewusstlosigkeit, bekam sie kaum noch Luft. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sie durfte Schmerz und Angst nicht nachgeben. Nicht wenn sie überleben wollte. Ihre Eltern würden heute Nacht das Lösegeld zahlen. Sie hatte Kurt zu den anderen sagen hören, dass er sie gehen ließe, sobald er das Geld habe.
Er log, dieser gemeine Bastard. Er hatte Timmy umgebracht, obwohl der Junge ihm nichts getan hatte. Der liebe kleine Timmy. Er hatte nur nach Hause gewollt.
Und dieser dreckige Mistkerl würde auch sie umbringen, gleichgültig, was er den anderen versprach. Auch wenn sie erst dreizehn war, sie war nicht dumm, sie hatte die Gesichter von allen dreien gesehen und konnte sie identifizieren. Dieses Risiko würde Kurt nicht eingehen.
Harlow erhob sich vorsichtig von der Pritsche, damit die Federn nicht quietschten, und kroch über den Filzteppich zur Tür. Sie presste das Ohr daran. Kurt sagte etwas, aber sie konnte nicht genau verstehen, was. Es betraf sie und die Geldübergabe.
Es geschieht heute Nacht!
Harlow eilte zur Pritsche zurück, legte sich hin und schloss die Augen. Sie hörte das Klicken des Türknaufs, der gedreht wurde, dann das leise Aufschwingen der Tür. Jemand trat ein und blieb neben ihrer Pritsche stehen.
Die Tür war wieder nicht abgeschlossen. Warum sollten sie sie auch verschließen? Die gehen davon aus, dass ich wegen der Medikamente fest schlafe.
Ihr Besucher beugte sich über das Bett, und Harlow merkte, dass es die ältere Frau war, Sis. Sie erkannte es an ihrem Geruch nach Rosen und Babypuder, süße Düfte, die den Gestank von Zigaretten nur teilweise überlagerten.
Sis beugte sich zu ihr herunter. Harlow spürte ihren Atem auf dem Gesicht und zwang sich, vollkommen still zu liegen und nicht zurückzuweichen.
"Süßes Lamm", flüsterte Sis. "Es ist jetzt fast überstanden. Sobald Kurt das Geld hat, wird alles gut."
Er ist losgefahren, es zu holen. Die Zeit läuft ab.
"Ich konnte ihn vorhin nicht aufhalten. Er war außer sich. Er ... Deine Eltern hätten sich ihm nicht widersetzen sollen. Es war ihr Fehler. Sie tragen die Verantwortung ..." Sie sprach weinerlich. "Ich habe getan, was ich konnte. Du musst verstehen, er ..."
Du hast nicht getan, was du konntest. Du hättest Timmy retten können, du alte Hexe! Du hast immer so viel Aufhebens um ihn gemacht, aber du hast keinen Finger gerührt, ihn zu retten. Ich hasse dich!
"Ich komme zurück." Die Frau presste ihr einen Kuss auf die Stirn. Harlow hätte fast aufgeschrien. "Schlaf schön, kleine Prinzessin. Es ist bald vorbei."
Die Frau verließ den Raum und zog die Tür zu. Harlow lauschte aufmerksam auf das Klicken, das ein Abschließen der Tür angezeigt hätte.
Nichts.
Sie öffnete die Augen einen Spalt. Sie war allein. Vorsichtig richtete sie sich mit heftigem Herzklopfen auf, besorgt, mit dem kleinsten Geräusch die ältere Frau zu alarmieren. Offenbar hatte sie sich zu schnell aufgesetzt. Benommen vor Schwindel, musste sie sich an der Pritschenkante fest halten. Sie verharrte und atmete tief ein und aus, bis ihr Kopf klarer wurde.
Reglos wartete sie noch einen Moment und sammelte ihre Gedanken. Soweit sie es in den letzten Tagen mitbekommen hatte, wurde sie in einem kleinen, relativ abgelegenen Haus festgehalten. Sie hatte keine Geräusche von Verkehr oder Passanten gehört, und niemand hatte an der Tür geläutet. Am Morgen hatten die Vögel gezwitschert, und nachts hörte sie zweimal Kojoten heulen.
Wenn ich nun niemand finde, der mir hilft? Was, wenn ich mich verlaufe? Wenn der heulende Kojote mich findet und zerreißt?
Handle oder stirb, sagte sie sich zitternd. Kurt würde sie töten. Wenn sie davonlief, hatte sie zumindest eine Chance. Ihre einzige.
Harlow erhob sich von der Pritsche und schwankte leicht. Vorsichtig schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Der Raum dahinter schien leer zu sein. Der Fernseher lief, war aber ohne Ton. Eine Zigarette brannte im Aschenbecher auf der Armlehne des Sessels, und ein Kringel beißender Rauch stieg zur Decke.
Ich muss los! Ich muss rennen!
Bei dem Gedanken setzte sie sich auch schon in Bewegung. Sie erreichte die Haustür, entriegelte sie und riss sie auf. Mit einem leisen, unwillkürlichen Aufschrei taumelte sie in die dunkle, sternenlose Nacht und begann zu rennen, blindlings, schluchzend, über verdorrte Erde und durch ein Dickicht. Sie fiel kopfüber in einen Graben, zog sich wieder heraus, rappelte sich auf und lief weiter.
Sie erreichte eine verlassene Straße. Und sofort keimte Hoffnung in ihr. Hier musste jemand sein, irgendwer ...
Im selben Moment kam ein Auto den Hügel herauf. Seine Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit, trafen auf sie. Sie stand wie erstarrt, zitternd, zu schwach und erschöpft, um auch nur zu winken. Die Lichter kamen näher, der Fahrer hupte.
"Helft mir!" flüsterte sie und fiel auf die Knie. "Bitte, helft mir!"
Das Auto kam mit kreischenden Rädern zum Stehen. Eine Tür ging auf, Schritte auf dem Asphalt.
"Frank, nein!" bat die Frau. "Was ist, wenn ..."
"Um Himmels willen, Donna, ich kann nicht einfach ... Oh mein Gott, es ist ein Kind!"
"Ein Kind?" Die Frau stieg aus dem Wagen. Harlow hob den Kopf, und die Frau japste: "Du lieber Himmel, sieh dir ihr rotes Haar an. Sie ist es. Die Kleine, nach der alle suchen. Harlow Grail."
Der Mann gab einen ungläubigen, skeptischen Laut von sich. Er sah sich um, als werde ihm plötzlich klar, dass sie in Gefahr sein könnten.
"Das gefällt mir nicht", sagte die Frau ängstlich. "Lass uns weiterfahren."
Der Mann stimmte zu. Er hob Harlow hoch und hielt sie vorsichtig auf den Armen. "Es wird alles gut", tröstete er leise auf dem Weg zu seinem Auto. "Wir bringen dich heim. Du bist in Sicherheit."
Harlow ließ sich zitternd an ihn sinken und wusste, dass sie sich nie wieder sicher fühlen würde.
1. Kapitel
Mittwoch, 10. Januar 2001,
New Orleans, Louisiana.
"Timmy! Nein!"
Anna saß kerzengerade im Bett, in kalten Schweiß gebadet. Timmys Name und ihr Schrei schienen von den Schlafzimmerwänden zurückzuhallen.
Erschrocken zog sie sich die Bettdecke unters Kinn und sah sich ängstlich um. Als sie eingeschlummert war, hatte die Nachttischlampe noch gebrannt. Sie schlief immer bei Licht. Doch jetzt war alles dunkel. Die Schatten in den Zimmerecken schienen sie zu necken. Versteckte sich dort jemand? Wenn ja, wer?
Kurt. Er holte sie, um zu beenden, was ihm vor dreiundzwanzig Jahren nicht gelungen war. Um sie zu strafen -- für ihre Flucht und das Durchkreuzen seiner Pläne.
Bereit oder nicht, es geht los.
Anna sprang aus dem Bett und lief den Flur hinunter ins Bad. Sie konnte gerade noch den Toilettendeckel hochreißen, beugte sich vor und übergab sich, bis ihr Magen leer war.
Sie wischte sich den Mund mit einem abgerissenen Streifen Toilettenpapier ab, den sie in die Toilette warf und abzog. Ihre rechte Hand schmerzte. Sie brannte, als hätte Kurt ihr soeben den kleinen Finger abgetrennt, um ihn als Warnung an ihre Eltern zu schicken.
Doch dieses Verbrechen war vor einer Ewigkeit geschehen. Sie war noch das Kind Harlow Anastasia Grail gewesen, die kleine Hollywoodprinzessin. Heute hatte sie eine andere Identität.
Sie drehte den Hahn am Waschbecken auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.
Sie lebte in Sicherheit, in ihrem eigenen Apartment. Außer zu ihren Eltern hatte sie alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt. Keiner ihrer Freunde oder Geschäftspartner kannte ihre wahre Identität. Nicht mal ihr Verleger oder ihr Literaturagent. Sie war jetzt Anna North, und das schon seit vielen Jahren.
Selbst wenn Kurt nach ihr suchen sollte, würde er sie nicht finden. Sie zog das Handtuch aus der Ringhalterung und trocknete sich das Gesicht. Kurt würde nicht nach ihr suchen. Dreiundzwanzig Jahre waren vergangen. Das FBI war damals sicher gewesen, dass der Mann, den sie als Kurt kannte, keine Gefahr für sie darstellte. Sie glaubten, dass er nach Mexiko geflohen war. Die Entdeckung von Monicas Leiche in der Grenzstadt von Baja California sechs Tage nach ihrer Flucht hatte diese Annahme gestützt.
Verärgert über ihre Angst, warf sie das Handtuch auf die Ablagefläche. Wann würde sie das alles endlich hinter sich lassen? Wie viele Jahre mussten noch vergehen, ehe sie ohne Licht schlafen konnte?
Wenn Kurt gefasst worden wäre, hätte sie ihn vergessen und nie mehr darüber nachgedacht, ob er sich rächen wollte. Ihre Flucht hatte die Lösegeldübergabe hinfällig gemacht. Vermutlich hatte er sie verflucht.
Sie betrachtete sich streng im Spiegel. Wenn sie ihre Albträume schon nicht kontrollieren konnte, dann wenigstens ihr Leben. Sie hatte nicht vor, sich von ihren Ängsten beherrschen zu lassen.
Wieder im Schlafzimmer, holte sie Shorts aus der Kommode und zog sie zu ihrem T-Shirt an. Da sie nicht schlafen konnte, wollte sie wenigstens arbeiten. Sie hatte eine neue Idee für eine Geschichte. Warum nicht jetzt damit anfangen? Aber zunächst brauchte sie Kaffee.
Auf dem Weg in die Küche kam sie an ihrem Büro vorbei -- ein Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers -- und schaltete den Computer ein. Im Flur ging sie zur Wohnungstür und prüfte gewohnheitsmäßig den Sicherheitsriegel.
Im selben Moment pochte jemand an die Tür, und sie sprang erschrocken zurück.
"Anna! Ich bin es, Bill ..."
"Und Dalton!"
"Alles in Ordnung bei dir?"
Bill Friends und Dalton Ramsey, ihre Nachbarn und besten Freunde. Gott sei Dank!
Sie öffnete, und die beiden standen besorgt im Flur. Von dort kam auch das Jelpen von Judy und Boo, den beiden Hunden des Paares. "Was um alles in der Welt ... du hast mich zu Tode erschreckt."
"Wir hörten dich schrei..."
"Ich hörte dich schreien", korrigierte Bill. "Ich war auf dem Rückweg ..."
"Er hat mich sofort geholt." Dalton hielt eine kleine Marmorbuchstütze hoch, eine Kopie von Michelangelos David. "Den habe ich mitgenommen, nur für alle Fälle."
Anna unterdrückte ein Lächeln. Sie stellte sich vor, wie Dalton -- in den Fünfzigern und sanftmütig -- ein Stück Marmor gegen einen Einbrecher schleuderte. "Für welche Fälle? Dass meine Bibliothek aufgeräumt werden muss?"
Bill kicherte, Dalton schniefte pikiert. "Für den Fall der Verteidigung natürlich."
Zur Verteidigung gegen einen Einbrecher, der längst über alle Berge ist, bis meine Freunde sich gesammelt, eine Waffe ausgewählt und sich zu meiner Tür durchgeschlagen haben. Dem Himmel sei Dank, dass ich nie wirklich Hilfe gebraucht habe.
Sie verkniff sich ein Lachen und schwang die Tür weiter auf. "Ich danke für eure Fürsorge. Kommt herein, ich mache uns Kaffee zu den Beignets."
"Beignets?" fragte Dalton unschuldig. "Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst."
Anna drohte mit dem Zeigefinger. "Netter Versuch, aber ich rieche sie. Weil ihr mir zu Hilfe gekommen seid, müsst ihr sie zur Strafe mit mir teilen."
Beignets, die schmalzgebackenen, üppig mit Puderzucker bestreuten Teigrechtecke machten -- wie alles in New Orleans -- süchtig.
Und sie waren bestimmt nicht für Leute wie Dalton geeignet, der angeblich auf sein Gewicht achtete.
"Er hat mich dazu verleitet", sagte er beim Eintreten mit einem vorwurfsvollen Blick zu Bill. "Du weißt, ich schlage nie solche Schwelgereien vor."
"Richtig." Bill verdrehte die Augen. "Und wessen Figur deutet eine gewisse Neigung zu Schwelgereien an?"
Dalton wandte sich Hilfe suchend Anna zu. Bill war zehn Jahre jünger als er, schlank und athletisch. "Das ist nicht fair. Er isst alles und setzt nicht an. Ich esse nur eine Winzigkeit und ..."
"Winzigkeit? Hah! Frag ihn nach den Knabbereien."
"Ich hatte einen schlechten Tag. Ich brauchte etwas, um mich aufzumuntern."
Anna hakte sich bei beiden unter und führte sie in die Küche. Ihr Albtraum war schon fast vergessen. Die beiden brachten sie stets zum Lachen. Es erstaunte sie immer wieder, dass diese unterschiedlichen Typen ein Paar waren. Sie erinnerten sie an einen Pfau und einen Pinguin. Bill war unverblümt und manchmal provozierend, Dalton hingegen ein spröder Geschäftsmann, dessen Pingeligkeit oft ziemlichen Wirbel verursachte. Trotz aller Unterschiede waren sie seit zehn Jahren zusammen.
"Ich weiß nicht, wer schuld ist an der Schwelgerei, ich bin nur froh, dass jemand die Idee dazu hatte. Eine Beignet-Orgie morgens um zwei ist genau das, was ich brauche."
Vor allem aber war sie dankbar für die Freundschaft der beiden. Sie war ihnen in ihrer zweiten Woche in New Orleans begegnet, als sie sich auf eine Anzeige als Verkäuferin in einem Blumenladen im French Quarter gemeldet hatte. Obwohl sie keine besondere Erfahrung mitbrachte, war sie immer sehr geschickt im Arrangieren von Blumen gewesen. Außerdem brauchte sie einen Job, der ihr Zeit und die notwendige Energie ließ, ihrem eigentlichen Traumberuf nachzugehen, dem der Schriftstellerin.
Dalton erwies sich als Besitzer des Ladens, und sie hatten sich auf Anhieb gemocht. Er hatte Verständnis für ihre Träume gezeigt und ihr gratuliert, dass sie den Mut aufbrachte, sie zu verfolgen. Und im Gegensatz zu den anderen Arbeitgebern, mit denen sie gesprochen hatte, war er nicht pikiert gewesen, weil sie die Arbeit in seinem Laden "Die Perfekte Rose" als Job betrachtete und nicht als Lebensaufgabe.
Dalton hatte sie mit Bill bekannt gemacht, und die beiden Männer hatten sie unter ihre Fittiche genommen. Sie hatten ihr auch die leere Wohnung in Daltons Mietshaus im French Quarter angeboten. Die zwei lebten ebenfalls in dem Haus, quasi Tür an Tür mit ihr. Nach ihrem Einzug hatten sie ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, damit sie sich schneller eingewöhnte. Sobald sie die zwei besser kannte, hatten sie Anteil an ihren schriftstellerischen Versuchen nehmen dürfen. Und es waren Bill und Dalton gewesen, die ihr nach jeder Ablehnung Mut gemacht und jeden Erfolg mit ihr gefeiert hatten.
Es waren liebe Freunde, und sie würde es mit dem Teufel persönlich aufnehmen, für sie einzutreten. Die beiden täten dasselbe für sie, davon war sie überzeugt.
Es gibt nur einen Teufel. Kurt.
Als lese er ihre Gedanken, sagte Dalton plötzlich besorgt: "Mein Gott, Anna, wir haben dich gar nicht gefragt, ob du in Ordnung bist."
"Mir geht es gut." Sie gab Milch in eine Kasserolle und stellte sie auf den Herd. Dazu holte sie drei Becher aus dem Schrank und gefrorene Kaffeewürfel aus dem Eisfach. "Es war nur ein böser Traum."
Bill half ihr und gab einen Würfel des gefrorenen Kaffeekonzentrats in jeden Becher. "Nicht schon wieder." Er drückte sie kurz. "Arme Anna."
"Das kommt von diesen krankhaften Geschichten, die du schreibst", vermutete Dalton und arrangierte kunstvoll die Beignets auf einer Platte. "Davon bekommst du Albträume."
"Krankhafte Geschichten? Danke, Dalton."
MIRA Taschenbuch Band 25624 © 2001 by Erica Spindler
Ein Krachen, dann das Geräusch von splitterndem Holz. "Diese Hurensöhne!"
"Kurt, beruhige dich ..."
"Ich habe ihnen gesagt, was passiert, wenn sie die Polizei einschalten! Diese dämlichen Hollywood-Arschlöcher! Ich habs Ihnen gesagt ..."
"Kurt, um Himmels willen, nicht ..."
Die Tür flog auf und krachte gegen die Wand. Kurt stand im Rahmen, heftig atmend, das Gesicht weiß vor Wut. Monica und die andere Frau, die sie Sis nannten, verharrten ängstlich hinter ihm.
"Deine Eltern haben nicht auf mich gehört!" sagte er leise, mit vor Hass vibrierender Stimme. "Schade um euch."
"Lassen Sie uns gehen!" flehte Harlow und hielt Timmy fest. Der Junge drückte sich hysterisch schluchzend an sie.
Kurt lachte grausam. "Verwöhnte kleine Göre. Wie soll ich bekommen, was ich haben will, wenn ich euch gehen lasse?"
Er war mit wenigen Schritten bei ihr und entriss ihr Timmy.
"Ha'low!" schrie der Junge angstvoll auf.
"Lassen Sie ihn los!" Als sie aufsprang, ihm zu helfen, schossen Monica und Sis vor und hielten sie zurück. Harlow wehrte sich, doch die beiden waren stark. Sie hielten sie an den Armen fest, dass sich ihre Nägel in ihr Fleisch bohrten.
Kurt warf den zappelnden Jungen auf die schmutzige Pritsche und hielt ihn nieder. "Sieh gut hin, Prinzessin!" forderte er sie auf. "Sieh dir an, was deine Eltern angerichtet haben. Sie haben nicht auf mich gehört. Ich hatte sie gewarnt, sich nicht an die Behörden zu wenden. Ich habe ihnen gesagt, welche Konsequenzen das hat. Sie haben das zu verantworten, diese dummen Hollywood-Arschlöcher." Damit schnappte er sich ein Kissen und presste es Timmy auf das Gesicht.
"Nein!" Ihr Schrei hallte von den Wänden wider. "Nein!"
Timmy kämpfte. Er zerkratzte Kurt die Hände, heftig zunächst, dann langsam schwächer werdend. Harlow sah entsetzt zu und flehte tränenüberströmt um sein Leben.
Schließlich lag Timmy still. "Nein!" schrie sie noch einmal. "Timmy!"
Kurt richtete sich auf. Er drehte sich ihr zu, die Lippen zu einem bösen Lächeln verzogen. "Du bist dran, Prinzessin."
Er und Monica zerrten sie in die Küche. Sie sagte sich, dass sie kämpfen müsse, doch das lähmende Entsetzen ließ sie nur noch flehen. Monica zerrte ihr die rechte Hand über das fleckige abgesplitterte Porzellanspülbecken.
"Bereit oder nicht, es geht los", sagte Kurt.
Harlow sah das Aufblitzen von Metall, eine Art Schere oder Zange, und wollte aufschreien.
Er nahm ihre rechte Hand, die Zange schloss sich um den kleinen Finger. Ein heißer, betäubender Schmerz, dann das Knacken von Knochen.
Der Spülstein färbte sich rot. Harlows Blick verschwamm, und die Welt versank in Dunkelheit.
Der Schmerz zog Harlow in heftigen an- und abschwellenden Wellen von der bandagierten Hand den Arm hinauf. Wenn er besonders schlimm war, erfüllte bitterer stählerner Geschmack ihren Mund und verursachte ihr Übelkeit. Sie biss sich fest auf die Unterlippe, um nicht laut loszuheulen. Sie musste leise sein, absolut still. Kurt und die anderen glaubten, sie schliefe, benebelt von den Schmerztabletten, die Monica ihr gegeben hatte. Doch sie hatte nur so getan, als hätte sie sie geschluckt.
Eine neue Schmerzwelle verging, und Harlow hatte einige Sekunden Ruhe vor den Qualen. Tränen des Entsetzens und der Hoffnungslosigkeit standen ihr in den Augen. Eine neue Schmerzwelle zog heran. Schwindelig, am Rande einer Bewusstlosigkeit, bekam sie kaum noch Luft. Sie durfte jetzt nicht ohnmächtig werden. Sie durfte Schmerz und Angst nicht nachgeben. Nicht wenn sie überleben wollte. Ihre Eltern würden heute Nacht das Lösegeld zahlen. Sie hatte Kurt zu den anderen sagen hören, dass er sie gehen ließe, sobald er das Geld habe.
Er log, dieser gemeine Bastard. Er hatte Timmy umgebracht, obwohl der Junge ihm nichts getan hatte. Der liebe kleine Timmy. Er hatte nur nach Hause gewollt.
Und dieser dreckige Mistkerl würde auch sie umbringen, gleichgültig, was er den anderen versprach. Auch wenn sie erst dreizehn war, sie war nicht dumm, sie hatte die Gesichter von allen dreien gesehen und konnte sie identifizieren. Dieses Risiko würde Kurt nicht eingehen.
Harlow erhob sich vorsichtig von der Pritsche, damit die Federn nicht quietschten, und kroch über den Filzteppich zur Tür. Sie presste das Ohr daran. Kurt sagte etwas, aber sie konnte nicht genau verstehen, was. Es betraf sie und die Geldübergabe.
Es geschieht heute Nacht!
Harlow eilte zur Pritsche zurück, legte sich hin und schloss die Augen. Sie hörte das Klicken des Türknaufs, der gedreht wurde, dann das leise Aufschwingen der Tür. Jemand trat ein und blieb neben ihrer Pritsche stehen.
Die Tür war wieder nicht abgeschlossen. Warum sollten sie sie auch verschließen? Die gehen davon aus, dass ich wegen der Medikamente fest schlafe.
Ihr Besucher beugte sich über das Bett, und Harlow merkte, dass es die ältere Frau war, Sis. Sie erkannte es an ihrem Geruch nach Rosen und Babypuder, süße Düfte, die den Gestank von Zigaretten nur teilweise überlagerten.
Sis beugte sich zu ihr herunter. Harlow spürte ihren Atem auf dem Gesicht und zwang sich, vollkommen still zu liegen und nicht zurückzuweichen.
"Süßes Lamm", flüsterte Sis. "Es ist jetzt fast überstanden. Sobald Kurt das Geld hat, wird alles gut."
Er ist losgefahren, es zu holen. Die Zeit läuft ab.
"Ich konnte ihn vorhin nicht aufhalten. Er war außer sich. Er ... Deine Eltern hätten sich ihm nicht widersetzen sollen. Es war ihr Fehler. Sie tragen die Verantwortung ..." Sie sprach weinerlich. "Ich habe getan, was ich konnte. Du musst verstehen, er ..."
Du hast nicht getan, was du konntest. Du hättest Timmy retten können, du alte Hexe! Du hast immer so viel Aufhebens um ihn gemacht, aber du hast keinen Finger gerührt, ihn zu retten. Ich hasse dich!
"Ich komme zurück." Die Frau presste ihr einen Kuss auf die Stirn. Harlow hätte fast aufgeschrien. "Schlaf schön, kleine Prinzessin. Es ist bald vorbei."
Die Frau verließ den Raum und zog die Tür zu. Harlow lauschte aufmerksam auf das Klicken, das ein Abschließen der Tür angezeigt hätte.
Nichts.
Sie öffnete die Augen einen Spalt. Sie war allein. Vorsichtig richtete sie sich mit heftigem Herzklopfen auf, besorgt, mit dem kleinsten Geräusch die ältere Frau zu alarmieren. Offenbar hatte sie sich zu schnell aufgesetzt. Benommen vor Schwindel, musste sie sich an der Pritschenkante fest halten. Sie verharrte und atmete tief ein und aus, bis ihr Kopf klarer wurde.
Reglos wartete sie noch einen Moment und sammelte ihre Gedanken. Soweit sie es in den letzten Tagen mitbekommen hatte, wurde sie in einem kleinen, relativ abgelegenen Haus festgehalten. Sie hatte keine Geräusche von Verkehr oder Passanten gehört, und niemand hatte an der Tür geläutet. Am Morgen hatten die Vögel gezwitschert, und nachts hörte sie zweimal Kojoten heulen.
Wenn ich nun niemand finde, der mir hilft? Was, wenn ich mich verlaufe? Wenn der heulende Kojote mich findet und zerreißt?
Handle oder stirb, sagte sie sich zitternd. Kurt würde sie töten. Wenn sie davonlief, hatte sie zumindest eine Chance. Ihre einzige.
Harlow erhob sich von der Pritsche und schwankte leicht. Vorsichtig schlich sie zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Der Raum dahinter schien leer zu sein. Der Fernseher lief, war aber ohne Ton. Eine Zigarette brannte im Aschenbecher auf der Armlehne des Sessels, und ein Kringel beißender Rauch stieg zur Decke.
Ich muss los! Ich muss rennen!
Bei dem Gedanken setzte sie sich auch schon in Bewegung. Sie erreichte die Haustür, entriegelte sie und riss sie auf. Mit einem leisen, unwillkürlichen Aufschrei taumelte sie in die dunkle, sternenlose Nacht und begann zu rennen, blindlings, schluchzend, über verdorrte Erde und durch ein Dickicht. Sie fiel kopfüber in einen Graben, zog sich wieder heraus, rappelte sich auf und lief weiter.
Sie erreichte eine verlassene Straße. Und sofort keimte Hoffnung in ihr. Hier musste jemand sein, irgendwer ...
Im selben Moment kam ein Auto den Hügel herauf. Seine Scheinwerfer durchschnitten die Dunkelheit, trafen auf sie. Sie stand wie erstarrt, zitternd, zu schwach und erschöpft, um auch nur zu winken. Die Lichter kamen näher, der Fahrer hupte.
"Helft mir!" flüsterte sie und fiel auf die Knie. "Bitte, helft mir!"
Das Auto kam mit kreischenden Rädern zum Stehen. Eine Tür ging auf, Schritte auf dem Asphalt.
"Frank, nein!" bat die Frau. "Was ist, wenn ..."
"Um Himmels willen, Donna, ich kann nicht einfach ... Oh mein Gott, es ist ein Kind!"
"Ein Kind?" Die Frau stieg aus dem Wagen. Harlow hob den Kopf, und die Frau japste: "Du lieber Himmel, sieh dir ihr rotes Haar an. Sie ist es. Die Kleine, nach der alle suchen. Harlow Grail."
Der Mann gab einen ungläubigen, skeptischen Laut von sich. Er sah sich um, als werde ihm plötzlich klar, dass sie in Gefahr sein könnten.
"Das gefällt mir nicht", sagte die Frau ängstlich. "Lass uns weiterfahren."
Der Mann stimmte zu. Er hob Harlow hoch und hielt sie vorsichtig auf den Armen. "Es wird alles gut", tröstete er leise auf dem Weg zu seinem Auto. "Wir bringen dich heim. Du bist in Sicherheit."
Harlow ließ sich zitternd an ihn sinken und wusste, dass sie sich nie wieder sicher fühlen würde.
1. Kapitel
Mittwoch, 10. Januar 2001,
New Orleans, Louisiana.
"Timmy! Nein!"
Anna saß kerzengerade im Bett, in kalten Schweiß gebadet. Timmys Name und ihr Schrei schienen von den Schlafzimmerwänden zurückzuhallen.
Erschrocken zog sie sich die Bettdecke unters Kinn und sah sich ängstlich um. Als sie eingeschlummert war, hatte die Nachttischlampe noch gebrannt. Sie schlief immer bei Licht. Doch jetzt war alles dunkel. Die Schatten in den Zimmerecken schienen sie zu necken. Versteckte sich dort jemand? Wenn ja, wer?
Kurt. Er holte sie, um zu beenden, was ihm vor dreiundzwanzig Jahren nicht gelungen war. Um sie zu strafen -- für ihre Flucht und das Durchkreuzen seiner Pläne.
Bereit oder nicht, es geht los.
Anna sprang aus dem Bett und lief den Flur hinunter ins Bad. Sie konnte gerade noch den Toilettendeckel hochreißen, beugte sich vor und übergab sich, bis ihr Magen leer war.
Sie wischte sich den Mund mit einem abgerissenen Streifen Toilettenpapier ab, den sie in die Toilette warf und abzog. Ihre rechte Hand schmerzte. Sie brannte, als hätte Kurt ihr soeben den kleinen Finger abgetrennt, um ihn als Warnung an ihre Eltern zu schicken.
Doch dieses Verbrechen war vor einer Ewigkeit geschehen. Sie war noch das Kind Harlow Anastasia Grail gewesen, die kleine Hollywoodprinzessin. Heute hatte sie eine andere Identität.
Sie drehte den Hahn am Waschbecken auf und wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser.
Sie lebte in Sicherheit, in ihrem eigenen Apartment. Außer zu ihren Eltern hatte sie alle Verbindungen zu ihrer Vergangenheit gekappt. Keiner ihrer Freunde oder Geschäftspartner kannte ihre wahre Identität. Nicht mal ihr Verleger oder ihr Literaturagent. Sie war jetzt Anna North, und das schon seit vielen Jahren.
Selbst wenn Kurt nach ihr suchen sollte, würde er sie nicht finden. Sie zog das Handtuch aus der Ringhalterung und trocknete sich das Gesicht. Kurt würde nicht nach ihr suchen. Dreiundzwanzig Jahre waren vergangen. Das FBI war damals sicher gewesen, dass der Mann, den sie als Kurt kannte, keine Gefahr für sie darstellte. Sie glaubten, dass er nach Mexiko geflohen war. Die Entdeckung von Monicas Leiche in der Grenzstadt von Baja California sechs Tage nach ihrer Flucht hatte diese Annahme gestützt.
Verärgert über ihre Angst, warf sie das Handtuch auf die Ablagefläche. Wann würde sie das alles endlich hinter sich lassen? Wie viele Jahre mussten noch vergehen, ehe sie ohne Licht schlafen konnte?
Wenn Kurt gefasst worden wäre, hätte sie ihn vergessen und nie mehr darüber nachgedacht, ob er sich rächen wollte. Ihre Flucht hatte die Lösegeldübergabe hinfällig gemacht. Vermutlich hatte er sie verflucht.
Sie betrachtete sich streng im Spiegel. Wenn sie ihre Albträume schon nicht kontrollieren konnte, dann wenigstens ihr Leben. Sie hatte nicht vor, sich von ihren Ängsten beherrschen zu lassen.
Wieder im Schlafzimmer, holte sie Shorts aus der Kommode und zog sie zu ihrem T-Shirt an. Da sie nicht schlafen konnte, wollte sie wenigstens arbeiten. Sie hatte eine neue Idee für eine Geschichte. Warum nicht jetzt damit anfangen? Aber zunächst brauchte sie Kaffee.
Auf dem Weg in die Küche kam sie an ihrem Büro vorbei -- ein Schreibtisch in der Ecke des Wohnzimmers -- und schaltete den Computer ein. Im Flur ging sie zur Wohnungstür und prüfte gewohnheitsmäßig den Sicherheitsriegel.
Im selben Moment pochte jemand an die Tür, und sie sprang erschrocken zurück.
"Anna! Ich bin es, Bill ..."
"Und Dalton!"
"Alles in Ordnung bei dir?"
Bill Friends und Dalton Ramsey, ihre Nachbarn und besten Freunde. Gott sei Dank!
Sie öffnete, und die beiden standen besorgt im Flur. Von dort kam auch das Jelpen von Judy und Boo, den beiden Hunden des Paares. "Was um alles in der Welt ... du hast mich zu Tode erschreckt."
"Wir hörten dich schrei..."
"Ich hörte dich schreien", korrigierte Bill. "Ich war auf dem Rückweg ..."
"Er hat mich sofort geholt." Dalton hielt eine kleine Marmorbuchstütze hoch, eine Kopie von Michelangelos David. "Den habe ich mitgenommen, nur für alle Fälle."
Anna unterdrückte ein Lächeln. Sie stellte sich vor, wie Dalton -- in den Fünfzigern und sanftmütig -- ein Stück Marmor gegen einen Einbrecher schleuderte. "Für welche Fälle? Dass meine Bibliothek aufgeräumt werden muss?"
Bill kicherte, Dalton schniefte pikiert. "Für den Fall der Verteidigung natürlich."
Zur Verteidigung gegen einen Einbrecher, der längst über alle Berge ist, bis meine Freunde sich gesammelt, eine Waffe ausgewählt und sich zu meiner Tür durchgeschlagen haben. Dem Himmel sei Dank, dass ich nie wirklich Hilfe gebraucht habe.
Sie verkniff sich ein Lachen und schwang die Tür weiter auf. "Ich danke für eure Fürsorge. Kommt herein, ich mache uns Kaffee zu den Beignets."
"Beignets?" fragte Dalton unschuldig. "Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst."
Anna drohte mit dem Zeigefinger. "Netter Versuch, aber ich rieche sie. Weil ihr mir zu Hilfe gekommen seid, müsst ihr sie zur Strafe mit mir teilen."
Beignets, die schmalzgebackenen, üppig mit Puderzucker bestreuten Teigrechtecke machten -- wie alles in New Orleans -- süchtig.
Und sie waren bestimmt nicht für Leute wie Dalton geeignet, der angeblich auf sein Gewicht achtete.
"Er hat mich dazu verleitet", sagte er beim Eintreten mit einem vorwurfsvollen Blick zu Bill. "Du weißt, ich schlage nie solche Schwelgereien vor."
"Richtig." Bill verdrehte die Augen. "Und wessen Figur deutet eine gewisse Neigung zu Schwelgereien an?"
Dalton wandte sich Hilfe suchend Anna zu. Bill war zehn Jahre jünger als er, schlank und athletisch. "Das ist nicht fair. Er isst alles und setzt nicht an. Ich esse nur eine Winzigkeit und ..."
"Winzigkeit? Hah! Frag ihn nach den Knabbereien."
"Ich hatte einen schlechten Tag. Ich brauchte etwas, um mich aufzumuntern."
Anna hakte sich bei beiden unter und führte sie in die Küche. Ihr Albtraum war schon fast vergessen. Die beiden brachten sie stets zum Lachen. Es erstaunte sie immer wieder, dass diese unterschiedlichen Typen ein Paar waren. Sie erinnerten sie an einen Pfau und einen Pinguin. Bill war unverblümt und manchmal provozierend, Dalton hingegen ein spröder Geschäftsmann, dessen Pingeligkeit oft ziemlichen Wirbel verursachte. Trotz aller Unterschiede waren sie seit zehn Jahren zusammen.
"Ich weiß nicht, wer schuld ist an der Schwelgerei, ich bin nur froh, dass jemand die Idee dazu hatte. Eine Beignet-Orgie morgens um zwei ist genau das, was ich brauche."
Vor allem aber war sie dankbar für die Freundschaft der beiden. Sie war ihnen in ihrer zweiten Woche in New Orleans begegnet, als sie sich auf eine Anzeige als Verkäuferin in einem Blumenladen im French Quarter gemeldet hatte. Obwohl sie keine besondere Erfahrung mitbrachte, war sie immer sehr geschickt im Arrangieren von Blumen gewesen. Außerdem brauchte sie einen Job, der ihr Zeit und die notwendige Energie ließ, ihrem eigentlichen Traumberuf nachzugehen, dem der Schriftstellerin.
Dalton erwies sich als Besitzer des Ladens, und sie hatten sich auf Anhieb gemocht. Er hatte Verständnis für ihre Träume gezeigt und ihr gratuliert, dass sie den Mut aufbrachte, sie zu verfolgen. Und im Gegensatz zu den anderen Arbeitgebern, mit denen sie gesprochen hatte, war er nicht pikiert gewesen, weil sie die Arbeit in seinem Laden "Die Perfekte Rose" als Job betrachtete und nicht als Lebensaufgabe.
Dalton hatte sie mit Bill bekannt gemacht, und die beiden Männer hatten sie unter ihre Fittiche genommen. Sie hatten ihr auch die leere Wohnung in Daltons Mietshaus im French Quarter angeboten. Die zwei lebten ebenfalls in dem Haus, quasi Tür an Tür mit ihr. Nach ihrem Einzug hatten sie ihr mit Rat und Tat zur Seite gestanden, damit sie sich schneller eingewöhnte. Sobald sie die zwei besser kannte, hatten sie Anteil an ihren schriftstellerischen Versuchen nehmen dürfen. Und es waren Bill und Dalton gewesen, die ihr nach jeder Ablehnung Mut gemacht und jeden Erfolg mit ihr gefeiert hatten.
Es waren liebe Freunde, und sie würde es mit dem Teufel persönlich aufnehmen, für sie einzutreten. Die beiden täten dasselbe für sie, davon war sie überzeugt.
Es gibt nur einen Teufel. Kurt.
Als lese er ihre Gedanken, sagte Dalton plötzlich besorgt: "Mein Gott, Anna, wir haben dich gar nicht gefragt, ob du in Ordnung bist."
"Mir geht es gut." Sie gab Milch in eine Kasserolle und stellte sie auf den Herd. Dazu holte sie drei Becher aus dem Schrank und gefrorene Kaffeewürfel aus dem Eisfach. "Es war nur ein böser Traum."
Bill half ihr und gab einen Würfel des gefrorenen Kaffeekonzentrats in jeden Becher. "Nicht schon wieder." Er drückte sie kurz. "Arme Anna."
"Das kommt von diesen krankhaften Geschichten, die du schreibst", vermutete Dalton und arrangierte kunstvoll die Beignets auf einer Platte. "Davon bekommst du Albträume."
"Krankhafte Geschichten? Danke, Dalton."
MIRA Taschenbuch Band 25624 © 2001 by Erica Spindler
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Autoren-Porträt von Erica Spindler
Erica Spindler wuchs in Rockford, Illinois auf. Ihre spannenden und von der Presse hochgelobten Romane erzielen regelmäßig Spitzenplätze auf den amerikanischen Bestsellerlisten. Für ihre Arbeit ist sie bereits mit den verschiedensten Preisen ausgezeichnet worden. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Söhnen in Louisiana.
Bibliographische Angaben
- Autor: Erica Spindler
- 2012, 1. Aufl., 464 Seiten, Kartoniert (TB), Deutsch
- Übersetzung: Krätzig, Margret
- Übersetzer: Margret Krätzig
- Verlag: MIRA Taschenbuch
- ISBN-10: 3862784711
- ISBN-13: 9783862784714
- Erscheinungsdatum: 01.11.2012
Rezension zu „Die Angst im Nacken “
Gefährlich sexy - ein Muss für Romantic-Thriller-Fans!"RT Bookclub"Von der ersten Seite an versetzt Erica Spindler den Leser in Angst und Schrecken. Brillant geschilderte Charaktere, psychologisches Einfühlungsvermögen und unerwartete Wendungen sorgen für atemberaubende Lesespannung."- www.romantictimes.com
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