Die Elenden - Les Miserables
Roman
Kämpfe. Träume. Hoffnung. Liebe.
Jean Valjean, für den Diebstahl eines Brotes als junger Mann zur Galeere verurteilt, kehrt nach neunzehn Jahren Bagno nach Frankreich zurück. Ein freundlicher Bischof nimmt ihn gastlich auf, und als...
Jean Valjean, für den Diebstahl eines Brotes als junger Mann zur Galeere verurteilt, kehrt nach neunzehn Jahren Bagno nach Frankreich zurück. Ein freundlicher Bischof nimmt ihn gastlich auf, und als...
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Produktinformationen zu „Die Elenden - Les Miserables “
Kämpfe. Träume. Hoffnung. Liebe.
Jean Valjean, für den Diebstahl eines Brotes als junger Mann zur Galeere verurteilt, kehrt nach neunzehn Jahren Bagno nach Frankreich zurück. Ein freundlicher Bischof nimmt ihn gastlich auf, und als Jean der neuerlichen Versuchung nicht widerstehen kann und seinem Wohltäter das Tafelsilber stiehlt, vertuscht dieser den Diebstahl vor der Polizei, indem er Jean noch zwei silberne Leuchter dazuschenkt. Überwältigt von so viel Güte, beschließt Valjean, fortan ein anständiges Leben zu führen. Er baut sich unter falschem Namen eine neue Identität auf, gründet mit dem Erlös aus den Silbersachen eine bald prosperierende Glasfabrik, wird ein reicher Mann und gibt sein Vermögen für die Unterstützung armer und entrechteter Menschen aus. So setzt er auch alles daran, die todkranke Fantine, eine junge Arbeiterin, und ihre kleine Tochter Cosette zu retten. Doch da holt ihn die Vergangenheit in Gestalt des Polizeiinspektors Javert ein, der seine wahre Identität herausgefunden hat.
Victor Hugos großer Roman ist im Frühjahr die Vorlage für ein einzigartiges Filmereignis. Getragen von der Sprache der Musik setzt Tom Hooper atemberaubende Bilder in Szene. Vor großartiger Kulisse laufen Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter, Amanda Seyfried und Eddie Redmayne zu schauspielerischer wie gesanglicher Höchstform auf und nehmen den Zuschauer mit auf eine emotionsgeladene Reise ins revolutionäre Frankreich des 19. Jahrhunderts.
Jean Valjean, für den Diebstahl eines Brotes als junger Mann zur Galeere verurteilt, kehrt nach neunzehn Jahren Bagno nach Frankreich zurück. Ein freundlicher Bischof nimmt ihn gastlich auf, und als Jean der neuerlichen Versuchung nicht widerstehen kann und seinem Wohltäter das Tafelsilber stiehlt, vertuscht dieser den Diebstahl vor der Polizei, indem er Jean noch zwei silberne Leuchter dazuschenkt. Überwältigt von so viel Güte, beschließt Valjean, fortan ein anständiges Leben zu führen. Er baut sich unter falschem Namen eine neue Identität auf, gründet mit dem Erlös aus den Silbersachen eine bald prosperierende Glasfabrik, wird ein reicher Mann und gibt sein Vermögen für die Unterstützung armer und entrechteter Menschen aus. So setzt er auch alles daran, die todkranke Fantine, eine junge Arbeiterin, und ihre kleine Tochter Cosette zu retten. Doch da holt ihn die Vergangenheit in Gestalt des Polizeiinspektors Javert ein, der seine wahre Identität herausgefunden hat.
Victor Hugos großer Roman ist im Frühjahr die Vorlage für ein einzigartiges Filmereignis. Getragen von der Sprache der Musik setzt Tom Hooper atemberaubende Bilder in Szene. Vor großartiger Kulisse laufen Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter, Amanda Seyfried und Eddie Redmayne zu schauspielerischer wie gesanglicher Höchstform auf und nehmen den Zuschauer mit auf eine emotionsgeladene Reise ins revolutionäre Frankreich des 19. Jahrhunderts.
Klappentext zu „Die Elenden - Les Miserables “
Kämpfe. Träume. Hoffnung. Liebe.Jean Valjean, für den Diebstahl eines Brotes als junger Mann zur Galeere verurteilt, kehrt nach neunzehn Jahren Bagno nach Frankreich zurück. Ein freundlicher Bischof nimmt ihn gastlich auf, und als Jean der neuerlichen Versuchung nicht widerstehen kann und seinem Wohltäter das Tafelsilber stiehlt, vertuscht dieser den Diebstahl vor der Polizei, indem er Jean noch zwei silberne Leuchter dazuschenkt. Überwältigt von so viel Güte, beschließt Valjean, fortan ein anständiges Leben zu führen. Er baut sich unter falschem Namen eine neue Identität auf, gründet mit dem Erlös aus den Silbersachen eine bald prosperierende Glasfabrik, wird ein reicher Mann und gibt sein Vermögen für die Unterstützung armer und entrechteter Menschen aus. So setzt er auch alles daran, die todkranke Fantine, eine junge Arbeiterin, und ihre kleine Tochter Cosette zu retten. Doch da holt ihn die Vergangenheit in Gestalt des Polizeiinspektors Javert ein, der seine wahre Identität herausgefunden hat. -
Victor Hugos großer Roman ist im Frühjahr die Vorlage für ein einzigartiges Filmereignis. Getragen von der Sprache der Musik setzt Tom Hooper atemberaubende Bilder in Szene. Vor großartiger Kulisse laufen Hugh Jackman, Russell Crowe, Anne Hathaway, Sacha Baron Cohen, Helena Bonham Carter, Amanda Seyfried und Eddie Redmayne zu schauspielerischer wie gesanglicher Höchstform auf und nehmen den Zuschauer mit auf eine emotionsgeladene Reise ins revolutionäre Frankreich des 19. Jahrhunderts.
Lese-Probe zu „Die Elenden - Les Miserables “
Die Elenden - Les Misérables von Victor HugoErster Teil
Fantine
Erstes Buch
Ein Gerechter
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Myriel
Im Jahre 1815 war Charles-François-Bienvenu Myriel Bischof von Digne. Er zählte damals etwa fünfundsiebzig Jahre und hatte sein Amt seit 1806 inne.
Obwohl dieser Umstand nicht eigentlich zu unserer Erzählung gehört, ist es vielleicht nicht überflüssig, und wäre es auch nur um der Genauigkeit willen, hier gewisse Bemerkungen und Gerüchte zu erwähnen, die im Umlauf waren, als er in seiner Diözese eintraf. Was von Menschen gesagt wird, gilt ja in ihrem Leben, mag es wahr oder falsch sein, ebensoviel wie ihre Handlungen. Nun, Myriel war der Sohn eines Rates beim Parlamentsgericht zu Aix, entstammte also dem Beamtenadel. Man erzählte, sein Vater habe ihm sein Amt vererben wollen und habe ihn darum schon mit achtzehn oder zwanzig Jahren verheiratet, wie dies wohl bei den Beamtenfamilien der Brauch ist. Trotz dieser Heirat hatte Charles Myriel, wie behauptet wurde, viel von sich reden gemacht. Er war von gefälligem Äußern, wenn auch von kleiner Statur, elegant, geschmeidig, geistvoll; der erste Teil seines Lebens war zur Gänze weltlichen Dingen und galanten Abenteuern gewidmet.
Da brach die Revolution aus, die Ereignisse überstürzten sich, die Beamtenfamilien wurden blutig verfolgt, verjagt, außer Landes getrieben. Charles Myriel wanderte schon zu Beginn der Revolution nach Italien aus. Seine Frau erlag dort einem Lungenleiden, an dem sie schon seit Jahren krankte. Kinder hatten sie nicht.
Was ging damals in Myriel vor? War es der Zusammenbruch der alten französischen Gesellschaft, der Sturz seiner eigenen Familie, waren es die tragischen Ereignisse des Jahres 93, die den Ausgewanderten in der Fremde noch schrecklicher und ungeheuerlicher erscheinen mußten, war es dies, was ihn der Welt entfremdete und zur Einsamkeit trieb? Oder hatte ihn inmitten seiner Zerstreuungen und Vergnügungen, die sein Leben ausfüllten, plötzlich einer jener geheimnisvollen Schicksalsschläge getroffen, die zuweilen selbst den Mann ins Herz treffen, den allgemeine Katastrophen nicht zu erschüttern vermochten - wenn sie auch sein Glück und seine Existenz vernichteten? Niemand hätte diese Frage zu beantworten gewußt; bekannt war nur, daß er, aus Italien zurückkehrend, Priester war.
1804 war er Pfarrer von Brignolles. Er war bereits alt und führte ein sehr zurückgezogenes Leben.
Zur Zeit der Kaiserkrönung führte ihn ein unbedeutendes Amtsgeschäft seiner Pfarrei - es ist darüber nichts Näheres bekannt - nach Paris. Unter anderen einflußreichen Persönlichkeiten mußte er auch den Kardinal Fesch aufsuchen. Eines Tages also, als der Kaiser seinen Onkel besuchte, wartete der würdige Pfarrherr zufällig gerade im Vorzimmer, und so traf es sich, daß er unvermittelt Seiner Majestät gegenüberstand. Napoléon sah, daß der Alte ihn mit einer gewissen Neugierde anstarrte, wandte sich um und fragte brüsk:
»Wer ist der gute Mann, der mich so ansieht?« »Sire«, erwiderte Myriel, »Sie sehen einen guten Mann und ich einen großen. So kommen wir beide auf unsere Rechnung.« Am selben Abend fragte der Kaiser den Kardinal nach dem Namen dieses Pfarrers, und einige Zeit später war Myriel nicht wenig verwundert, zu hören, daß er zum Bischof von Digne ernannt worden sei.
Was an allen diesen Geschichten strenge Wahrheit war, konnte niemand angeben, denn nur wenige Familien hatten vor der Revolution mit den Myriels in Verbindung gestanden.
So mußte Myriel das Schicksal aller teilen, die in einer Kleinstadt neu angekommen sind, wo viel gesprochen und wenig gedacht wird. Er mußte es über sich ergehen lassen, obwohl er Bischof war, ja gerade weil er Bischof war. Aber schließlich war alles Gerede, das sich mit ihm beschäftigte, eben nur auf vage Vermutungen gestützt - Geschwätz, leere Worte; Palaver, wie man in der energischen Sprache des Südens sagt.
Wie dem auch sei, nach neun Jahren, die er in Digne zugebracht hatte, war all das Geschwätz, das in kleinen Städten zuerst die kleinen Leute beschäftigt, verstummt, und niemand wagte es mehr aufzurühren.
Myriel war in Begleitung eines alten Fräuleins, Mademoiselle Baptistine, seiner Schwester, die zehn Jahre jünger war als er, nach Digne gekommen. Seine ganze Dienerschaft bestand aus einer Magd, desselben Alters wie Fräulein Baptistine, Frau Magloire, die seinerzeit Wirtschafterin des Pfarrers Myriel gewesen war und jetzt das Doppelamt der Kammerfrau Fräulein Baptistines und der Haushälterin von Monsignore versah.
Mademoiselle Baptistine war eine hochgewachsene, blasse, hagere, sanfte Person; sie war die Verkörperung alles dessen, was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurcht Anspruch zu haben, muß eine Frau Mutter sein. Hübsch war sie nie gewesen; aber ihr Leben, das nur aus einer langen Reihe wohltätiger Werke bestand, hatte ihr schließlich eine gewisse Reinheit und Klarheit des Wesens verliehen, die man die Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn sie in ihrer Jugend mager gewesen war, so konnte man jetzt, in ihrem reiferen Alter, fast von Durchsichtigkeit sprechen. Sie war eher eine Seele als ein jungfräulicher Körper; gerade noch genug Leib, daß man ihr ein Geschlecht beilegen konnte - ein Minimum an Materie, das in Glanz gehüllt schien. Ihre großen Augen hatte sie immer zu Boden gerichtet, als suche ihre Seele einen Vorwand, noch auf Erden zu verweilen.
Frau Magloire war eine kleine Alte, blaß, beleibt, stets geschäftig, immer außer Atem, und das, einmal weil sie zu jeglicher Zeit beschäftigt war, dann aber auch infolge ihres Asthmas.
Als Herr Myriel eintraf, wurde er im bischöflichen Palais mit allen Ehren untergebracht, die von den kaiserlichen Dekreten festgesetzt waren; denn die Staatsweisheit wies den Bischöfen den Rang gleich nach den Marschällen zu. Der Bürgermeister und der Präsident machten ihm sofort ihre Aufwartung, er aber, seinerseits, besuchte zuerst den General und den Präfekten.
Myriel wird Bischof Bienvenu
Das bischöfliche Palais in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein geräumiges, schönes Gebäude, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie an der Universität Paris, Abbé von Simore, seit 1712 Bischof von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Eindruck eines richtigen Herrensitzes. Alles darin war groß angelegt, die Gemächer des Bischofs, die Zimmer, der Festsaal mit den Wandelgängen, die ihn, zu altflorentinischen Arkaden ausgestaltet, umliefen, und die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesaal, einem prächtigen Raum, der im Erdgeschoß lag und zu den Gärten hinausführte, hatte Monsignore Puget am 29. Juli 1714 die hochwürdigen Herren Charles Brûlard de Genlis, den Erzbischof Prinz d'Embrun, Antoine de Mesgrigny, Bischof von Grasse, Philippe de Vendôme, Großprior von Frankreich, Abbé von Saint-Honoré de Lérins, François de Berton de Grillon, Bischof von Vence, César de Sabran de Forcalquier, Bischof von Glancève, Jean Soanen, Hofprediger und Bischof von Senez, bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben hochwürdigen Herren schmückten den Saal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldenen Buchstaben auf einer Marmortafel eingegraben.
Das Hospital war ein enges, niedriges Gebäude, einstöckig, mit einem kleinen Gärtchen.
Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Dann ließ er den Direktor zu sich bitten.
»Herr Direktor«, sagte er, »mit wieviel Kranken ist Ihr Spital augenblicklich belegt?«
»Wir haben sechsundzwanzig Patienten, Monsignore.«
»Soviel habe ich auch gezählt.«
»Wir haben die Betten recht eng aneinanderrücken müssen«, meinte der Direktor.
»Ich habe es bemerkt.«
»Die Krankensäle sind nur kleine Zimmer und schwer zu lüften. «
»Das scheint mir auch so.«
»Selten fällt ein Sonnenstrahl in den Garten, und dann ist zu wenig Platz da, die Kranken darin unterzubringen.«
»Das habe ich mir auch gesagt.«
»Wenn Epidemien ausbrechen - wir hatten heuer den Typhus und vor zwei Jahren das Fieber -, zählen wir manchmal bis zu hundert Kranke und wissen nicht, wo wir sie unterbringen sollen.«
»Dieser Gedanke ist mir auch gekommen.«
»Was wollen Sie, Monsignore? Man muß sich darein schicken.« Dieses Gespräch fand in dem Speisesaal im Erdgeschoß statt. Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich unvermittelt an den Direktor.
»Wieviel Betten könnte man wohl in diesem Saal unterbringen?«
»Im Speisesaal des bischöflichen Palais?« fragte der Direktor verblüfft.
Der Bischof überschaute den Saal und schien die Maße zu überschlagen.
»Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterstellen«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche; dann wieder laut:
»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Direktor. Hier liegt offenbar ein Irrtum vor. Sie sind sechsundzwanzig Leute in fünf oder sechs kleinen Zimmern, wir sind unser drei und haben Platz für sechzig; das kann nur ein Irrtum sein, finde ich. Also: Sie haben mein Haus und ich das Ihre, so wird es sein. Geben Sie mir mein Haus zurück, dieses hier gehört Ihnen.«
Am nächsten Tag wurden die sechsundzwanzig armen Kranken im bischöflichen Palais untergebracht, und der Bischof bezog das Hospital.
Da die Revolution seine Familie ruiniert hatte, besaß Myriel kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Rente von fünfhundert Franken, die, solange sie bei ihrem Bruder wohnte, für ihre persönlichen Ausgaben ausreichten. Myriel empfing vom Staat als Bischof ein Gehalt von fünfzehntausend Franken. An dem Tage, als er das Hospital bezog, setzte er fest, wie diese Summe ein für allemal aufgeteilt werden sollte. Wir geben hier eine von ihm eigenhändig geschriebene Aufstellung wieder.
Ausgaben meines Haushaltes:
für das kleine Seminar
1500 Livres
für die Missionskongregation
100 "
für die Lazaristen von Montdidier
100 "
für das Seminar der auswärtigen Missionen in Paris
200 "
für die Kongregation des Heiligen Geistes
150 "
für die Kirchen im Heiligen Lande
100 "
für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen
300 "
für die gleiche Gesellschaft in Arles
50 "
Hilfswerk für die Verbesserung der Gefängnisse
400 "
Hilfswerk für entlassene Sträflinge
500 "
für die Befreiung von Familienvätern aus dem Schuldgefängnis
1000 "
Unterstützungsfonds für schlechtbezahlte Schullehrer der Diözese
2000 "
für die Getreidespeicher des Departements Hautes Alpes
100 "
Kongregation zu Digne, Manosque und Sisteron zur Erteilung unentgeltlichen Unterrichts an mittellose Mädchen
1500 "
für die Armen
6000 "
persönliche Aufwendungen
1000 "
Summa 15000 Livres
Solange Myriel Bischof von Digne war, änderte er nichts an dieser Bestimmung. Das nannte er seinen Haushalt führen.
Fräulein Baptistine unterwarf sich dieser Anordnung vorbehaltlos. Für diese fromme Frau war Myriel zugleich Bruder und Bischof, ein Freund, den die Natur ihr bestimmt hatte, und ein Vorgesetzter, dem die Kirche sie unterstellte. Sie liebte und verehrte ihn. Wenn er sprach, unterwarf sie sich; was er tat, war wohlgetan. Nur die Haushälterin, Frau Magloire, murrte ein wenig. Hatte doch der Bischof, wie der Leser wohl bemerkt hat, nur tausend Livres sich selbst vorbehalten, was - mit Fräulein Baptistines Rente - fünfzehnhundert Franken jährlich ausmachte. Damit sollten die beiden alten Frauen und der Greis ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Und wenn ein Landpfarrer nach Digne kam, fand der Bischof noch Mittel und Wege, ihn zu bewirten, dank der Haushaltungskunst Frau Magloires und der geschickten Wirtschaftsführung Fräulein Baptistines.
Eines Tages, er war damals schon fast drei Monate in Digne, sagte der Bischof:
»Mit dieser Summe bin ich denn doch ein wenig beengt.«
»Das denke ich wohl auch!« rief Frau Magloire. »Monsignore haben ja nicht einmal die Rente in Anspruch genommen, die Ihnen das Departement für die Kosten einer Equipage und Reisespesen schuldet. Früher pflegten die Bischöfe dieses Geld zu beheben.«
»Allerdings«, sagte der Bischof, »Sie haben recht, Frau Magloire. «
Und er forderte seine Rente an.
Der Generalrat prüfte einige Zeit später seine Ansprüche und bewilligte ihm eine jährliche Zuwendung von dreitausend Franken unter dem Titel: Gebühren des Herrn Bischofs für Kosten einer Equipage, Postfahrten und Aufwendungen bei Reisen in der Diözese.
Bei der Bürgerschaft gab es großes Geschrei, und ein Senator des Kaiserreichs, der ehemals Mitglied des Rats der Fünfhundert gewesen war, am 18. Brumaire für Napoléon gestimmt und dafür in der Nähe von Digne ein prächtiges Gut geschenkt bekommen hatte, schrieb dem Kultusminister, Bigot de Préameneu, einen sehr entrüsteten, vertraulichen Brief, dem wir folgendes wörtlich entnehmen:
»Kosten einer Equipage? Wozu eine Equipage in einer Stadt mit viertausend Einwohnern? Reisen in der Diözese? Wozu sollen die dienen? Und seit wann reist man in diesem Gebirgsland mit der Postkutsche? Es gibt ja gar keine befahrbaren Straßen hier! Hier reist man zu Pferd. Sogar die Durancebrücke bei Château-Arnoux trägt kaum ein Ochsenfuhrwerk! Aber so sind diese Geistlichen - habsüchtig und geizig. Der hier hat sich zuerst als Apostel aufgespielt. Jetzt macht er es wie die anderen, braucht eine Equipage und eine Postkutsche! Will Luxus haben wie die Bischöfe von Anno dazumal. Ach, dieses ganze Pfaffenpack! Herr Graf, es wird uns nicht besser gehen, solange der Kaiser uns diese Kerle nicht vom Halse schafft. Nieder mit dem Papst!« (Man stand damals schlecht mit Rom.) »Ich für meinen Teil brauche nur den Kaiser und sonst nichts« usw. usw.
Dagegen war Frau Magloire sehr erfreut.
»Gut«, sagte sie zu Fräulein Baptistine, »zuerst hat Monsignore für die andern gesorgt, jetzt denkt er auch an sich. Für Wohltätigkeit ist genug geschehen. Diese dreitausend Livres bleiben für uns. Endlich!«
Am selben Abend stellte der Bischof einen neuen Haushaltungskalkül auf und übergab ihn seiner Schwester.
Kosten der Equipage und Reisespesen:
für Bouillon dem Spital
1500 Livres
für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen in Aix
250 "
für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen in Draguignan
250 "
für Findelkinder
500 "
für Waisenkinder
500 "
Summa 3000 Livres
Das war Myriels Budget.
Was die Nebeneinkünfte des Episkopats betraf, Aufgebote, Dispensen, Taufgelder, Predigtgebühren, Einweihungen von Kirchen und Kapellen, Hochzeiten usw., so trieb der Bischof sie von den Reichen um so strenger ein, als er sie insgesamt den Armen zuwandte.
Nach einiger Zeit flossen ihm auch reichliche Hilfsgelder zu. Besitzende und Bedürftige klopften an seine Tür, um milde Gaben zu spenden oder zu empfangen. Binnen Jahresfrist war der Bischof der Schatzmeister der öffentlichen Wohltätigkeit, der Bankier des Elends. Beträchtliche Summen flossen durch seine Hände, aber nichts konnte ihn veranlassen, auch nur im geringsten seine Lebenshaltung zu verändern und dem Notwendigsten Überflüssiges hinzuzufügen.
Weit entfernt davon! Immer war - da in der menschlichen Gesellschaft mehr Elend als Brüderlichkeit herrscht - alles bereits vergeben, bevor es eingegangen; es war mit dem Gelde wie mit einem Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt. Soviel Myriel auch bekam, nie hatte er etwas. Oft beraubte er sich selbst.
Es ist Sitte, daß die Bischöfe ihre Taufnamen an die Spitze ihrer Sendschreiben und Hirtenbriefe setzen; mit einem Instinkt der Dankbarkeit wählten die armen Leute von Digne unter allen Vornamen ihres Bischofs den, der ihnen am sinnvollsten schien, und nannten ihn Monsignore Bienvenu - Bischof Willkommen. Ihm gefiel diese Benennung.
»Ich habe diesen Namen gern«, sagte er. »Bienvenu klingt besser als Monsignore.«
Wir wollen nicht behaupten, daß das Bild, das wir hier entworfen haben, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat; darum müssen wir uns darauf beschränken, zu versichern, daß es wahrheitsgetreu ist.
Übersetzung: Edmund Th. Kauer
© der deutschen Übersetzung Atrium Verlag AG, Zürich (nach der gekürzten und überarbeiteten Fassung von E. Th. Kauer, erschienen 1933 im Peter J. Oestergaard Verlag, Berlin)
Myriel
Im Jahre 1815 war Charles-François-Bienvenu Myriel Bischof von Digne. Er zählte damals etwa fünfundsiebzig Jahre und hatte sein Amt seit 1806 inne.
Obwohl dieser Umstand nicht eigentlich zu unserer Erzählung gehört, ist es vielleicht nicht überflüssig, und wäre es auch nur um der Genauigkeit willen, hier gewisse Bemerkungen und Gerüchte zu erwähnen, die im Umlauf waren, als er in seiner Diözese eintraf. Was von Menschen gesagt wird, gilt ja in ihrem Leben, mag es wahr oder falsch sein, ebensoviel wie ihre Handlungen. Nun, Myriel war der Sohn eines Rates beim Parlamentsgericht zu Aix, entstammte also dem Beamtenadel. Man erzählte, sein Vater habe ihm sein Amt vererben wollen und habe ihn darum schon mit achtzehn oder zwanzig Jahren verheiratet, wie dies wohl bei den Beamtenfamilien der Brauch ist. Trotz dieser Heirat hatte Charles Myriel, wie behauptet wurde, viel von sich reden gemacht. Er war von gefälligem Äußern, wenn auch von kleiner Statur, elegant, geschmeidig, geistvoll; der erste Teil seines Lebens war zur Gänze weltlichen Dingen und galanten Abenteuern gewidmet.
Da brach die Revolution aus, die Ereignisse überstürzten sich, die Beamtenfamilien wurden blutig verfolgt, verjagt, außer Landes getrieben. Charles Myriel wanderte schon zu Beginn der Revolution nach Italien aus. Seine Frau erlag dort einem Lungenleiden, an dem sie schon seit Jahren krankte. Kinder hatten sie nicht.
Was ging damals in Myriel vor? War es der Zusammenbruch der alten französischen Gesellschaft, der Sturz seiner eigenen Familie, waren es die tragischen Ereignisse des Jahres 93, die den Ausgewanderten in der Fremde noch schrecklicher und ungeheuerlicher erscheinen mußten, war es dies, was ihn der Welt entfremdete und zur Einsamkeit trieb? Oder hatte ihn inmitten seiner Zerstreuungen und Vergnügungen, die sein Leben ausfüllten, plötzlich einer jener geheimnisvollen Schicksalsschläge getroffen, die zuweilen selbst den Mann ins Herz treffen, den allgemeine Katastrophen nicht zu erschüttern vermochten - wenn sie auch sein Glück und seine Existenz vernichteten? Niemand hätte diese Frage zu beantworten gewußt; bekannt war nur, daß er, aus Italien zurückkehrend, Priester war.
1804 war er Pfarrer von Brignolles. Er war bereits alt und führte ein sehr zurückgezogenes Leben.
Zur Zeit der Kaiserkrönung führte ihn ein unbedeutendes Amtsgeschäft seiner Pfarrei - es ist darüber nichts Näheres bekannt - nach Paris. Unter anderen einflußreichen Persönlichkeiten mußte er auch den Kardinal Fesch aufsuchen. Eines Tages also, als der Kaiser seinen Onkel besuchte, wartete der würdige Pfarrherr zufällig gerade im Vorzimmer, und so traf es sich, daß er unvermittelt Seiner Majestät gegenüberstand. Napoléon sah, daß der Alte ihn mit einer gewissen Neugierde anstarrte, wandte sich um und fragte brüsk:
»Wer ist der gute Mann, der mich so ansieht?« »Sire«, erwiderte Myriel, »Sie sehen einen guten Mann und ich einen großen. So kommen wir beide auf unsere Rechnung.« Am selben Abend fragte der Kaiser den Kardinal nach dem Namen dieses Pfarrers, und einige Zeit später war Myriel nicht wenig verwundert, zu hören, daß er zum Bischof von Digne ernannt worden sei.
Was an allen diesen Geschichten strenge Wahrheit war, konnte niemand angeben, denn nur wenige Familien hatten vor der Revolution mit den Myriels in Verbindung gestanden.
So mußte Myriel das Schicksal aller teilen, die in einer Kleinstadt neu angekommen sind, wo viel gesprochen und wenig gedacht wird. Er mußte es über sich ergehen lassen, obwohl er Bischof war, ja gerade weil er Bischof war. Aber schließlich war alles Gerede, das sich mit ihm beschäftigte, eben nur auf vage Vermutungen gestützt - Geschwätz, leere Worte; Palaver, wie man in der energischen Sprache des Südens sagt.
Wie dem auch sei, nach neun Jahren, die er in Digne zugebracht hatte, war all das Geschwätz, das in kleinen Städten zuerst die kleinen Leute beschäftigt, verstummt, und niemand wagte es mehr aufzurühren.
Myriel war in Begleitung eines alten Fräuleins, Mademoiselle Baptistine, seiner Schwester, die zehn Jahre jünger war als er, nach Digne gekommen. Seine ganze Dienerschaft bestand aus einer Magd, desselben Alters wie Fräulein Baptistine, Frau Magloire, die seinerzeit Wirtschafterin des Pfarrers Myriel gewesen war und jetzt das Doppelamt der Kammerfrau Fräulein Baptistines und der Haushälterin von Monsignore versah.
Mademoiselle Baptistine war eine hochgewachsene, blasse, hagere, sanfte Person; sie war die Verkörperung alles dessen, was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurcht Anspruch zu haben, muß eine Frau Mutter sein. Hübsch war sie nie gewesen; aber ihr Leben, das nur aus einer langen Reihe wohltätiger Werke bestand, hatte ihr schließlich eine gewisse Reinheit und Klarheit des Wesens verliehen, die man die Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn sie in ihrer Jugend mager gewesen war, so konnte man jetzt, in ihrem reiferen Alter, fast von Durchsichtigkeit sprechen. Sie war eher eine Seele als ein jungfräulicher Körper; gerade noch genug Leib, daß man ihr ein Geschlecht beilegen konnte - ein Minimum an Materie, das in Glanz gehüllt schien. Ihre großen Augen hatte sie immer zu Boden gerichtet, als suche ihre Seele einen Vorwand, noch auf Erden zu verweilen.
Frau Magloire war eine kleine Alte, blaß, beleibt, stets geschäftig, immer außer Atem, und das, einmal weil sie zu jeglicher Zeit beschäftigt war, dann aber auch infolge ihres Asthmas.
Als Herr Myriel eintraf, wurde er im bischöflichen Palais mit allen Ehren untergebracht, die von den kaiserlichen Dekreten festgesetzt waren; denn die Staatsweisheit wies den Bischöfen den Rang gleich nach den Marschällen zu. Der Bürgermeister und der Präsident machten ihm sofort ihre Aufwartung, er aber, seinerseits, besuchte zuerst den General und den Präfekten.
Myriel wird Bischof Bienvenu
Das bischöfliche Palais in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein geräumiges, schönes Gebäude, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie an der Universität Paris, Abbé von Simore, seit 1712 Bischof von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Eindruck eines richtigen Herrensitzes. Alles darin war groß angelegt, die Gemächer des Bischofs, die Zimmer, der Festsaal mit den Wandelgängen, die ihn, zu altflorentinischen Arkaden ausgestaltet, umliefen, und die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesaal, einem prächtigen Raum, der im Erdgeschoß lag und zu den Gärten hinausführte, hatte Monsignore Puget am 29. Juli 1714 die hochwürdigen Herren Charles Brûlard de Genlis, den Erzbischof Prinz d'Embrun, Antoine de Mesgrigny, Bischof von Grasse, Philippe de Vendôme, Großprior von Frankreich, Abbé von Saint-Honoré de Lérins, François de Berton de Grillon, Bischof von Vence, César de Sabran de Forcalquier, Bischof von Glancève, Jean Soanen, Hofprediger und Bischof von Senez, bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben hochwürdigen Herren schmückten den Saal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldenen Buchstaben auf einer Marmortafel eingegraben.
Das Hospital war ein enges, niedriges Gebäude, einstöckig, mit einem kleinen Gärtchen.
Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Dann ließ er den Direktor zu sich bitten.
»Herr Direktor«, sagte er, »mit wieviel Kranken ist Ihr Spital augenblicklich belegt?«
»Wir haben sechsundzwanzig Patienten, Monsignore.«
»Soviel habe ich auch gezählt.«
»Wir haben die Betten recht eng aneinanderrücken müssen«, meinte der Direktor.
»Ich habe es bemerkt.«
»Die Krankensäle sind nur kleine Zimmer und schwer zu lüften. «
»Das scheint mir auch so.«
»Selten fällt ein Sonnenstrahl in den Garten, und dann ist zu wenig Platz da, die Kranken darin unterzubringen.«
»Das habe ich mir auch gesagt.«
»Wenn Epidemien ausbrechen - wir hatten heuer den Typhus und vor zwei Jahren das Fieber -, zählen wir manchmal bis zu hundert Kranke und wissen nicht, wo wir sie unterbringen sollen.«
»Dieser Gedanke ist mir auch gekommen.«
»Was wollen Sie, Monsignore? Man muß sich darein schicken.« Dieses Gespräch fand in dem Speisesaal im Erdgeschoß statt. Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich unvermittelt an den Direktor.
»Wieviel Betten könnte man wohl in diesem Saal unterbringen?«
»Im Speisesaal des bischöflichen Palais?« fragte der Direktor verblüfft.
Der Bischof überschaute den Saal und schien die Maße zu überschlagen.
»Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterstellen«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche; dann wieder laut:
»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Direktor. Hier liegt offenbar ein Irrtum vor. Sie sind sechsundzwanzig Leute in fünf oder sechs kleinen Zimmern, wir sind unser drei und haben Platz für sechzig; das kann nur ein Irrtum sein, finde ich. Also: Sie haben mein Haus und ich das Ihre, so wird es sein. Geben Sie mir mein Haus zurück, dieses hier gehört Ihnen.«
Am nächsten Tag wurden die sechsundzwanzig armen Kranken im bischöflichen Palais untergebracht, und der Bischof bezog das Hospital.
Da die Revolution seine Familie ruiniert hatte, besaß Myriel kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Rente von fünfhundert Franken, die, solange sie bei ihrem Bruder wohnte, für ihre persönlichen Ausgaben ausreichten. Myriel empfing vom Staat als Bischof ein Gehalt von fünfzehntausend Franken. An dem Tage, als er das Hospital bezog, setzte er fest, wie diese Summe ein für allemal aufgeteilt werden sollte. Wir geben hier eine von ihm eigenhändig geschriebene Aufstellung wieder.
Ausgaben meines Haushaltes:
für das kleine Seminar
1500 Livres
für die Missionskongregation
100 "
für die Lazaristen von Montdidier
100 "
für das Seminar der auswärtigen Missionen in Paris
200 "
für die Kongregation des Heiligen Geistes
150 "
für die Kirchen im Heiligen Lande
100 "
für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen
300 "
für die gleiche Gesellschaft in Arles
50 "
Hilfswerk für die Verbesserung der Gefängnisse
400 "
Hilfswerk für entlassene Sträflinge
500 "
für die Befreiung von Familienvätern aus dem Schuldgefängnis
1000 "
Unterstützungsfonds für schlechtbezahlte Schullehrer der Diözese
2000 "
für die Getreidespeicher des Departements Hautes Alpes
100 "
Kongregation zu Digne, Manosque und Sisteron zur Erteilung unentgeltlichen Unterrichts an mittellose Mädchen
1500 "
für die Armen
6000 "
persönliche Aufwendungen
1000 "
Summa 15000 Livres
Solange Myriel Bischof von Digne war, änderte er nichts an dieser Bestimmung. Das nannte er seinen Haushalt führen.
Fräulein Baptistine unterwarf sich dieser Anordnung vorbehaltlos. Für diese fromme Frau war Myriel zugleich Bruder und Bischof, ein Freund, den die Natur ihr bestimmt hatte, und ein Vorgesetzter, dem die Kirche sie unterstellte. Sie liebte und verehrte ihn. Wenn er sprach, unterwarf sie sich; was er tat, war wohlgetan. Nur die Haushälterin, Frau Magloire, murrte ein wenig. Hatte doch der Bischof, wie der Leser wohl bemerkt hat, nur tausend Livres sich selbst vorbehalten, was - mit Fräulein Baptistines Rente - fünfzehnhundert Franken jährlich ausmachte. Damit sollten die beiden alten Frauen und der Greis ihren Lebensunterhalt bestreiten.
Und wenn ein Landpfarrer nach Digne kam, fand der Bischof noch Mittel und Wege, ihn zu bewirten, dank der Haushaltungskunst Frau Magloires und der geschickten Wirtschaftsführung Fräulein Baptistines.
Eines Tages, er war damals schon fast drei Monate in Digne, sagte der Bischof:
»Mit dieser Summe bin ich denn doch ein wenig beengt.«
»Das denke ich wohl auch!« rief Frau Magloire. »Monsignore haben ja nicht einmal die Rente in Anspruch genommen, die Ihnen das Departement für die Kosten einer Equipage und Reisespesen schuldet. Früher pflegten die Bischöfe dieses Geld zu beheben.«
»Allerdings«, sagte der Bischof, »Sie haben recht, Frau Magloire. «
Und er forderte seine Rente an.
Der Generalrat prüfte einige Zeit später seine Ansprüche und bewilligte ihm eine jährliche Zuwendung von dreitausend Franken unter dem Titel: Gebühren des Herrn Bischofs für Kosten einer Equipage, Postfahrten und Aufwendungen bei Reisen in der Diözese.
Bei der Bürgerschaft gab es großes Geschrei, und ein Senator des Kaiserreichs, der ehemals Mitglied des Rats der Fünfhundert gewesen war, am 18. Brumaire für Napoléon gestimmt und dafür in der Nähe von Digne ein prächtiges Gut geschenkt bekommen hatte, schrieb dem Kultusminister, Bigot de Préameneu, einen sehr entrüsteten, vertraulichen Brief, dem wir folgendes wörtlich entnehmen:
»Kosten einer Equipage? Wozu eine Equipage in einer Stadt mit viertausend Einwohnern? Reisen in der Diözese? Wozu sollen die dienen? Und seit wann reist man in diesem Gebirgsland mit der Postkutsche? Es gibt ja gar keine befahrbaren Straßen hier! Hier reist man zu Pferd. Sogar die Durancebrücke bei Château-Arnoux trägt kaum ein Ochsenfuhrwerk! Aber so sind diese Geistlichen - habsüchtig und geizig. Der hier hat sich zuerst als Apostel aufgespielt. Jetzt macht er es wie die anderen, braucht eine Equipage und eine Postkutsche! Will Luxus haben wie die Bischöfe von Anno dazumal. Ach, dieses ganze Pfaffenpack! Herr Graf, es wird uns nicht besser gehen, solange der Kaiser uns diese Kerle nicht vom Halse schafft. Nieder mit dem Papst!« (Man stand damals schlecht mit Rom.) »Ich für meinen Teil brauche nur den Kaiser und sonst nichts« usw. usw.
Dagegen war Frau Magloire sehr erfreut.
»Gut«, sagte sie zu Fräulein Baptistine, »zuerst hat Monsignore für die andern gesorgt, jetzt denkt er auch an sich. Für Wohltätigkeit ist genug geschehen. Diese dreitausend Livres bleiben für uns. Endlich!«
Am selben Abend stellte der Bischof einen neuen Haushaltungskalkül auf und übergab ihn seiner Schwester.
Kosten der Equipage und Reisespesen:
für Bouillon dem Spital
1500 Livres
für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen in Aix
250 "
für die Gesellschaft zur Pflege der Wöchnerinnen in Draguignan
250 "
für Findelkinder
500 "
für Waisenkinder
500 "
Summa 3000 Livres
Das war Myriels Budget.
Was die Nebeneinkünfte des Episkopats betraf, Aufgebote, Dispensen, Taufgelder, Predigtgebühren, Einweihungen von Kirchen und Kapellen, Hochzeiten usw., so trieb der Bischof sie von den Reichen um so strenger ein, als er sie insgesamt den Armen zuwandte.
Nach einiger Zeit flossen ihm auch reichliche Hilfsgelder zu. Besitzende und Bedürftige klopften an seine Tür, um milde Gaben zu spenden oder zu empfangen. Binnen Jahresfrist war der Bischof der Schatzmeister der öffentlichen Wohltätigkeit, der Bankier des Elends. Beträchtliche Summen flossen durch seine Hände, aber nichts konnte ihn veranlassen, auch nur im geringsten seine Lebenshaltung zu verändern und dem Notwendigsten Überflüssiges hinzuzufügen.
Weit entfernt davon! Immer war - da in der menschlichen Gesellschaft mehr Elend als Brüderlichkeit herrscht - alles bereits vergeben, bevor es eingegangen; es war mit dem Gelde wie mit einem Tropfen, der auf einen heißen Stein fällt. Soviel Myriel auch bekam, nie hatte er etwas. Oft beraubte er sich selbst.
Es ist Sitte, daß die Bischöfe ihre Taufnamen an die Spitze ihrer Sendschreiben und Hirtenbriefe setzen; mit einem Instinkt der Dankbarkeit wählten die armen Leute von Digne unter allen Vornamen ihres Bischofs den, der ihnen am sinnvollsten schien, und nannten ihn Monsignore Bienvenu - Bischof Willkommen. Ihm gefiel diese Benennung.
»Ich habe diesen Namen gern«, sagte er. »Bienvenu klingt besser als Monsignore.«
Wir wollen nicht behaupten, daß das Bild, das wir hier entworfen haben, sehr viel Wahrscheinlichkeit für sich hat; darum müssen wir uns darauf beschränken, zu versichern, daß es wahrheitsgetreu ist.
Übersetzung: Edmund Th. Kauer
© der deutschen Übersetzung Atrium Verlag AG, Zürich (nach der gekürzten und überarbeiteten Fassung von E. Th. Kauer, erschienen 1933 im Peter J. Oestergaard Verlag, Berlin)
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Autoren-Porträt von Victor Hugo
Hugo, VictorVictor Hugo (1802-1885), Lyriker und Romancier, wurde als Sohn eines Offiziers in Besançon geboren. Früh begann er seine literarische Karriere. 1841 wurde er Mitglied der Académie française. Als Anhänger der bürgerlichen Linken mußte er 1851, nach dem Staatsstreich Napoléons III., Frankreich verlassen, floh zunächst auf die Insel Jersey, später nach Guernesey. In seiner nahezu zwanzigjährigen Emigration vollendete er auch seinen großen Roman "Les Misérables" (1862), der weltberühmt werden sollte, mehrfach verfilmt und dramatisiert wurde und in den 90er Jahren durch das gleichnamige Musical auch noch die Bühne eroberte.
Bibliographische Angaben
- Autor: Victor Hugo
- 4. Aufl., 608 Seiten, Maße: 11,6 x 19 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzer: Edmund Th. Kauer
- Verlag: Aufbau TB
- ISBN-10: 3746629578
- ISBN-13: 9783746629575
- Erscheinungsdatum: 18.02.2013
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