Die Anstalt
Als junger Mann wurde Francis Petrel in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Jahre seines Lebens hat er dort zugebracht, bis die Anstalt nach einer Mordserie geschlossen wurde. Doch Francis hört immer noch Stimmen, sieht den Engel des Todes....
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Produktinformationen zu „Die Anstalt “
Als junger Mann wurde Francis Petrel in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Jahre seines Lebens hat er dort zugebracht, bis die Anstalt nach einer Mordserie geschlossen wurde. Doch Francis hört immer noch Stimmen, sieht den Engel des Todes.
"Ein mörderisches Verwirrspiel um Normalität und Irrsinn."
WDR 5
Lese-Probe zu „Die Anstalt “
Die Anstalt von John Katzenbach1
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Ich kann meine Stimmen nicht mehr hören und weiß daher nicht so recht weiter. Irgendwie hege ich den Verdacht,
dass sie diese Geschichte viel besser erzählen könnten als ich. Wenigstens hätten sie ihre eigenen Ansichten und Vorschläge zu der Frage, was am Anfang und was am Ende und was dazwischenstehen könnte. Sie würden mir sagen, wo ich Details einarbeiten oder überflüssige Informationen aussparen sollte, was unverzichtbar und was trivial für sie ist. Nach so langer Zeit fällt es mir nicht eben leicht, mich an diese Dinge zu erinnern, und ich könnte wahrhaftig ihre Hilfe gebrauchen. Es ist so viel passiert, dass es wirklich schwer für mich ist, immer genau zu wissen, was wohin gehört. Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob die Dinge, an die ich mich deutlich erinnern kann, tatsächlich stattgefunden haben. Eine Erinnerung, die eben noch in Stein gemeißelt war, erscheint mir im nächsten Moment so nebulös wie die Dunstschleier über einem Fluss. Darin liegt eines der Hauptprobleme für einen Verrückten: Man kann sich einfach nie sicher sein.
Lange Zeit dachte ich, es hätte - wie zwischen zwei Buchstützen gewissermaßen - alles mit einem Tod begonnen und mit einem Tod geendet, doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht wurde das alles ja damals, vor so vielen Jahren, als ich jung und richtig verrückt war, von etwas viel Kleinerem und schwer Fassbarem ausgelöst, vielleicht einer heimlichen Eifersucht oder unterdrückten Wut, möglicherweise aber auch von etwas viel Größerem und Lauterem wie dem Stand der Sterne am Himmel, den Kräften der Gezeiten oder der unaufhaltsamen Drehung von Mutter Erde. Fest steht nur, dass ein paar Leute gestorben sind und dass ich einfach mehr Glück als Verstand hatte, nicht zu ihnen zu gehören, was zu den letzten Bemerkungen meiner Stimmen gehörte, bevor sie abrupt verstummten.
Anstelle ihres Raunens bekomme ich nun Medikamente, die sie zum Schweigen bringen. Einmal am Tag nehme ich brav ein psychotropes Mittel, eine ovale, eierschalenblaue Pille, von der ich einen derart trockenen Mund bekomme, dass ich wie ein keuchender alter Mann nach zu vielen Zigaretten klinge oder wie ein halb verdursteter Deserteur der Fremdenlegion, der gerade die Sahara durchquert hat und um einen Schluck Wasser fleht. Darauf folgt unverzüglich ein scheußlich bitter schmeckender Stimmungsheber, der die gelegentlichen niederträchtigen, selbstmörderischen Depressionen bekämpft, in die ich, wie mir meine Sozialarbeiterin ständig predigt, jederzeit verfallen kann, egal, wie ich mich gerade fühle. In Wahrheit könnte ich, glaube ich, in ihr Büro marschieren und vor lauter überschwänglicher Freude über den positiven Verlauf meines Lebens die Hacken zusammenschlagen, und sie würde mich trotzdem fragen, ob ich meine tägliche Dosis genommen habe. Von dieser herzlosen kleinen Pille bin ich verstopft und von Wassereinlagerungen so aufgedunsen, als hätten sie mir die Blutdruckmanschette nicht um den linken Arm, sondern um den Brustkorb gelegt und sie dann fest aufgepumpt. Folglich brauche ich ein Diuretikum und ein Abführmittel, um diese Symptome zu bekämpfen. Natürlich bekomme ich vom Diuretikum rasende Migräne, als ob mir ein besonders fieser, grausamer Sadist mit dem Hammer an den Schädel schlüge, ergo gibt es codeinhaltige Schmerztabletten gegen diese kleine Nebenwirkung, während ich wegen der anderen Pille ständig zur Toilette renne. Und alle zwei Wochen bekomme ich ein starkes Antipsychotikum mit einer kurzen Spritze injiziert. Zu diesem Zweck muss ich vor der Schwester im städtischen Krankenhaus die Hosen runterlassen, wofür sie mich mit stets haargenau demselben Lächeln und der haargenau im selben Ton gestellten Frage belohnt, wie es mir denn heute ginge, worauf ich »ganz gut« antworte, egal, ob es stimmt oder nicht, weil ich trotz der verschiedenen Nebelschleier des Wahnsinns durchaus kapiere, dass es ihr so was von egal ist, wie es mir geht, und dass sie es lediglich als ihre Pflicht erachtet, mir eine Rückmeldung zu entlocken.
Das Problem ist nur, dass dieses Antipsychotikum mich zwar, wie sie mir zumindest weismachen wollen, an boshaftem, abscheulichem Verhalten hindert, aber mir auch eine kleine Schüttellähmung in den Händen beschert, so dass sie zittern, als wäre ich irgend so ein nervöser Steuersünder, der dem Buchprüfer des Finanzamts gegenübersitzt. Außerdem zucken mir davon die Mundwinkel ein wenig, so dass ich ein Muskelrelaxanz benötige, damit mein Gesicht nicht zu einer ewigen Kinderschreck-Maske erstarrt. Dieser ganze Cocktail also brodelt mir wohl oder übel durch die Adern, und während er mit seinem beruhigenden Einfluss zu den verantwortungslosen Impulsen eilt, die wie eine aufsässige Teenie-Bande in meinem Hirn herumtollt, greift er unterwegs auch eine Reihe Organe an, die keine Ahnung haben, was das Ganze soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Phantasie einem unberechenbaren Dominostein gleicht, der plötzlich aus dem Gleichgewicht kommt, erst hin und her schwankt und dann gegen all die anderen Kräfte in meinem Körper kippt, so dass er eine groß angelege Kettenreaktion auslöst, bei der die Steine in meinem Innern willkürlich, klick klick klick alle übereinander purzeln.
Da war es doch entschieden einfacher, als ich noch ein junger Mann war und nichts weiter zu tun hatte, als auf meine Stimmen zu hören. Meistens waren sie auch gar nicht mal so schlimm. Gewöhnlich waren sie schwach, wie ein verhallendes Echo über einem Tal oder auch wie Getuschel zwischen Kindern, die sich in einer Ecke des Spielzimmers Geheimnisse zuflüstern, auch wenn sie, sobald es einmal gefährlich wurde, sich laut Gehör verschafften. Und meistens waren meine Stimmen nicht allzu fordernd. Sie machten Vorschläge, erteilten Rat, stellten unbequeme Fragen. Gelegentlich neigten sie ein bisschen zur Nörgelei wie eine altjüngferliche Großtante, mit der bei einem Festschmaus niemand so recht etwas anfangen kann und die zwar in die Feier einbezogen wird und durch die eine oder andere unsinnige oder politisch unkorrekte Bemerkung aus der Rolle fällt, ansonsten aber weitgehend unbeachtet bleibt.
Irgendwie leisteten die Stimmen mir Gesellschaft, besonders dann, wenn ich keine Freunde hatte.
Ich hatte sogar zwei Freunde, und sie gehören zu der Geschichte. Ich dachte einmal, sie wären sogar der entscheidende Teil der Geschichte, doch da bin ich mir nicht mehr so sicher. Nun hatte es einige der anderen Leute, denen ich in jenen, meiner Ansicht nach richtig verrückten Jahren begegnete, weitaus schlimmer erwischt als mich. Ihre Stimmen schleuderten ihnen Befehle entgegen wie diese Ausbilder bei den Marines, die Kerle mit diesen dunkelbraungrünen, breitkrempigen Hüten, die sie tief in die Stirn gezogen haben, so dass ihr kahl geschorener Schädel von hinten zu sehen ist. Schritt marsch! Antreten! Abtreten!
Oder schlimmer: Bring dich um.
Oder noch schlimmer: Bring jemand anderen um.
Die Stimmen, die diese Leute anbrüllten, kamen von Gott oder Jesus oder Mohammed oder vom Nachbarshund oder ihrem längst verstorbenen Großonkel, vielleicht auch von Außerirdischen; zuweilen waren sie ein Chor aus Erzengeln oder Dämonen. Diese Stimmen waren hartnäckig und fordernd und nicht im Mindesten kompromissbereit, und ich wurde nach und nach ziemlich geübt darin, anhand der Anspannung, die diesen Leuten ins Gesicht geschrieben stand, und der Verkrampfung ihrer Muskeln zu erkennen, dass sie etwas ziemlich laut hörten und dass dies selten Gutes versprach. In solchen Momenten verdrückte ich mich einfach und wartete beim Eingang oder am anderen Ende des Tagesraums, weil jeden Moment etwas Verhängnisvolles passieren könnte. Es war ein bisschen so wie ein albernes Detail, das ich mir aus der Grundschulzeit eingeprägt hatte, eins von diesen seltsamen Fakten, die irgendwie haften bleiben: Bei einem Erdbeben bietet eine Türöffnung den besten Schutz, weil die Laibung über der Öffnung statisch stabiler ist als eine Wand und einem daher mit geringerer Wahrscheinlichkeit über dem Kopf zusammenbricht. Wenn ich also sah, dass bei einem Mitpatienten die Turbulenzen immer heftiger wurden und eine Eruption zu erwarten war, suchte ich den Türrahmen auf, wo ich die besten Überlebenschancen hatte. Und war ich erst einmal da, konnte ich auf meine eigenen Stimmen hören, die im Allgemeinen auf mich aufzupassen schienen und mich nicht selten warnten, mich schleunigst auf die Socken zu machen und zu verstecken. Sie hatten seltsamerweise einen ausgeprägten Selbstschutzinstinkt, und wäre ich nicht, als sie sich in jungen Jahren zu mir gesellten, so dumm gewesen, ihnen laut vernehmlich zu antworten, hätte es vermutlich nie eine Diagnose gegeben und ich wäre vermutlich gar nicht erst eingewiesen worden. Doch das ist Teil der Geschichte, wenn auch wahrlich nicht der rühmlichste Teil. Gleichwohl vermisse ich sie auf eigentümliche Weise, denn jetzt bin ich meistens einsam.
Heutzutage ist es ziemlich hart, ein Irrer im mittleren Alter zu sein. Oder Ex-Irrer, solange ich die Pillen nehme.
Jetzt verbringe ich meine Tage auf der Suche nach Bewegung. Ich mag es nicht, zu lange herumzusitzen. Also gehe ich spazieren. Im Schnellschritt, im Eilmarsch streife ich durch die Stadt, von den Parks in die Einkaufszentren, zu den Industriegebieten; dabei bin ich ein aufmerksamer Beobachter, auch wenn ich immer in Bewegung bleibe. Oder aber ich gehe zu Veranstaltungen, wo ich einen ganzen Sturzbach an Bewegung vor Augen habe, wie ein Highschool-Football- oder Basketball-Match oder auch nur das Fußballspiel einer Jugendmannschaft. Sobald vor meinen Augen etwas los ist, kann ich Pause machen. Ansonsten halte ich meine Füße auf Trab - fünf, sechs, sieben oder mehr Stunden am Tag. Ein täglicher Marathon, bei dem ich mir die Schuhsohlen abgelaufen habe und der dafür sorgt, dass ich zäh und mager bleibe. Im Winter erbettle ich mir plumpe, klobige Stiefel von der Heilsarmee. Den Rest des Jahres trage ich Laufschuhe, die ich mir im Sportgeschäft um die Ecke besorge. Alle paar Monate steckt mir der Besitzer ein Paar von einem Auslaufmodell Größe zwölf zu, um das letzte derart abgelaufene Paar zu ersetzen, das mir nur noch in Fetzen an den Füßen hängt.
Zu Beginn des Frühjahrs, nach der Schneeschmelze, marschiere ich zu den Wasserfällen rauf, wo es eine Fischtreppe gibt; dort wache ich jeden Tag freiwillig über die Rückkehr der Lachse in die Wasserscheide des Connecticut River. Diese Aufgabe besteht darin, dass ich tonnenweise Wasser durch den Staudamm fließen sehe und gelegentlich einen Fisch entdecke, der gegen den Strom zu schwimmen versucht, weil ihn ein starker Instinkt zu der Stelle zurücktreibt, wo er einst als Laich abgelegt worden war und wo er, diesem größten Mysterium folgend, seinen eigenen Laich ablegen und dann sterben wird. Ich bewundere die Lachse, weil ich weiß, wie es ist, von Kräften getrieben zu werden, die andere nicht sehen, hören oder nachempfinden können, und einer unumgänglichen Pflicht zu gehorchen, die größer ist als man selbst. Psychotische Fische. Nachdem sie sich jahrelang zu ihrem Vergnügen in der Weite des Ozeans getummelt haben, hören sie plötzlich tief in ihrem Innern eine Fischstimme, die darauf besteht, dass sie sich auf diese unmögliche Reise in den eigenen Tod begeben. Für mich sind diese Lachse so verrückt, wie ich es einmal war. Wenn ich einen zu Gesicht bekomme, notiere ich das auf einem Formular, das mir das Naturschutzamt zur Verfügung stellt, und manchmal flüstere ich ihnen einen stillen Gruß zu: Hallo, Bruder. Willkommen im Club.
Es gibt einen Trick, wenn man die Fische entdecken will, denn nachdem sie im Salz des Ozeans so viele Meilen zurückgelegt haben, sind sie mit ihren silbrig glänzenden Seiten überaus wendig. Man sieht nur ein Schimmern im glitzernden Wasser, das dem ungeübten Auge entgeht - fast so, als ob eine gespenstische Kraft in das kleine Fenster eingedrungen sei, über das ich wache. Inzwischen kann ich die Ankunft eines Lachses schon beinahe fühlen, bevor er tatsächlich unten an der Treppe erscheint. Es macht Spaß, die Fische zu zählen, auch wenn Stunden vergehen können, bevor einer sich blicken lässt, und auch wenn nie genügend kommen, um die Typen vom Naturschutz glücklich zu machen, die auf ihre Rückkehrer-Diagramme starren und frustriert die Köpfe schütteln. Doch meine Fähigkeit, sie auszumachen, bringt noch andere Vorteile mit sich. Immerhin war es mein Vorgesetzter vom Naturschutzamt, der die örtliche Polizeidienststelle anrief und sie wissen ließ, ich sei vollkommen harmlos, auch wenn ich mich stets fragte, woraus er das schloss, und auch so meine Zweifel hegte, ob er es wirklich glaubte. Und so werde ich bei den Football-Spielen und anderen Ereignissen geduldet und bin in dieser kleinen, ehemaligen Hüttenstadt inzwischen, wenn schon nicht willkommen, so doch akzeptiert. Mein Tagesablauf wird nicht hinterfragt, und ich gelte mehr als Exzentriker denn als Irrer, ein Etikett, mit dem sich, wie ich über die Jahre begriffen habe, recht gut leben lässt.
Ich wohne in einem kleinen Ein-Zimmer-Apartment, das der Staat bezahlt. Meinen Einrichtungsstil beschreibe ich gerne als Sperrmüll-Moderne. Meine Kleider beziehe ich entweder von der Heilsarmee oder von einer meiner jüngeren Schwestern, die ein paar Städte weiter weg wohnen und gelegentlich, von irgendeinem mir nicht einleuchtenden Schuldgefühl geplagt, versuchen, etwas für mich zu tun, indem sie die Kleiderschränke ihrer Ehemänner plündern. Sie haben mir second-hand einen Fernseher gekauft, in dem ich ebenso selten etwas ansehe, wie ich etwas in ihrem Radio höre. Alle paar Wochen kommen sie zu Besuch, bringen sie leicht eingedickte, selbstgekochte Mahlzeiten in Tupperschüsseln mit, und wir reden eine Weile verlegen miteinander, meist über meine betagten Eltern, die wenig Neigung verspüren, mich zu sehen, weil ich sie an die enttäuschten Hoffnungen und die Bitterkeit erinnere, die das Leben so unerwartet mit sich bringt. Ich kann damit leben und versuche, mich von ihnen fern zu halten. Meine Schwestern sorgen dafür, dass die Heizungs- und Stromrechnungen bezahlt werden. Sie stellen auch sicher, dass ich nicht vergesse, die dürftigen Schecks einzulösen, die von verschiedenen staatlichen Hilfsorganisationen kommen. Und sie fragen lieber zweimal nach, damit ich auf alle Fälle meine Medikamente nehme. Manchmal weinen sie, glaube ich, wenn sie sehen, in welcher Hoffnungslosigkeit ich lebe, doch das ist ihre Sichtweise, nicht meine, denn tatsächlich führe ich ein ziemlich komfortables Leben. Verrückt zu sein gewährt eine recht interessante Sicht auf das Leben. Auf jeden Fall ist man besser in der Lage, gewisse Dinge hinzunehmen, die das Schicksal für einen bereithält, außer wenn die Wirkung der Medikamente ein wenig nachlässt, denn dann kann ich darüber, wie das Leben mit mir umgesprungen ist, ziemlich sauer werden.
Meistens aber habe ich Verständnis, wenn ich auch nicht eben glücklich bin.
Und mein Dasein gewährt mir faszinierende Einblicke, so dass ich zum Beispiel zu einem intimen Kenner der Vorgänge in dieser kleinen Stadt geworden bin. Man würde kaum für möglich halten, was ich bei meinen täglichen Wanderungen alles mitbekomme. Solange ich die Augen offen halte und die Ohren spitze, schnappe ich alles Mögliche auf. Seit meiner Entlassung aus der Klinik, seit all das, was mir dort bevorstand, nunmehr hinter mir liegt, wende ich das Gelernte an, indem ich meine Beobachtungsgabe kultiviere. Während ich meine Tagesrouten abmarschiere, erfahre ich, wer eine schäbige kleine Affäre mit welchem Nachbarn hat, wessen Ehemann ausgezogen ist, wer zu viel trinkt, wer seine Kinder verprügelt. Ich kann genau sagen, wessen Geschäft ums Überleben kämpft und wer, durch Erbschaft oder Lotteriegewinn, zu etwas Geld gekommen ist. Ich weiß, welcher Teenager auf ein Football- oder Basketball-College-Stipendium hofft und welcher andere Teenager für ein paar Monate zu einer entfernten Tante geschickt wird und sich dort vielleicht um eine unverhoffte Schwangerschaft kümmern muss. Ich habe herausgefunden, welcher Cop einen in Ruhe lässt und welcher schnell den Knüppel oder den Strafzettel zückt, je nachdem, um welches Vergehen es sich handelt. Und dann sind da noch alle die weniger bedeutenden Ereignisse, die damit zu tun haben, wer ich bin und zu wem ich geworden bin - zum Beispiel die Friseuse, die mich kurz vor Ladenschluss hereinwinkt, um mir die Haare zu schneiden, damit ich auf meinen täglichen Wanderungen manierlicher aussehe, und die dann auch noch von ihrem Trinkgeld fünf Dollar für mich abzweigt; oder der Filialleiter von McDonald's, der mich vorbeigehen sieht und mir mit einer Tüte Burger und Fritten nachrennt und dem zu Ohren gekommen ist, dass ich lieber Vanille- als Schokoladen-Shakes trinke. Als Verrückter herumzulaufen verschafft einem die klarste Sicht auf die menschliche Natur; ein bisschen ist es so, als strömte die Stadt an einem vorbei wie das Wasser am Fischtreppen-Fenster.
Und es ist ja nicht so, als würde ich mich nicht nützlich machen. Einmal habe ich gesehen, dass ein Fabriktor offen stand, das normalerweise abgeschlossen war, und ich fand einen Polizisten, der die Lorbeeren für den angeblich durch ihn vereitelten Einbruch einheimste. Als ich mir allerdings eines schönen Frühlingsnachmittags das Kennzeichen eines Mannes merkte, der einen Radler überfuhr und, während sein Opfer bewusstlos auf der Straße lag, Fahrerflucht beging, zollte die Polizei mir mit einer Urkunde Dank. Unter der etwas peinlichen Rubrik »Gespür für seinesgleichen« darf ich es wohl verbuchen, dass ich an einem Wochenende im Herbst auf meinem Weg an einem Park mit spielenden Kindern vorbei einen Mann ins Visier bekam und an der Art, wie er am Eingang herumlungerte, sofort erkannte, dass etwas ganz entschieden nicht stimmte. Früher einmal hätten ihn meine Stimmen bemerkt und sich lautstark zu Wort gemeldet, doch diesmal übernahm ich es selbst, ihn der jungen Vorschullehrerin zu melden, die ich kannte und die auf der Bank zehn Meter vom Sandkasten und den Schaukeln entfernt in einer Frauenzeitschrift las und ihren Schutzbefohlenen nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Wie sich herausstellte, war der Mann erst kürzlich aus der Anstalt entlassen und am selben Morgen als Sexualtäter angezeigt worden.
Diesmal gab's zwar keine Urkunde, doch die Lehrerin ließ die Kinder ein buntes Bild für mich malen, auf dem sie sich beim Spielen darstellten. In dieser wundervoll krakeligen Schrift, die Kinder haben, bevor wir sie mit Erklärungen und Meinungen belasten, prangte ein großes DANKE quer über dem Gemälde, das ich mit nach Hause nahm und mir übers Bett hängte, wo es sich nach wie vor befindet. Ich führe ein etwas muffig vergilbtes Leben, das mich immer mal wieder an die Farben erinnert, die ich möglicherweise erlebt hätte, wäre ich nicht auf den Weg gestolpert, der mich hierher führte.
Das fasst denn auch mehr oder weniger mein jetziges Dasein zusammen. Ein Mann im Grenzbereich zur Welt der Normalen.
Und ich vermute mal, dass ich so oder so ähnlich auch den Rest meiner Tage herumgebracht und nie daran gedacht hätte, zu verraten, was ich alles über die Vorkommnisse wusste, deren Zeuge ich geworden war, wäre da nicht dieser Brief von einer staatlichen Behörde gewesen.
Übersetzung: Anke Kreutzer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Ich kann meine Stimmen nicht mehr hören und weiß daher nicht so recht weiter. Irgendwie hege ich den Verdacht,
dass sie diese Geschichte viel besser erzählen könnten als ich. Wenigstens hätten sie ihre eigenen Ansichten und Vorschläge zu der Frage, was am Anfang und was am Ende und was dazwischenstehen könnte. Sie würden mir sagen, wo ich Details einarbeiten oder überflüssige Informationen aussparen sollte, was unverzichtbar und was trivial für sie ist. Nach so langer Zeit fällt es mir nicht eben leicht, mich an diese Dinge zu erinnern, und ich könnte wahrhaftig ihre Hilfe gebrauchen. Es ist so viel passiert, dass es wirklich schwer für mich ist, immer genau zu wissen, was wohin gehört. Manchmal bin ich mir auch nicht sicher, ob die Dinge, an die ich mich deutlich erinnern kann, tatsächlich stattgefunden haben. Eine Erinnerung, die eben noch in Stein gemeißelt war, erscheint mir im nächsten Moment so nebulös wie die Dunstschleier über einem Fluss. Darin liegt eines der Hauptprobleme für einen Verrückten: Man kann sich einfach nie sicher sein.
Lange Zeit dachte ich, es hätte - wie zwischen zwei Buchstützen gewissermaßen - alles mit einem Tod begonnen und mit einem Tod geendet, doch jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher. Vielleicht wurde das alles ja damals, vor so vielen Jahren, als ich jung und richtig verrückt war, von etwas viel Kleinerem und schwer Fassbarem ausgelöst, vielleicht einer heimlichen Eifersucht oder unterdrückten Wut, möglicherweise aber auch von etwas viel Größerem und Lauterem wie dem Stand der Sterne am Himmel, den Kräften der Gezeiten oder der unaufhaltsamen Drehung von Mutter Erde. Fest steht nur, dass ein paar Leute gestorben sind und dass ich einfach mehr Glück als Verstand hatte, nicht zu ihnen zu gehören, was zu den letzten Bemerkungen meiner Stimmen gehörte, bevor sie abrupt verstummten.
Anstelle ihres Raunens bekomme ich nun Medikamente, die sie zum Schweigen bringen. Einmal am Tag nehme ich brav ein psychotropes Mittel, eine ovale, eierschalenblaue Pille, von der ich einen derart trockenen Mund bekomme, dass ich wie ein keuchender alter Mann nach zu vielen Zigaretten klinge oder wie ein halb verdursteter Deserteur der Fremdenlegion, der gerade die Sahara durchquert hat und um einen Schluck Wasser fleht. Darauf folgt unverzüglich ein scheußlich bitter schmeckender Stimmungsheber, der die gelegentlichen niederträchtigen, selbstmörderischen Depressionen bekämpft, in die ich, wie mir meine Sozialarbeiterin ständig predigt, jederzeit verfallen kann, egal, wie ich mich gerade fühle. In Wahrheit könnte ich, glaube ich, in ihr Büro marschieren und vor lauter überschwänglicher Freude über den positiven Verlauf meines Lebens die Hacken zusammenschlagen, und sie würde mich trotzdem fragen, ob ich meine tägliche Dosis genommen habe. Von dieser herzlosen kleinen Pille bin ich verstopft und von Wassereinlagerungen so aufgedunsen, als hätten sie mir die Blutdruckmanschette nicht um den linken Arm, sondern um den Brustkorb gelegt und sie dann fest aufgepumpt. Folglich brauche ich ein Diuretikum und ein Abführmittel, um diese Symptome zu bekämpfen. Natürlich bekomme ich vom Diuretikum rasende Migräne, als ob mir ein besonders fieser, grausamer Sadist mit dem Hammer an den Schädel schlüge, ergo gibt es codeinhaltige Schmerztabletten gegen diese kleine Nebenwirkung, während ich wegen der anderen Pille ständig zur Toilette renne. Und alle zwei Wochen bekomme ich ein starkes Antipsychotikum mit einer kurzen Spritze injiziert. Zu diesem Zweck muss ich vor der Schwester im städtischen Krankenhaus die Hosen runterlassen, wofür sie mich mit stets haargenau demselben Lächeln und der haargenau im selben Ton gestellten Frage belohnt, wie es mir denn heute ginge, worauf ich »ganz gut« antworte, egal, ob es stimmt oder nicht, weil ich trotz der verschiedenen Nebelschleier des Wahnsinns durchaus kapiere, dass es ihr so was von egal ist, wie es mir geht, und dass sie es lediglich als ihre Pflicht erachtet, mir eine Rückmeldung zu entlocken.
Das Problem ist nur, dass dieses Antipsychotikum mich zwar, wie sie mir zumindest weismachen wollen, an boshaftem, abscheulichem Verhalten hindert, aber mir auch eine kleine Schüttellähmung in den Händen beschert, so dass sie zittern, als wäre ich irgend so ein nervöser Steuersünder, der dem Buchprüfer des Finanzamts gegenübersitzt. Außerdem zucken mir davon die Mundwinkel ein wenig, so dass ich ein Muskelrelaxanz benötige, damit mein Gesicht nicht zu einer ewigen Kinderschreck-Maske erstarrt. Dieser ganze Cocktail also brodelt mir wohl oder übel durch die Adern, und während er mit seinem beruhigenden Einfluss zu den verantwortungslosen Impulsen eilt, die wie eine aufsässige Teenie-Bande in meinem Hirn herumtollt, greift er unterwegs auch eine Reihe Organe an, die keine Ahnung haben, was das Ganze soll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass meine Phantasie einem unberechenbaren Dominostein gleicht, der plötzlich aus dem Gleichgewicht kommt, erst hin und her schwankt und dann gegen all die anderen Kräfte in meinem Körper kippt, so dass er eine groß angelege Kettenreaktion auslöst, bei der die Steine in meinem Innern willkürlich, klick klick klick alle übereinander purzeln.
Da war es doch entschieden einfacher, als ich noch ein junger Mann war und nichts weiter zu tun hatte, als auf meine Stimmen zu hören. Meistens waren sie auch gar nicht mal so schlimm. Gewöhnlich waren sie schwach, wie ein verhallendes Echo über einem Tal oder auch wie Getuschel zwischen Kindern, die sich in einer Ecke des Spielzimmers Geheimnisse zuflüstern, auch wenn sie, sobald es einmal gefährlich wurde, sich laut Gehör verschafften. Und meistens waren meine Stimmen nicht allzu fordernd. Sie machten Vorschläge, erteilten Rat, stellten unbequeme Fragen. Gelegentlich neigten sie ein bisschen zur Nörgelei wie eine altjüngferliche Großtante, mit der bei einem Festschmaus niemand so recht etwas anfangen kann und die zwar in die Feier einbezogen wird und durch die eine oder andere unsinnige oder politisch unkorrekte Bemerkung aus der Rolle fällt, ansonsten aber weitgehend unbeachtet bleibt.
Irgendwie leisteten die Stimmen mir Gesellschaft, besonders dann, wenn ich keine Freunde hatte.
Ich hatte sogar zwei Freunde, und sie gehören zu der Geschichte. Ich dachte einmal, sie wären sogar der entscheidende Teil der Geschichte, doch da bin ich mir nicht mehr so sicher. Nun hatte es einige der anderen Leute, denen ich in jenen, meiner Ansicht nach richtig verrückten Jahren begegnete, weitaus schlimmer erwischt als mich. Ihre Stimmen schleuderten ihnen Befehle entgegen wie diese Ausbilder bei den Marines, die Kerle mit diesen dunkelbraungrünen, breitkrempigen Hüten, die sie tief in die Stirn gezogen haben, so dass ihr kahl geschorener Schädel von hinten zu sehen ist. Schritt marsch! Antreten! Abtreten!
Oder schlimmer: Bring dich um.
Oder noch schlimmer: Bring jemand anderen um.
Die Stimmen, die diese Leute anbrüllten, kamen von Gott oder Jesus oder Mohammed oder vom Nachbarshund oder ihrem längst verstorbenen Großonkel, vielleicht auch von Außerirdischen; zuweilen waren sie ein Chor aus Erzengeln oder Dämonen. Diese Stimmen waren hartnäckig und fordernd und nicht im Mindesten kompromissbereit, und ich wurde nach und nach ziemlich geübt darin, anhand der Anspannung, die diesen Leuten ins Gesicht geschrieben stand, und der Verkrampfung ihrer Muskeln zu erkennen, dass sie etwas ziemlich laut hörten und dass dies selten Gutes versprach. In solchen Momenten verdrückte ich mich einfach und wartete beim Eingang oder am anderen Ende des Tagesraums, weil jeden Moment etwas Verhängnisvolles passieren könnte. Es war ein bisschen so wie ein albernes Detail, das ich mir aus der Grundschulzeit eingeprägt hatte, eins von diesen seltsamen Fakten, die irgendwie haften bleiben: Bei einem Erdbeben bietet eine Türöffnung den besten Schutz, weil die Laibung über der Öffnung statisch stabiler ist als eine Wand und einem daher mit geringerer Wahrscheinlichkeit über dem Kopf zusammenbricht. Wenn ich also sah, dass bei einem Mitpatienten die Turbulenzen immer heftiger wurden und eine Eruption zu erwarten war, suchte ich den Türrahmen auf, wo ich die besten Überlebenschancen hatte. Und war ich erst einmal da, konnte ich auf meine eigenen Stimmen hören, die im Allgemeinen auf mich aufzupassen schienen und mich nicht selten warnten, mich schleunigst auf die Socken zu machen und zu verstecken. Sie hatten seltsamerweise einen ausgeprägten Selbstschutzinstinkt, und wäre ich nicht, als sie sich in jungen Jahren zu mir gesellten, so dumm gewesen, ihnen laut vernehmlich zu antworten, hätte es vermutlich nie eine Diagnose gegeben und ich wäre vermutlich gar nicht erst eingewiesen worden. Doch das ist Teil der Geschichte, wenn auch wahrlich nicht der rühmlichste Teil. Gleichwohl vermisse ich sie auf eigentümliche Weise, denn jetzt bin ich meistens einsam.
Heutzutage ist es ziemlich hart, ein Irrer im mittleren Alter zu sein. Oder Ex-Irrer, solange ich die Pillen nehme.
Jetzt verbringe ich meine Tage auf der Suche nach Bewegung. Ich mag es nicht, zu lange herumzusitzen. Also gehe ich spazieren. Im Schnellschritt, im Eilmarsch streife ich durch die Stadt, von den Parks in die Einkaufszentren, zu den Industriegebieten; dabei bin ich ein aufmerksamer Beobachter, auch wenn ich immer in Bewegung bleibe. Oder aber ich gehe zu Veranstaltungen, wo ich einen ganzen Sturzbach an Bewegung vor Augen habe, wie ein Highschool-Football- oder Basketball-Match oder auch nur das Fußballspiel einer Jugendmannschaft. Sobald vor meinen Augen etwas los ist, kann ich Pause machen. Ansonsten halte ich meine Füße auf Trab - fünf, sechs, sieben oder mehr Stunden am Tag. Ein täglicher Marathon, bei dem ich mir die Schuhsohlen abgelaufen habe und der dafür sorgt, dass ich zäh und mager bleibe. Im Winter erbettle ich mir plumpe, klobige Stiefel von der Heilsarmee. Den Rest des Jahres trage ich Laufschuhe, die ich mir im Sportgeschäft um die Ecke besorge. Alle paar Monate steckt mir der Besitzer ein Paar von einem Auslaufmodell Größe zwölf zu, um das letzte derart abgelaufene Paar zu ersetzen, das mir nur noch in Fetzen an den Füßen hängt.
Zu Beginn des Frühjahrs, nach der Schneeschmelze, marschiere ich zu den Wasserfällen rauf, wo es eine Fischtreppe gibt; dort wache ich jeden Tag freiwillig über die Rückkehr der Lachse in die Wasserscheide des Connecticut River. Diese Aufgabe besteht darin, dass ich tonnenweise Wasser durch den Staudamm fließen sehe und gelegentlich einen Fisch entdecke, der gegen den Strom zu schwimmen versucht, weil ihn ein starker Instinkt zu der Stelle zurücktreibt, wo er einst als Laich abgelegt worden war und wo er, diesem größten Mysterium folgend, seinen eigenen Laich ablegen und dann sterben wird. Ich bewundere die Lachse, weil ich weiß, wie es ist, von Kräften getrieben zu werden, die andere nicht sehen, hören oder nachempfinden können, und einer unumgänglichen Pflicht zu gehorchen, die größer ist als man selbst. Psychotische Fische. Nachdem sie sich jahrelang zu ihrem Vergnügen in der Weite des Ozeans getummelt haben, hören sie plötzlich tief in ihrem Innern eine Fischstimme, die darauf besteht, dass sie sich auf diese unmögliche Reise in den eigenen Tod begeben. Für mich sind diese Lachse so verrückt, wie ich es einmal war. Wenn ich einen zu Gesicht bekomme, notiere ich das auf einem Formular, das mir das Naturschutzamt zur Verfügung stellt, und manchmal flüstere ich ihnen einen stillen Gruß zu: Hallo, Bruder. Willkommen im Club.
Es gibt einen Trick, wenn man die Fische entdecken will, denn nachdem sie im Salz des Ozeans so viele Meilen zurückgelegt haben, sind sie mit ihren silbrig glänzenden Seiten überaus wendig. Man sieht nur ein Schimmern im glitzernden Wasser, das dem ungeübten Auge entgeht - fast so, als ob eine gespenstische Kraft in das kleine Fenster eingedrungen sei, über das ich wache. Inzwischen kann ich die Ankunft eines Lachses schon beinahe fühlen, bevor er tatsächlich unten an der Treppe erscheint. Es macht Spaß, die Fische zu zählen, auch wenn Stunden vergehen können, bevor einer sich blicken lässt, und auch wenn nie genügend kommen, um die Typen vom Naturschutz glücklich zu machen, die auf ihre Rückkehrer-Diagramme starren und frustriert die Köpfe schütteln. Doch meine Fähigkeit, sie auszumachen, bringt noch andere Vorteile mit sich. Immerhin war es mein Vorgesetzter vom Naturschutzamt, der die örtliche Polizeidienststelle anrief und sie wissen ließ, ich sei vollkommen harmlos, auch wenn ich mich stets fragte, woraus er das schloss, und auch so meine Zweifel hegte, ob er es wirklich glaubte. Und so werde ich bei den Football-Spielen und anderen Ereignissen geduldet und bin in dieser kleinen, ehemaligen Hüttenstadt inzwischen, wenn schon nicht willkommen, so doch akzeptiert. Mein Tagesablauf wird nicht hinterfragt, und ich gelte mehr als Exzentriker denn als Irrer, ein Etikett, mit dem sich, wie ich über die Jahre begriffen habe, recht gut leben lässt.
Ich wohne in einem kleinen Ein-Zimmer-Apartment, das der Staat bezahlt. Meinen Einrichtungsstil beschreibe ich gerne als Sperrmüll-Moderne. Meine Kleider beziehe ich entweder von der Heilsarmee oder von einer meiner jüngeren Schwestern, die ein paar Städte weiter weg wohnen und gelegentlich, von irgendeinem mir nicht einleuchtenden Schuldgefühl geplagt, versuchen, etwas für mich zu tun, indem sie die Kleiderschränke ihrer Ehemänner plündern. Sie haben mir second-hand einen Fernseher gekauft, in dem ich ebenso selten etwas ansehe, wie ich etwas in ihrem Radio höre. Alle paar Wochen kommen sie zu Besuch, bringen sie leicht eingedickte, selbstgekochte Mahlzeiten in Tupperschüsseln mit, und wir reden eine Weile verlegen miteinander, meist über meine betagten Eltern, die wenig Neigung verspüren, mich zu sehen, weil ich sie an die enttäuschten Hoffnungen und die Bitterkeit erinnere, die das Leben so unerwartet mit sich bringt. Ich kann damit leben und versuche, mich von ihnen fern zu halten. Meine Schwestern sorgen dafür, dass die Heizungs- und Stromrechnungen bezahlt werden. Sie stellen auch sicher, dass ich nicht vergesse, die dürftigen Schecks einzulösen, die von verschiedenen staatlichen Hilfsorganisationen kommen. Und sie fragen lieber zweimal nach, damit ich auf alle Fälle meine Medikamente nehme. Manchmal weinen sie, glaube ich, wenn sie sehen, in welcher Hoffnungslosigkeit ich lebe, doch das ist ihre Sichtweise, nicht meine, denn tatsächlich führe ich ein ziemlich komfortables Leben. Verrückt zu sein gewährt eine recht interessante Sicht auf das Leben. Auf jeden Fall ist man besser in der Lage, gewisse Dinge hinzunehmen, die das Schicksal für einen bereithält, außer wenn die Wirkung der Medikamente ein wenig nachlässt, denn dann kann ich darüber, wie das Leben mit mir umgesprungen ist, ziemlich sauer werden.
Meistens aber habe ich Verständnis, wenn ich auch nicht eben glücklich bin.
Und mein Dasein gewährt mir faszinierende Einblicke, so dass ich zum Beispiel zu einem intimen Kenner der Vorgänge in dieser kleinen Stadt geworden bin. Man würde kaum für möglich halten, was ich bei meinen täglichen Wanderungen alles mitbekomme. Solange ich die Augen offen halte und die Ohren spitze, schnappe ich alles Mögliche auf. Seit meiner Entlassung aus der Klinik, seit all das, was mir dort bevorstand, nunmehr hinter mir liegt, wende ich das Gelernte an, indem ich meine Beobachtungsgabe kultiviere. Während ich meine Tagesrouten abmarschiere, erfahre ich, wer eine schäbige kleine Affäre mit welchem Nachbarn hat, wessen Ehemann ausgezogen ist, wer zu viel trinkt, wer seine Kinder verprügelt. Ich kann genau sagen, wessen Geschäft ums Überleben kämpft und wer, durch Erbschaft oder Lotteriegewinn, zu etwas Geld gekommen ist. Ich weiß, welcher Teenager auf ein Football- oder Basketball-College-Stipendium hofft und welcher andere Teenager für ein paar Monate zu einer entfernten Tante geschickt wird und sich dort vielleicht um eine unverhoffte Schwangerschaft kümmern muss. Ich habe herausgefunden, welcher Cop einen in Ruhe lässt und welcher schnell den Knüppel oder den Strafzettel zückt, je nachdem, um welches Vergehen es sich handelt. Und dann sind da noch alle die weniger bedeutenden Ereignisse, die damit zu tun haben, wer ich bin und zu wem ich geworden bin - zum Beispiel die Friseuse, die mich kurz vor Ladenschluss hereinwinkt, um mir die Haare zu schneiden, damit ich auf meinen täglichen Wanderungen manierlicher aussehe, und die dann auch noch von ihrem Trinkgeld fünf Dollar für mich abzweigt; oder der Filialleiter von McDonald's, der mich vorbeigehen sieht und mir mit einer Tüte Burger und Fritten nachrennt und dem zu Ohren gekommen ist, dass ich lieber Vanille- als Schokoladen-Shakes trinke. Als Verrückter herumzulaufen verschafft einem die klarste Sicht auf die menschliche Natur; ein bisschen ist es so, als strömte die Stadt an einem vorbei wie das Wasser am Fischtreppen-Fenster.
Und es ist ja nicht so, als würde ich mich nicht nützlich machen. Einmal habe ich gesehen, dass ein Fabriktor offen stand, das normalerweise abgeschlossen war, und ich fand einen Polizisten, der die Lorbeeren für den angeblich durch ihn vereitelten Einbruch einheimste. Als ich mir allerdings eines schönen Frühlingsnachmittags das Kennzeichen eines Mannes merkte, der einen Radler überfuhr und, während sein Opfer bewusstlos auf der Straße lag, Fahrerflucht beging, zollte die Polizei mir mit einer Urkunde Dank. Unter der etwas peinlichen Rubrik »Gespür für seinesgleichen« darf ich es wohl verbuchen, dass ich an einem Wochenende im Herbst auf meinem Weg an einem Park mit spielenden Kindern vorbei einen Mann ins Visier bekam und an der Art, wie er am Eingang herumlungerte, sofort erkannte, dass etwas ganz entschieden nicht stimmte. Früher einmal hätten ihn meine Stimmen bemerkt und sich lautstark zu Wort gemeldet, doch diesmal übernahm ich es selbst, ihn der jungen Vorschullehrerin zu melden, die ich kannte und die auf der Bank zehn Meter vom Sandkasten und den Schaukeln entfernt in einer Frauenzeitschrift las und ihren Schutzbefohlenen nicht die nötige Aufmerksamkeit schenkte. Wie sich herausstellte, war der Mann erst kürzlich aus der Anstalt entlassen und am selben Morgen als Sexualtäter angezeigt worden.
Diesmal gab's zwar keine Urkunde, doch die Lehrerin ließ die Kinder ein buntes Bild für mich malen, auf dem sie sich beim Spielen darstellten. In dieser wundervoll krakeligen Schrift, die Kinder haben, bevor wir sie mit Erklärungen und Meinungen belasten, prangte ein großes DANKE quer über dem Gemälde, das ich mit nach Hause nahm und mir übers Bett hängte, wo es sich nach wie vor befindet. Ich führe ein etwas muffig vergilbtes Leben, das mich immer mal wieder an die Farben erinnert, die ich möglicherweise erlebt hätte, wäre ich nicht auf den Weg gestolpert, der mich hierher führte.
Das fasst denn auch mehr oder weniger mein jetziges Dasein zusammen. Ein Mann im Grenzbereich zur Welt der Normalen.
Und ich vermute mal, dass ich so oder so ähnlich auch den Rest meiner Tage herumgebracht und nie daran gedacht hätte, zu verraten, was ich alles über die Vorkommnisse wusste, deren Zeuge ich geworden war, wäre da nicht dieser Brief von einer staatlichen Behörde gewesen.
Übersetzung: Anke Kreutzer
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: John Katzenbach
- 2011, 1, 748 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868005722
- ISBN-13: 9783868005721
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