Die dunkle Flut / Stadt der Finsternis Bd.2
Roman
Alle sieben Jahre wird die Stadt Atlanta von einer magischen Flut heimgesucht, die das Gleichgewicht der Mächte gefährlich ins Wanken bringt. Als die Söldnerin Kate Daniels von Curran, dem Herrn der Gestaltwandler, den Auftrag erhält, gestohlene Landkarten...
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Klappentext zu „Die dunkle Flut / Stadt der Finsternis Bd.2 “
Alle sieben Jahre wird die Stadt Atlanta von einer magischen Flut heimgesucht, die das Gleichgewicht der Mächte gefährlich ins Wanken bringt. Als die Söldnerin Kate Daniels von Curran, dem Herrn der Gestaltwandler, den Auftrag erhält, gestohlene Landkarten aufzuspüren, wird ihr bald klar, dass diesmal weitaus mehr auf dem Spiel steht: Zwei uralte Gottheiten wollen das Aufflammen magischer Energie nutzen, um die Herrschaft der Welt an sich zu reißen. Und wenn Kate sie nicht aufhalten kann, droht die Vernichtung Atlantas ... Fortsetzung der erfolgreichen Urban-Fantasy-Serie mit ihrer charismatischen Heldin.
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Stadt der Finsternis – Die dunkle Flut von Ilona AndrewsKapitel 1
Das Telefon klingelte mitten in der Nacht. Die Woge der Magie war auf dem Höchststand, daher hätte das Telefon gar nicht funktionieren dürfen, aber es klingelte dennoch, immer und immer wieder, empört, dass es nicht beachtet wurde, bis ich schließlich abnahm.
»Nnnja?«
»Raus aus den Federn, Kate!« Die sonore, kultiviert klingende Stimme am anderen Ende deutete auf einen schlanken, eleganten, gut aussehenden Mann hin – all das, was Jim nicht war. Zumindest nicht
in seiner Menschengestalt.
Ich öffnete die Augen gerade so weit, dass ich einen kurzen Blick auf die mechanische Uhr am anderen Ende des Zimmers werfen konnte.
»Es ist zwei Uhr früh. Manche Leute schlafen um diese Uhrzeit.«
»Ich habe einen Job für uns«, sagte Jim Mit einem Schlag saß ich hellwach im Bett. Ein Job – das war gut, ich brauchte dringend Geld. »Die Hälfte.«
»Ein Drittel.«
»Die Hälfte.«
»Fünfunddreißig Prozent.« Jims Stimme bekam einen harten Klang.
»Die Hälfte.«
Am anderen Ende herrschte Schweigen. Mein ehemaliger Gildenpartner dachte nach. »Also gut. Vierzig Prozent.«
Ich legte auf. Im Schlafzimmer war es still. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und durch das Gitter vor dem Fenster fiel Mondschein herein. Das Mondlicht wirkte als Katalysator und ließ, wo der Silberanteil der Legierung mit dem magischen Wehr reagierte, eine bläuliche Patina über die Gitterstäbe glimmen. Hinter dem Gitter schlief die Stadt, Atlanta, dunkel und trügerisch friedlich, wie ein Ungetüm aus einer Legende. Wenn die Woge der Magie erst vorüber war, würde dieses Ungeheuer wieder erwachen – als aufleuchtendes Lichtermeer, von dem ab und an
... mehr
Schüsse herüberhallten.
Gegen Kugeln war mein Wehr nicht gefeit, aber den Wahnsinn der Magie hielt es aus meinem Schlafzimmer fern, was für den Anfang ja auch schon ganz okay war.
Das Telefon meldete sich erneut. Ich ließ es zweimal klingeln, dann nahm ich ab.
»Also gut«, knurrte Jim. »Halbe-halbe.«
»Wo bist du?«
»Auf dem Parkplatz unter deinem Fenster.«
Er rief also von einem Münzfernsprecher an, der ebenfalls nicht hätte funktionieren dürfen. Ich schnappte mir meine Klamotten, die für derlei Gelegenheiten neben dem Bett bereitlagen. »Worum geht’s denn?«
»Um irgend so einen Feuerteufel.«
Eine Dreiviertelstunde später tappte ich durch eine Tiefgarage. Da die Magie das elektrische Licht ausgeknipst hatte, konnte ich die Hand vor Augen nicht sehen.
In den stockdunklen Tiefen der Garage leuchtete ein Feuerball auf.
Lodernd und tosend schoss er auf mich zu. Ich sprang hinter einen Betonpfeiler, den Griff meines Wurfmessers in der schweißnassen Hand.
Hitze umhüllte mich. Für einen Moment verschlug es mir den Atem, und dann raste das Feuer an mir vorbei und zerstob an der nächsten Mauer in tausend Funken.
Aus den Tiefen der Garage erklang schadenfrohes, meckerndes Gelächter. Ich spähte hinter dem Pfeiler hervor. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Wo blieb die Technik, wenn man sie mal brauchte?
Hinter der nächsten Pfeilerreihe hob Jim eine Hand und ahmte mit Daumen und Zeigefinger pantomimisch einen schnatternden Schnabel nach. Er wollte, dass ich diesen Wahnsinnigen, der bereits vier Menschen in qualmende Fleischklumpen verwandelt hatte, in ein Gespräch verwickelte. Okay. Nichts leichter als das.
»Also gut, Jeremy!«, rief ich in die Dunkelheit. »Du gibst mir jetzt den Salamander! Und ich schlag dir dafür nicht den Kopf ab!«
Jim hielt sich eine Hand vors Gesicht und bebte. Es sah aus, als lachte er, aber sicher konnte ich mir da nicht sein, denn im Gegensatz zu ihm verfügte ich über kein sehr gutes Nachtsichtvermögen. Jeremys meckerndes Gelächter steigerte sich ins Hysterische. »Halt die Schnauze, dumme Fotze!«
Jim löste sich von dem Pfeiler und verschwand, Jeremys Stimme folgend, in der Finsternis. Bei schwachem Licht sah er besser als ich, doch in vollkommener Dunkelheit ließ auch seine Sicht ihn im Stich. Dann musste er sich auf sein Gehör verlassen, und das bedeutete, dass ich Jeremy am Reden halten musste. Und während sich Jim an Jeremys Stimme heranpirschte, pirschte sich Jeremy an mich heran.
Kein Grund zur Panik, schließlich war er ja bloß ein mordgieriger Pyromane, der mit einem Salamander in einer verzauberten Glaskugel bewaffnet und darauf aus war, das, was von Atlanta noch stand, auch noch niederzubrennen.
»Also bitte, Jeremy. Dein Wortschatz lässt wirklich zu wünschen übrig. Es gibt so viele schöne Schimpfnamen, mit denen du mich belegen könntest, und das Beste, was dir einfällt, ist ›dumme Fotze‹? Gib mir lieber den Salamander, eh du dir noch wehtust.«
»Du kannst mich mal, du … Nutte!«
Links flammte ein Funke auf. Er schwebte in der Dunkelheit und beleuchtete das schuppige Maul des Salamanders und Jeremys Hände, die die Glaskugel umklammert hielten. Das Zauberglas tat sich auf und entließ den Funken. Als die darin geballte Energie auf Luft traf, wuchs der Funke zu einem Feuerball.
Ich warf mich wieder hinter den Pfeiler, und das Feuer brandete an den Beton. Beiderseits schossen Flammen vorüber. Beißender Schwefelgestank.
»Der ging ja meilenweit vorbei! Das war ja genau so ein Blindgänger, wie du selbst einer bist, Jeremy!«
»Friss Scheiße und stirb!«
Jim musste mittlerweile ganz nah an ihm dran sein. Ich trat hinter dem Pfeiler hervor. »Komm doch her, Schwachkopf! Kriegst du denn gar nichts auf die Reihe?«
Ich sah Flammen, hechtete zur Seite und rollte mich auf dem Boden ab. Über mir heulte das Feuer wie ein wütendes Tier. Der Messergriff verbrannte mir die Finger. Die Luft in meiner Lunge glühte, und mir tränten die Augen. Ich drückte mein Gesicht an den staubigen Beton und hoffte, dass es nicht noch heißer würde, und dann war es mit einem Mal vorbei.
Jetzt reichte es mir. Ich sprang auf und stürzte in Jeremys Richtung. Der Salamander in der Kugel leuchtete auf. Ich sah Jeremys Grinsen über der Glaskugel. Es verschwand schlagartig, als sich Jims
dunkle Hände um Jeremys Hals schlossen. Der sank, schlaff wie eine Lumpenpuppe, in sich zusammen, und die Kugel kullerte aus seinen geschwächten Händen …
Ich hechtete danach und fing sie eine Handbreit über dem Betonboden auf. Dann fand ich mich Auge in Auge mit dem Salamander wieder. Rubinrote Augen betrachteten mich mit mäßigem Interesse, schwarze Lippen teilten sich, und eine lange, fadenschlanke Zunge glitt aus dem Maul und leckte über das gläserne Spiegelbild meiner Nase. Ja, du bist mir auch sehr sympathisch.
Vorsichtig erhob ich mich, erst auf die Knie, dann auf die Füße. Nun drang die Aura des Salamanders auf mich ein, bemüht, gefällig zu sein, wie ein verschmustes Kätzchen, das einem den Buckel entgegenreckte, damit man es streichelte. Visionen von Flammenmeeren und Hitzewogen kamen mir in den Sinn. Lass uns irgendwas abfackeln … Schnell drängte ich diesen Einfluss aus meinem Hirn.
Jim ließ Jeremy los, und der Feuerteufel sank wie ein nasser Sack zu Boden. Das Weiße seiner Augen starrte aus seinem ausdruckslosen Gesicht an die Decke, vom Tod kalt erwischt. Dem musste man nicht mehr den Puls fühlen. Mist. Damit war die Fangprämie zum Teufel.
»Du hast doch gesagt, lieber lebend als tot«, murmelte ich. Lebend wäre Jeremy viel mehr wert gewesen. Wir würden zwar dennoch das Kopfgeld kassieren, aber Jim hatte soeben ein Drittel der Summe in den Wind geschossen.
»Stimmt.« Jim drehte die Leiche auf die Seite, sodass wir den Rücken sahen. Zwischen Jeremys Schulterblättern ragte ein dünner Metallbolzen hervor, der am Ende mit drei schwarzen Federn versehen war. Ehe mein Hirn klären konnte, was das bedeuten mochte, hatte ich mich schon zu Boden geworfen, den Salamander mit sicherem Griff in den Händen. Jim gelang es irgendwie, sogar noch schneller in Deckung zu gehen.
Wir starrten in die Dunkelheit. Stille.
Jemand hatte unsere Zielperson mit einer Armbrust erschossen.
Dieser Jemand hätte genauso gut auch uns beide umnieten können. Wir hatten mindestens vier Sekunden lang bei der Leiche gestanden. Das war mehr als genug Zeit, um zwei weitere Bolzen abzuschießen. Ich berührte Jim und legte mir dann einen Finger an die Nase. Er schüttelte den Kopf. Bei dem Schwefelgestank, der hier in der Luft hing, war sein Geruchssinn überfordert. Ich lag reglos da und atmete flach. Jetzt galt es, die Ohren zu spitzen.
Eine Minute verging, eine Minute, die sich ewig hinzuziehen schien und in der alles still blieb. Dann erhob sich Jim ganz langsam, ging in die Hocke und wies mit einer Kopfbewegung nach links. Ich hatte vage das Gefühl, dass sich der Ausgang eher rechts befand, traute aber in dieser Dunkelheit, in der uns womöglich immer noch der unbekannte Armbrustschütze auflauerte, eher Jims Sinnen als
meinen.
Jim warf sich den toten Jeremy über die Schulter, und dann brachen wir auf, geduckt und schnell, er voran und ich, die kaum etwas sah, hinterher. Betonpfeiler rauschten vorüber – einer, zwei, drei, vier. Dann kehrte mit einem Schlag die Technik zurück, und ehe ich meinen eben erhobenen Fuß wieder absetzen konnte, wich die Magie aus der Welt. Die Leuchtstoffröhren an der Decke sprangen an und tauchten die Tiefgarage in schummriges Kunstlicht. Drei Meter vor uns klaffte das dunkle Rechteck des Ausgangs. Jim hechtete hinein. Ich sprang nach links, hinter den nächsten Pfeiler. Der Salamander in der Glaskugel hatte aufgehört zu leuchten und schlief ein. Er sah nun aus wie ein harmloser schwarzer Lurch. Meine tolle Fernwaffe machte einfach so schlapp.
Ich setzte die Kugel auf dem Boden ab und zog Slayer aus der Scheide. Diese Salamander wurden sowieso völlig überschätzt.
»Er ist weg«, sagte Jim und wies hinter mich. Ich sah mich um. Am anderen Ende war die Betonmauer an einer Stelle eingestürzt und gab den Blick auf einen schmalen Durchgang frei, der wahrscheinlich zur Straße hinaufführte. Jim hatte recht. Wenn der Armbrustschütze uns hätte umlegen wollen, hätte er dazu wahrhaftig genug Zeit gehabt.
»Dann hat er also unsere Zielperson aus dem Hinterhalt erschossen und ist anschließend abgehauen?«
»Sieht ganz so aus.«
»Das versteh ich nicht.«
Jim schüttelte den Kopf. »Wenn du dabei bist, passieren doch immer seltsame Sachen.«
»Den Job hast du aufgetan, nicht ich.«
Über der Ausgangstür sprühten Funken, und ein grünes EXITSchild sprang an.
Jim starrte es einen Moment lang an, und auf seinem Gesicht erschien ein katzenhafter Ausdruck, eine Mischung aus Empörung und Fatalismus, dann schüttelte er erneut den Kopf.
»Ich kriege aber den Bolzen, den er im Rücken hat«, sagte ich.
»Gern.«
Jims Pieper meldete sich. Er sah nach, und eine mir allzu bekannte, maskenhaft-ausdruckslose Miene überschattete sein Gesicht. »Oh, nein, bitte nicht! Ich kann ihn nicht alleine tragen!«
»Das Rudel ruft.« Er lief hinaus.
»Jim!«
Ich verkniff es mir, ihm irgendetwas hinterherzuschleudern. Es geschah mir ja eigentlich ganz recht, wenn ich mit einem Mitglied des Rudelrats so einen Auftrag übernahm. Denn es war ja nicht so, dass Jim kein guter Freund war. Aber für einen Gestaltwandler ging das Rudel nun mal immer vor. Auf einer Skala von eins bis zehn stand das Rudel auf elf und alles andere auf eins.
Ich sah zu dem mausetoten Jeremy hinüber, der wie ein Sack Kartoffeln auf dem Boden lag. Er wog schätzungsweise um die siebzig Kilo. Ich konnte unmöglich gleichzeitig ihn und den Salamander forttragen. Und ebenso unmöglich konnte ich den Salamander dort unbeaufsichtigt zurücklassen. Die Magie konnte jederzeit wiederkehren und den kleinen Lurch erneut zum Glühen bringen. Außerdem war der Heckenschütze womöglich noch ganz in der Nähe. Ich musste da weg, und zwar schnell.
Jeremy und der Salamander – beide waren jeweils vier Riesen wert.
Ich arbeitete nicht mehr oft für die Gilde, und derart fette Jobs kamen mir nur selten unter. Auch nachdem ich das Kopfgeld fifty-fifty mit Jim geteilt hatte, konnte ich davon zwei Monate meine Hypothekenraten bezahlen. Bei der Vorstellung, viertausend Dollar dort auf dem Boden liegen zu lassen, packte mich ein geradezu körperlicher Widerwille.
Ich sah Jeremy an. Ich sah den Salamander an. Immer diese Entscheidungen. Der Kopfgeldbuchhalter der Söldnergilde, ein kleiner, schlanker, dunkelhaariger Mann, starrte Jeremys Kopf auf dem Tresen an. »Wo ist denn der Rest von dem?«
»Ich hatte da ein kleines logistisches Problem.«
Er lächelte breit. »Jim hat dich im Stich gelassen, stimmt’s? Das macht dann also nur einen Fangschein?«
»Nein, zwei.« Jim hatte sich mir gegenüber ja vielleicht mies verhalten, aber ich würde ihn nicht um seinen Anteil bescheißen. Er würde seinen Fangschein bekommen, der ihn dazu berechtigte, seine Hälfte des Kopfgelds einzustreichen.
»Na, wenn du meinst.« Er knallte mir einen Stapel Formulare auf den Tresen. »Bitte ausfüllen.«
Dieser mindestens zwei Zentimeter dicke Papierstapel versprach, mich locker eine Stunde lang zu beschäftigen. Die Gilde selbst hatte recht laxe Regeln – da es sich dabei um einen Zusammenschluss von Söldnern handelte, achtete sie fast nur darauf, dass die Kohle stimmte –, doch so ein Todesfall musste der Polizei gemeldet werden, und das brachte eine Menge Formalitäten mit sich. Ich bedachte das oberste Formular mit einem bösen Blick. »Das R-20 muss ich aber nicht ausfüllen.« »Stimmt, du arbeitest ja jetzt für den Orden.« Der Buchhalter nahm die obersten acht Seiten wieder fort. »So, bitte schön, eine kleine Erleichterung für unsere VIP.«
»Juhu!« Ich griff mir den Papierstapel.
»Ach, übrigens, Kate, ich wollte dich was fragen.« Und ich wollte die Formulare ausfüllen und heim ins Bett. »Schieß los.«
Er griff unter den Tresen. Die Söldnergilde residierte in einem ehemaligen Sheraton-Hotel am Rande von Atlanta-Buckhead, und dieser Tresen hatte damals zu einer Hotelbar gehört. Der Buchhalter holte eine dunkelbraune Flasche hervor und stellte sie mit einem Glas vor mich hin.
»Äh, danke, aber ich steh nicht so auf geheimnisvolle Liebestränke.«
Er lachte. »Das ist Hennessy. Cognac. Sehr guter Stoff. Ich wollte dir nur etwas zu trinken anbieten.«
»Danke, aber ich trinke nicht.« Nicht mehr jedenfalls. Bei mir daheim hatte ich für den äußersten Notfall immer noch eine Flasche Boone’s Farm Sangria im Schrank, aber Hochprozentiges kam überhaupt nicht infrage. »Was wolltest du mich fragen?«
»Wie ist es denn so, für den Orden zu arbeiten?«
»Willst du wechseln?«
»Nö, ich bin hier ganz zufrieden. Aber ich habe einen Neffen. Und der will Ritter werden.«
»Wie alt?«
»Sechzehn.«
Bestens. Der Orden hatte sie gern so jung. In dem Alter ließen sie sich noch leicht einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich nahm mir einen Stuhl. »Ein Glas Wasser würde ich schon trinken.«
Er brachte mir das Wasser, und ich trank einen Schluck. »Der Orden macht im Grunde das Gleiche wie wir: Sie entsorgen magisches Gefahrengut jeder Art. Mal angenommen, man hat nach einer Magiewoge eine Harpyie bei sich im Baum sitzen. Dann ruft man als Erstes die Polizei.«
»Wenn man dumm ist«, sagte der Buchhalter und grinste. Ich zuckte die Achseln. »Die Polizei wird einem sagen, dass sie gerade voll ausgelastet ist – mit einem Riesenwurm, der drauf und dran ist, ein ganzes Gerichtsgebäude zu verschlingen. Sie wird einem sagen, dass man sich von der Harpyie fernhalten soll und dass sie kommen, sobald sie können. Das übliche Blabla. Dann ruft man bei der Gilde an.
Warum sollte man so lange warten, wenn ein paar Söldner für dreihundert Dollar kurzen Prozess mit der Harpyie machen und anschließend dem kleinen Sohnemann auch noch eine hübsche Schwanzfeder für seine Mütze schenken. Nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Aber wenn man nun nicht einfach so dreihundert Dollar übrig hat … Oder wenn es sich um einen Kode zwölf handelt – eine Sache, die zu haarig ist, als dass die Gilde sich darum kümmern könnte … Und da hockt immer noch diese Harpyie im Baum, und man will, dass sie verschwindet. Dann ruft man beim Orden an, denn man hat gehört, dass die nicht so viel Geld dafür verlangen. Sie bitten dich, in ihre Niederlassung zu kommen, und da sprichst du dann mit einem netten Ritter, der deine Einkommenssituation durchcheckt und dir anschließend die gute Nachricht überbringt: Da sie ermittelt haben, dass du dir mehr nicht leisten kannst, werden sie dir dafür nur fünfzig Dollar berechnen. Dein Glückstag.«
Der Buchhalter sah mich argwöhnisch an. »Und wo ist der Haken?«
»Der Haken ist der: Sie geben dir einen Wisch, den du unterschreiben sollst. Dein Hilfegesuch an den Orden. Und darin steht in Großbuchstaben, dass du den Orden dazu ermächtigst, jedwede Gefahr für die Menschheit zu beseitigen, die sich im Zusammenhang mit diesem Fall ergeben könnte.«
Der Orden der mildtätigen Hilfe hatte seinen Namen gut gewählt. Er bot tatsächlich mildtätige Hilfe, meist per Kugel oder Klinge. Das Dumme war bloß, dass man dort manchmal mehr Hilfe bekam, als
einem lieb war.
»Nun sagen wir mal, du unterschreibst das Hilfegesuch. Dann kommen die Ritter zu dir raus und beobachten die Harpyie. Als Nächstes fällt dir auf, dass jedes Mal, wenn du das verdammte Ding entdeckst, deine alte, senile Tante verschwunden ist. Du behältst die alte Dame also im Auge, und es kommt, wie es kommen musste: Als die Magie wiederkehrt, verwandelt sie sich prompt in eine Harpyie. Da sagst du den Rittern natürlich, dass du die ganze Sache abblasen willst – denn du liebst deine alte Tante, und sie tut ja auch keinem was, wenn sie da im Baum hockt. Die Ritter aber erzählen dir, dass fünf Prozent aller Harpyien eine tödliche Krankheit an den Klauen tragen und dass sie daher eine Gefahr für die Menschheit darstellen. Du wirst wütend, du brüllst rum, du rufst die Bullen, aber die Bullen sagen dir, das sei alles vollkommen legal und sie könnten nichts dagegen unternehmen. Du versprichst ihnen, dass du deine Tante in Zukunft wegschließen wirst. Du versuchst sie zu bestechen. Du zeigst auf deine Kinder und erzählst, wie sehr sie die alte Dame lieben. Du weinst. Du flehst. Aber es nützt alles nichts.« Ich trank mein Glas aus. »Und so ist das, wenn man für den Orden arbeitet.«
Der Buchhalter schenkte sich einen Cognac ein und trank das Glas auf einen Zug aus. »Ist das wirklich so geschehen?«
»Ja.«
»Und sie haben die alte Dame getötet?«
»Ja.«
»Großer Gott.«
»Wenn dein Neffe der Meinung ist, er wäre zu so etwas in der Lage, dann sollte er sich bei der Akademie bewerben. Er ist jetzt im richtigen Alter. Das Ganze ist körperlich sehr anstrengend, und man muss büffeln wie ein Blöder, aber wenn er wirklich Bock drauf hat, wird er es schon schaffen.«
»Woher weißt du das?«
Ich nahm den Stapel Formulare vom Tresen. »Als ich ein kleines Mädchen war, hat mein Vormund mich dort angemeldet. Er war ein Wahrsager des Ordens.«
»Echt? Und wie lange hast du es da ausgehalten?«
»Zwei Jahre. Und ich war eine gute Schülerin, in allem, bloß nicht, was die Konditionierungen anging. Ich habe ein Autoritätsproblem.«
Ich verabschiedete mich mit einem Winken und wechselte mit meinem Papierkram an einen der Tische im Foyer. In Wahrheit war ich keine gute Schülerin gewesen. Sondern eine sehr gute. Ich hatte die Prüfungen mit Auszeichnung bestanden und war zum Knappen der Stufe Elektrum ernannt worden. Aber ich hatte es gehasst. Der Orden verlangte bedingungslose Hingabe, doch ich verfolgte bereits ein anderes Ziel. Ich wollte den mächtigsten Mann der Welt töten, und wenn man solche Ambitionen hegt, bleibt für andere Dinge nicht mehr viel übrig. Ich brach die Ausbildung ab und begann für die Söldnergilde zu arbeiten. Greg brach es das Herz.
Greg war ein fabelhafter Vormund gewesen und hatte alles darangesetzt, mich zu beschützen. Und für Greg war der Orden etwas, das Sicherheit bot. Wenn der Mann, auf den ich es abgesehen hatte, von meiner Existenz erfahren hätte, hätte er mich umgebracht, und weder Greg noch ich hätten die Macht besessen, etwas dagegen zu unternehmen.
Zumindest noch nicht. Wenn ich mich aber dem Orden angeschlossen hätte, hätten mich all die Ritter vor dieser Gefahr beschützt. Doch das war es nicht wert, und daher hatte ich dem Orden Lebwohl gesagt und nie mehr zurückgeblickt.
Doch dann war Greg ermordet worden. Um seinen Mörder zu finden, war ich zum Orden gegangen und hatte mich in die Ermittlungen eingeschaltet. Und ich hatte den Mörder gefunden und zur Strecke gebracht. Im Zuge dieser scheußlichen Affäre war meine Akademie- Akte wieder aufgetaucht und der Orden auf den Trichter gekommen, dass sie mich wiederhaben wollten. Sie dachten sich einen Job für mich aus – Verbindungsperson zwischen Söldnergilde und Orden – und boten mir eine ganze Menge an: Gregs Büro, seine Akten, die Befugnis, mich um kleinere Fälle zu kümmern, ein festes Gehalt. Ich sagte zu. Ein Grund war mein schlechtes Gewissen: Nachdem ich die Ausbildung an der Akademie abgebrochen hatte, war ich Greg aus dem Weg gegangen. Ein anderer war der gesunde Menschenverstand: Ich hatte sowohl für das Haus meines Vaters in der Nähe von Savannah als auch für Gregs Wohnung hier in Atlanta Hypothekendarlehen abzuzahlen. Eins der beiden aufzugeben hätte sich angefühlt, als hätte man mir ein Stück aus meinem Körper herausgerissen. Die Jobs für die Gilde waren lukrativ, aber ich war nur für ein kleines Revier nahe Savannah zuständig, und dort ergab sich nur alle paar Monate mal so ein Auftrag. Die Verlockung regelmäßiger Einkünfte erwies sich einfach als zu stark.
Meine Zugehörigkeit zum Orden sollte keine Dauereinrichtung werden. Doch bis jetzt lief alles rund. Ich war mit keiner meiner beiden Zahlungsverpflichtungen im Rückstand, und sobald ich diese Formulare ausgefüllt hatte, konnte ich wieder ein, zwei Monate lang meine Rechnungen bezahlen. Nachdem ich zehnmal meine Söldnerausweisnummer auf allen möglichen Papieren vermerkt hatte, kam ich in den Genuss eines Fragebogens, bei dem ich nur »Ja« oder »Nein« anzukreuzen brauchte. Ja, ich hatte in Notwehr gehandelt. Nein, ich fand nicht, dass es bei der Überwältigung des Verdächtigen zu übertriebener Gewaltanwendung gekommen war. Ja, ich hatte den Eindruck gehabt, dass der Verdächtige eine Gefahr für mich und andere darstellte. Als ich dann bei dem Abschnitt anlangte, bei dem ich die Vorgänge mit eigenen Worten schildern sollte, hätte ich Streichhölzer gebraucht, um meine Augen offen zu halten. Bei der Frage »Welche Absichten verfolgte der Verdächtige Ihrer Meinung nach?« schrieb ich: »Er wollte die Stadt niederbrennen. Er war nämlich vollkommen übergeschnappt.«
Als ich endlich die schweren Stahltüren der Söldnergilde hinter mir ließ, zeigte sich am Himmel die erste Morgenröte. Wenigstens hatte ich den Armbrustbolzen aus Jeremys Rücken. Und dank des Vorschusses war ich nun dreihundert Dollar reicher. Das restliche Geld bekam ich erst, wenn die Polizei grünes Licht gab. An der nächsten Straßenecke hatte ich den Vorschuss im Geiste schon auf etliche offene Rechnungen aufgeteilt. Ich besaß das Geld noch – wenn ich die Hand in die Tasche schob, spürte ich das weiche Papier der gebrauchten Scheine, vier Fünfziger und fünf Zwanziger –, und dennoch war es längst schon wieder futsch. Eines der größten Rätsel des Universums.
© 2009 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
Gegen Kugeln war mein Wehr nicht gefeit, aber den Wahnsinn der Magie hielt es aus meinem Schlafzimmer fern, was für den Anfang ja auch schon ganz okay war.
Das Telefon meldete sich erneut. Ich ließ es zweimal klingeln, dann nahm ich ab.
»Also gut«, knurrte Jim. »Halbe-halbe.«
»Wo bist du?«
»Auf dem Parkplatz unter deinem Fenster.«
Er rief also von einem Münzfernsprecher an, der ebenfalls nicht hätte funktionieren dürfen. Ich schnappte mir meine Klamotten, die für derlei Gelegenheiten neben dem Bett bereitlagen. »Worum geht’s denn?«
»Um irgend so einen Feuerteufel.«
Eine Dreiviertelstunde später tappte ich durch eine Tiefgarage. Da die Magie das elektrische Licht ausgeknipst hatte, konnte ich die Hand vor Augen nicht sehen.
In den stockdunklen Tiefen der Garage leuchtete ein Feuerball auf.
Lodernd und tosend schoss er auf mich zu. Ich sprang hinter einen Betonpfeiler, den Griff meines Wurfmessers in der schweißnassen Hand.
Hitze umhüllte mich. Für einen Moment verschlug es mir den Atem, und dann raste das Feuer an mir vorbei und zerstob an der nächsten Mauer in tausend Funken.
Aus den Tiefen der Garage erklang schadenfrohes, meckerndes Gelächter. Ich spähte hinter dem Pfeiler hervor. In der Dunkelheit war nichts zu erkennen. Wo blieb die Technik, wenn man sie mal brauchte?
Hinter der nächsten Pfeilerreihe hob Jim eine Hand und ahmte mit Daumen und Zeigefinger pantomimisch einen schnatternden Schnabel nach. Er wollte, dass ich diesen Wahnsinnigen, der bereits vier Menschen in qualmende Fleischklumpen verwandelt hatte, in ein Gespräch verwickelte. Okay. Nichts leichter als das.
»Also gut, Jeremy!«, rief ich in die Dunkelheit. »Du gibst mir jetzt den Salamander! Und ich schlag dir dafür nicht den Kopf ab!«
Jim hielt sich eine Hand vors Gesicht und bebte. Es sah aus, als lachte er, aber sicher konnte ich mir da nicht sein, denn im Gegensatz zu ihm verfügte ich über kein sehr gutes Nachtsichtvermögen. Jeremys meckerndes Gelächter steigerte sich ins Hysterische. »Halt die Schnauze, dumme Fotze!«
Jim löste sich von dem Pfeiler und verschwand, Jeremys Stimme folgend, in der Finsternis. Bei schwachem Licht sah er besser als ich, doch in vollkommener Dunkelheit ließ auch seine Sicht ihn im Stich. Dann musste er sich auf sein Gehör verlassen, und das bedeutete, dass ich Jeremy am Reden halten musste. Und während sich Jim an Jeremys Stimme heranpirschte, pirschte sich Jeremy an mich heran.
Kein Grund zur Panik, schließlich war er ja bloß ein mordgieriger Pyromane, der mit einem Salamander in einer verzauberten Glaskugel bewaffnet und darauf aus war, das, was von Atlanta noch stand, auch noch niederzubrennen.
»Also bitte, Jeremy. Dein Wortschatz lässt wirklich zu wünschen übrig. Es gibt so viele schöne Schimpfnamen, mit denen du mich belegen könntest, und das Beste, was dir einfällt, ist ›dumme Fotze‹? Gib mir lieber den Salamander, eh du dir noch wehtust.«
»Du kannst mich mal, du … Nutte!«
Links flammte ein Funke auf. Er schwebte in der Dunkelheit und beleuchtete das schuppige Maul des Salamanders und Jeremys Hände, die die Glaskugel umklammert hielten. Das Zauberglas tat sich auf und entließ den Funken. Als die darin geballte Energie auf Luft traf, wuchs der Funke zu einem Feuerball.
Ich warf mich wieder hinter den Pfeiler, und das Feuer brandete an den Beton. Beiderseits schossen Flammen vorüber. Beißender Schwefelgestank.
»Der ging ja meilenweit vorbei! Das war ja genau so ein Blindgänger, wie du selbst einer bist, Jeremy!«
»Friss Scheiße und stirb!«
Jim musste mittlerweile ganz nah an ihm dran sein. Ich trat hinter dem Pfeiler hervor. »Komm doch her, Schwachkopf! Kriegst du denn gar nichts auf die Reihe?«
Ich sah Flammen, hechtete zur Seite und rollte mich auf dem Boden ab. Über mir heulte das Feuer wie ein wütendes Tier. Der Messergriff verbrannte mir die Finger. Die Luft in meiner Lunge glühte, und mir tränten die Augen. Ich drückte mein Gesicht an den staubigen Beton und hoffte, dass es nicht noch heißer würde, und dann war es mit einem Mal vorbei.
Jetzt reichte es mir. Ich sprang auf und stürzte in Jeremys Richtung. Der Salamander in der Kugel leuchtete auf. Ich sah Jeremys Grinsen über der Glaskugel. Es verschwand schlagartig, als sich Jims
dunkle Hände um Jeremys Hals schlossen. Der sank, schlaff wie eine Lumpenpuppe, in sich zusammen, und die Kugel kullerte aus seinen geschwächten Händen …
Ich hechtete danach und fing sie eine Handbreit über dem Betonboden auf. Dann fand ich mich Auge in Auge mit dem Salamander wieder. Rubinrote Augen betrachteten mich mit mäßigem Interesse, schwarze Lippen teilten sich, und eine lange, fadenschlanke Zunge glitt aus dem Maul und leckte über das gläserne Spiegelbild meiner Nase. Ja, du bist mir auch sehr sympathisch.
Vorsichtig erhob ich mich, erst auf die Knie, dann auf die Füße. Nun drang die Aura des Salamanders auf mich ein, bemüht, gefällig zu sein, wie ein verschmustes Kätzchen, das einem den Buckel entgegenreckte, damit man es streichelte. Visionen von Flammenmeeren und Hitzewogen kamen mir in den Sinn. Lass uns irgendwas abfackeln … Schnell drängte ich diesen Einfluss aus meinem Hirn.
Jim ließ Jeremy los, und der Feuerteufel sank wie ein nasser Sack zu Boden. Das Weiße seiner Augen starrte aus seinem ausdruckslosen Gesicht an die Decke, vom Tod kalt erwischt. Dem musste man nicht mehr den Puls fühlen. Mist. Damit war die Fangprämie zum Teufel.
»Du hast doch gesagt, lieber lebend als tot«, murmelte ich. Lebend wäre Jeremy viel mehr wert gewesen. Wir würden zwar dennoch das Kopfgeld kassieren, aber Jim hatte soeben ein Drittel der Summe in den Wind geschossen.
»Stimmt.« Jim drehte die Leiche auf die Seite, sodass wir den Rücken sahen. Zwischen Jeremys Schulterblättern ragte ein dünner Metallbolzen hervor, der am Ende mit drei schwarzen Federn versehen war. Ehe mein Hirn klären konnte, was das bedeuten mochte, hatte ich mich schon zu Boden geworfen, den Salamander mit sicherem Griff in den Händen. Jim gelang es irgendwie, sogar noch schneller in Deckung zu gehen.
Wir starrten in die Dunkelheit. Stille.
Jemand hatte unsere Zielperson mit einer Armbrust erschossen.
Dieser Jemand hätte genauso gut auch uns beide umnieten können. Wir hatten mindestens vier Sekunden lang bei der Leiche gestanden. Das war mehr als genug Zeit, um zwei weitere Bolzen abzuschießen. Ich berührte Jim und legte mir dann einen Finger an die Nase. Er schüttelte den Kopf. Bei dem Schwefelgestank, der hier in der Luft hing, war sein Geruchssinn überfordert. Ich lag reglos da und atmete flach. Jetzt galt es, die Ohren zu spitzen.
Eine Minute verging, eine Minute, die sich ewig hinzuziehen schien und in der alles still blieb. Dann erhob sich Jim ganz langsam, ging in die Hocke und wies mit einer Kopfbewegung nach links. Ich hatte vage das Gefühl, dass sich der Ausgang eher rechts befand, traute aber in dieser Dunkelheit, in der uns womöglich immer noch der unbekannte Armbrustschütze auflauerte, eher Jims Sinnen als
meinen.
Jim warf sich den toten Jeremy über die Schulter, und dann brachen wir auf, geduckt und schnell, er voran und ich, die kaum etwas sah, hinterher. Betonpfeiler rauschten vorüber – einer, zwei, drei, vier. Dann kehrte mit einem Schlag die Technik zurück, und ehe ich meinen eben erhobenen Fuß wieder absetzen konnte, wich die Magie aus der Welt. Die Leuchtstoffröhren an der Decke sprangen an und tauchten die Tiefgarage in schummriges Kunstlicht. Drei Meter vor uns klaffte das dunkle Rechteck des Ausgangs. Jim hechtete hinein. Ich sprang nach links, hinter den nächsten Pfeiler. Der Salamander in der Glaskugel hatte aufgehört zu leuchten und schlief ein. Er sah nun aus wie ein harmloser schwarzer Lurch. Meine tolle Fernwaffe machte einfach so schlapp.
Ich setzte die Kugel auf dem Boden ab und zog Slayer aus der Scheide. Diese Salamander wurden sowieso völlig überschätzt.
»Er ist weg«, sagte Jim und wies hinter mich. Ich sah mich um. Am anderen Ende war die Betonmauer an einer Stelle eingestürzt und gab den Blick auf einen schmalen Durchgang frei, der wahrscheinlich zur Straße hinaufführte. Jim hatte recht. Wenn der Armbrustschütze uns hätte umlegen wollen, hätte er dazu wahrhaftig genug Zeit gehabt.
»Dann hat er also unsere Zielperson aus dem Hinterhalt erschossen und ist anschließend abgehauen?«
»Sieht ganz so aus.«
»Das versteh ich nicht.«
Jim schüttelte den Kopf. »Wenn du dabei bist, passieren doch immer seltsame Sachen.«
»Den Job hast du aufgetan, nicht ich.«
Über der Ausgangstür sprühten Funken, und ein grünes EXITSchild sprang an.
Jim starrte es einen Moment lang an, und auf seinem Gesicht erschien ein katzenhafter Ausdruck, eine Mischung aus Empörung und Fatalismus, dann schüttelte er erneut den Kopf.
»Ich kriege aber den Bolzen, den er im Rücken hat«, sagte ich.
»Gern.«
Jims Pieper meldete sich. Er sah nach, und eine mir allzu bekannte, maskenhaft-ausdruckslose Miene überschattete sein Gesicht. »Oh, nein, bitte nicht! Ich kann ihn nicht alleine tragen!«
»Das Rudel ruft.« Er lief hinaus.
»Jim!«
Ich verkniff es mir, ihm irgendetwas hinterherzuschleudern. Es geschah mir ja eigentlich ganz recht, wenn ich mit einem Mitglied des Rudelrats so einen Auftrag übernahm. Denn es war ja nicht so, dass Jim kein guter Freund war. Aber für einen Gestaltwandler ging das Rudel nun mal immer vor. Auf einer Skala von eins bis zehn stand das Rudel auf elf und alles andere auf eins.
Ich sah zu dem mausetoten Jeremy hinüber, der wie ein Sack Kartoffeln auf dem Boden lag. Er wog schätzungsweise um die siebzig Kilo. Ich konnte unmöglich gleichzeitig ihn und den Salamander forttragen. Und ebenso unmöglich konnte ich den Salamander dort unbeaufsichtigt zurücklassen. Die Magie konnte jederzeit wiederkehren und den kleinen Lurch erneut zum Glühen bringen. Außerdem war der Heckenschütze womöglich noch ganz in der Nähe. Ich musste da weg, und zwar schnell.
Jeremy und der Salamander – beide waren jeweils vier Riesen wert.
Ich arbeitete nicht mehr oft für die Gilde, und derart fette Jobs kamen mir nur selten unter. Auch nachdem ich das Kopfgeld fifty-fifty mit Jim geteilt hatte, konnte ich davon zwei Monate meine Hypothekenraten bezahlen. Bei der Vorstellung, viertausend Dollar dort auf dem Boden liegen zu lassen, packte mich ein geradezu körperlicher Widerwille.
Ich sah Jeremy an. Ich sah den Salamander an. Immer diese Entscheidungen. Der Kopfgeldbuchhalter der Söldnergilde, ein kleiner, schlanker, dunkelhaariger Mann, starrte Jeremys Kopf auf dem Tresen an. »Wo ist denn der Rest von dem?«
»Ich hatte da ein kleines logistisches Problem.«
Er lächelte breit. »Jim hat dich im Stich gelassen, stimmt’s? Das macht dann also nur einen Fangschein?«
»Nein, zwei.« Jim hatte sich mir gegenüber ja vielleicht mies verhalten, aber ich würde ihn nicht um seinen Anteil bescheißen. Er würde seinen Fangschein bekommen, der ihn dazu berechtigte, seine Hälfte des Kopfgelds einzustreichen.
»Na, wenn du meinst.« Er knallte mir einen Stapel Formulare auf den Tresen. »Bitte ausfüllen.«
Dieser mindestens zwei Zentimeter dicke Papierstapel versprach, mich locker eine Stunde lang zu beschäftigen. Die Gilde selbst hatte recht laxe Regeln – da es sich dabei um einen Zusammenschluss von Söldnern handelte, achtete sie fast nur darauf, dass die Kohle stimmte –, doch so ein Todesfall musste der Polizei gemeldet werden, und das brachte eine Menge Formalitäten mit sich. Ich bedachte das oberste Formular mit einem bösen Blick. »Das R-20 muss ich aber nicht ausfüllen.« »Stimmt, du arbeitest ja jetzt für den Orden.« Der Buchhalter nahm die obersten acht Seiten wieder fort. »So, bitte schön, eine kleine Erleichterung für unsere VIP.«
»Juhu!« Ich griff mir den Papierstapel.
»Ach, übrigens, Kate, ich wollte dich was fragen.« Und ich wollte die Formulare ausfüllen und heim ins Bett. »Schieß los.«
Er griff unter den Tresen. Die Söldnergilde residierte in einem ehemaligen Sheraton-Hotel am Rande von Atlanta-Buckhead, und dieser Tresen hatte damals zu einer Hotelbar gehört. Der Buchhalter holte eine dunkelbraune Flasche hervor und stellte sie mit einem Glas vor mich hin.
»Äh, danke, aber ich steh nicht so auf geheimnisvolle Liebestränke.«
Er lachte. »Das ist Hennessy. Cognac. Sehr guter Stoff. Ich wollte dir nur etwas zu trinken anbieten.«
»Danke, aber ich trinke nicht.« Nicht mehr jedenfalls. Bei mir daheim hatte ich für den äußersten Notfall immer noch eine Flasche Boone’s Farm Sangria im Schrank, aber Hochprozentiges kam überhaupt nicht infrage. »Was wolltest du mich fragen?«
»Wie ist es denn so, für den Orden zu arbeiten?«
»Willst du wechseln?«
»Nö, ich bin hier ganz zufrieden. Aber ich habe einen Neffen. Und der will Ritter werden.«
»Wie alt?«
»Sechzehn.«
Bestens. Der Orden hatte sie gern so jung. In dem Alter ließen sie sich noch leicht einer Gehirnwäsche unterziehen. Ich nahm mir einen Stuhl. »Ein Glas Wasser würde ich schon trinken.«
Er brachte mir das Wasser, und ich trank einen Schluck. »Der Orden macht im Grunde das Gleiche wie wir: Sie entsorgen magisches Gefahrengut jeder Art. Mal angenommen, man hat nach einer Magiewoge eine Harpyie bei sich im Baum sitzen. Dann ruft man als Erstes die Polizei.«
»Wenn man dumm ist«, sagte der Buchhalter und grinste. Ich zuckte die Achseln. »Die Polizei wird einem sagen, dass sie gerade voll ausgelastet ist – mit einem Riesenwurm, der drauf und dran ist, ein ganzes Gerichtsgebäude zu verschlingen. Sie wird einem sagen, dass man sich von der Harpyie fernhalten soll und dass sie kommen, sobald sie können. Das übliche Blabla. Dann ruft man bei der Gilde an.
Warum sollte man so lange warten, wenn ein paar Söldner für dreihundert Dollar kurzen Prozess mit der Harpyie machen und anschließend dem kleinen Sohnemann auch noch eine hübsche Schwanzfeder für seine Mütze schenken. Nicht wahr?«
»Stimmt.«
»Aber wenn man nun nicht einfach so dreihundert Dollar übrig hat … Oder wenn es sich um einen Kode zwölf handelt – eine Sache, die zu haarig ist, als dass die Gilde sich darum kümmern könnte … Und da hockt immer noch diese Harpyie im Baum, und man will, dass sie verschwindet. Dann ruft man beim Orden an, denn man hat gehört, dass die nicht so viel Geld dafür verlangen. Sie bitten dich, in ihre Niederlassung zu kommen, und da sprichst du dann mit einem netten Ritter, der deine Einkommenssituation durchcheckt und dir anschließend die gute Nachricht überbringt: Da sie ermittelt haben, dass du dir mehr nicht leisten kannst, werden sie dir dafür nur fünfzig Dollar berechnen. Dein Glückstag.«
Der Buchhalter sah mich argwöhnisch an. »Und wo ist der Haken?«
»Der Haken ist der: Sie geben dir einen Wisch, den du unterschreiben sollst. Dein Hilfegesuch an den Orden. Und darin steht in Großbuchstaben, dass du den Orden dazu ermächtigst, jedwede Gefahr für die Menschheit zu beseitigen, die sich im Zusammenhang mit diesem Fall ergeben könnte.«
Der Orden der mildtätigen Hilfe hatte seinen Namen gut gewählt. Er bot tatsächlich mildtätige Hilfe, meist per Kugel oder Klinge. Das Dumme war bloß, dass man dort manchmal mehr Hilfe bekam, als
einem lieb war.
»Nun sagen wir mal, du unterschreibst das Hilfegesuch. Dann kommen die Ritter zu dir raus und beobachten die Harpyie. Als Nächstes fällt dir auf, dass jedes Mal, wenn du das verdammte Ding entdeckst, deine alte, senile Tante verschwunden ist. Du behältst die alte Dame also im Auge, und es kommt, wie es kommen musste: Als die Magie wiederkehrt, verwandelt sie sich prompt in eine Harpyie. Da sagst du den Rittern natürlich, dass du die ganze Sache abblasen willst – denn du liebst deine alte Tante, und sie tut ja auch keinem was, wenn sie da im Baum hockt. Die Ritter aber erzählen dir, dass fünf Prozent aller Harpyien eine tödliche Krankheit an den Klauen tragen und dass sie daher eine Gefahr für die Menschheit darstellen. Du wirst wütend, du brüllst rum, du rufst die Bullen, aber die Bullen sagen dir, das sei alles vollkommen legal und sie könnten nichts dagegen unternehmen. Du versprichst ihnen, dass du deine Tante in Zukunft wegschließen wirst. Du versuchst sie zu bestechen. Du zeigst auf deine Kinder und erzählst, wie sehr sie die alte Dame lieben. Du weinst. Du flehst. Aber es nützt alles nichts.« Ich trank mein Glas aus. »Und so ist das, wenn man für den Orden arbeitet.«
Der Buchhalter schenkte sich einen Cognac ein und trank das Glas auf einen Zug aus. »Ist das wirklich so geschehen?«
»Ja.«
»Und sie haben die alte Dame getötet?«
»Ja.«
»Großer Gott.«
»Wenn dein Neffe der Meinung ist, er wäre zu so etwas in der Lage, dann sollte er sich bei der Akademie bewerben. Er ist jetzt im richtigen Alter. Das Ganze ist körperlich sehr anstrengend, und man muss büffeln wie ein Blöder, aber wenn er wirklich Bock drauf hat, wird er es schon schaffen.«
»Woher weißt du das?«
Ich nahm den Stapel Formulare vom Tresen. »Als ich ein kleines Mädchen war, hat mein Vormund mich dort angemeldet. Er war ein Wahrsager des Ordens.«
»Echt? Und wie lange hast du es da ausgehalten?«
»Zwei Jahre. Und ich war eine gute Schülerin, in allem, bloß nicht, was die Konditionierungen anging. Ich habe ein Autoritätsproblem.«
Ich verabschiedete mich mit einem Winken und wechselte mit meinem Papierkram an einen der Tische im Foyer. In Wahrheit war ich keine gute Schülerin gewesen. Sondern eine sehr gute. Ich hatte die Prüfungen mit Auszeichnung bestanden und war zum Knappen der Stufe Elektrum ernannt worden. Aber ich hatte es gehasst. Der Orden verlangte bedingungslose Hingabe, doch ich verfolgte bereits ein anderes Ziel. Ich wollte den mächtigsten Mann der Welt töten, und wenn man solche Ambitionen hegt, bleibt für andere Dinge nicht mehr viel übrig. Ich brach die Ausbildung ab und begann für die Söldnergilde zu arbeiten. Greg brach es das Herz.
Greg war ein fabelhafter Vormund gewesen und hatte alles darangesetzt, mich zu beschützen. Und für Greg war der Orden etwas, das Sicherheit bot. Wenn der Mann, auf den ich es abgesehen hatte, von meiner Existenz erfahren hätte, hätte er mich umgebracht, und weder Greg noch ich hätten die Macht besessen, etwas dagegen zu unternehmen.
Zumindest noch nicht. Wenn ich mich aber dem Orden angeschlossen hätte, hätten mich all die Ritter vor dieser Gefahr beschützt. Doch das war es nicht wert, und daher hatte ich dem Orden Lebwohl gesagt und nie mehr zurückgeblickt.
Doch dann war Greg ermordet worden. Um seinen Mörder zu finden, war ich zum Orden gegangen und hatte mich in die Ermittlungen eingeschaltet. Und ich hatte den Mörder gefunden und zur Strecke gebracht. Im Zuge dieser scheußlichen Affäre war meine Akademie- Akte wieder aufgetaucht und der Orden auf den Trichter gekommen, dass sie mich wiederhaben wollten. Sie dachten sich einen Job für mich aus – Verbindungsperson zwischen Söldnergilde und Orden – und boten mir eine ganze Menge an: Gregs Büro, seine Akten, die Befugnis, mich um kleinere Fälle zu kümmern, ein festes Gehalt. Ich sagte zu. Ein Grund war mein schlechtes Gewissen: Nachdem ich die Ausbildung an der Akademie abgebrochen hatte, war ich Greg aus dem Weg gegangen. Ein anderer war der gesunde Menschenverstand: Ich hatte sowohl für das Haus meines Vaters in der Nähe von Savannah als auch für Gregs Wohnung hier in Atlanta Hypothekendarlehen abzuzahlen. Eins der beiden aufzugeben hätte sich angefühlt, als hätte man mir ein Stück aus meinem Körper herausgerissen. Die Jobs für die Gilde waren lukrativ, aber ich war nur für ein kleines Revier nahe Savannah zuständig, und dort ergab sich nur alle paar Monate mal so ein Auftrag. Die Verlockung regelmäßiger Einkünfte erwies sich einfach als zu stark.
Meine Zugehörigkeit zum Orden sollte keine Dauereinrichtung werden. Doch bis jetzt lief alles rund. Ich war mit keiner meiner beiden Zahlungsverpflichtungen im Rückstand, und sobald ich diese Formulare ausgefüllt hatte, konnte ich wieder ein, zwei Monate lang meine Rechnungen bezahlen. Nachdem ich zehnmal meine Söldnerausweisnummer auf allen möglichen Papieren vermerkt hatte, kam ich in den Genuss eines Fragebogens, bei dem ich nur »Ja« oder »Nein« anzukreuzen brauchte. Ja, ich hatte in Notwehr gehandelt. Nein, ich fand nicht, dass es bei der Überwältigung des Verdächtigen zu übertriebener Gewaltanwendung gekommen war. Ja, ich hatte den Eindruck gehabt, dass der Verdächtige eine Gefahr für mich und andere darstellte. Als ich dann bei dem Abschnitt anlangte, bei dem ich die Vorgänge mit eigenen Worten schildern sollte, hätte ich Streichhölzer gebraucht, um meine Augen offen zu halten. Bei der Frage »Welche Absichten verfolgte der Verdächtige Ihrer Meinung nach?« schrieb ich: »Er wollte die Stadt niederbrennen. Er war nämlich vollkommen übergeschnappt.«
Als ich endlich die schweren Stahltüren der Söldnergilde hinter mir ließ, zeigte sich am Himmel die erste Morgenröte. Wenigstens hatte ich den Armbrustbolzen aus Jeremys Rücken. Und dank des Vorschusses war ich nun dreihundert Dollar reicher. Das restliche Geld bekam ich erst, wenn die Polizei grünes Licht gab. An der nächsten Straßenecke hatte ich den Vorschuss im Geiste schon auf etliche offene Rechnungen aufgeteilt. Ich besaß das Geld noch – wenn ich die Hand in die Tasche schob, spürte ich das weiche Papier der gebrauchten Scheine, vier Fünfziger und fünf Zwanziger –, und dennoch war es längst schon wieder futsch. Eines der größten Rätsel des Universums.
© 2009 LYX verlegt durch EGMONT Verlagsgesellschaften mbH.
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Autoren-Porträt von Ilona Andrews
Ilona Andrews ist das Pseudonym des Autorenehepaars Ilona und Andrew Gordon. Während Ilona in Russland geboren wurde und in den USA Biochemie studiert hat, besitzt Andrew einen Abschluss in Geschichte. Die Nacht der Magie ist ihr erster gemeinsam verfasster Roman, mit dem ihnen der Einstieg in die New York Times-Bestsellerliste gelang.
Bibliographische Angaben
- Autor: Ilona Andrews
- 2009, 1. Aufl., 320 Seiten, Maße: 13,8 x 21,6 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Jochen Schwarzer
- Verlag: LYX
- ISBN-10: 3802582136
- ISBN-13: 9783802582134
- Erscheinungsdatum: 18.08.2009
Pressezitat
"Diese Autorin lässt keine Wünsche offen." Romantic Times "Ein fesselnder Krimi mit fantastischen Elementen, der die Fantasy Romance in eine neue Richtung führt." The Best Reviews
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