Die Einsamen
Ein Fall für Inspektor Barbarotti
Zufall oder Mord? Am Fuße eines Steilhangs bei Kymlinge liegt eine Leiche - und zwar genau dort, wo vor fünfunddreißig Jahren schon einmal ein Mensch zu Tode kam. Inspektor Barbarotti kann sich zunächst nur auf seine Intuition...
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Produktinformationen zu „Die Einsamen “
Zufall oder Mord? Am Fuße eines Steilhangs bei Kymlinge liegt eine Leiche - und zwar genau dort, wo vor fünfunddreißig Jahren schon einmal ein Mensch zu Tode kam. Inspektor Barbarotti kann sich zunächst nur auf seine Intuition verlassen. Dann macht er eine bestürzende Entdeckung.
"Nesser hat mit dem Halbitaliener Gunnar Barbarotti einen würdigen Nachfolger für seine Kultfigur Van Veeteren geschaffen: tiefsinnig, lebensbejahend, humorvoll."
BRIGITTE
Klappentext zu „Die Einsamen “
Eine unbeschwerte Sommerreise in den siebziger Jahren. So fängt alles an. Drei Paare aus Uppsala, miteinander befreundet und jung, planen eine Busreise von Schweden bis ans Schwarze Meer. Aber was so lustig beginnt, endet im Desaster. Die Wege der Sechs trennen sich nach diesem Urlaub - und kreuzen sich ein Menschenalter später erneut, als ein Dozent aus Lunda in den Wäldern vor Kymlinge am Fuße eines Steilhangs tot aufgefunden wird. Genau an derselben Stelle, an der eine junge Studentin aus Uppsala vor fünfunddreißig Jahren unter mysteriösen Umständen ums Leben kam ... Ein schwieriger Fall für Inspektor Barbarotti, in dessen Verlauf sein Pakt mit Gott und sein moralisches Empfinden auf eine harte Probe gestellt werden.
Lese-Probe zu „Die Einsamen “
Die Einsamen von Hakan Nesser1
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Rickard Berglund war ein in vielerlei Hinsicht rational denkender junger Mann, aber den Dienstag mochte er nicht.
Das war nicht immer so gewesen. Vernünftig war er schon immer, aber in den letzten Jahren der Fünfziger - noch bevor er den Schritt von der Stavaschule zur Realschule in Töreboda gemacht hatte - war es im Falle der Dienstage genau umgekehrt gewesen. Damals waren sie von einem gewissen Glanz umhüllt. Der Grund war ganz einfach oder besser gesagt zweifach: am Dienstag fiel das Donald-Duck-Heft durch den Briefschlitz, und außerdem war es der Tag, an dem seine Mutter ihm Krapfen mit warmer Milch vorsetzte, wenn er mittags nach Hause kam.
Diese Kombination, mit einer großen, von Puderzucker bedeckten Semmel am Tisch zu sitzen, die elegant in einer mit Zimt und Zucker gewürzten Milch schwamm, und dabei ein noch ungelesenes - fast konnte man sagen, von Menschenhand noch unberührtes - Magazin links vom Teller auf der rot-weißkarierten Wachstuchdecke liegen zu sehen, ja, allein das Wissen um dieses bevorstehende Vergnügen ließ ihn die vierhundert Meter zwischen der Schule und dem weißen Einfamilienhaus in der Fimbulgatan meist rennen.
Erst später bekamen die Dienstage einen anderen Ton. Insbesondere in den Jahren 1963 und 1964, als er die Schule wechselte, zu alt für Donald Duck wurde und als sein Vater Josef im Sanatorium von Adolfshyttan lag und schließlich starb.
Denn immer an diesem Wochentag nahm er mit seiner Mutter Ethel den Bus und besuchte den Vater. Der Bus war blau, hatte durchgesessene Sitze und wurde vier von fünf Malen von dem rundlichen Vater von Benny Persson - dem Quälgeist der Stavaschule - gelenkt. Wenn sie zurück in die Fimbulgatan kamen, war es schon dunkel, die Hausaufgaben waren noch nicht gemacht, und seine Mutter hatte rote Augen vom Weinen, dem sie sich heimlich auf der Heimreise hingegeben hatte.
Aber sein Vater starb an keinem Dienstag, es geschah in der Nacht von einem Freitag auf einen Samstag. Die Beerdigung fand gut eine Woche später in aller Stille statt. Das war im November 1964, und es regnete von morgens bis abends.
Vielleicht waren es gar nicht die Sanatoriumsbesuche, die den Kern seiner Dienstagsphobie bildeten, es war nicht so leicht zu sagen. Bereits in frühen Jahren hatte Rickard Berglund eine bestimmte Auffassung davon gehabt, wie die verschiedenen Wochentage aussahen. Welche Farbe sie hatten beispielsweise und welches Temperament - auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis er begriff, was das Wort »Temperament« bedeutete. Demnach waren die Samstage schwarz, aber warm, die Sonntage natürlich rot, genau wie im Kalender, die Montage dunkelblau und sicher . während die Dienstage immer eine Art harte Schale hatten, grauweiß, kalt und abweisend; sich in sie hineinzubegeben, war ungefähr so ein Gefühl, als würde man seine Zähne in ein Porzellanbecken schlagen.
Dann folgte der sehr, sehr dunkelblaue Mittwoch, der gegen Abend sein Versprechen von Wohlstand und Wärme zu erfüllen schien, der Donnerstag mit seinem himmelblauen Freiheitsgefühl und der weiße Freitag - wobei das Weiß des Freitags eine ganz andere Beschaffenheit hatte als die Eiseskälte des Dienstags.
Er wusste nicht, woher er dieses klare Bild eines Wochenrades hatte - oder woher er überhaupt wissen konnte, dass es sich um ein Rad handelte -, und ab und zu fragte er sich, ob andere Menschen es auf die gleiche Art und Weise sahen. Aber er hatte nie, zumindest bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit irgendjemandem diese Sichtweise diskutiert. Möglicherweise aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden.
Die Dienstagsphobie war auf jeden Fall hängen geblieben. Während seiner Jahre auf dem Gymnasium war er in seinem möblierten Zimmer in der Östra Järnvägsgatan an diesem Wochentag immer mit einem Gefühl der Schwermut aufgewacht, wohl wissend, dass von den folgenden fünfzehn, sechzehn Stunden nichts Gutes zu erwarten war. Weder was die Schule betraf, noch was die spärlichen Freundschaftsbeziehungen anging. Die Dienstage waren emaillehart und feindlich von Natur aus, und das Einzige, was man tun konnte, war der Versuch, sich zu wappnen. Sich zu wappnen und zu überleben.
Vielleicht konnte das auf lange Sicht sogar von Nutzen sein.
Heute jedoch war kein Dienstag. Es war Montag. Es war der 9. Juni 1969, und der Schienenbus von Enköping hatte mit langgezogenem Quietschen und einem Ruck auf Gleis 4 am Hauptbahnhof von Uppsala angehalten. Es war zwanzig Minuten nach elf am Vormittag, Rickard Berglund ergriff seine grüne Segeltuchtasche und stieg hinaus in den Sonnenschein auf dem Bahnsteig.
Er blieb ein paar Sekunden vollkommen still stehen, als wollte er sich diesen Augenblick bewahren und einprägen - diesen so lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er zum ersten Mal seine Füße auf den vielbesungenen Boden dieser Stadt der akademischen Lehre setzte. Gluntarne. Der Komponist Ulf Peder Olrog. Orphei dränger. Es war einfach großartig.
Obwohl er kaum etwas Besonderes erkennen konnte, als er seine Füße und deren nächste Umgebung betrachtete. Es hätte sich ebensogut um irgendwelche x-beliebigen Füße auf einem x-beliebigen Bahnsteig in Herrljunga oder Eslöv oder in irgendeinem anderen gottverlassenen kleinen Kaff im Königreich Schweden handeln können. Er seufzte. Zuckte mit den Schultern, folgte dem Menschenstrom quer durchs Bahnhofsgebäude und nahm die Stadt in Besitz.
Zumindest formulierte er es so für sich selbst. Jetzt nehme ich die Stadt in Besitz. Das diente dazu, die Unruhe in Schach zu halten, kursiv zu denken, beinhaltete, dass man das Kommando über die Wirklichkeit ergriff. Das stammte aus einem Buch, das er im ersten oder zweiten Jahr auf dem Gymnasium gelesen hatte; er konnte sich aber weder an den Titel noch an den Autorennamen erinnern. Auf jeden Fall war es eine einfache Methode, die funktionierte: kursive Gedanken bezwingen eine bedrohliche Umgebung.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blieb er noch einmal stehen. Er betrachtete die schwulstige, knallbunte Skulptur in dem Steinrondell und dachte, dass sie sicher berühmt war. In einer Stadt wie Uppsala gab es eine Menge berühmter Sehenswürdigkeiten. Bauten, Gedenksteine, historische Plätze, und mit der Zeit würde er sich all das zu Gemüte führen - ruhig und zielstrebig, es gab in dieser Beziehung keinen Grund zur Eile.
Er ging weiter geradeaus, überquerte eine große, viel befahrene Straße und ein paar kleinere, und nach ein paar Minuten war er unten am Fluss. Fyris. Überquerte ihn auf einer Holzbrücke und sah den Dom und den alten Stadtkern sich rechts von ihm erheben, nickte zufrieden und lenkte seine Schritte dorthin.
Jeder Mensch sollte einen großen und einen kleinen Plan haben. Der große betrifft die Frage, wie man das Leben bewältigen will, der kleine, wie den Tag.
Das war keine seiner eigenen kursiven Formulierungen, leider nicht, sie stammte von dem Studienrat Grundenius. Von allen mehr oder weniger eigenartigen Lehrern, auf die er während seiner drei Jahre am Vadsbo-Gymnasium gestoßen war, hatte Grundenius den größten Eindruck auf Rickard Berglund gemacht. Dominant und unberechenbar, zeitweise geradezu launisch, aber es war immer interessant, ihm zuzuhören. Oftmals sowohl überraschend als auch scharfsinnig in seinen Beobachtungen und Fragestellungen. Religion und Philosophie. Es gab das Gerücht, dass er gern schlechte Noten gab, aber Rickard hatte in beiden Fächern ein Gut bekommen; schwer zu sagen, ob er es wirklich verdient hatte. Schwer, seine eigenen Verdienste einzuschätzen.
Auf jeden Fall hatte er einen kleinen und einen großen Plan. Während er weiter am Fluss entlang auf die Kathedrale zuschritt, deren spitze Türme sich leicht in dem mit Wolken betupften Himmel zu bewegen schienen, tauchte der große in seinem Kopf auf. Das Leben. Rickard Emmanuel Berglunds Zeit auf Erden, soweit sie sich erstreckte und gedacht war.
Theologie.
Das war der Grundstein. Den Acker wollte er bearbeiten, oder wie immer man es auch ausdrücken mochte. Er hatte zu keinem bestimmten Zeitpunkt den entsprechenden Entschluss gefasst, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, es war eher eine Entscheidung gewesen, die in ihm gewachsen war, unwiderruflich und schicksalhaft im Laufe einer ganzen Anzahl von Jahren. Vielleicht bereits mit der Muttermilch aufgesogen, denn es gab einen Gott, dessen war er sich während seines ganzen bewussten Lebens sicher gewesen, aber durch den Tod seines Vaters hatte er außerdem begriffen, dass es sich nicht um den sicheren und freundlichen Abendgebetsgott seiner Kindheit handelte, sondern dass die diesbezügliche Frage viel komplizierter war. Deutlich komplizierter.
Wert, untersucht zu werden.
Josef Berglund war Pastor der freikirchlichen Gemeinde der Aronsbrüder gewesen, ein früher Ableger der Missionskirche, doch die gebündelten Gebete der Gemeindemitglieder hatten in der letzten schweren Zeit das Leiden ihres Hirten nicht um einen Deut lindern können. Auch die seiner Ehefrau und seines Sohnes halfen nicht, und das war der Hauptgrund für Rickard Berglunds nuanciertes Gottesbild.
Warum erhört er unsere Gebete nicht?
Oder wenn er sie hört, warum kommt er dann nicht unseren bescheidenen Wünschen entgegen? Warum lässt er seine Treugläubigen leiden?
Als er diese Fragen ein einziges Mal mit seiner Mutter Ethel diskutieren wollte, hatte sie ohne Umschweife erklärt, dass es dem Menschen nicht zustünde, sich Vorstellungen von Seinen tieferen Zielen und Beweggründen zu machen. Absolut nicht. Denn die vereinfachenden Interpretationen des Menschen bezüglich Gut und Böse waren aus einer größeren, jenseitigen Sicht immer zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal so ein Ereignis wie das Leiden und der Tod eines einfachen, gottesfürchtigen freikirchlichen Pastors können wir letztlich abschließend beurteilen.
Ungefähr so war ihre Argumentation gewesen. Aber Rickard Berglund wollte sich eine Vorstellung machen. Er forderte eine Erklärung, auch wenn seine Mutter behauptete, dass derartige Ambitionen geistigem Hochmut ähnelten, und an diesem Punkt endete meist ihr Gespräch. In dieser Sache ließ sie nicht mit sich reden; wenn es ein Kampf war, ein Ringen um Gott, um das es hier ging, dann war das eine Aktion, die er bitte schön allein auszutragen hatte. Rickard und der Herrgott? Der Sinn seines Lebens?
Er erreichte das dunkle Portal. Die Umgebung des Doms badete geradezu in strahlendem Sonnenschein, aber die schweren Türen zum Heiligtum waren sorgfältig geschlossen und lagen im Schatten. Er beschloss, nicht hineinzugehen - oder hatte es bereits beschlossen, als er im Zug den Plan für diesen Tag gemacht hatte. Es war zu früh. Zuerst wollte er das Gebäude von außen betrachten, diese mächtige, leicht bedrohlich wirkende Architektur: außerdem das Dekanhaus finden, in dem die Theologie ihren Sitz haben sollte, das musste wohl der große, viereckige Klotz südlich der Kirche sein ... oder war es westlich? Er war sich der Himmelsrichtungen bereits nicht mehr sicher ... und das deutlich friedlichere Kirchengebäude dort hinten war natürlich die Dreifaltigkeitskirche. Im Volksmund »Die Bauernkirche« genannt. Rickard Berglund hatte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dem Bildband Uppsala früher und heute, den er im April von seiner Mutter zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, gründlich studiert. Sie war mit seinem Lebensplan genauso zufrieden wie er selbst, und manchmal wunderte er sich über die Selbstverständlichkeit und fehlenden Einwände, was seine Zukunftsaussichten betraf. War es wirklich so einfach? Sollte es nicht zumindest Alternativen geben, die man verwerfen konnte?
Er ging am Dekanhaus vorbei, um die Bauernkirche herum und kam über eine Treppe und einen kurzen Abhang hinunter in die Drottninggatan. Rechts oben konnte er die imposante Bibliothek sehen, und noch weiter oben auf dem Hügel war durch das Laub der Bäume das Schloss zu erahnen. Dort oben blühten noch Traubenkirsche und Flieder, es war ein später, zögerlicher Frühling gewesen, und er war einfach hingerissen. Er überquerte die Drottninggatan, ging eine Straße weiter, die passenderweise Nedre Slottsgatan, Untere Schlossgasse, hieß, und erreichte schließlich eine Konditorei, genau gegenüber einem künstlich angelegten länglichen Teich. Stockenten, ein paar Schwäne und einige andere unbekannte Wasservögel schwammen in gemütlicher Frühlingsträgheit herum, so sah es zumindest aus. Gewiss sein konnte man sich dessen natürlich nicht. Er bestellte sich ein Kännchen Kaffee, ein Brot mit Käse und eines mit Mettwurst - auch das gehörte zu seinem Plan, wie er sich erinnerte, zufrieden darüber, dass er all diese einleitenden Schritte so einfach und elegant hinter sich gebracht hatte. Er hatte nicht ein einziges Mal nach dem Weg fragen müssen, dennoch hatte er sich fast alles, was er sich vorgenommen hatte, einverleibt: den Fluss Fyris. Dom und Theologikum. Gustavianum und Universitätsgebäude. Carolina Rediviva, das Schloss aus der Entfernung sowie eine Konditorei mit Außenterrasse. Einverleibt.
Es war erst Viertel nach zwölf. Er biss von seinem Brot ab, trank einen Schluck Kaffee und holte den Einberufungsbescheid aus der Seitentasche seiner Reisetasche. Zögerte einen Moment, dann zog er auch das dicke Buch heraus und legte es vorsichtig auf den Tisch, nachdem er sorgfältig überprüft hatte, ob es auch sauber war. Ausgewählte Schriften. Sören Kierkegaard. Im Zug hatte er gut vierzig Seiten gelesen, und jetzt stellte er noch einmal die gleichen Überlegungen an wie schon daheim an der Bushaltestelle von Hova. In Hova gab es wahrscheinlich keinen einzigen Menschen, der Kierkegaard gelesen hatte. Und jetzt in Uppsala, um wie viele mochte es sich hier handeln? Hunderte? Tausende?
Und die anderen? Schopenhauer. Nietzsche. Kant. All die modernen Philosophen nicht zu vergessen . Althusser, Marcuse und wie sie hießen. Es war ein ansprechender Gedanke, dass es in dieser Stadt gut möglich war, jemand am Nachbartisch in einer Konditorei wie dieser oder in der Schlange im Supermarkt zu finden, der sich sowohl mit Hegel als auch mit Sartre beschäftigt hatte.
Rickard Berglund hatte einen Kanon, eine Leseliste mit all den Autoren, mit denen er im kommenden Jahr Bekanntschaft schließen wollte. Bevor er sich ernsthaft der Theologie widmete. Vielleicht sollte er auch mal bei Marx und Lenin reinschauen, um sich zu orientieren. Nichts Menschliches sei dir fremd, das hatte Grundenius ihnen einzuschärfen versucht ... und auch nicht viel Unmenschliches. Wenn du deinen Gegner nicht studierst, wirst du ihn niemals besiegen können.
Rickard glaubte nicht an den Kommunismus. Der Krieg der USA dort hinten in Vietnam war sicher in vielerlei Hinsicht ungerecht, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Stalin hatte mehr Menschenleben auf dem Gewissen als Hitler, da brauchte man nur in den Geschichtsbüchern nachlesen, und Rickard hegte einen fast physischen Widerwillen gegen Demonstrationen aller Art. Aufgehetzte Volksmengen, gegrölte Parolen und platte Demagogie machten ihm Angst. Mit der Hippiebewegung, der Popmusik und all den langhaarigen Freiheitskämpfern ging es ihm ähnlich. Irgendwie betraf ihn das nicht. Rickard Berglund hoffte, oder besser gesagt, er ging eigentlich davon aus, das Gegengift gegen all diese Geißeln der Zeit in einer Umgebung zu finden, in der klassische Bildung und Tradition regierten. Die Alma Mater, jerum, jerum ... mit der Zeit, dachte er, mit der Zeit werde ich in dieser Stadt schon Fuß fassen.
Er las den kurzen Text auf dem Einberufungsbescheid zum hundertsten Mal.
Ort: AUS /Armee-Unteroffiziersschule, Dag Hammar- skjölds väg 36, bei der Wache melden.
Zeit: Montag, 9. Juni 1969, zwischen 13.00 und 21.00 Uhr. Dauer der Ausbildung: Fünfzehn Monate.
Entlassungstag: 28. August 1970.
Als Rickard Berglund sich all diese Zeit vorzustellen versuchte, all diese Tage mit ihrem vollkommen unbekannten Inhalt und den unbekannten Voraussetzungen, zog sich etwas in seiner Kehle zusammen. Wenn er das nicht bekämpfte, konnte es sehr wohl explodieren, das fühlte er.
Vielleicht würde er es nicht aushalten?
Vielleicht würden sie ihn schon nach ein paar Wochen zurück nach Hova schicken? Woher sollte man wissen, ob man dazu taugte?
Oder ihn auf einen ganz anderen Posten in einem ganz anderen Regiment irgendwo im Land versetzen? Das wäre eine noch größere Schmach. In dem Informationsmaterial, das er bekommen hatte, stand, dass so etwas möglich war. Zehn bis fünfzehn Prozent derjenigen, die für die Stabsausbildung ausgesucht wurden, gingen diesem Schicksal entgegen. Und wenn er nun in Boden landete? Oder in Karlsborg? Uppsala war ein Gewinnlos in der Musterungslotterie gewesen, aber jetzt hieß es, das Glück nicht leichtsinnig zu vertun ... Er seufzte und machte sich klar, dass es genau solche trübsinnigen Gedankengänge waren, in die er nicht mehr hatte verfallen wollen.
Denn der Plan stand fest. Fünfzehn Monate Militärdienst auf der Stabs- und Offiziersschule, dann diverse Semester Theologie, vier oder fünf Jahre, das musste die Zeit weisen. Anschließend die Priesterweihe und hinaus aufs Land, um das Wort zu verkünden.
So einfach war das.
Wenn man elf Monate bei der Lapidus Beton AG durchgehalten hatte, dann schaffte man fast alles. Es war Onkel Torsten gewesen, der ihn drei Tage nach dem Abitur zur Armierung geholt hatte, und wie immer es um die Bildung im sonstigen Hova-Gullspäng stand, so war er jedenfalls garantiert der Einzige bei Lapidus, der in den Kaffeepausen Hjalmar Bergman und Bunyan las.
Es hatte die eine oder andere Stichelei gegeben, aber das war jetzt vorbei. Er hatte sowohl die Betonindustrie als auch sein Elternhaus in der Fimbulgatan hinter sich gelassen. Und sein Kinderzimmer, in dem er gewohnt hatte, solange er sich erinnern konnte. Seine Mutter hatte am Morgen in der Küche versucht, gegen die Tränen anzukämpfen, aber es war ihr nicht gelungen.
Du lässt mich allein, Rickard, hatte sie geschluchzt. Aber so muss es sein, und vergiss nicht, dass es immer einen Weg zurück in dein Elternhaus gibt.
Das hatte sie sich natürlich schon vorher zurechtgelegt, und es hatte geklungen wie ein alter Spruch auf einem gestickten Stoffband über einer Küchenbank. Nach dem Tod des Pastors hatte sie immer häufiger angefangen, so zu reden, und tief in seinem Inneren schämte er sich über das Gefühl von Freiheit, das in ihm aufstieg, sobald er durch die Tür gegangen war.
Ein Freiheitsempfinden, wenn man zum Militär sollte? Das war wohl etwas, das man lieber nicht laut aussprach, aber genau dieses Gefühl hatte ihn erfüllt. Heute beginnt mein Leben wirklich! Er hatte sich den ganzen Frühling auf dieses Datum gefreut, und während er nun hier saß und diese unbekannten Enten, diese unbekannten Schwäne und diese unbekannten Menschen betrachtete, Letztere auf dem Bürgersteig vorbeiflanierend, da dachte er, dass er niemals - was immer auch in seinem Leben geschehen würde, was immer auch aus seinem großen Plan werden würde - dass er niemals diesen Moment vergessen würde. In der Konditorei Fågelsången in Uppsala mitten am Tag des 9. Juni 1969. Er konnte sich vorstellen, jedes Jahr genau zu diesem Datum hierherzukommen, sich hinzusetzen und ein wenig zu philosophieren, an Vergangenes und Zukünftiges zu denken und ...
Hier wurde sein Gedankenstrom jäh durch einen Schatten unterbrochen, der über seinen Tisch fiel, und durch den Besitzer dieses Schattens, der seine Anwesenheit mit einem diskreten Räuspern kundtat.
»Sieh mal einer an. Kierkegaard. Nicht schlecht.«
Rickard Berglund blickte auf. Ein langer junger Mann in Jeans, T-Shirt und aufgeknöpftem Flanellhemd stand vor ihm und betrachtete ihn. Schräger dunkler Pony, der übers halbe Gesicht hing, und ein breites Lächeln. Er deutete auf den leeren Stuhl an der Wand.
»Entschuldigung. Aber gewisse Dinge muss ich einfach kommentieren. Darf ich mich setzen?«
Rickard nickte und steckte den Einberufungsbescheid ein. »Den habe ich auch gesehen.«
»Was, die Einberufung ...«
»Genau. Und ich nehme an, dass du nicht zur Kompanie S1 sollst?«
Er zog den Stuhl heran und setzte sich. Schlug ein Bein über das andere und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche.
»Möchtest du?«
»Nein, danke. Ich rauche nicht.«
»Vernünftig.«
Rickard versuchte es mit einem Lächeln. »Und warum vermutest du, dass ich nicht zu S 1 komme?«
Sein frischgebackener Tischnachbar zündete sich eine Zigarette mit einem Sturmfeuerzeug an und stieß eine Rauchwolke aus. »Weil du nicht aussiehst wie ein Strippenzieher.«
»Ein Strippenzieher?«
»So werden die genannt. Die von der siebten Kompanie bei S 1. Da findest du nicht viele Nobelpreisträger. Nein, ich nehme an, dass du zur AUS kommst. Als Sprachmittler oder Stabsuoff?«
»Stabsuoff«, antwortete Rickard und schluckte.
»Genau wie ich. Entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Tomas Winckler.«
Er streckte die Hand über den Tisch, und Rickard ergriff sie.
»Rickard Berglund.«
»Freut mich. Ich hoffe, wir bleiben zusammen. Ich fühle mich am wohlsten unter gebildeten Menschen.«
Er zeigte auf das Buch, und Rickard spürte, wie er errötete. »Du ... ich meine, du sollst dich also auch heute melden?« Tomas Winckler nickte. »Ja, natürlich. Wir können zusammen hinlatschen, wenn du willst. Oder hast du andere Pläne?«
Rickard nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, in einer einzigen verwirrten Bewegung. Eine Kellnerin kam und stellte eine Tasse Kaffee und eine Zimtschnecke vor Tomas Winckler. Der drückte lachend seine Zigarette aus.
»Ich habe dich durchs Fenster gesehen, als ich bestellt habe«, erklärte er. »Und das Buch und den Einberufungsbescheid. Und da sie in der Siebten nicht gerade dänische Philosophen lesen, habe ich angenommen, dass wir Kumpel werden. Woher kommst du? Jedenfalls nicht aus Uppsala?«
»Nein.«
Wie üblich fiel es ihm schwer zuzugeben, dass er fast sein gesamtes Leben in Hova verbracht hatte, sah jedoch ein, dass es nicht schlau wäre, leicht durchschaubare Lügen aufzutischen. »Aus Hova. Wenn du weißt, wo das liegt? Und Mariestad. Ich bin in Mariestad aufs Gymnasium gegangen.«
Tomas Winckler nickte. »Hab mir so was in der Richtung gedacht bei dem Akzent. Und wo würdest du mich in unserem langgestreckten Land platzieren?«
Rickard dachte nach. »Im Norden?«
»Stimmt.«
»Aber nicht so schrecklich hoch im Norden?«
»Kommt drauf an, wie man es sieht.«
»Sundsvall.«
Tomas Winckler stellte seine Kaffeetasse mit einem Klirren ab. »Verdammt. Jetzt bin ich aber beeindruckt. Hier versucht man zu klingen wie ein echter Großstadtschwede, und dann nagelst du mich mit dem ersten Schlag genau an der richtigen Stelle fest. Verdammt gut, wirklich.«
Rickard lachte und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Reine Glückssache«, versicherte er. »Bist du schon mal in Uppsala gewesen?«
»Ein paar Mal. Meine Familie hat hier in der Stadt eine Wohnung. Und du?«
»Nein«, musste Rickard zugeben. »Ich habe heute tatsächlich zum ersten Mal meinen Fuß in die Stadt gesetzt. Aber ich werde wohl hier bleiben und studieren ... hinterher. Es ist eine schöne Stadt, oder?«
»Sie ist wunderbar«, versicherte Tomas Winckler und strich sich den Pony aus dem Gesicht. »Zumindest, solange man unter dreißig ist. Und das ist man ja. Und was willst du studieren?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Ach? Nein, ich eigentlich auch nicht. Aber bestimmt werde ich ein paar Jahre hier hängen bleiben.«
Mein Gott, dachte Rickard mit plötzlicher Einsicht. Hier sitze ich und rede mit jemandem, den ich für den Rest meines Lebens kennen werde. Ich, der ich ein Jahr nach dem Abitur mit meinen Klassenkameraden kaum noch etwas zu tun habe.
Tomas Winckler nahm das Buch in die Hand und studierte den Rückentext. »Ich habe nur Auszüge gelesen«, erklärte er. »Aber er ist klug, dieser Däne. Verdammt scharfsinnig.«
»Ich habe gerade erst angefangen«, räumte Rickard ein. »Und was liest du im Moment?«
Tomas Winckler ging nicht darauf ein. Er lehnte sich zurück und zündete sich stattdessen seine ausgedrückte Zigarette wieder an. »Wenn du dich selbst mit einem einzigen Satz beschreiben solltest«, sagte er, »wie würdest du das tun?«
»Ein einziger Satz?«
»Ja.«
Rickard Berglund dachte eine Sekunde lang nach. »Ich bin ein junger Mann, der keine Dienstage mag«, erklärte er dann.
Tomas Winckler betrachtete ihn verblüfft. Dann brachen sie beide in schallendes Gelächter aus.
...
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Rickard Berglund war ein in vielerlei Hinsicht rational denkender junger Mann, aber den Dienstag mochte er nicht.
Das war nicht immer so gewesen. Vernünftig war er schon immer, aber in den letzten Jahren der Fünfziger - noch bevor er den Schritt von der Stavaschule zur Realschule in Töreboda gemacht hatte - war es im Falle der Dienstage genau umgekehrt gewesen. Damals waren sie von einem gewissen Glanz umhüllt. Der Grund war ganz einfach oder besser gesagt zweifach: am Dienstag fiel das Donald-Duck-Heft durch den Briefschlitz, und außerdem war es der Tag, an dem seine Mutter ihm Krapfen mit warmer Milch vorsetzte, wenn er mittags nach Hause kam.
Diese Kombination, mit einer großen, von Puderzucker bedeckten Semmel am Tisch zu sitzen, die elegant in einer mit Zimt und Zucker gewürzten Milch schwamm, und dabei ein noch ungelesenes - fast konnte man sagen, von Menschenhand noch unberührtes - Magazin links vom Teller auf der rot-weißkarierten Wachstuchdecke liegen zu sehen, ja, allein das Wissen um dieses bevorstehende Vergnügen ließ ihn die vierhundert Meter zwischen der Schule und dem weißen Einfamilienhaus in der Fimbulgatan meist rennen.
Erst später bekamen die Dienstage einen anderen Ton. Insbesondere in den Jahren 1963 und 1964, als er die Schule wechselte, zu alt für Donald Duck wurde und als sein Vater Josef im Sanatorium von Adolfshyttan lag und schließlich starb.
Denn immer an diesem Wochentag nahm er mit seiner Mutter Ethel den Bus und besuchte den Vater. Der Bus war blau, hatte durchgesessene Sitze und wurde vier von fünf Malen von dem rundlichen Vater von Benny Persson - dem Quälgeist der Stavaschule - gelenkt. Wenn sie zurück in die Fimbulgatan kamen, war es schon dunkel, die Hausaufgaben waren noch nicht gemacht, und seine Mutter hatte rote Augen vom Weinen, dem sie sich heimlich auf der Heimreise hingegeben hatte.
Aber sein Vater starb an keinem Dienstag, es geschah in der Nacht von einem Freitag auf einen Samstag. Die Beerdigung fand gut eine Woche später in aller Stille statt. Das war im November 1964, und es regnete von morgens bis abends.
Vielleicht waren es gar nicht die Sanatoriumsbesuche, die den Kern seiner Dienstagsphobie bildeten, es war nicht so leicht zu sagen. Bereits in frühen Jahren hatte Rickard Berglund eine bestimmte Auffassung davon gehabt, wie die verschiedenen Wochentage aussahen. Welche Farbe sie hatten beispielsweise und welches Temperament - auch wenn es noch viele Jahre dauern sollte, bis er begriff, was das Wort »Temperament« bedeutete. Demnach waren die Samstage schwarz, aber warm, die Sonntage natürlich rot, genau wie im Kalender, die Montage dunkelblau und sicher . während die Dienstage immer eine Art harte Schale hatten, grauweiß, kalt und abweisend; sich in sie hineinzubegeben, war ungefähr so ein Gefühl, als würde man seine Zähne in ein Porzellanbecken schlagen.
Dann folgte der sehr, sehr dunkelblaue Mittwoch, der gegen Abend sein Versprechen von Wohlstand und Wärme zu erfüllen schien, der Donnerstag mit seinem himmelblauen Freiheitsgefühl und der weiße Freitag - wobei das Weiß des Freitags eine ganz andere Beschaffenheit hatte als die Eiseskälte des Dienstags.
Er wusste nicht, woher er dieses klare Bild eines Wochenrades hatte - oder woher er überhaupt wissen konnte, dass es sich um ein Rad handelte -, und ab und zu fragte er sich, ob andere Menschen es auf die gleiche Art und Weise sahen. Aber er hatte nie, zumindest bis zu seinem zwanzigsten Lebensjahr, mit irgendjemandem diese Sichtweise diskutiert. Möglicherweise aus Angst, für nicht normal gehalten zu werden.
Die Dienstagsphobie war auf jeden Fall hängen geblieben. Während seiner Jahre auf dem Gymnasium war er in seinem möblierten Zimmer in der Östra Järnvägsgatan an diesem Wochentag immer mit einem Gefühl der Schwermut aufgewacht, wohl wissend, dass von den folgenden fünfzehn, sechzehn Stunden nichts Gutes zu erwarten war. Weder was die Schule betraf, noch was die spärlichen Freundschaftsbeziehungen anging. Die Dienstage waren emaillehart und feindlich von Natur aus, und das Einzige, was man tun konnte, war der Versuch, sich zu wappnen. Sich zu wappnen und zu überleben.
Vielleicht konnte das auf lange Sicht sogar von Nutzen sein.
Heute jedoch war kein Dienstag. Es war Montag. Es war der 9. Juni 1969, und der Schienenbus von Enköping hatte mit langgezogenem Quietschen und einem Ruck auf Gleis 4 am Hauptbahnhof von Uppsala angehalten. Es war zwanzig Minuten nach elf am Vormittag, Rickard Berglund ergriff seine grüne Segeltuchtasche und stieg hinaus in den Sonnenschein auf dem Bahnsteig.
Er blieb ein paar Sekunden vollkommen still stehen, als wollte er sich diesen Augenblick bewahren und einprägen - diesen so lange herbeigesehnten Augenblick, in dem er zum ersten Mal seine Füße auf den vielbesungenen Boden dieser Stadt der akademischen Lehre setzte. Gluntarne. Der Komponist Ulf Peder Olrog. Orphei dränger. Es war einfach großartig.
Obwohl er kaum etwas Besonderes erkennen konnte, als er seine Füße und deren nächste Umgebung betrachtete. Es hätte sich ebensogut um irgendwelche x-beliebigen Füße auf einem x-beliebigen Bahnsteig in Herrljunga oder Eslöv oder in irgendeinem anderen gottverlassenen kleinen Kaff im Königreich Schweden handeln können. Er seufzte. Zuckte mit den Schultern, folgte dem Menschenstrom quer durchs Bahnhofsgebäude und nahm die Stadt in Besitz.
Zumindest formulierte er es so für sich selbst. Jetzt nehme ich die Stadt in Besitz. Das diente dazu, die Unruhe in Schach zu halten, kursiv zu denken, beinhaltete, dass man das Kommando über die Wirklichkeit ergriff. Das stammte aus einem Buch, das er im ersten oder zweiten Jahr auf dem Gymnasium gelesen hatte; er konnte sich aber weder an den Titel noch an den Autorennamen erinnern. Auf jeden Fall war es eine einfache Methode, die funktionierte: kursive Gedanken bezwingen eine bedrohliche Umgebung.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz blieb er noch einmal stehen. Er betrachtete die schwulstige, knallbunte Skulptur in dem Steinrondell und dachte, dass sie sicher berühmt war. In einer Stadt wie Uppsala gab es eine Menge berühmter Sehenswürdigkeiten. Bauten, Gedenksteine, historische Plätze, und mit der Zeit würde er sich all das zu Gemüte führen - ruhig und zielstrebig, es gab in dieser Beziehung keinen Grund zur Eile.
Er ging weiter geradeaus, überquerte eine große, viel befahrene Straße und ein paar kleinere, und nach ein paar Minuten war er unten am Fluss. Fyris. Überquerte ihn auf einer Holzbrücke und sah den Dom und den alten Stadtkern sich rechts von ihm erheben, nickte zufrieden und lenkte seine Schritte dorthin.
Jeder Mensch sollte einen großen und einen kleinen Plan haben. Der große betrifft die Frage, wie man das Leben bewältigen will, der kleine, wie den Tag.
Das war keine seiner eigenen kursiven Formulierungen, leider nicht, sie stammte von dem Studienrat Grundenius. Von allen mehr oder weniger eigenartigen Lehrern, auf die er während seiner drei Jahre am Vadsbo-Gymnasium gestoßen war, hatte Grundenius den größten Eindruck auf Rickard Berglund gemacht. Dominant und unberechenbar, zeitweise geradezu launisch, aber es war immer interessant, ihm zuzuhören. Oftmals sowohl überraschend als auch scharfsinnig in seinen Beobachtungen und Fragestellungen. Religion und Philosophie. Es gab das Gerücht, dass er gern schlechte Noten gab, aber Rickard hatte in beiden Fächern ein Gut bekommen; schwer zu sagen, ob er es wirklich verdient hatte. Schwer, seine eigenen Verdienste einzuschätzen.
Auf jeden Fall hatte er einen kleinen und einen großen Plan. Während er weiter am Fluss entlang auf die Kathedrale zuschritt, deren spitze Türme sich leicht in dem mit Wolken betupften Himmel zu bewegen schienen, tauchte der große in seinem Kopf auf. Das Leben. Rickard Emmanuel Berglunds Zeit auf Erden, soweit sie sich erstreckte und gedacht war.
Theologie.
Das war der Grundstein. Den Acker wollte er bearbeiten, oder wie immer man es auch ausdrücken mochte. Er hatte zu keinem bestimmten Zeitpunkt den entsprechenden Entschluss gefasst, zumindest konnte er sich nicht daran erinnern, es war eher eine Entscheidung gewesen, die in ihm gewachsen war, unwiderruflich und schicksalhaft im Laufe einer ganzen Anzahl von Jahren. Vielleicht bereits mit der Muttermilch aufgesogen, denn es gab einen Gott, dessen war er sich während seines ganzen bewussten Lebens sicher gewesen, aber durch den Tod seines Vaters hatte er außerdem begriffen, dass es sich nicht um den sicheren und freundlichen Abendgebetsgott seiner Kindheit handelte, sondern dass die diesbezügliche Frage viel komplizierter war. Deutlich komplizierter.
Wert, untersucht zu werden.
Josef Berglund war Pastor der freikirchlichen Gemeinde der Aronsbrüder gewesen, ein früher Ableger der Missionskirche, doch die gebündelten Gebete der Gemeindemitglieder hatten in der letzten schweren Zeit das Leiden ihres Hirten nicht um einen Deut lindern können. Auch die seiner Ehefrau und seines Sohnes halfen nicht, und das war der Hauptgrund für Rickard Berglunds nuanciertes Gottesbild.
Warum erhört er unsere Gebete nicht?
Oder wenn er sie hört, warum kommt er dann nicht unseren bescheidenen Wünschen entgegen? Warum lässt er seine Treugläubigen leiden?
Als er diese Fragen ein einziges Mal mit seiner Mutter Ethel diskutieren wollte, hatte sie ohne Umschweife erklärt, dass es dem Menschen nicht zustünde, sich Vorstellungen von Seinen tieferen Zielen und Beweggründen zu machen. Absolut nicht. Denn die vereinfachenden Interpretationen des Menschen bezüglich Gut und Böse waren aus einer größeren, jenseitigen Sicht immer zum Scheitern verurteilt. Nicht einmal so ein Ereignis wie das Leiden und der Tod eines einfachen, gottesfürchtigen freikirchlichen Pastors können wir letztlich abschließend beurteilen.
Ungefähr so war ihre Argumentation gewesen. Aber Rickard Berglund wollte sich eine Vorstellung machen. Er forderte eine Erklärung, auch wenn seine Mutter behauptete, dass derartige Ambitionen geistigem Hochmut ähnelten, und an diesem Punkt endete meist ihr Gespräch. In dieser Sache ließ sie nicht mit sich reden; wenn es ein Kampf war, ein Ringen um Gott, um das es hier ging, dann war das eine Aktion, die er bitte schön allein auszutragen hatte. Rickard und der Herrgott? Der Sinn seines Lebens?
Er erreichte das dunkle Portal. Die Umgebung des Doms badete geradezu in strahlendem Sonnenschein, aber die schweren Türen zum Heiligtum waren sorgfältig geschlossen und lagen im Schatten. Er beschloss, nicht hineinzugehen - oder hatte es bereits beschlossen, als er im Zug den Plan für diesen Tag gemacht hatte. Es war zu früh. Zuerst wollte er das Gebäude von außen betrachten, diese mächtige, leicht bedrohlich wirkende Architektur: außerdem das Dekanhaus finden, in dem die Theologie ihren Sitz haben sollte, das musste wohl der große, viereckige Klotz südlich der Kirche sein ... oder war es westlich? Er war sich der Himmelsrichtungen bereits nicht mehr sicher ... und das deutlich friedlichere Kirchengebäude dort hinten war natürlich die Dreifaltigkeitskirche. Im Volksmund »Die Bauernkirche« genannt. Rickard Berglund hatte die wichtigsten Sehenswürdigkeiten in dem Bildband Uppsala früher und heute, den er im April von seiner Mutter zum zwanzigsten Geburtstag bekommen hatte, gründlich studiert. Sie war mit seinem Lebensplan genauso zufrieden wie er selbst, und manchmal wunderte er sich über die Selbstverständlichkeit und fehlenden Einwände, was seine Zukunftsaussichten betraf. War es wirklich so einfach? Sollte es nicht zumindest Alternativen geben, die man verwerfen konnte?
Er ging am Dekanhaus vorbei, um die Bauernkirche herum und kam über eine Treppe und einen kurzen Abhang hinunter in die Drottninggatan. Rechts oben konnte er die imposante Bibliothek sehen, und noch weiter oben auf dem Hügel war durch das Laub der Bäume das Schloss zu erahnen. Dort oben blühten noch Traubenkirsche und Flieder, es war ein später, zögerlicher Frühling gewesen, und er war einfach hingerissen. Er überquerte die Drottninggatan, ging eine Straße weiter, die passenderweise Nedre Slottsgatan, Untere Schlossgasse, hieß, und erreichte schließlich eine Konditorei, genau gegenüber einem künstlich angelegten länglichen Teich. Stockenten, ein paar Schwäne und einige andere unbekannte Wasservögel schwammen in gemütlicher Frühlingsträgheit herum, so sah es zumindest aus. Gewiss sein konnte man sich dessen natürlich nicht. Er bestellte sich ein Kännchen Kaffee, ein Brot mit Käse und eines mit Mettwurst - auch das gehörte zu seinem Plan, wie er sich erinnerte, zufrieden darüber, dass er all diese einleitenden Schritte so einfach und elegant hinter sich gebracht hatte. Er hatte nicht ein einziges Mal nach dem Weg fragen müssen, dennoch hatte er sich fast alles, was er sich vorgenommen hatte, einverleibt: den Fluss Fyris. Dom und Theologikum. Gustavianum und Universitätsgebäude. Carolina Rediviva, das Schloss aus der Entfernung sowie eine Konditorei mit Außenterrasse. Einverleibt.
Es war erst Viertel nach zwölf. Er biss von seinem Brot ab, trank einen Schluck Kaffee und holte den Einberufungsbescheid aus der Seitentasche seiner Reisetasche. Zögerte einen Moment, dann zog er auch das dicke Buch heraus und legte es vorsichtig auf den Tisch, nachdem er sorgfältig überprüft hatte, ob es auch sauber war. Ausgewählte Schriften. Sören Kierkegaard. Im Zug hatte er gut vierzig Seiten gelesen, und jetzt stellte er noch einmal die gleichen Überlegungen an wie schon daheim an der Bushaltestelle von Hova. In Hova gab es wahrscheinlich keinen einzigen Menschen, der Kierkegaard gelesen hatte. Und jetzt in Uppsala, um wie viele mochte es sich hier handeln? Hunderte? Tausende?
Und die anderen? Schopenhauer. Nietzsche. Kant. All die modernen Philosophen nicht zu vergessen . Althusser, Marcuse und wie sie hießen. Es war ein ansprechender Gedanke, dass es in dieser Stadt gut möglich war, jemand am Nachbartisch in einer Konditorei wie dieser oder in der Schlange im Supermarkt zu finden, der sich sowohl mit Hegel als auch mit Sartre beschäftigt hatte.
Rickard Berglund hatte einen Kanon, eine Leseliste mit all den Autoren, mit denen er im kommenden Jahr Bekanntschaft schließen wollte. Bevor er sich ernsthaft der Theologie widmete. Vielleicht sollte er auch mal bei Marx und Lenin reinschauen, um sich zu orientieren. Nichts Menschliches sei dir fremd, das hatte Grundenius ihnen einzuschärfen versucht ... und auch nicht viel Unmenschliches. Wenn du deinen Gegner nicht studierst, wirst du ihn niemals besiegen können.
Rickard glaubte nicht an den Kommunismus. Der Krieg der USA dort hinten in Vietnam war sicher in vielerlei Hinsicht ungerecht, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Stalin hatte mehr Menschenleben auf dem Gewissen als Hitler, da brauchte man nur in den Geschichtsbüchern nachlesen, und Rickard hegte einen fast physischen Widerwillen gegen Demonstrationen aller Art. Aufgehetzte Volksmengen, gegrölte Parolen und platte Demagogie machten ihm Angst. Mit der Hippiebewegung, der Popmusik und all den langhaarigen Freiheitskämpfern ging es ihm ähnlich. Irgendwie betraf ihn das nicht. Rickard Berglund hoffte, oder besser gesagt, er ging eigentlich davon aus, das Gegengift gegen all diese Geißeln der Zeit in einer Umgebung zu finden, in der klassische Bildung und Tradition regierten. Die Alma Mater, jerum, jerum ... mit der Zeit, dachte er, mit der Zeit werde ich in dieser Stadt schon Fuß fassen.
Er las den kurzen Text auf dem Einberufungsbescheid zum hundertsten Mal.
Ort: AUS /Armee-Unteroffiziersschule, Dag Hammar- skjölds väg 36, bei der Wache melden.
Zeit: Montag, 9. Juni 1969, zwischen 13.00 und 21.00 Uhr. Dauer der Ausbildung: Fünfzehn Monate.
Entlassungstag: 28. August 1970.
Als Rickard Berglund sich all diese Zeit vorzustellen versuchte, all diese Tage mit ihrem vollkommen unbekannten Inhalt und den unbekannten Voraussetzungen, zog sich etwas in seiner Kehle zusammen. Wenn er das nicht bekämpfte, konnte es sehr wohl explodieren, das fühlte er.
Vielleicht würde er es nicht aushalten?
Vielleicht würden sie ihn schon nach ein paar Wochen zurück nach Hova schicken? Woher sollte man wissen, ob man dazu taugte?
Oder ihn auf einen ganz anderen Posten in einem ganz anderen Regiment irgendwo im Land versetzen? Das wäre eine noch größere Schmach. In dem Informationsmaterial, das er bekommen hatte, stand, dass so etwas möglich war. Zehn bis fünfzehn Prozent derjenigen, die für die Stabsausbildung ausgesucht wurden, gingen diesem Schicksal entgegen. Und wenn er nun in Boden landete? Oder in Karlsborg? Uppsala war ein Gewinnlos in der Musterungslotterie gewesen, aber jetzt hieß es, das Glück nicht leichtsinnig zu vertun ... Er seufzte und machte sich klar, dass es genau solche trübsinnigen Gedankengänge waren, in die er nicht mehr hatte verfallen wollen.
Denn der Plan stand fest. Fünfzehn Monate Militärdienst auf der Stabs- und Offiziersschule, dann diverse Semester Theologie, vier oder fünf Jahre, das musste die Zeit weisen. Anschließend die Priesterweihe und hinaus aufs Land, um das Wort zu verkünden.
So einfach war das.
Wenn man elf Monate bei der Lapidus Beton AG durchgehalten hatte, dann schaffte man fast alles. Es war Onkel Torsten gewesen, der ihn drei Tage nach dem Abitur zur Armierung geholt hatte, und wie immer es um die Bildung im sonstigen Hova-Gullspäng stand, so war er jedenfalls garantiert der Einzige bei Lapidus, der in den Kaffeepausen Hjalmar Bergman und Bunyan las.
Es hatte die eine oder andere Stichelei gegeben, aber das war jetzt vorbei. Er hatte sowohl die Betonindustrie als auch sein Elternhaus in der Fimbulgatan hinter sich gelassen. Und sein Kinderzimmer, in dem er gewohnt hatte, solange er sich erinnern konnte. Seine Mutter hatte am Morgen in der Küche versucht, gegen die Tränen anzukämpfen, aber es war ihr nicht gelungen.
Du lässt mich allein, Rickard, hatte sie geschluchzt. Aber so muss es sein, und vergiss nicht, dass es immer einen Weg zurück in dein Elternhaus gibt.
Das hatte sie sich natürlich schon vorher zurechtgelegt, und es hatte geklungen wie ein alter Spruch auf einem gestickten Stoffband über einer Küchenbank. Nach dem Tod des Pastors hatte sie immer häufiger angefangen, so zu reden, und tief in seinem Inneren schämte er sich über das Gefühl von Freiheit, das in ihm aufstieg, sobald er durch die Tür gegangen war.
Ein Freiheitsempfinden, wenn man zum Militär sollte? Das war wohl etwas, das man lieber nicht laut aussprach, aber genau dieses Gefühl hatte ihn erfüllt. Heute beginnt mein Leben wirklich! Er hatte sich den ganzen Frühling auf dieses Datum gefreut, und während er nun hier saß und diese unbekannten Enten, diese unbekannten Schwäne und diese unbekannten Menschen betrachtete, Letztere auf dem Bürgersteig vorbeiflanierend, da dachte er, dass er niemals - was immer auch in seinem Leben geschehen würde, was immer auch aus seinem großen Plan werden würde - dass er niemals diesen Moment vergessen würde. In der Konditorei Fågelsången in Uppsala mitten am Tag des 9. Juni 1969. Er konnte sich vorstellen, jedes Jahr genau zu diesem Datum hierherzukommen, sich hinzusetzen und ein wenig zu philosophieren, an Vergangenes und Zukünftiges zu denken und ...
Hier wurde sein Gedankenstrom jäh durch einen Schatten unterbrochen, der über seinen Tisch fiel, und durch den Besitzer dieses Schattens, der seine Anwesenheit mit einem diskreten Räuspern kundtat.
»Sieh mal einer an. Kierkegaard. Nicht schlecht.«
Rickard Berglund blickte auf. Ein langer junger Mann in Jeans, T-Shirt und aufgeknöpftem Flanellhemd stand vor ihm und betrachtete ihn. Schräger dunkler Pony, der übers halbe Gesicht hing, und ein breites Lächeln. Er deutete auf den leeren Stuhl an der Wand.
»Entschuldigung. Aber gewisse Dinge muss ich einfach kommentieren. Darf ich mich setzen?«
Rickard nickte und steckte den Einberufungsbescheid ein. »Den habe ich auch gesehen.«
»Was, die Einberufung ...«
»Genau. Und ich nehme an, dass du nicht zur Kompanie S1 sollst?«
Er zog den Stuhl heran und setzte sich. Schlug ein Bein über das andere und holte ein Päckchen Zigaretten aus der Brusttasche.
»Möchtest du?«
»Nein, danke. Ich rauche nicht.«
»Vernünftig.«
Rickard versuchte es mit einem Lächeln. »Und warum vermutest du, dass ich nicht zu S 1 komme?«
Sein frischgebackener Tischnachbar zündete sich eine Zigarette mit einem Sturmfeuerzeug an und stieß eine Rauchwolke aus. »Weil du nicht aussiehst wie ein Strippenzieher.«
»Ein Strippenzieher?«
»So werden die genannt. Die von der siebten Kompanie bei S 1. Da findest du nicht viele Nobelpreisträger. Nein, ich nehme an, dass du zur AUS kommst. Als Sprachmittler oder Stabsuoff?«
»Stabsuoff«, antwortete Rickard und schluckte.
»Genau wie ich. Entschuldige, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Tomas Winckler.«
Er streckte die Hand über den Tisch, und Rickard ergriff sie.
»Rickard Berglund.«
»Freut mich. Ich hoffe, wir bleiben zusammen. Ich fühle mich am wohlsten unter gebildeten Menschen.«
Er zeigte auf das Buch, und Rickard spürte, wie er errötete. »Du ... ich meine, du sollst dich also auch heute melden?« Tomas Winckler nickte. »Ja, natürlich. Wir können zusammen hinlatschen, wenn du willst. Oder hast du andere Pläne?«
Rickard nickte und schüttelte gleichzeitig den Kopf, in einer einzigen verwirrten Bewegung. Eine Kellnerin kam und stellte eine Tasse Kaffee und eine Zimtschnecke vor Tomas Winckler. Der drückte lachend seine Zigarette aus.
»Ich habe dich durchs Fenster gesehen, als ich bestellt habe«, erklärte er. »Und das Buch und den Einberufungsbescheid. Und da sie in der Siebten nicht gerade dänische Philosophen lesen, habe ich angenommen, dass wir Kumpel werden. Woher kommst du? Jedenfalls nicht aus Uppsala?«
»Nein.«
Wie üblich fiel es ihm schwer zuzugeben, dass er fast sein gesamtes Leben in Hova verbracht hatte, sah jedoch ein, dass es nicht schlau wäre, leicht durchschaubare Lügen aufzutischen. »Aus Hova. Wenn du weißt, wo das liegt? Und Mariestad. Ich bin in Mariestad aufs Gymnasium gegangen.«
Tomas Winckler nickte. »Hab mir so was in der Richtung gedacht bei dem Akzent. Und wo würdest du mich in unserem langgestreckten Land platzieren?«
Rickard dachte nach. »Im Norden?«
»Stimmt.«
»Aber nicht so schrecklich hoch im Norden?«
»Kommt drauf an, wie man es sieht.«
»Sundsvall.«
Tomas Winckler stellte seine Kaffeetasse mit einem Klirren ab. »Verdammt. Jetzt bin ich aber beeindruckt. Hier versucht man zu klingen wie ein echter Großstadtschwede, und dann nagelst du mich mit dem ersten Schlag genau an der richtigen Stelle fest. Verdammt gut, wirklich.«
Rickard lachte und zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Reine Glückssache«, versicherte er. »Bist du schon mal in Uppsala gewesen?«
»Ein paar Mal. Meine Familie hat hier in der Stadt eine Wohnung. Und du?«
»Nein«, musste Rickard zugeben. »Ich habe heute tatsächlich zum ersten Mal meinen Fuß in die Stadt gesetzt. Aber ich werde wohl hier bleiben und studieren ... hinterher. Es ist eine schöne Stadt, oder?«
»Sie ist wunderbar«, versicherte Tomas Winckler und strich sich den Pony aus dem Gesicht. »Zumindest, solange man unter dreißig ist. Und das ist man ja. Und was willst du studieren?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Ach? Nein, ich eigentlich auch nicht. Aber bestimmt werde ich ein paar Jahre hier hängen bleiben.«
Mein Gott, dachte Rickard mit plötzlicher Einsicht. Hier sitze ich und rede mit jemandem, den ich für den Rest meines Lebens kennen werde. Ich, der ich ein Jahr nach dem Abitur mit meinen Klassenkameraden kaum noch etwas zu tun habe.
Tomas Winckler nahm das Buch in die Hand und studierte den Rückentext. »Ich habe nur Auszüge gelesen«, erklärte er. »Aber er ist klug, dieser Däne. Verdammt scharfsinnig.«
»Ich habe gerade erst angefangen«, räumte Rickard ein. »Und was liest du im Moment?«
Tomas Winckler ging nicht darauf ein. Er lehnte sich zurück und zündete sich stattdessen seine ausgedrückte Zigarette wieder an. »Wenn du dich selbst mit einem einzigen Satz beschreiben solltest«, sagte er, »wie würdest du das tun?«
»Ein einziger Satz?«
»Ja.«
Rickard Berglund dachte eine Sekunde lang nach. »Ich bin ein junger Mann, der keine Dienstage mag«, erklärte er dann.
Tomas Winckler betrachtete ihn verblüfft. Dann brachen sie beide in schallendes Gelächter aus.
...
Übersetzung: Christel Hildebrandt
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
... weniger
Autoren-Porträt von Hakan Nesser
HÅKAN NESSER, geboren 1950, ist längst einer der beliebtesten Schriftsteller Schwedens. Kritiker und Leser feiern ihn nicht nur als herausragenden Krimiautor, sondern auch als profunden Menschenkenner, der mit den Abgründen der menschlichen Seele bestens vertraut ist.
Bibliographische Angaben
- Autor: Hakan Nesser
- 2012, 1, 608 Seiten, Maße: 13,5 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863652649
- ISBN-13: 9783863652647
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