Die Fahrt nach Feuerland
Vier junge Leute planen, die großen Entdeckerfahrten auf einer kleinen
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Vier junge Leute planen, die großen Entdeckerfahrten auf einer kleinen
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Die Fahrt nach Feuerland von Heinz G. KonsalikEr gehörte nicht zu denen, die an der Grenze menschlicher Kraft resignieren und alles Weitere dem Schicksal überlassen. Auch jetzt nicht, wo es fast aussichtslos schien, dieser Hölle von Wasser und Wind zu entrinnen. Allerdings blieb ihm doch eine Gewissheit in all der Todesangst: Bei jedem schweren Brecher, der ihn in ein gurgelndes Wassertal drückte, um ihn sofort wieder emporzuschleudern und auszuspeien, vermochte er noch dies eine zu denken: Mein Boot ist unsinkbar! Also kann auch ich nicht untergehen! Ich habe einen Bootskörper aus bestem Kunststoff unter mir, mit ausgeschäumten Kammern im Rumpf, sich selbst aufrichtend, wie man so schön sagt, ein wahres Wunderding von Boot, mit dem das Meer spielen kann, wie es will - hinaus aus den brüllenden Wassermassen, hoch in den heulenden Sturmhimmel und wieder hinab in die kochende See: Es kommt wieder hoch, das Boot, richtet sich immer wieder auf, ein Stehaufmännchen, die Luftkammern balancieren es aus, solange nur der Rumpf hält, solange das Meer ihn nicht einschlägt und Boot und Mensch zunichtemacht.
Er hatte sich mit starken Haken, mit Bauch- und Schultergurten an den Ruderblock gekettet. Jedes Mal, wenn ein Wellengebirge sich vor ihm auftürmte, um dann mit merkwürdig jaulendem Schrei auf ihn niederzubrechen, zog er den Kopf tief in die Schultern, schloss die Augen, hielt den Atem an, umklammerte die Achse des längst weggerissenen Ruders und nahm den ungeheuren Schlag des Wassers ergeben hin. Das kleine weiße Boot drehte und überschlug sich, richtete sich wieder auf und tanzte weiter auf dem wütenden Meer. Dann atmete er wieder durch, starrte über diese tobende Hölle, blickte auch einmal hinauf in den grauen, leblosen Himmel und duckte sich wieder vor der nächsten schäumenden Wand.
... mehr
Das Unwetter war nicht überraschend gekommen. Als er vor ungefähr sieben Stunden aus dem Nordosthafen von Helgoland aufgebrochen war, hatte der Leiter der Wetterwarte ihm von der Mole nachgerufen:
»Man müsste Sie mit Gewalt festhalten! Peter, kommen Sie zurück! Das hat mit Forschung nichts mehr zu tun!«
Er hatte gelacht, mit beiden Händen zurückgewinkt, Großsegel und Spinnaker in den heftig pfeifenden Wind gedreht. Dann schoss er in die Nordsee hinaus wie katapultiert. Seit Tagen schon herrschte eine steife Brise, aber erst vor einer Stunde war man sich klar geworden, dass von Island her ein massiver Orkan herannahte. Die gesamte Nordseeküste erhielt Sturmwarnung, kleinere Schiffe drehten ab und versuchten, noch rechtzeitig sichere Häfen zu erreichen. Auf den Satellitenfotos war der Kern des Unwetters deutlich auszumachen.
Das war die Stunde, auf die Peter von Losskow gewartet hatte. Er machte sein kleines 7-m-Boot startklar, trank noch drei starke Grogs und zog den doppelwandigen, orangefarbenen, mit Luftkammern versehenen Nylonanzug an. Eine Schwimmweste war eingebaut, die mit einer kleinen Pressluftflasche gefüllt werden konnte.
Dr. Faller, der seit zwei Jahren auf Helgoland als Meteorologe wirkte, tippte sich an die Stirn, als Peter von Losskow in die Wetterstation kam, um sich zu verabschieden.
»Ist das Ihre umwälzende Erfindung?«, fragte er nach kurzem Blick auf Boot und Ausrüstung. »Mein Gott, Sie sind doch mit dem Meer verheiratet, Sie müssten doch wissen, wie so etwas enden wird, Peter. Mit einem solchen Spielzeug von Boot!«
»Unsinkbar, Doktor! Richtet sich selber auf. Dazu mein Anzug. «
»So etwas erprobt man im Simulator!«
»Die beste Windmaschine im Becken kann das Meer nicht ersetzen. Ich brauche einen echten Beweis, um weiter an mich selbst zu glauben.«
»Und wenn die Nordsee Sie behält?«
»Das kann sie nicht!«
»Muss ich Ihnen sagen, was das Meer alles kann? In einer einzigen Welle verschwinden Schiffe von zweihundert Metern Länge!«
»Genau das macht sie verwundbar. Sieben Meter aber tanzen einfach davon! Setzen Sie in eine Badewanne eine Seifenschale und die halbe Schale einer Haselnuss. Und dann wühlen Sie mit den Händen das Wasser auf. Was wird geschehen? Die Seifenschale schlägt voll und sinkt, aber die kleine Haselnussschale bleibt immer oben. Sie ist unsinkbar!«
»Das ist doch ein blöder Vergleich, Peter!« Dr. Faller zeigte auf die neueste Wetterkarte, die gerade vervollständigt wurde. »Da zieht etwas heran, das auch Haselnüssen gefährlich wird. Außerdem sind Sie ein Mensch und keine Schale! Das Meer wird Sie einfach erschlagen, ertränken, zerreißen, zertrümmern! Sie wissen doch genau, wie viel Tonnen eine Riesenwelle wiegt!«
»Und ich weiß, wie leicht mein Boot und ich sind. Wir werden immer oben schaukeln, während die Tonnen über uns wegdonnern. «
Es war unmöglich, Losskow sein Experiment auszureden. Vor drei Wochen war er von Hamburg nach Helgoland gekommen, eben in diesem kleinen, weißen, angeblich unsinkbaren Boot, hatte sich bei Jan Breuners im Nordostgelände der Insel eingemietet und hatte schon nach wenigen Tagen seinen Spitznamen weg: der Spinner vom Festland. In seinem Spezialanzug trieb er wie eine Orange vor der Insel herum, erschreckte nicht vorgewarnte Fischer, die mit voller Kraft herbeituckerten, um einen Schiffbrüchigen zu bergen, um dann mit offenem Mund zu erleben, wie der Kerl höchst vergnügt in der See trieb und alle Hilfe ablehnte. Man sprach darüber in allen Kneipen des Unter- und Oberlands, und endlich schämte sich Jan Breuners gar, einen solchen Gast im Haus zu haben.
Dr. Faller erfuhr allerdings mehr als die Helgoländer. Er lud den »Spinner« zu einem Drink ein und war überrascht, dass sich Peter von Losskow als Nautik-Ingenieur entpuppte, als ehemaliger Leutnant der Marine, vertraut mit dem Meer wie kaum einer der Insulaner, die nur ihre Düne, die Lange Anna und allenfalls die See zwischen Helgoland und Cuxhaven kannten. Wer von ihnen war schon mit einem Segelschulschiff rund um die Welt gefahren, hatte vor Singapur geankert oder war bei Freetown in eine Schlägerei um eine wunderschöne Mulattenhure geraten? Losskow konnte eine Menge erzählen - am liebsten aber sprach er von der Idee, die jetzt sein Leben beherrschte:
Vor den großen Entdeckern und Seefahrern, wie Magellan, Cook, Vasco da Gama, Columbus oder Vespucci, mussten noch andere, unbekannte Seefahrer die fremden Meere befahren und nie gekannte Küsten betreten haben. So hatte Thor Heyerdahl mit einem primitiven Floß aus Papyrus so gut wie bewiesen, dass bereits die Ägypter Amerika erreicht und in Mexico Pyramiden gebaut hatten.
»Was wollen Sie also noch?«, fragte Dr. Faller nüchtern. »Da gibt's nichts mehr zu erforschen!«
»Man hält uns heutige Menschen für zu satt, zu verweichlicht und träge, um - sagen wir - wie Magellan Feuerland zu umfahren und dort eine neue Seestraße zu entdecken.«
»Stimmt! Wir steigen ins Flugzeug und sehen uns alles von oben an. Das ist auch einfacher und gefahrloser. Wozu im Atomzeitalter das Mittelalter beschwören?« Dr. Faller zündete sich eine Zigarre an und goss Losskow das Glas mit Grog wieder voll. »Sie haben mir erzählt, dass Sie mit einem kleinen Boot und höchstens vier Mann Besatzung ohne große technische Hilfsmittel von Hamburg aus um die Südspitze Südamerikas herum in die pazifische Inselwelt segeln wollen und von dort weiter nach Japan und China.«
»So ist es.«
»Und das nur um zu beweisen, dass dergleichen zum Beispiel auch die alten Wikinger getan haben könnten. Mein Lieber, was hat die Welt davon, wenn sie das weiß?!«
»Was hat die Welt davon, wenn jemand einen achttausend Meter hohen Berg besteigt?«
»Den Nervenkitzel eines Bildberichtes und die Gewissheit, dass es ab und zu doch noch Menschen gibt, die durch solche kleinen Abenteuer unsterblich werden. Nichts gegen Forschung, mein Lieber. Wenn Piccard in die Tiefsee tauchte, hatte das einen Grund: Wir entdecken unbekannte Welten. Oder der Flug zum Mond! Ein alter Menschheitstraum ist erfüllt, wir wissen nun, dass es keine Frau Luna gibt und der Mond sich auch nicht zum neuen Paradies eignet. Aber was Sie da machen wollen, Losskow, das ist doch für die Forschung unbedeutend!«
»Ich sehe es anders«, sagte Losskow versonnen. »Solange es Menschen gibt, werden sie vom Ungewöhnlichen fasziniert, lockt sie das scheinbar Unerreichbare, ist das große Abenteuer ihr heimlicher Wunsch. Außerdem will ich meinen unsinkbaren Anzug auf die Probe stellen.« Er sah Dr. Faller fragend an, wie ein großer Junge, der auf ein Lob wartet. »Damit leiste ich doch auch einen Beitrag zum Fortschritt! Ertrinken wird bald unmöglich sein.«
Davon war er jetzt nicht mehr so fest überzeugt. Die brüllenden Brecher, die über ihn hereinschlugen und ihn gegen den Ruderblock pressten, die Wucht der Wellen, die ihm den Atem benahm, machte ihn klein und demütig. Nein, ertrinken würde er nicht, er war wirklich wie ein unsinkbares Stückchen Nussschale - aber ob er diesen gewaltigen Anprall der Wellen überleben, ob er von ihnen nicht zermalmt werden würde?
Längst war der Mast des Bootes wie ein dünnes Hölzchen gebrochen und weggerissen worden. Als wolle das Meer ihn verhöhnen, so hatte es die vertäuten und gerefften Segel wieder aufgebläht. Wie ein Riesenvogel war der Mast im Sturm dahingeflogen, weiß und leuchtend, wie schwerelos, wie in Ekstase tanzend und über die schäumenden Wellen taumelnd, bis er in einem Wassertal verschwand. Mit weiten Augen hatte Losskow diesem Schauspiel zugesehen. Nun fühlte er sich mit seinem unsinkbaren Kunststoffboot nicht mehr als Herr der See. Jetzt wartete er nur noch darauf, dass eine dieser Riesenwellen ihn erdrückte. Nach zwei, drei Tagen würde man den treibenden weißen Bootsrumpf sichten und einen zerquetschten toten Mann aus den Gurten lösen, in einem Spezialanzug aus orangefarbenem Nylon, der ihn nie hätte ertrinken lassen. Aber er war ja auch nicht ertrunken, er war erschlagen worden von der wütenden See.
Wieder zog Losskow den Kopf tief in die Schultern. Eine Wasserwand stieg vor ihm auf, verdeckte den Himmel. Das ist es, dachte er, das ist das Ende. Diesmal wird mir der Druck die Lungen zerreißen.
Ein Sog riss ihn empor, trug ihn der Wand entgegen, ließ ihn den Wasserberg hinaufklettern, hoch oben auf dem Kamm der Riesenwelle schwebte er, sah unter sich das Meer und einen von wilden Zacken zerrissenen Horizont. Er schien zu fliegen, vom Sturm davongetragen wie der Mast mit den Segeln, und während er mit letzter Kraft die Haltestange vor sich umklammerte, nahm er noch einmal dieses Bild in seiner ganzen erschreckenden Schönheit auf und stürzte hinunter in den tosenden Schlund, während das Boot sich mit ihm drehte wie ein Kreisel. Aber noch beim Eintauchen in das kochende Meer dachte er: Ich bin unsinkbar ... Das Boot richtet sich von selbst auf ... Dann war das Meer über ihm, und die Welt ging unter.
Zwei Tage nach diesem Sturm sichtete ein Hubschrauber der Bundesmarine das kleine weiße Boot in der noch immer aufgewühlten See, 37 Meilen nördlich von Helgoland treibend. Der Seenot-Rettungskreuzer holte es ein und hakte einen besinnungslosen Mann vom Ruderblock. Er gab noch schwache Lebenszeichen von sich, war äußerlich unverletzt, aber die Unterkühlung war so stark, dass auch die sofortige Überführung mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus von Wilhelmshaven kaum noch eine Chance zum Überleben bot.
Dr. Faller, der abends an seinem Stammtisch in einem Lokal auf dem Oberland von der Rettung erfuhr, sagte nur: »Ein Gutes hat dieser selbstmörderische Unsinn: Wenn von Losskow durchkommt, wird er seinen Plan von der Weltumseglung in die Mülltonne werfen!«
Peter von Losskow überlebte.
Man wendete, um ihn zu retten, die Methode der raschen Erwärmung an, hob ihn in ein heißes Bad und schloss, um den Wiedererwärmungskollaps auszuschalten, gleichzeitig eine langsame Infusion von 500 ml Rheomakrodex an. Als, wie erwartet, Herzflimmern auftrat, injizierte man 40 mg Dipyridamol und konnte dann nur noch warten, ob Losskow stark genug war, diese Belastung zu überstehen. Als man ihn aus der Nordsee fischte, war er um 12 Grad unterkühlt gewesen - mehr hält der menschliche Organismus nicht aus.
Es dauerte dreißig Stunden, bis Losskow voll ansprechbar war und seine Körpertemperatur sich normalisiert hatte. Er lag in einem Einzelzimmer, trank heißen Tee mit Rum, knabberte an einem Butterkeks und hörte sich an, was Professor Dehner, der Chefarzt, ihm sagte. Es klang, wie erwartet, nicht allzu liebenswürdig, ganz so, als habe Dr. Faller dem Professor seine Worte in den Mund gelegt.
»Ich weiß«, sagte Losskow, als der Arzt seine Philippika beendet hatte, »ich bin ein Spinner! Aber ich habe bewiesen, dass ich unsinkbar bin!«
»Ob einer ersäuft oder als Eisblock in den Wellen treibt - wo ist da der Unterschied, abgesehen vom äußeren Erscheinungsbild? «, polterte Dehner. »Dabei ist das Meer noch gnädig. Wenn Sie in der Südsee über Bord gehen, ist das Wasser zwar relativ warm, aber das ist keine Lebensversicherung. Ihr Spielanzug schützt Sie nicht vor Haien! Aber wem erzähle ich das! Sie kennen doch alle Meere.«
»So ziemlich.«
»Und das rettet Sie nicht vor solchen Dummheiten?«
»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Professor?«
»Aber sicher.«
»Wie viele Patienten sind Ihnen unter den Händen gestorben? «
»Was soll das?«, fragte der Professor indigniert.
»Und trotzdem berühren Sie mit diesen Händen weiterhin Kranke und geben nicht auf, gegen die Krankheiten zu kämpfen. Mal sind die Viren, Bazillen oder was weiß ich stärker als Sie, mal sind Sie der Sieger. Hundertmal gelingt Ihrem Kollegen von der Chirurgie die Verkürzung eines Magens oder die Herausnahme einer Niere, und einmal oder zweimal geht es schief. Wirft er deswegen sein Besteck an die Wand und verkriecht sich?! Sagen Sie bitte nicht, Herr Professor, das sei etwas ganz anderes! Was ist Ihr Spezialgebiet, Herr Professor?«
»Die Pankreopathie. Also alles, was mit dem Pankreas zusammenhängt «, sagte Dehner säuerlich.
»Und mich hat das Meer eingefangen. Hat es einen Sinn, darüber zu diskutieren?«
»Mit Ihnen nicht! Mich interessiert nur, wie es weitergehen soll.«
»Mich auch!« Losskow lachte jungenhaft. »Wie lange werde ich im Bett bleiben müssen?«
»Bis Ihr gesamter Organismus sich wieder normalisiert hat. Fast möchte ich - zu Ihrem Schutz! - wünschen, dass irgendein kleiner Defekt zurückbleibt!«
»Sie sind ein geradezu gefährlicher Arzt, Professor! Nächsten Samstag flüchte ich aus Ihrer Fürsorge. Einverstanden?«
»Nur auf eigene Verantwortung!« Professor Dehner setzte sich auf die Bettkante und drückte auf die Sprechtaste des kleinen Senders, den er in der Brusttasche trug. »M-Wagen auf 18!«, sagte er. Und zu Losskow, mit einem schiefen Lächeln: »Ich gebe Ihnen eine Injektion, die Ihr Herz kräftigt und Ihnen gleichzeitig einen guten Schlaf verschafft. Und noch eins: Sie haben eine Rossnatur! Die wenigsten hätten dieses Helgoland-Abenteuer überlebt! Aber darauf brauchen Sie nicht stolz zu sein! Auch Ihre unanständige Gesundheit hält nicht ewig.«
Ein guter Journalist kann sogar das Liebesleben einer 80-jährigen Urgroßmutter verkaufen, und wenn er ein Star in seinem Beruf ist, liefert er auch noch die Fotos dazu. Man kann nicht sagen, dass Dieter Randler ein solcher Topmann war, aber er besaß immerhin etwas, was zu seinem Beruf gehörte wie zu einem Tabakmischer oder einem Parfümeur: Er besaß den richtigen Riecher. In seinem Fall: den Riecher für Sensationen oder für Situationen, aus denen man eine Sensation machen konnte.
Als man ihm erzählte, ganz beiläufig am Stammtisch, dass man Peter von Losskow bei Helgoland aus der Nordsee gefischt hatte, nachdem er frischen Mutes und voll sanfter Idiotie mitten in einen Orkan hineingesegelt war, blickte Randler einen Moment still vor sich hin und sagte sich dann: Daraus kann man etwas machen! »Der einsame Kampf Mann gegen Meer«. Mit seinem kleinen Sportwagen brauchte er knapp anderthalb Stunden bis Wilhelmshaven. Dort stieß er im Krankenhaus zunächst auf den Widerstand des Professors.
»Der Patient braucht Ruhe!«, sagte Dehner barsch. »Außerdem - was soll die Presse hier? Ist es so selten, dass jemand ins Wasser fällt und wieder rausgefischt wird?! Mein Krankenhaus ist nicht dazu da, Ihnen die Saure-Gurken-Zeit zu versüßen!«
»Ich komme als Peters Freund, nicht als Journalist. Übrigens - wäre das nicht eine gute Schlagzeile: ›Professor Dehner besiegt Unterkühlungstod‹?«
Professor Dehner hielt es für klüger, sich mit dem Journalisten nicht in eine Diskussion über wirksame Schlagzeilen einzulassen. Herrisch winkte er ab.
»Sie können sich mit Ihrem Freund unterhalten, wenn er das Krankenhaus wieder verlässt. So lange - das verspreche ich Ihnen - bleibt er unbelästigt in seinem Bett! - Habe die Ehre!«
»Ah! Sie sind Wiener?«, fragte Dieter Randler fröhlich.
Der Professor stutzte, sagte: »Raten Sie mal!«, und entfernte sich schnell. Ein Krankenpfleger mit kantigem Kinn und breiten Schultern grinste Randler an. Er hob seine imponierenden Hände und zeigte sie, als seien sie zur Versteigerung freigegebene Kunstwerke.
»Gehen wir?«, fragte er nett, wenngleich mit grollendem Unterton.
Randler sah ein: Gegen so viel Pressefeindlichkeit war nichts zu machen, auch nicht mit dem obligatorischen Geldschein. Er nickte devot und verließ die Klinik. Aber unten, in der Aufnahme, blieb er stehen und zog ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich bin doch ausgesprochen dämlich!«, sagte er zu der verblüfften Schwester, die vor ihrer kleinen Säulen-Kartei mit den Namen der Patienten saß. »Ich komme eben von Herrn von Losskow. Peter von Losskow. Mein Schulfreund. Und merke mir die Zimmernummer nicht! Zu dämlich. Fängt so die Verkalkung an, Schwester? Wie ist die Nummer noch mal?«
Die Schwester drehte die Kartei, fand den Namen und antwortete: »Zimmer 139. Privatstation Professor Dehner. Erster Stock.«
»Stimmt!« Randler schlug sich mit der linken Hand klatschend gegen die Stirn. »Das liegt nach hinten, zum Garten hinaus!«
Die Schwester nickte zustimmend, und Randler verließ das Krankenhaus. Draußen blickte er an der Fassade empor, war mit dem Ergebnis der Musterung zufrieden und fuhr in die Innenstadt, zum Ratskeller, wo er einen Sauerbraten aß.
Peter von Losskow wachte in der Nacht davon auf, dass er auf dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer einen patschenden Laut hörte, während ein Schatten sich gegen den lichten Nachthimmel abhob. Dann bewegte sich die Glastür, und eine Stimme flüsterte: »Halt die Schnauze, Peter, und mach nicht vor Angst ins Bett! Ich bin's! Dieter. Mein Arzt hat mir Bewegung in frischer Luft verordnet.«
Er kam ins Zimmer, schloss die Balkontür und holte sich einen Stuhl ans Bett, Losskow knipste die Notbeleuchtung an. Es war Randler, dies Grinsen war unverkennbar.
»Du musst ja wieder grenzenlos besoffen sein!«, sagte Losskow. »Gibt es hier keine andere Tür?«
»Die ist bewacht wie das Paradies! Junge, was musst du angestellt haben! Bist du Neptun begegnet? Hast du eine Meerjungfrau geschwängert?!«
»Ich habe mich entschlossen, ein Buch zu schreiben.«
»Das ist ja furchtbar! Und dazu brauchst du einen Orkan bei Helgoland?«
»Ich will beweisen, dass der heutige Mensch, den man immer verweichlicht nennt, genauso zäh und mutig sein kann wie die berühmten Seefahrer vergangener Jahrhunderte. Mit einem kleinen Segelboot, nicht mehr als Herr der Technik, sondern angewiesen allein auf die eigenen Hände und den Willen, das Meer zu besiegen, will ich die großen Entdeckerfahrten eines Cook oder Vasco da Gama nachvollziehen.«
»Wie du das aufsagst - so aus dem Schlaf gerissen! Man merkt, dass die Geisterstunde nahe ist. Also um Kap Horn willst du fahren mit deiner Nussschale, um Feuerland herum?«
»Unter anderem - ja!«
»Und dafür segelst du erst mal ins Auge eines Orkans?«
»Das war nur Training.«
»Das war so blöd, dass man's der Nachwelt erhalten sollte! Und für wann haben wir den historischen Augenblick deines Ablegens von Europens Küste zu erwarten?«
»Sobald ich das Geld dazu habe! Ich brauche nur ein Schiff nach meinen Plänen.«
»Mehr nicht?« Randler strich Losskow beruhigend über den Scheitel. »Na ja, irgendwo wird es schon ein Onkelchen geben, das sein Portemonnaie dafür öffnet. Mensch, hätte ich die Story vorher gekannt, ich wäre nicht die Wand hochgeklettert!«
Aber auch ein ausgebuffter Reporter wie Randler kann sich irren! Beiläufig erzählte er in der Redaktionskonferenz vom Hirnverfall seines Freundes Peter und musste erleben, dass der stellvertretende Chefredakteur wie elektrisiert auffuhr: »Dieter, das ist ja ein Thriller! Daraus machen wir einen Riemen! Ich stelle sechzig Zeilen frei. An die Tasten! Die hauen wir morgen ins Blatt!«
Dieter Randler gab sein Bestes, dichtete eine Story voll Dramatik und Seeluft, ein Hohelied auf modernes Heldentum, und übertitelte die ganze Geschichte:
»Junger Forscher will mit Nussschale die Weltmeere erobern.«
Professor Dehner erschien um zehn Uhr mit verschlossener Miene, legte die Zeitung auf Losskows Bett und sagte:
»Ich halte Sie nicht mehr fest. Segeln Sie nach Feuerland mit Ihrer Nussschale. Wer fest daran glaubt, dass 2 x 2 = 5 ist, den kann man nicht vom Gegenteil überzeugen.«
Losskow nahm die Zeitung, überflog den Bericht und schüttelte den Kopf.
»Von dem Artikel habe ich keine Ahnung. Die Hauptsache stimmt auch gar nicht.«
»Aber Sie kennen den Autor?«
»Ja. Dieter Randler.«
»Den kenne ich auch. Ich habe ihn aus der Klinik geworfen.«
»Das war ein Fehler, Herr Professor. In der Nacht kam er als Fassadenkletterer zu Besuch.«
Professor Dehner seufzte. »Fälle wie Sie verlege ich nächstens in die obere Etage.«
»Dann kommen die Kerle mit der Feuerleiter.«
Losskow las den Artikel langsam. Was Randler geschrieben hatte, war im Prinzip richtig, aber zur Sensation aufgebauscht. Der Professor wartete, bis Losskow zu Ende gelesen hatte.
»Bevor Sie aus meinem Schutz entlassen werden«, sagte er dann, »möchte ich gern noch eins wissen: Sie suchen also eine Crew - so heißt es doch wohl bei den Seeleuten? -, die mit Ihnen kreuz und quer über die Ozeane segelt und beweisen soll, welch ein toller Kerl Sie sind! Das Ganze nennt sich dann ein psychologisch-soziologisches Experiment. Frage: Sind wir Heutigen Weichlinge, oder können wir Columbus doch noch das Wasser reichen?«
»Nicht ganz so extrem, Herr Professor. Es geht mir darum, zu beweisen, dass zum Beispiel die Wikinger recht gut in der Lage waren, mit ihren Drachenbooten nicht nur Nordamerika zu erreichen - was ja mittlerweile bewiesen ist -, sondern auch in südliche Meere vorzustoßen. Es gibt in Schwarzafrika holzgeschnitzte Tanzmasken, die fast genau einem Wikingerhelm gleichen! Warum - so frage ich - sollten Wikingerschiffe nicht an der Küste Afrikas entlanggesegelt sein und von dort über den Ozean an die südamerikanische Küste und weiter um Feuerland herum in den Pazifik? Gewiss, es gibt keine Überlieferung, die darauf eine Antwort geben könnte. Man weiß nur, dass die Normannen vor dem unendlichen Wasser keine Angst hatten. Aber diese Frage interessiert mich, ich möchte ihr nachgehen, ich möchte diesen Weltentdeckungstraum nachvollziehen. Ich weiß, Herr Professor, dass Ihr wissenschaftliches Interesse der Lymphogranulomatose gilt, der Hodgkinschen Krankheit, obwohl es gerade in diesem Forschungsbereich einen Rückschlag nach dem anderen gibt! Aber Sie lassen nicht locker. Ich auch nicht.« Losskow tippte auf die Zeitung. »Im Übrigen stimmt es nicht: Ich suche keine Partner. Ich will allein segeln. Ohne Motor, ohne Kompass, mit nichts als ein paar Fetzen Stoff am Mast! Die Wikinger hatten auch keinen Diesel, auch keinen Kreiselkompass.« Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Nachttisch. »Wann brauchen Sie mein Bett?«
»Wenn ich Ihnen so zuhöre ... Bleiben Sie drin! Eine Intensivbehandlung der Nerven täte gut.« Professor Dehner hob resignierend die Schultern. »Sie können gehen, wann Sie wollen.«
»In zwei Stunden?«
»Von mir aus!«
»Ich will sofort zur Redaktion und mich mit meinem Freund Randler unterhalten. Halten Sie mal vorsichtshalber ein Bett in der Unfallstation für ihn frei!«
Als Losskow bald darauf in der Redaktion erschien, um Randler an einen Nagel in der Wand zu hängen, empfing ihn sein Freund mit ausgebreiteten Armen. So einen freundlichen, vor Freude leuchtenden Menschen konnte man nicht misshandeln.
»Ein Volltreffer, Peter!«, rief Randler enthusiastisch. »Wer hätte das gedacht! Wir sind baff! Die Großindustrie spielt mit! Es liegen Angebote von drei Lebensmittelkonzernen vor. Du bist mit eingedostem Fleisch, Nudeln in Büchsen und Dauerwurst versorgt! Dazu gibt es vitaminreiches Pressobst, Fruchtstangen, Hallo-Wach-Schokoladen, Nervennahrung und Muskelstraffer! Falls du dich am Südpol verirren solltest - keine Angst! Angebot Nummer sechs: Schlafsäcke mit einer neuen Füllung und Batterieheizung, mit denen du auf einem Eisberg übernachten kannst. Dazu Stiefel mit neuartiger Gummisohle. Die haftet überall, wie ein Magnet. Du kannst praktisch nie umfallen! Herz, was willst du mehr?! Sogar dein Boot hast du in der Tasche beziehungsweise auf dem Wasser.«
»Dieter!« Losskow musste sich setzen. »Das ist ja kaum glaubhaft. «
»Du kannst die Angebote selbst lesen. Sie werden im Augenblick noch für einen neuen Artikel ausgewertet. Wenn der morgen erscheint, werden auch die anderen munter. Es ist doch undenkbar, dass die Schokoladenfabrik ›Süßer Feierabend‹ dir die Bordverpflegung stiftet, und die Konkurrenz ›Alpenglühen‹ lässt sich den Werbegag entgehen. Peter, das gibt in den nächsten Tagen einen warmen Regen von Spenden! Ach ja, das Boot, ein Waschmittelkonzern will es übernehmen. Einzige Bedingung: Du musst es mit dem Namen des neuen Alltemperatur- Waschmittels verzieren. Links und rechts an der Bordwand, gut lesbar: ›Sternenklar‹.«
»Nie!«, sagte Losskow laut.
»Der Name ist Gold wert! ›Sternenklar‹ als Bootsname - das prägt sich ein! Die gesamte Takelage übernimmt eine Tochterfirma des Konzerns, die Scheuermittel herstellt. Auf den Segeln braucht nur zu stehen: Rund um die Welt - mit Blitz im Haus!«
»Und dafür soll ich dir um den Hals fallen?«, maulte Losskow. »Ihr habt aus meiner Idee einen Jahrmarktsrummel gemacht! Nichts gibt es! Ich brauche nichts zu überstürzen. Ich verschiebe die Expedition auf unbestimmte Zeit.«
»Das ist nicht mehr möglich!« Randler zog sich aus der Reichweite seines Freundes zurück. »Das Ding ist bereits so angekurbelt, dass du's nicht mehr bremsen kannst! Wir haben klar geschrieben: Es fehlen zu der Realisierung dieser großen Tat, wahrhaft einem Jahrhundert-Unternehmen ...«
»Schon das ist völliger Blödsinn!«
»Aber der Leser geht mit, Peter! Der Leser ist jetzt voll auf deiner Seite. Er leidet mit dir, er segelt mit dir, er hungert mit dir, er hängt mit dir seinen Hintern über die Bordwand und lässt ihn von den Wellen abwischen. Junge, du weißt ja gar nicht, was so viel Popularität bedeutet! Sie verpflichtet! Sie nagelt dich fest! Du gehörst nicht mehr dir allein, du bist Allgemeingut! Da gibt es kein Kneifen mehr, das wäre dein Ruin. Nichts wird weniger verziehen, als wenn ein Idiot plötzlich wieder normal wird! Du kannst jetzt nicht mehr aussteigen, Peter! Ab morgen heizen wir das Thema Feuerland an, dass jeder sich daran die Hände wärmt.«
»Feuerland ist doch nur ein Punkt des ganzen Projektes, und nicht einmal ein markanter!«
»Aber er macht sich gut! Er verkauft sich wie Honigbrot! Feuer land ... Da spielt die Fantasie doch gleich auf allen Tasten! Das klingt nach Abenteuer, nach neuer Welt, nach Gefahr, nach Heldentum. Feuerland! Welch ein Wort! ›Der Mann, der Feuerland besiegte!‹ Junge, das klingt hundertmal besser als: ›Der Mann, der einen Krieg gewann!‹« Randler war nicht mehr zu bremsen. Mit fassungslosem Staunen sah Losskow, wie seine Idee, sein ganz persönliches Eigentum, nun weltweit vermarktet wurde. Randler hatte recht: Es gab, wollte man keinen Skandal riskieren, kein Zurück mehr. Wenn Losskow jetzt ablehnen würde, was man ihm anbot, würden alle sagen: Er kneift. Er ist ein Feigling! Welcher Mann will das von sich sagen lassen?
»Ich möchte die Angebote sehen!«, sagte er. »Im Übrigen könnte ich euch verklagen. Dann müsstet ihr öffentlich zugeben, dass alles falsch war, was ihr geschrieben habt.«
»Na und? Das bringen wir auf der letzten Seite links unten in der Ecke und darüber eine rot unterstrichene Doppelzeile: ›Der Superbusen von Los Angeles. 127 cm Umfang und frei schwebend!‹ - Wer kümmert sich dann noch um deine Berichtigung? Peter, Junge, sei kein Moralist! Alles, was du brauchst für deine große Idee, wird dir vor die Tür gelegt! Was willst du mehr?! Einfacher geht's doch nicht! Mit eigener Kraft schaffst du es nie! Himmel noch mal, nenn dein Boot ›Sternenklar‹ und papp auf die Segel die Schrift von ›Blitz im Haus‹. Die Haupt sache ist doch, dass du dich deinen Forschungen widmen kannst. Alle großen Männer haben ihre Mäzene gehabt: Wagner seinen Bayern könig, Haydn seinen Esterhazy, Goya seinen Alba, Michelangelo seinen Medici. Und Peter von Losskow segelt mit einem Vollwaschmittel, was soll's? Der Erfolg ist maßgebend. Und das Fundament liefern wir!«
Losskow sah ein, dass es sinnlos war, anderer Meinung zu sein. Er stand auf, kippte den Whisky herunter, den ihm Randler eingeschüttet hatte, und sagte: »Wenn was ist, ich bin zu Hause. Du weißt ja, wo ich wohne.«
Dann ging er, in der leisen Hoffnung, dass sich die Dinge nicht so vehement entwickeln würden, wie es Randler in seinem Enthusiasmus prophezeit hatte. Das alles ist nur eine Tagessensation, dachte Losskow. Übermorgen spricht keiner mehr davon. Wen interessiert dann noch das Fernweh der Wikinger? Und Feuerland? Das liegt viel zu weit weg, unten an der Spitze Südamerikas, das Ende eines Kontinents. Wer kümmert sich um Feuerland? Kein Mensch! Er irrte sich.
Eine ganze Woche lang lebte die viel gelesene Seite 3 der Zeitung von der ›Peter-von-Losskow-Story‹. Dieter Randler übertraf sich selbst. Was er im Zusammenhang mit Feuerland erfand, nahm sich zwar zunächst wie eine grandiose journalistische Leistung aus, war aber in Wahrheit eine kaum noch zu überbietende Frechheit dem Leser gegenüber. Nach Randlers Feuerland- Bericht musste diese einsame Felsengegend am Südzipfel Südamerikas das gefährlichste aller immer noch nicht restlos erforschten Gebiete dieser Erde sein. Er schämte sich nicht einmal, zu behaupten, Seefahrer hätten vom Meer aus beobachtet, dass in riesigen Felshöhlen noch Tiere lebten, die man nur aus Rekonstruktionen der vorzeitlichen Fauna kannte. »Gibt es noch Drachen?«, fragte Randler kühn und antwortete ebenso keck: »Auch dieses Rätsel will Peter von Losskow lösen!« In den Text war ein Bild eingeschlossen, eine Fotomontage: im Hintergrund Feuerland, im Vordergrund das wild bewegte Meer. Darüber die Illustration zu einer alten Sage: ein riesiger fliegender Drache. Es wirkte ungemein überzeugend.
Nach einer Woche kam Randler zu Besuch. Er schleppte einen Koffer mit, schüttete den Inhalt aufs Sofa und setzte sich zufrieden in einen der tiefen Ledersessel.
»Nun lob mich mal, Junge!«, sagte er fröhlich. »Alles Briefe! Leserpost. Angebote. Kommentare. Zusagen. Anfragen.«
»Auch von einer Nervenheilanstalt?«, fragte Losskow sauer.
»Noch nicht. Die kommt später, wenn wir schreiben müssten: Losskow kneift!« Randler zeigte auf den Haufen Briefe.
»Was da liegt, reicht für hundert Romane! Das hat sogar mich in strammer Haltung vom Stuhl gehauen. Wühl dich durch die Briefe, Peter! Sogar der Entwurf eines neuen Schlagers ist dabei: ›In Feuerland, in Feuerland, wo Liebe heiß wie Feuer brannt' ...‹«
»Raus!«, sagte Losskow dumpf. »Sofort raus! Mitsamt deinem Koffer! Weißt du, dass ich freigesprochen werde, wenn ich dich jetzt erwürge?«
»Begnüge dich damit, mir einen Wodka zu bringen! Mit Bitter Lemon.«
»Ich mische Rattengift darunter.«
»O Freund, das hab ich nicht um dich verdient! Ich habe für deine Popularität geschuftet wie ein orientalischer Brunnen- ochse. Du brauchst jetzt nur noch zuzusagen, und das Abenteuer Feuerland kann beginnen! Übrigens ist auch ein Brief von einem 92-jährigen Mann dabei, der einen solchen Drachen wie auf unserem Feuerlandbild vor vierunddreißig Jahren in den Anden gesehen haben will. Toll, was? Das bringen wir natürlich. ›Augenzeuge warnt Peter von Losskow: Die Feuerland-Drachen haben einen schwefeligen Atem.‹ - Ich bin ganz happy.«
»Ich finde schon noch jemand, der dich erschlägt!« Losskow brachte den Wodka und die Lemon-Flasche. »Übrigens hat mich der Waschmittelkonzern angerufen. Ich bekomme mein Boot!«
»Halleluja!«
»Und zwar ohne die Verpflichtung, es ›Sternenklar‹ zu nennen! «
»Gratuliere. Und wie soll es nun heißen?«, fragte Randler ahnungsvoll.
»Völlig neutral! ›Seelord‹!«
»Hab ich mir's doch gedacht. Die Jungs von der Werbung sind Genies! Da kommt in vier Wochen ein neuer Artikel auf den Markt: ›Seelord - die Wäschestärke, die selbst dem Ozean trotzt!‹ Gratuliere, Peter!«
Das war Grund genug für Losskow, sich an der Leerung der Wodkaflasche zu beteiligen.
Fast zwei Tage brauchte Losskow, um die Post zu lesen und so zu sortieren, dass er einen Überblick bekam. Er hatte die Briefe in vier Gruppen eingeteilt: Nummer eins: die Neutralen. Sie schrieben lediglich, um ihre Meinung zu dem Vorhaben kundzutun, Ratschläge zu geben und zu kommentieren. Nummer zwei: Das waren die Werbeempfehlungen, vom dauerelastischen Hosenträger bis zur Zahnbürste mit Sonnenenergie-Batterie, vom wasserdichten UKW-Radio bis zur wasserabweisenden Unterwäsche. Nummer drei: die kleine, aber feine Gruppe der Industrie-Unternehmen, die das Vorhaben durch Spenden unterstützen wollten und detaillierte Angebote unterbreiteten, und schließlich die Gruppe vier: die Bewerber, die sich anheischig machten, mit Peter von Losskow die Meere zu erobern.
Als Dieter Randler diese Briefe las, schnaufte er vor Begeisterung. Neunundsechzig Frauen und Männer hatten geschrieben, die nach eigenen Aussagen nichts auf dieser Welt fürchteten.
Ein ehemaliger Fremdenlegionär, zur Zeit Fremdenführer in einer mittelalterlichen deutschen Kleinstadt, wo er dreimal wöchentlich auch den Schlossgeist spielen musste, legte als »Referenzen« drei Fotos bei, die ihn in einem Jeep zeigten, dessen Kühler mit einem echten Totenkopf und zwei gekreuzten gebleichten Oberarmknochen verziert war (Unterschrift: Die schöne Zeit im Kongo), und einen vergilbten Zeitungsausschnitt mit der Schlagzeile: »Wer ist der geheimnisvolle Söldner- Hauptmann im Süden?« »Ich!«, schrieb der Bewerber. »Auf mich können Sie sich verlassen in jeder Situation. Ich bin ein Kumpel von der alten, aussterbenden Sorte. Ich haue Sie raus, wo immer Sie sind. Angst kenne ich nicht. Wo andere in die Hosen machen, werde ich erst munter! Ich kann sofort zu Ihnen kommen. Mein Vertrag als Schlossgespenst ist täglich kündbar.«
Ein Finanzmakler schrieb nüchtern, klar, prägnant, wie es sich für einen Mann gehört, der mit Geld jongliert. »Mein Vorschlag: Wir werden eine unbewohnte Insel in Besitz nehmen, dort einen eigenen Staat gründen, eine Verfassung ausarbeiten, Steuerfreiheit garantieren und damit große Kapitalien in unser Land locken. Allein von den Verwaltungsgebühren für dieses Kapital können wir für uns enorme Beträge abzweigen.«
Es folgten lange Berechnungen, imponierende Zahlenkolonnen, der Vorschlag zur Gründung einer Radiostation mit Werbefunk, der Entwurf eigener Briefmarken sowie einer Landesflagge. Es war imponierend.
Ein Fleischermeister schrieb: »Ganz davon abgesehen, dass ich ein guter Koch bin und auch aus einem Dosengericht noch eine abwechslungsreiche Mahlzeit mache, bin ich ein Kerl von 1,90 m Größe, habe Muskeln wie ein Stier, kann mit einem Faustschlag einer Kuh die Hirnschale zertrümmern und bin garantiert seefest. War einmal Fleischer auf einem Ferienkreuzer. Trotzdem betrügt mich meine Frau mit einem winzigen, mickrigen Italiener, der ins Straucheln kommt, wenn ich nur einatme. Verstehen Sie das? Ich nicht! Wie kann man eine Mücke lieben, wenn man einen Adler hat?! Das alles deprimiert mich. Ich möchte mit Ihnen nach Feuerland und Drachen jagen! Vielleicht sind sie essbar, und wir können eine Fleischexportfirma gründen. Warum nicht? Wenn man Schnecken, Froschschenkel, geröstete Ameisen und was weiß ich noch alles isst, warum nicht auch ein feuerländisches Drachensteak?! Herr von Losskow, ich bin Ihr Mann! Wenn Sie JA zu mir sagen, komme ich sofort!«
Aber dann waren da noch die ernsten Anfragen, und sie las Losskow mit besonderem Interesse. Er hatte nie vorgehabt, andere Menschen in dieses Abenteuer hineinzuziehen, aber je mehr er darüber nachdachte, umso weniger abwegig erschien es ihm, mit einer kleinen, aber ausgewählten Mannschaft das Experiment zu wagen. Vor allem war dann eine Gefahr gebannt, die der Seefahrer am meisten fürchtet: die Einsamkeit, das Gefühl grenzenloser Verlassenheit, die Macht der Stille.
Nach zwei Tagen hatte Losskow drei Briefe aussortiert, ohne sich bereits zu einer Antwort durchgerungen zu haben. Es handelte sich um junge Wissenschaftler, die wirklich nur wegen der möglichen Forschungsergebnisse, soweit sie sich aus der Zeitung davon ein Bild machen konnten, an ihn geschrieben hatten. Kritische Briefe, die eine ernsthafte Antwort verdienten.
Die Schwedin Helena Sydgriff stellte sich als Medizinstudentin vor. Sie interessierte ein eher psychologisches Thema: Wie verhalten sich Menschen, die monatelang auf engstem Raum, auf Gedeih und Verderb verbunden, auch in den kritischsten Situationen miteinander auskommen müssen?
Darüber lohnte es sich wirklich nachzudenken.
Der Tscheche Jan Trosky, dreißig Jahre alt, Assistent im Institut für Klimatologie, stellte die Frage, ob bestimmte Meeresströmungen sich verändern und damit auch einen großen Einfluss auf das Wetter gewinnen könnten, das ja in den letzten Jahren aus den Fugen geraten sei. Das Meer als großes Klimabecken: Das war klar. Aber nach wie vor blieb das Meer noch eine längst nicht hinlänglich erforschte Unbekannte. Trosky führte das Bermuda- Dreieck an.
Peter von Losskow entschloss sich, auch ihm zu antworten.
Und da war die Italienerin Lucrezia Panarotti, Studentin der Meeresbiologie, die ein Bild beigelegt hatte. Ein zierliches, bildhübsches Persönchen in einem Bikini. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind. Ihre Frage: Was wissen wir über die meeresbiologischen Probleme von Feuerland? Nichts! Warum? Weil es offenbar bisher keinen interessiert hat. Dabei kann - theoretisch - gerade vor Feuerland das Meer Aufschlüsse darüber geben, wie ein Meer in biologischer Hinsicht sein sollte - und was wir aus den anderen Meeren gemacht haben ...
»Wenn das deine Mannschaft wird, mein Junge«, sagte Randler, als Losskow die drei Briefe aussortiert hatte, »nimmst du sicher ausgezeichnete Fachleute an Bord. Und was mich als Journalisten betrifft: Zwei schöne Frauen, zwei kräftige Männer für Monate auf einem Segelboot - natürlich gibt das eine tolle Story! Aber dir ist doch wohl klar, dass du mit Helena und Lucrezia zwei Superbomben auf die Reise nimmst?«
»Ich will sie erst sehen und sprechen«, sagte Losskow nachdenklich. »Noch sind sie nicht an Bord! Ich hab ja noch nicht mal ein Schiff! Noch ist alles nur Wunschdenken. Aber wenn ich mit einer Crew segele, dann drück ich mich auch um die Frage von Helena Sydgriff nicht herum: Wie benimmt sich ein Mensch unter anderen Menschen, wenn er in einer Nussschale lebt, wenn um ihn herum nur Wasser ist, wenn er die anderen wochenlang ertragen muss? Wie gesagt, es ist nur eine Vorauswahl. «
Am nächsten Tag schrieb Losskow drei Briefe und schlug ein Treffen in Hamburg vor.
Ohne es zu ahnen, hatte er damit Schicksal gespielt und sein Leben verändert.
Sie wollten sich in der Halle des Hotels »Vier Jahreszeiten« treffen und dann das Gespräch in der Bar beginnen. Von Helena Sydgriff war Peter von Losskow angerufen worden, nachdem sie seinen Brief erhalten hatte. Ihre Stimme war angenehm, warm und weich, und ihr Deutsch hatte den lustigen Akzent der Nordländer. Trosky und Lucrezia Panarotti schrieben sofort per Einschreiben und Eilboten zurück, freuten sich riesig auf das Kennenlernen und legten beide noch einmal ein Foto neuesten Datums bei. Dieter Randler schnalzte mit der Zunge, als er Lucrezia betrachtete, bis Losskow ihm wütend das Foto abnahm.
»Dieser Jan Trosky hat's in sich!«, sagte Randler. »Augen, die Löcher brennen können. Und Muskeln wie ein Ringer! Dem klaut keiner die Wurst vom Brot!«
»Genau das brauche ich!« Losskow steckte die Briefe wieder ein. »Auf dieser Fahrt wird uns nichts erspart bleiben.«
»Und die süße Maus Lucrezia? Ob die auch das gewünschte Durchstehvermögen hat?« Randler blickte an die Decke. Dort hing ein Modell der »Santa Maria«, des Flagschiffs von Columbus, auf dem er den Seeweg nach Indien erzwingen wollte. »Zäh wird sie sein, das sieht man ihr an. Die strampelt noch im Bett, wenn du längst keinen Muckser mehr tust.«
Mit Randler war ernsthaft kaum zu reden. Losskow warf ihn aus der Wohnung und machte sich darauf gefasst, dass morgen ein neuer Artikel in der Zeitung stehen würde: »Die Yacht der tollen Frauen«. Aber Randler blieb erstaunlicherweise friedlich: Er berichtete lediglich, dass immer noch von vielen Firmen Unterstützungsangebote bei der Redaktion einliefen.
Kurz nach sechzehn Uhr betrat Losskow das Hotel »Vier Jahreszeiten«. Als Erkennungszeichen hatte er ausgemacht: hellbraune Hose, Blazer aus dunklem Kamelhaar. Auf dem linken Revers ein geblähtes Segel aus blau-weißer Emaille.
Er hatte kaum die Halle betreten, als drei Gäste - ein Mann und zwei Frauen - aus ihren Sesseln aufsprangen und ihm entgegenkamen. Erstaunt sahen sie sich an, als sie merkten, dass sie dasselbe Ziel hatten. Losskow lächelte und breitete die Arme zur Begrüßung aus.
»Jawohl, ich bin's! Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Sie sehen genauso aus, wie ich's mir vorgestellt habe.«
Helena Sydgriff war groß, schlank, blond, mit kritischen Augen , ein sportlicher Typ, vielleicht eine ausgezeichnete Tennisspielerin. Sie reichte Losskow die Hand, ihr Händedruck war fest, gleichsam kompromisslos.
Sie hatte sich entschieden - das lässt sich auch mit einem Händedruck sagen.
Ganz anders Lucrezia Panarotti. Sie schwebte heran auf den steilsten Absätzen, die Losskow je gesehen hatte. Sie hatte aufregende lange schlanke Beine, schmale Hüften, einen biegsamen Körper mit unübersehbaren Brüsten, um die sich das Kleid aufreizend spannte. Eine Mähne aus schwarzen Haaren umwehte sie so raffiniert unbändig, wie es nur ein teurer Friseur zustande bringt. Keinen Augenblick zögerte sie, Losskow zu umarmen, ihn aus nächster Nähe mit ihrem exotischen Parfüm bekannt zu machen und ihn in ihre schwarzen, leuchtenden Augen blicken zu lassen. Ihr Mund öffnete sich wie eine Blüte, aber sie küsste ihn nicht, sie sagte nur, ganz nahe an seinem Gesicht:
»Sie sind enttäuscht von mir, nicht wahr? Aber Sie irren sich - ich kann zwar keine rohe Kartoffel in der Faust zerquetschen wie Ihr Kollege im ›Totenschiff‹ von Traven, aber dafür kann ich in Rekordzeit den Spinnaker einholen. Und in der Pflicht stehe ich meinen Mann!«
»Wir werden sehen, Lucrezia«, sagte Losskow. »Heute beschnuppern wir uns bloß. Bis wir eine Mannschaft sind, vergeht noch viel Zeit. Da gibt's noch manche harte Prüfung zu bestehen.«
»Sie ahnen nicht, wie zäh ich bin!«, lachte sie, und Losskow musste an Randler denken.
Jan Trosky, breitschultrig, auf säulenstarken Beinen, hatte ein wenig zu lange Arme. Die Haare fielen ihm fast schulterlang herab und waren an den Enden sogar gelockt. Losskow hatte ihn sich größer vorgestellt, aber die außerordentliche Stärke dieses Mannes war unverkennbar. Seine Augen musterten Losskow kritisch und abwartend; es war ihnen anzusehen, dass er Lucrezias bühnenreifen Überfall missbilligte.
»Ich bin gern gekommen«, sagte er mit dunkler Stimme. »Was Sie da vorhaben, kann ein großer Wurf werden. Mit den richtigen Leuten.«
Das war auf Lucrezia gezielt. Sie schien es nicht zu merken oder überhörte es auch. Doch Helena zog die Brauen hoch und schob die Unterlippe vor.
Losskow gab sich alle Mühe, die ersten Minuten zu überbrücken.
»Ehe wir an die Bar gehen, um uns ein wenig besser kennenzulernen, sollten wir uns über eine Grunderkenntnis einig sein: Wir alle sind Leute, die sich einen großen Traum erfüllen wollen! «
»Bravo!« Jan Trosky klopfte Losskow auf die Schulter.
»Ich bin Jan Trosky!«
»Ich heiße Helena Sydgriff.«
»Ich bin Lucrezia Panarotti.« Die schwarze Mähne wirbelte um ihren schmalen Römerkopf. »Papa nannte mich Luzi. Er starb vor zwei Jahren.«
»Vergiftet?«, fragte Trosky. Die Panarotti starrte ihn entgeistert an.
»Er stürzte bei einer Klettertour in den Abruzzen ab. Wieso vergiftet ...?«
»Ich dachte nur. Der Name Lucrezia verpflichtet. Lucrezia Borgia war da nicht zimperlich.«
»Sehr witzig!«
»Ist es wichtig, dass wir unsere Kosenamen nennen?«, fragte Helena Sydgriff deutlich aggressiv. »Sie heißen also Luzi. Mein Vater nannte mich Blondie. Und Sie, Trosky?«
»Stinker. - Pardon, ich kann mit süßeren Namen nicht aufwarten. Mein Vater war ein humorloser Mann. Was blieb ihm anderes übrig - er war der 1. Wärter des städtischen Klär beckens.«
Losskow blinzelte ihm zu, aber Trosky erwiderte es nicht. Erst jetzt merkte Losskow, dass Trosky keinen dummen Witz gemacht hatte.
»Blondie, Luzi und Stinker«, sagte Lucrezia und bog sich in den Hüften. »Nur unser künftiger Herr und Meister schweigt.«
»Statt Peter wurde ich Peer gerufen.« Losskow hob wie bedauernd die Schultern. »Mein Vater hatte einen Nordlandtick! Die Losskows - so hatte er nachgeforscht - waren mit einem normannischen König verwandt. Losokau - oder so ähnlich. In grauer Vorzeit.«
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Das Unwetter war nicht überraschend gekommen. Als er vor ungefähr sieben Stunden aus dem Nordosthafen von Helgoland aufgebrochen war, hatte der Leiter der Wetterwarte ihm von der Mole nachgerufen:
»Man müsste Sie mit Gewalt festhalten! Peter, kommen Sie zurück! Das hat mit Forschung nichts mehr zu tun!«
Er hatte gelacht, mit beiden Händen zurückgewinkt, Großsegel und Spinnaker in den heftig pfeifenden Wind gedreht. Dann schoss er in die Nordsee hinaus wie katapultiert. Seit Tagen schon herrschte eine steife Brise, aber erst vor einer Stunde war man sich klar geworden, dass von Island her ein massiver Orkan herannahte. Die gesamte Nordseeküste erhielt Sturmwarnung, kleinere Schiffe drehten ab und versuchten, noch rechtzeitig sichere Häfen zu erreichen. Auf den Satellitenfotos war der Kern des Unwetters deutlich auszumachen.
Das war die Stunde, auf die Peter von Losskow gewartet hatte. Er machte sein kleines 7-m-Boot startklar, trank noch drei starke Grogs und zog den doppelwandigen, orangefarbenen, mit Luftkammern versehenen Nylonanzug an. Eine Schwimmweste war eingebaut, die mit einer kleinen Pressluftflasche gefüllt werden konnte.
Dr. Faller, der seit zwei Jahren auf Helgoland als Meteorologe wirkte, tippte sich an die Stirn, als Peter von Losskow in die Wetterstation kam, um sich zu verabschieden.
»Ist das Ihre umwälzende Erfindung?«, fragte er nach kurzem Blick auf Boot und Ausrüstung. »Mein Gott, Sie sind doch mit dem Meer verheiratet, Sie müssten doch wissen, wie so etwas enden wird, Peter. Mit einem solchen Spielzeug von Boot!«
»Unsinkbar, Doktor! Richtet sich selber auf. Dazu mein Anzug. «
»So etwas erprobt man im Simulator!«
»Die beste Windmaschine im Becken kann das Meer nicht ersetzen. Ich brauche einen echten Beweis, um weiter an mich selbst zu glauben.«
»Und wenn die Nordsee Sie behält?«
»Das kann sie nicht!«
»Muss ich Ihnen sagen, was das Meer alles kann? In einer einzigen Welle verschwinden Schiffe von zweihundert Metern Länge!«
»Genau das macht sie verwundbar. Sieben Meter aber tanzen einfach davon! Setzen Sie in eine Badewanne eine Seifenschale und die halbe Schale einer Haselnuss. Und dann wühlen Sie mit den Händen das Wasser auf. Was wird geschehen? Die Seifenschale schlägt voll und sinkt, aber die kleine Haselnussschale bleibt immer oben. Sie ist unsinkbar!«
»Das ist doch ein blöder Vergleich, Peter!« Dr. Faller zeigte auf die neueste Wetterkarte, die gerade vervollständigt wurde. »Da zieht etwas heran, das auch Haselnüssen gefährlich wird. Außerdem sind Sie ein Mensch und keine Schale! Das Meer wird Sie einfach erschlagen, ertränken, zerreißen, zertrümmern! Sie wissen doch genau, wie viel Tonnen eine Riesenwelle wiegt!«
»Und ich weiß, wie leicht mein Boot und ich sind. Wir werden immer oben schaukeln, während die Tonnen über uns wegdonnern. «
Es war unmöglich, Losskow sein Experiment auszureden. Vor drei Wochen war er von Hamburg nach Helgoland gekommen, eben in diesem kleinen, weißen, angeblich unsinkbaren Boot, hatte sich bei Jan Breuners im Nordostgelände der Insel eingemietet und hatte schon nach wenigen Tagen seinen Spitznamen weg: der Spinner vom Festland. In seinem Spezialanzug trieb er wie eine Orange vor der Insel herum, erschreckte nicht vorgewarnte Fischer, die mit voller Kraft herbeituckerten, um einen Schiffbrüchigen zu bergen, um dann mit offenem Mund zu erleben, wie der Kerl höchst vergnügt in der See trieb und alle Hilfe ablehnte. Man sprach darüber in allen Kneipen des Unter- und Oberlands, und endlich schämte sich Jan Breuners gar, einen solchen Gast im Haus zu haben.
Dr. Faller erfuhr allerdings mehr als die Helgoländer. Er lud den »Spinner« zu einem Drink ein und war überrascht, dass sich Peter von Losskow als Nautik-Ingenieur entpuppte, als ehemaliger Leutnant der Marine, vertraut mit dem Meer wie kaum einer der Insulaner, die nur ihre Düne, die Lange Anna und allenfalls die See zwischen Helgoland und Cuxhaven kannten. Wer von ihnen war schon mit einem Segelschulschiff rund um die Welt gefahren, hatte vor Singapur geankert oder war bei Freetown in eine Schlägerei um eine wunderschöne Mulattenhure geraten? Losskow konnte eine Menge erzählen - am liebsten aber sprach er von der Idee, die jetzt sein Leben beherrschte:
Vor den großen Entdeckern und Seefahrern, wie Magellan, Cook, Vasco da Gama, Columbus oder Vespucci, mussten noch andere, unbekannte Seefahrer die fremden Meere befahren und nie gekannte Küsten betreten haben. So hatte Thor Heyerdahl mit einem primitiven Floß aus Papyrus so gut wie bewiesen, dass bereits die Ägypter Amerika erreicht und in Mexico Pyramiden gebaut hatten.
»Was wollen Sie also noch?«, fragte Dr. Faller nüchtern. »Da gibt's nichts mehr zu erforschen!«
»Man hält uns heutige Menschen für zu satt, zu verweichlicht und träge, um - sagen wir - wie Magellan Feuerland zu umfahren und dort eine neue Seestraße zu entdecken.«
»Stimmt! Wir steigen ins Flugzeug und sehen uns alles von oben an. Das ist auch einfacher und gefahrloser. Wozu im Atomzeitalter das Mittelalter beschwören?« Dr. Faller zündete sich eine Zigarre an und goss Losskow das Glas mit Grog wieder voll. »Sie haben mir erzählt, dass Sie mit einem kleinen Boot und höchstens vier Mann Besatzung ohne große technische Hilfsmittel von Hamburg aus um die Südspitze Südamerikas herum in die pazifische Inselwelt segeln wollen und von dort weiter nach Japan und China.«
»So ist es.«
»Und das nur um zu beweisen, dass dergleichen zum Beispiel auch die alten Wikinger getan haben könnten. Mein Lieber, was hat die Welt davon, wenn sie das weiß?!«
»Was hat die Welt davon, wenn jemand einen achttausend Meter hohen Berg besteigt?«
»Den Nervenkitzel eines Bildberichtes und die Gewissheit, dass es ab und zu doch noch Menschen gibt, die durch solche kleinen Abenteuer unsterblich werden. Nichts gegen Forschung, mein Lieber. Wenn Piccard in die Tiefsee tauchte, hatte das einen Grund: Wir entdecken unbekannte Welten. Oder der Flug zum Mond! Ein alter Menschheitstraum ist erfüllt, wir wissen nun, dass es keine Frau Luna gibt und der Mond sich auch nicht zum neuen Paradies eignet. Aber was Sie da machen wollen, Losskow, das ist doch für die Forschung unbedeutend!«
»Ich sehe es anders«, sagte Losskow versonnen. »Solange es Menschen gibt, werden sie vom Ungewöhnlichen fasziniert, lockt sie das scheinbar Unerreichbare, ist das große Abenteuer ihr heimlicher Wunsch. Außerdem will ich meinen unsinkbaren Anzug auf die Probe stellen.« Er sah Dr. Faller fragend an, wie ein großer Junge, der auf ein Lob wartet. »Damit leiste ich doch auch einen Beitrag zum Fortschritt! Ertrinken wird bald unmöglich sein.«
Davon war er jetzt nicht mehr so fest überzeugt. Die brüllenden Brecher, die über ihn hereinschlugen und ihn gegen den Ruderblock pressten, die Wucht der Wellen, die ihm den Atem benahm, machte ihn klein und demütig. Nein, ertrinken würde er nicht, er war wirklich wie ein unsinkbares Stückchen Nussschale - aber ob er diesen gewaltigen Anprall der Wellen überleben, ob er von ihnen nicht zermalmt werden würde?
Längst war der Mast des Bootes wie ein dünnes Hölzchen gebrochen und weggerissen worden. Als wolle das Meer ihn verhöhnen, so hatte es die vertäuten und gerefften Segel wieder aufgebläht. Wie ein Riesenvogel war der Mast im Sturm dahingeflogen, weiß und leuchtend, wie schwerelos, wie in Ekstase tanzend und über die schäumenden Wellen taumelnd, bis er in einem Wassertal verschwand. Mit weiten Augen hatte Losskow diesem Schauspiel zugesehen. Nun fühlte er sich mit seinem unsinkbaren Kunststoffboot nicht mehr als Herr der See. Jetzt wartete er nur noch darauf, dass eine dieser Riesenwellen ihn erdrückte. Nach zwei, drei Tagen würde man den treibenden weißen Bootsrumpf sichten und einen zerquetschten toten Mann aus den Gurten lösen, in einem Spezialanzug aus orangefarbenem Nylon, der ihn nie hätte ertrinken lassen. Aber er war ja auch nicht ertrunken, er war erschlagen worden von der wütenden See.
Wieder zog Losskow den Kopf tief in die Schultern. Eine Wasserwand stieg vor ihm auf, verdeckte den Himmel. Das ist es, dachte er, das ist das Ende. Diesmal wird mir der Druck die Lungen zerreißen.
Ein Sog riss ihn empor, trug ihn der Wand entgegen, ließ ihn den Wasserberg hinaufklettern, hoch oben auf dem Kamm der Riesenwelle schwebte er, sah unter sich das Meer und einen von wilden Zacken zerrissenen Horizont. Er schien zu fliegen, vom Sturm davongetragen wie der Mast mit den Segeln, und während er mit letzter Kraft die Haltestange vor sich umklammerte, nahm er noch einmal dieses Bild in seiner ganzen erschreckenden Schönheit auf und stürzte hinunter in den tosenden Schlund, während das Boot sich mit ihm drehte wie ein Kreisel. Aber noch beim Eintauchen in das kochende Meer dachte er: Ich bin unsinkbar ... Das Boot richtet sich von selbst auf ... Dann war das Meer über ihm, und die Welt ging unter.
Zwei Tage nach diesem Sturm sichtete ein Hubschrauber der Bundesmarine das kleine weiße Boot in der noch immer aufgewühlten See, 37 Meilen nördlich von Helgoland treibend. Der Seenot-Rettungskreuzer holte es ein und hakte einen besinnungslosen Mann vom Ruderblock. Er gab noch schwache Lebenszeichen von sich, war äußerlich unverletzt, aber die Unterkühlung war so stark, dass auch die sofortige Überführung mit dem Hubschrauber ins Krankenhaus von Wilhelmshaven kaum noch eine Chance zum Überleben bot.
Dr. Faller, der abends an seinem Stammtisch in einem Lokal auf dem Oberland von der Rettung erfuhr, sagte nur: »Ein Gutes hat dieser selbstmörderische Unsinn: Wenn von Losskow durchkommt, wird er seinen Plan von der Weltumseglung in die Mülltonne werfen!«
Peter von Losskow überlebte.
Man wendete, um ihn zu retten, die Methode der raschen Erwärmung an, hob ihn in ein heißes Bad und schloss, um den Wiedererwärmungskollaps auszuschalten, gleichzeitig eine langsame Infusion von 500 ml Rheomakrodex an. Als, wie erwartet, Herzflimmern auftrat, injizierte man 40 mg Dipyridamol und konnte dann nur noch warten, ob Losskow stark genug war, diese Belastung zu überstehen. Als man ihn aus der Nordsee fischte, war er um 12 Grad unterkühlt gewesen - mehr hält der menschliche Organismus nicht aus.
Es dauerte dreißig Stunden, bis Losskow voll ansprechbar war und seine Körpertemperatur sich normalisiert hatte. Er lag in einem Einzelzimmer, trank heißen Tee mit Rum, knabberte an einem Butterkeks und hörte sich an, was Professor Dehner, der Chefarzt, ihm sagte. Es klang, wie erwartet, nicht allzu liebenswürdig, ganz so, als habe Dr. Faller dem Professor seine Worte in den Mund gelegt.
»Ich weiß«, sagte Losskow, als der Arzt seine Philippika beendet hatte, »ich bin ein Spinner! Aber ich habe bewiesen, dass ich unsinkbar bin!«
»Ob einer ersäuft oder als Eisblock in den Wellen treibt - wo ist da der Unterschied, abgesehen vom äußeren Erscheinungsbild? «, polterte Dehner. »Dabei ist das Meer noch gnädig. Wenn Sie in der Südsee über Bord gehen, ist das Wasser zwar relativ warm, aber das ist keine Lebensversicherung. Ihr Spielanzug schützt Sie nicht vor Haien! Aber wem erzähle ich das! Sie kennen doch alle Meere.«
»So ziemlich.«
»Und das rettet Sie nicht vor solchen Dummheiten?«
»Darf ich Sie etwas fragen, Herr Professor?«
»Aber sicher.«
»Wie viele Patienten sind Ihnen unter den Händen gestorben? «
»Was soll das?«, fragte der Professor indigniert.
»Und trotzdem berühren Sie mit diesen Händen weiterhin Kranke und geben nicht auf, gegen die Krankheiten zu kämpfen. Mal sind die Viren, Bazillen oder was weiß ich stärker als Sie, mal sind Sie der Sieger. Hundertmal gelingt Ihrem Kollegen von der Chirurgie die Verkürzung eines Magens oder die Herausnahme einer Niere, und einmal oder zweimal geht es schief. Wirft er deswegen sein Besteck an die Wand und verkriecht sich?! Sagen Sie bitte nicht, Herr Professor, das sei etwas ganz anderes! Was ist Ihr Spezialgebiet, Herr Professor?«
»Die Pankreopathie. Also alles, was mit dem Pankreas zusammenhängt «, sagte Dehner säuerlich.
»Und mich hat das Meer eingefangen. Hat es einen Sinn, darüber zu diskutieren?«
»Mit Ihnen nicht! Mich interessiert nur, wie es weitergehen soll.«
»Mich auch!« Losskow lachte jungenhaft. »Wie lange werde ich im Bett bleiben müssen?«
»Bis Ihr gesamter Organismus sich wieder normalisiert hat. Fast möchte ich - zu Ihrem Schutz! - wünschen, dass irgendein kleiner Defekt zurückbleibt!«
»Sie sind ein geradezu gefährlicher Arzt, Professor! Nächsten Samstag flüchte ich aus Ihrer Fürsorge. Einverstanden?«
»Nur auf eigene Verantwortung!« Professor Dehner setzte sich auf die Bettkante und drückte auf die Sprechtaste des kleinen Senders, den er in der Brusttasche trug. »M-Wagen auf 18!«, sagte er. Und zu Losskow, mit einem schiefen Lächeln: »Ich gebe Ihnen eine Injektion, die Ihr Herz kräftigt und Ihnen gleichzeitig einen guten Schlaf verschafft. Und noch eins: Sie haben eine Rossnatur! Die wenigsten hätten dieses Helgoland-Abenteuer überlebt! Aber darauf brauchen Sie nicht stolz zu sein! Auch Ihre unanständige Gesundheit hält nicht ewig.«
Ein guter Journalist kann sogar das Liebesleben einer 80-jährigen Urgroßmutter verkaufen, und wenn er ein Star in seinem Beruf ist, liefert er auch noch die Fotos dazu. Man kann nicht sagen, dass Dieter Randler ein solcher Topmann war, aber er besaß immerhin etwas, was zu seinem Beruf gehörte wie zu einem Tabakmischer oder einem Parfümeur: Er besaß den richtigen Riecher. In seinem Fall: den Riecher für Sensationen oder für Situationen, aus denen man eine Sensation machen konnte.
Als man ihm erzählte, ganz beiläufig am Stammtisch, dass man Peter von Losskow bei Helgoland aus der Nordsee gefischt hatte, nachdem er frischen Mutes und voll sanfter Idiotie mitten in einen Orkan hineingesegelt war, blickte Randler einen Moment still vor sich hin und sagte sich dann: Daraus kann man etwas machen! »Der einsame Kampf Mann gegen Meer«. Mit seinem kleinen Sportwagen brauchte er knapp anderthalb Stunden bis Wilhelmshaven. Dort stieß er im Krankenhaus zunächst auf den Widerstand des Professors.
»Der Patient braucht Ruhe!«, sagte Dehner barsch. »Außerdem - was soll die Presse hier? Ist es so selten, dass jemand ins Wasser fällt und wieder rausgefischt wird?! Mein Krankenhaus ist nicht dazu da, Ihnen die Saure-Gurken-Zeit zu versüßen!«
»Ich komme als Peters Freund, nicht als Journalist. Übrigens - wäre das nicht eine gute Schlagzeile: ›Professor Dehner besiegt Unterkühlungstod‹?«
Professor Dehner hielt es für klüger, sich mit dem Journalisten nicht in eine Diskussion über wirksame Schlagzeilen einzulassen. Herrisch winkte er ab.
»Sie können sich mit Ihrem Freund unterhalten, wenn er das Krankenhaus wieder verlässt. So lange - das verspreche ich Ihnen - bleibt er unbelästigt in seinem Bett! - Habe die Ehre!«
»Ah! Sie sind Wiener?«, fragte Dieter Randler fröhlich.
Der Professor stutzte, sagte: »Raten Sie mal!«, und entfernte sich schnell. Ein Krankenpfleger mit kantigem Kinn und breiten Schultern grinste Randler an. Er hob seine imponierenden Hände und zeigte sie, als seien sie zur Versteigerung freigegebene Kunstwerke.
»Gehen wir?«, fragte er nett, wenngleich mit grollendem Unterton.
Randler sah ein: Gegen so viel Pressefeindlichkeit war nichts zu machen, auch nicht mit dem obligatorischen Geldschein. Er nickte devot und verließ die Klinik. Aber unten, in der Aufnahme, blieb er stehen und zog ein enttäuschtes Gesicht.
»Ich bin doch ausgesprochen dämlich!«, sagte er zu der verblüfften Schwester, die vor ihrer kleinen Säulen-Kartei mit den Namen der Patienten saß. »Ich komme eben von Herrn von Losskow. Peter von Losskow. Mein Schulfreund. Und merke mir die Zimmernummer nicht! Zu dämlich. Fängt so die Verkalkung an, Schwester? Wie ist die Nummer noch mal?«
Die Schwester drehte die Kartei, fand den Namen und antwortete: »Zimmer 139. Privatstation Professor Dehner. Erster Stock.«
»Stimmt!« Randler schlug sich mit der linken Hand klatschend gegen die Stirn. »Das liegt nach hinten, zum Garten hinaus!«
Die Schwester nickte zustimmend, und Randler verließ das Krankenhaus. Draußen blickte er an der Fassade empor, war mit dem Ergebnis der Musterung zufrieden und fuhr in die Innenstadt, zum Ratskeller, wo er einen Sauerbraten aß.
Peter von Losskow wachte in der Nacht davon auf, dass er auf dem kleinen Balkon vor seinem Zimmer einen patschenden Laut hörte, während ein Schatten sich gegen den lichten Nachthimmel abhob. Dann bewegte sich die Glastür, und eine Stimme flüsterte: »Halt die Schnauze, Peter, und mach nicht vor Angst ins Bett! Ich bin's! Dieter. Mein Arzt hat mir Bewegung in frischer Luft verordnet.«
Er kam ins Zimmer, schloss die Balkontür und holte sich einen Stuhl ans Bett, Losskow knipste die Notbeleuchtung an. Es war Randler, dies Grinsen war unverkennbar.
»Du musst ja wieder grenzenlos besoffen sein!«, sagte Losskow. »Gibt es hier keine andere Tür?«
»Die ist bewacht wie das Paradies! Junge, was musst du angestellt haben! Bist du Neptun begegnet? Hast du eine Meerjungfrau geschwängert?!«
»Ich habe mich entschlossen, ein Buch zu schreiben.«
»Das ist ja furchtbar! Und dazu brauchst du einen Orkan bei Helgoland?«
»Ich will beweisen, dass der heutige Mensch, den man immer verweichlicht nennt, genauso zäh und mutig sein kann wie die berühmten Seefahrer vergangener Jahrhunderte. Mit einem kleinen Segelboot, nicht mehr als Herr der Technik, sondern angewiesen allein auf die eigenen Hände und den Willen, das Meer zu besiegen, will ich die großen Entdeckerfahrten eines Cook oder Vasco da Gama nachvollziehen.«
»Wie du das aufsagst - so aus dem Schlaf gerissen! Man merkt, dass die Geisterstunde nahe ist. Also um Kap Horn willst du fahren mit deiner Nussschale, um Feuerland herum?«
»Unter anderem - ja!«
»Und dafür segelst du erst mal ins Auge eines Orkans?«
»Das war nur Training.«
»Das war so blöd, dass man's der Nachwelt erhalten sollte! Und für wann haben wir den historischen Augenblick deines Ablegens von Europens Küste zu erwarten?«
»Sobald ich das Geld dazu habe! Ich brauche nur ein Schiff nach meinen Plänen.«
»Mehr nicht?« Randler strich Losskow beruhigend über den Scheitel. »Na ja, irgendwo wird es schon ein Onkelchen geben, das sein Portemonnaie dafür öffnet. Mensch, hätte ich die Story vorher gekannt, ich wäre nicht die Wand hochgeklettert!«
Aber auch ein ausgebuffter Reporter wie Randler kann sich irren! Beiläufig erzählte er in der Redaktionskonferenz vom Hirnverfall seines Freundes Peter und musste erleben, dass der stellvertretende Chefredakteur wie elektrisiert auffuhr: »Dieter, das ist ja ein Thriller! Daraus machen wir einen Riemen! Ich stelle sechzig Zeilen frei. An die Tasten! Die hauen wir morgen ins Blatt!«
Dieter Randler gab sein Bestes, dichtete eine Story voll Dramatik und Seeluft, ein Hohelied auf modernes Heldentum, und übertitelte die ganze Geschichte:
»Junger Forscher will mit Nussschale die Weltmeere erobern.«
Professor Dehner erschien um zehn Uhr mit verschlossener Miene, legte die Zeitung auf Losskows Bett und sagte:
»Ich halte Sie nicht mehr fest. Segeln Sie nach Feuerland mit Ihrer Nussschale. Wer fest daran glaubt, dass 2 x 2 = 5 ist, den kann man nicht vom Gegenteil überzeugen.«
Losskow nahm die Zeitung, überflog den Bericht und schüttelte den Kopf.
»Von dem Artikel habe ich keine Ahnung. Die Hauptsache stimmt auch gar nicht.«
»Aber Sie kennen den Autor?«
»Ja. Dieter Randler.«
»Den kenne ich auch. Ich habe ihn aus der Klinik geworfen.«
»Das war ein Fehler, Herr Professor. In der Nacht kam er als Fassadenkletterer zu Besuch.«
Professor Dehner seufzte. »Fälle wie Sie verlege ich nächstens in die obere Etage.«
»Dann kommen die Kerle mit der Feuerleiter.«
Losskow las den Artikel langsam. Was Randler geschrieben hatte, war im Prinzip richtig, aber zur Sensation aufgebauscht. Der Professor wartete, bis Losskow zu Ende gelesen hatte.
»Bevor Sie aus meinem Schutz entlassen werden«, sagte er dann, »möchte ich gern noch eins wissen: Sie suchen also eine Crew - so heißt es doch wohl bei den Seeleuten? -, die mit Ihnen kreuz und quer über die Ozeane segelt und beweisen soll, welch ein toller Kerl Sie sind! Das Ganze nennt sich dann ein psychologisch-soziologisches Experiment. Frage: Sind wir Heutigen Weichlinge, oder können wir Columbus doch noch das Wasser reichen?«
»Nicht ganz so extrem, Herr Professor. Es geht mir darum, zu beweisen, dass zum Beispiel die Wikinger recht gut in der Lage waren, mit ihren Drachenbooten nicht nur Nordamerika zu erreichen - was ja mittlerweile bewiesen ist -, sondern auch in südliche Meere vorzustoßen. Es gibt in Schwarzafrika holzgeschnitzte Tanzmasken, die fast genau einem Wikingerhelm gleichen! Warum - so frage ich - sollten Wikingerschiffe nicht an der Küste Afrikas entlanggesegelt sein und von dort über den Ozean an die südamerikanische Küste und weiter um Feuerland herum in den Pazifik? Gewiss, es gibt keine Überlieferung, die darauf eine Antwort geben könnte. Man weiß nur, dass die Normannen vor dem unendlichen Wasser keine Angst hatten. Aber diese Frage interessiert mich, ich möchte ihr nachgehen, ich möchte diesen Weltentdeckungstraum nachvollziehen. Ich weiß, Herr Professor, dass Ihr wissenschaftliches Interesse der Lymphogranulomatose gilt, der Hodgkinschen Krankheit, obwohl es gerade in diesem Forschungsbereich einen Rückschlag nach dem anderen gibt! Aber Sie lassen nicht locker. Ich auch nicht.« Losskow tippte auf die Zeitung. »Im Übrigen stimmt es nicht: Ich suche keine Partner. Ich will allein segeln. Ohne Motor, ohne Kompass, mit nichts als ein paar Fetzen Stoff am Mast! Die Wikinger hatten auch keinen Diesel, auch keinen Kreiselkompass.« Er faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Nachttisch. »Wann brauchen Sie mein Bett?«
»Wenn ich Ihnen so zuhöre ... Bleiben Sie drin! Eine Intensivbehandlung der Nerven täte gut.« Professor Dehner hob resignierend die Schultern. »Sie können gehen, wann Sie wollen.«
»In zwei Stunden?«
»Von mir aus!«
»Ich will sofort zur Redaktion und mich mit meinem Freund Randler unterhalten. Halten Sie mal vorsichtshalber ein Bett in der Unfallstation für ihn frei!«
Als Losskow bald darauf in der Redaktion erschien, um Randler an einen Nagel in der Wand zu hängen, empfing ihn sein Freund mit ausgebreiteten Armen. So einen freundlichen, vor Freude leuchtenden Menschen konnte man nicht misshandeln.
»Ein Volltreffer, Peter!«, rief Randler enthusiastisch. »Wer hätte das gedacht! Wir sind baff! Die Großindustrie spielt mit! Es liegen Angebote von drei Lebensmittelkonzernen vor. Du bist mit eingedostem Fleisch, Nudeln in Büchsen und Dauerwurst versorgt! Dazu gibt es vitaminreiches Pressobst, Fruchtstangen, Hallo-Wach-Schokoladen, Nervennahrung und Muskelstraffer! Falls du dich am Südpol verirren solltest - keine Angst! Angebot Nummer sechs: Schlafsäcke mit einer neuen Füllung und Batterieheizung, mit denen du auf einem Eisberg übernachten kannst. Dazu Stiefel mit neuartiger Gummisohle. Die haftet überall, wie ein Magnet. Du kannst praktisch nie umfallen! Herz, was willst du mehr?! Sogar dein Boot hast du in der Tasche beziehungsweise auf dem Wasser.«
»Dieter!« Losskow musste sich setzen. »Das ist ja kaum glaubhaft. «
»Du kannst die Angebote selbst lesen. Sie werden im Augenblick noch für einen neuen Artikel ausgewertet. Wenn der morgen erscheint, werden auch die anderen munter. Es ist doch undenkbar, dass die Schokoladenfabrik ›Süßer Feierabend‹ dir die Bordverpflegung stiftet, und die Konkurrenz ›Alpenglühen‹ lässt sich den Werbegag entgehen. Peter, das gibt in den nächsten Tagen einen warmen Regen von Spenden! Ach ja, das Boot, ein Waschmittelkonzern will es übernehmen. Einzige Bedingung: Du musst es mit dem Namen des neuen Alltemperatur- Waschmittels verzieren. Links und rechts an der Bordwand, gut lesbar: ›Sternenklar‹.«
»Nie!«, sagte Losskow laut.
»Der Name ist Gold wert! ›Sternenklar‹ als Bootsname - das prägt sich ein! Die gesamte Takelage übernimmt eine Tochterfirma des Konzerns, die Scheuermittel herstellt. Auf den Segeln braucht nur zu stehen: Rund um die Welt - mit Blitz im Haus!«
»Und dafür soll ich dir um den Hals fallen?«, maulte Losskow. »Ihr habt aus meiner Idee einen Jahrmarktsrummel gemacht! Nichts gibt es! Ich brauche nichts zu überstürzen. Ich verschiebe die Expedition auf unbestimmte Zeit.«
»Das ist nicht mehr möglich!« Randler zog sich aus der Reichweite seines Freundes zurück. »Das Ding ist bereits so angekurbelt, dass du's nicht mehr bremsen kannst! Wir haben klar geschrieben: Es fehlen zu der Realisierung dieser großen Tat, wahrhaft einem Jahrhundert-Unternehmen ...«
»Schon das ist völliger Blödsinn!«
»Aber der Leser geht mit, Peter! Der Leser ist jetzt voll auf deiner Seite. Er leidet mit dir, er segelt mit dir, er hungert mit dir, er hängt mit dir seinen Hintern über die Bordwand und lässt ihn von den Wellen abwischen. Junge, du weißt ja gar nicht, was so viel Popularität bedeutet! Sie verpflichtet! Sie nagelt dich fest! Du gehörst nicht mehr dir allein, du bist Allgemeingut! Da gibt es kein Kneifen mehr, das wäre dein Ruin. Nichts wird weniger verziehen, als wenn ein Idiot plötzlich wieder normal wird! Du kannst jetzt nicht mehr aussteigen, Peter! Ab morgen heizen wir das Thema Feuerland an, dass jeder sich daran die Hände wärmt.«
»Feuerland ist doch nur ein Punkt des ganzen Projektes, und nicht einmal ein markanter!«
»Aber er macht sich gut! Er verkauft sich wie Honigbrot! Feuer land ... Da spielt die Fantasie doch gleich auf allen Tasten! Das klingt nach Abenteuer, nach neuer Welt, nach Gefahr, nach Heldentum. Feuerland! Welch ein Wort! ›Der Mann, der Feuerland besiegte!‹ Junge, das klingt hundertmal besser als: ›Der Mann, der einen Krieg gewann!‹« Randler war nicht mehr zu bremsen. Mit fassungslosem Staunen sah Losskow, wie seine Idee, sein ganz persönliches Eigentum, nun weltweit vermarktet wurde. Randler hatte recht: Es gab, wollte man keinen Skandal riskieren, kein Zurück mehr. Wenn Losskow jetzt ablehnen würde, was man ihm anbot, würden alle sagen: Er kneift. Er ist ein Feigling! Welcher Mann will das von sich sagen lassen?
»Ich möchte die Angebote sehen!«, sagte er. »Im Übrigen könnte ich euch verklagen. Dann müsstet ihr öffentlich zugeben, dass alles falsch war, was ihr geschrieben habt.«
»Na und? Das bringen wir auf der letzten Seite links unten in der Ecke und darüber eine rot unterstrichene Doppelzeile: ›Der Superbusen von Los Angeles. 127 cm Umfang und frei schwebend!‹ - Wer kümmert sich dann noch um deine Berichtigung? Peter, Junge, sei kein Moralist! Alles, was du brauchst für deine große Idee, wird dir vor die Tür gelegt! Was willst du mehr?! Einfacher geht's doch nicht! Mit eigener Kraft schaffst du es nie! Himmel noch mal, nenn dein Boot ›Sternenklar‹ und papp auf die Segel die Schrift von ›Blitz im Haus‹. Die Haupt sache ist doch, dass du dich deinen Forschungen widmen kannst. Alle großen Männer haben ihre Mäzene gehabt: Wagner seinen Bayern könig, Haydn seinen Esterhazy, Goya seinen Alba, Michelangelo seinen Medici. Und Peter von Losskow segelt mit einem Vollwaschmittel, was soll's? Der Erfolg ist maßgebend. Und das Fundament liefern wir!«
Losskow sah ein, dass es sinnlos war, anderer Meinung zu sein. Er stand auf, kippte den Whisky herunter, den ihm Randler eingeschüttet hatte, und sagte: »Wenn was ist, ich bin zu Hause. Du weißt ja, wo ich wohne.«
Dann ging er, in der leisen Hoffnung, dass sich die Dinge nicht so vehement entwickeln würden, wie es Randler in seinem Enthusiasmus prophezeit hatte. Das alles ist nur eine Tagessensation, dachte Losskow. Übermorgen spricht keiner mehr davon. Wen interessiert dann noch das Fernweh der Wikinger? Und Feuerland? Das liegt viel zu weit weg, unten an der Spitze Südamerikas, das Ende eines Kontinents. Wer kümmert sich um Feuerland? Kein Mensch! Er irrte sich.
Eine ganze Woche lang lebte die viel gelesene Seite 3 der Zeitung von der ›Peter-von-Losskow-Story‹. Dieter Randler übertraf sich selbst. Was er im Zusammenhang mit Feuerland erfand, nahm sich zwar zunächst wie eine grandiose journalistische Leistung aus, war aber in Wahrheit eine kaum noch zu überbietende Frechheit dem Leser gegenüber. Nach Randlers Feuerland- Bericht musste diese einsame Felsengegend am Südzipfel Südamerikas das gefährlichste aller immer noch nicht restlos erforschten Gebiete dieser Erde sein. Er schämte sich nicht einmal, zu behaupten, Seefahrer hätten vom Meer aus beobachtet, dass in riesigen Felshöhlen noch Tiere lebten, die man nur aus Rekonstruktionen der vorzeitlichen Fauna kannte. »Gibt es noch Drachen?«, fragte Randler kühn und antwortete ebenso keck: »Auch dieses Rätsel will Peter von Losskow lösen!« In den Text war ein Bild eingeschlossen, eine Fotomontage: im Hintergrund Feuerland, im Vordergrund das wild bewegte Meer. Darüber die Illustration zu einer alten Sage: ein riesiger fliegender Drache. Es wirkte ungemein überzeugend.
Nach einer Woche kam Randler zu Besuch. Er schleppte einen Koffer mit, schüttete den Inhalt aufs Sofa und setzte sich zufrieden in einen der tiefen Ledersessel.
»Nun lob mich mal, Junge!«, sagte er fröhlich. »Alles Briefe! Leserpost. Angebote. Kommentare. Zusagen. Anfragen.«
»Auch von einer Nervenheilanstalt?«, fragte Losskow sauer.
»Noch nicht. Die kommt später, wenn wir schreiben müssten: Losskow kneift!« Randler zeigte auf den Haufen Briefe.
»Was da liegt, reicht für hundert Romane! Das hat sogar mich in strammer Haltung vom Stuhl gehauen. Wühl dich durch die Briefe, Peter! Sogar der Entwurf eines neuen Schlagers ist dabei: ›In Feuerland, in Feuerland, wo Liebe heiß wie Feuer brannt' ...‹«
»Raus!«, sagte Losskow dumpf. »Sofort raus! Mitsamt deinem Koffer! Weißt du, dass ich freigesprochen werde, wenn ich dich jetzt erwürge?«
»Begnüge dich damit, mir einen Wodka zu bringen! Mit Bitter Lemon.«
»Ich mische Rattengift darunter.«
»O Freund, das hab ich nicht um dich verdient! Ich habe für deine Popularität geschuftet wie ein orientalischer Brunnen- ochse. Du brauchst jetzt nur noch zuzusagen, und das Abenteuer Feuerland kann beginnen! Übrigens ist auch ein Brief von einem 92-jährigen Mann dabei, der einen solchen Drachen wie auf unserem Feuerlandbild vor vierunddreißig Jahren in den Anden gesehen haben will. Toll, was? Das bringen wir natürlich. ›Augenzeuge warnt Peter von Losskow: Die Feuerland-Drachen haben einen schwefeligen Atem.‹ - Ich bin ganz happy.«
»Ich finde schon noch jemand, der dich erschlägt!« Losskow brachte den Wodka und die Lemon-Flasche. »Übrigens hat mich der Waschmittelkonzern angerufen. Ich bekomme mein Boot!«
»Halleluja!«
»Und zwar ohne die Verpflichtung, es ›Sternenklar‹ zu nennen! «
»Gratuliere. Und wie soll es nun heißen?«, fragte Randler ahnungsvoll.
»Völlig neutral! ›Seelord‹!«
»Hab ich mir's doch gedacht. Die Jungs von der Werbung sind Genies! Da kommt in vier Wochen ein neuer Artikel auf den Markt: ›Seelord - die Wäschestärke, die selbst dem Ozean trotzt!‹ Gratuliere, Peter!«
Das war Grund genug für Losskow, sich an der Leerung der Wodkaflasche zu beteiligen.
Fast zwei Tage brauchte Losskow, um die Post zu lesen und so zu sortieren, dass er einen Überblick bekam. Er hatte die Briefe in vier Gruppen eingeteilt: Nummer eins: die Neutralen. Sie schrieben lediglich, um ihre Meinung zu dem Vorhaben kundzutun, Ratschläge zu geben und zu kommentieren. Nummer zwei: Das waren die Werbeempfehlungen, vom dauerelastischen Hosenträger bis zur Zahnbürste mit Sonnenenergie-Batterie, vom wasserdichten UKW-Radio bis zur wasserabweisenden Unterwäsche. Nummer drei: die kleine, aber feine Gruppe der Industrie-Unternehmen, die das Vorhaben durch Spenden unterstützen wollten und detaillierte Angebote unterbreiteten, und schließlich die Gruppe vier: die Bewerber, die sich anheischig machten, mit Peter von Losskow die Meere zu erobern.
Als Dieter Randler diese Briefe las, schnaufte er vor Begeisterung. Neunundsechzig Frauen und Männer hatten geschrieben, die nach eigenen Aussagen nichts auf dieser Welt fürchteten.
Ein ehemaliger Fremdenlegionär, zur Zeit Fremdenführer in einer mittelalterlichen deutschen Kleinstadt, wo er dreimal wöchentlich auch den Schlossgeist spielen musste, legte als »Referenzen« drei Fotos bei, die ihn in einem Jeep zeigten, dessen Kühler mit einem echten Totenkopf und zwei gekreuzten gebleichten Oberarmknochen verziert war (Unterschrift: Die schöne Zeit im Kongo), und einen vergilbten Zeitungsausschnitt mit der Schlagzeile: »Wer ist der geheimnisvolle Söldner- Hauptmann im Süden?« »Ich!«, schrieb der Bewerber. »Auf mich können Sie sich verlassen in jeder Situation. Ich bin ein Kumpel von der alten, aussterbenden Sorte. Ich haue Sie raus, wo immer Sie sind. Angst kenne ich nicht. Wo andere in die Hosen machen, werde ich erst munter! Ich kann sofort zu Ihnen kommen. Mein Vertrag als Schlossgespenst ist täglich kündbar.«
Ein Finanzmakler schrieb nüchtern, klar, prägnant, wie es sich für einen Mann gehört, der mit Geld jongliert. »Mein Vorschlag: Wir werden eine unbewohnte Insel in Besitz nehmen, dort einen eigenen Staat gründen, eine Verfassung ausarbeiten, Steuerfreiheit garantieren und damit große Kapitalien in unser Land locken. Allein von den Verwaltungsgebühren für dieses Kapital können wir für uns enorme Beträge abzweigen.«
Es folgten lange Berechnungen, imponierende Zahlenkolonnen, der Vorschlag zur Gründung einer Radiostation mit Werbefunk, der Entwurf eigener Briefmarken sowie einer Landesflagge. Es war imponierend.
Ein Fleischermeister schrieb: »Ganz davon abgesehen, dass ich ein guter Koch bin und auch aus einem Dosengericht noch eine abwechslungsreiche Mahlzeit mache, bin ich ein Kerl von 1,90 m Größe, habe Muskeln wie ein Stier, kann mit einem Faustschlag einer Kuh die Hirnschale zertrümmern und bin garantiert seefest. War einmal Fleischer auf einem Ferienkreuzer. Trotzdem betrügt mich meine Frau mit einem winzigen, mickrigen Italiener, der ins Straucheln kommt, wenn ich nur einatme. Verstehen Sie das? Ich nicht! Wie kann man eine Mücke lieben, wenn man einen Adler hat?! Das alles deprimiert mich. Ich möchte mit Ihnen nach Feuerland und Drachen jagen! Vielleicht sind sie essbar, und wir können eine Fleischexportfirma gründen. Warum nicht? Wenn man Schnecken, Froschschenkel, geröstete Ameisen und was weiß ich noch alles isst, warum nicht auch ein feuerländisches Drachensteak?! Herr von Losskow, ich bin Ihr Mann! Wenn Sie JA zu mir sagen, komme ich sofort!«
Aber dann waren da noch die ernsten Anfragen, und sie las Losskow mit besonderem Interesse. Er hatte nie vorgehabt, andere Menschen in dieses Abenteuer hineinzuziehen, aber je mehr er darüber nachdachte, umso weniger abwegig erschien es ihm, mit einer kleinen, aber ausgewählten Mannschaft das Experiment zu wagen. Vor allem war dann eine Gefahr gebannt, die der Seefahrer am meisten fürchtet: die Einsamkeit, das Gefühl grenzenloser Verlassenheit, die Macht der Stille.
Nach zwei Tagen hatte Losskow drei Briefe aussortiert, ohne sich bereits zu einer Antwort durchgerungen zu haben. Es handelte sich um junge Wissenschaftler, die wirklich nur wegen der möglichen Forschungsergebnisse, soweit sie sich aus der Zeitung davon ein Bild machen konnten, an ihn geschrieben hatten. Kritische Briefe, die eine ernsthafte Antwort verdienten.
Die Schwedin Helena Sydgriff stellte sich als Medizinstudentin vor. Sie interessierte ein eher psychologisches Thema: Wie verhalten sich Menschen, die monatelang auf engstem Raum, auf Gedeih und Verderb verbunden, auch in den kritischsten Situationen miteinander auskommen müssen?
Darüber lohnte es sich wirklich nachzudenken.
Der Tscheche Jan Trosky, dreißig Jahre alt, Assistent im Institut für Klimatologie, stellte die Frage, ob bestimmte Meeresströmungen sich verändern und damit auch einen großen Einfluss auf das Wetter gewinnen könnten, das ja in den letzten Jahren aus den Fugen geraten sei. Das Meer als großes Klimabecken: Das war klar. Aber nach wie vor blieb das Meer noch eine längst nicht hinlänglich erforschte Unbekannte. Trosky führte das Bermuda- Dreieck an.
Peter von Losskow entschloss sich, auch ihm zu antworten.
Und da war die Italienerin Lucrezia Panarotti, Studentin der Meeresbiologie, die ein Bild beigelegt hatte. Ein zierliches, bildhübsches Persönchen in einem Bikini. Ihr langes schwarzes Haar wehte im Wind. Ihre Frage: Was wissen wir über die meeresbiologischen Probleme von Feuerland? Nichts! Warum? Weil es offenbar bisher keinen interessiert hat. Dabei kann - theoretisch - gerade vor Feuerland das Meer Aufschlüsse darüber geben, wie ein Meer in biologischer Hinsicht sein sollte - und was wir aus den anderen Meeren gemacht haben ...
»Wenn das deine Mannschaft wird, mein Junge«, sagte Randler, als Losskow die drei Briefe aussortiert hatte, »nimmst du sicher ausgezeichnete Fachleute an Bord. Und was mich als Journalisten betrifft: Zwei schöne Frauen, zwei kräftige Männer für Monate auf einem Segelboot - natürlich gibt das eine tolle Story! Aber dir ist doch wohl klar, dass du mit Helena und Lucrezia zwei Superbomben auf die Reise nimmst?«
»Ich will sie erst sehen und sprechen«, sagte Losskow nachdenklich. »Noch sind sie nicht an Bord! Ich hab ja noch nicht mal ein Schiff! Noch ist alles nur Wunschdenken. Aber wenn ich mit einer Crew segele, dann drück ich mich auch um die Frage von Helena Sydgriff nicht herum: Wie benimmt sich ein Mensch unter anderen Menschen, wenn er in einer Nussschale lebt, wenn um ihn herum nur Wasser ist, wenn er die anderen wochenlang ertragen muss? Wie gesagt, es ist nur eine Vorauswahl. «
Am nächsten Tag schrieb Losskow drei Briefe und schlug ein Treffen in Hamburg vor.
Ohne es zu ahnen, hatte er damit Schicksal gespielt und sein Leben verändert.
Sie wollten sich in der Halle des Hotels »Vier Jahreszeiten« treffen und dann das Gespräch in der Bar beginnen. Von Helena Sydgriff war Peter von Losskow angerufen worden, nachdem sie seinen Brief erhalten hatte. Ihre Stimme war angenehm, warm und weich, und ihr Deutsch hatte den lustigen Akzent der Nordländer. Trosky und Lucrezia Panarotti schrieben sofort per Einschreiben und Eilboten zurück, freuten sich riesig auf das Kennenlernen und legten beide noch einmal ein Foto neuesten Datums bei. Dieter Randler schnalzte mit der Zunge, als er Lucrezia betrachtete, bis Losskow ihm wütend das Foto abnahm.
»Dieser Jan Trosky hat's in sich!«, sagte Randler. »Augen, die Löcher brennen können. Und Muskeln wie ein Ringer! Dem klaut keiner die Wurst vom Brot!«
»Genau das brauche ich!« Losskow steckte die Briefe wieder ein. »Auf dieser Fahrt wird uns nichts erspart bleiben.«
»Und die süße Maus Lucrezia? Ob die auch das gewünschte Durchstehvermögen hat?« Randler blickte an die Decke. Dort hing ein Modell der »Santa Maria«, des Flagschiffs von Columbus, auf dem er den Seeweg nach Indien erzwingen wollte. »Zäh wird sie sein, das sieht man ihr an. Die strampelt noch im Bett, wenn du längst keinen Muckser mehr tust.«
Mit Randler war ernsthaft kaum zu reden. Losskow warf ihn aus der Wohnung und machte sich darauf gefasst, dass morgen ein neuer Artikel in der Zeitung stehen würde: »Die Yacht der tollen Frauen«. Aber Randler blieb erstaunlicherweise friedlich: Er berichtete lediglich, dass immer noch von vielen Firmen Unterstützungsangebote bei der Redaktion einliefen.
Kurz nach sechzehn Uhr betrat Losskow das Hotel »Vier Jahreszeiten«. Als Erkennungszeichen hatte er ausgemacht: hellbraune Hose, Blazer aus dunklem Kamelhaar. Auf dem linken Revers ein geblähtes Segel aus blau-weißer Emaille.
Er hatte kaum die Halle betreten, als drei Gäste - ein Mann und zwei Frauen - aus ihren Sesseln aufsprangen und ihm entgegenkamen. Erstaunt sahen sie sich an, als sie merkten, dass sie dasselbe Ziel hatten. Losskow lächelte und breitete die Arme zur Begrüßung aus.
»Jawohl, ich bin's! Ich freue mich, dass Sie gekommen sind. Sie sehen genauso aus, wie ich's mir vorgestellt habe.«
Helena Sydgriff war groß, schlank, blond, mit kritischen Augen , ein sportlicher Typ, vielleicht eine ausgezeichnete Tennisspielerin. Sie reichte Losskow die Hand, ihr Händedruck war fest, gleichsam kompromisslos.
Sie hatte sich entschieden - das lässt sich auch mit einem Händedruck sagen.
Ganz anders Lucrezia Panarotti. Sie schwebte heran auf den steilsten Absätzen, die Losskow je gesehen hatte. Sie hatte aufregende lange schlanke Beine, schmale Hüften, einen biegsamen Körper mit unübersehbaren Brüsten, um die sich das Kleid aufreizend spannte. Eine Mähne aus schwarzen Haaren umwehte sie so raffiniert unbändig, wie es nur ein teurer Friseur zustande bringt. Keinen Augenblick zögerte sie, Losskow zu umarmen, ihn aus nächster Nähe mit ihrem exotischen Parfüm bekannt zu machen und ihn in ihre schwarzen, leuchtenden Augen blicken zu lassen. Ihr Mund öffnete sich wie eine Blüte, aber sie küsste ihn nicht, sie sagte nur, ganz nahe an seinem Gesicht:
»Sie sind enttäuscht von mir, nicht wahr? Aber Sie irren sich - ich kann zwar keine rohe Kartoffel in der Faust zerquetschen wie Ihr Kollege im ›Totenschiff‹ von Traven, aber dafür kann ich in Rekordzeit den Spinnaker einholen. Und in der Pflicht stehe ich meinen Mann!«
»Wir werden sehen, Lucrezia«, sagte Losskow. »Heute beschnuppern wir uns bloß. Bis wir eine Mannschaft sind, vergeht noch viel Zeit. Da gibt's noch manche harte Prüfung zu bestehen.«
»Sie ahnen nicht, wie zäh ich bin!«, lachte sie, und Losskow musste an Randler denken.
Jan Trosky, breitschultrig, auf säulenstarken Beinen, hatte ein wenig zu lange Arme. Die Haare fielen ihm fast schulterlang herab und waren an den Enden sogar gelockt. Losskow hatte ihn sich größer vorgestellt, aber die außerordentliche Stärke dieses Mannes war unverkennbar. Seine Augen musterten Losskow kritisch und abwartend; es war ihnen anzusehen, dass er Lucrezias bühnenreifen Überfall missbilligte.
»Ich bin gern gekommen«, sagte er mit dunkler Stimme. »Was Sie da vorhaben, kann ein großer Wurf werden. Mit den richtigen Leuten.«
Das war auf Lucrezia gezielt. Sie schien es nicht zu merken oder überhörte es auch. Doch Helena zog die Brauen hoch und schob die Unterlippe vor.
Losskow gab sich alle Mühe, die ersten Minuten zu überbrücken.
»Ehe wir an die Bar gehen, um uns ein wenig besser kennenzulernen, sollten wir uns über eine Grunderkenntnis einig sein: Wir alle sind Leute, die sich einen großen Traum erfüllen wollen! «
»Bravo!« Jan Trosky klopfte Losskow auf die Schulter.
»Ich bin Jan Trosky!«
»Ich heiße Helena Sydgriff.«
»Ich bin Lucrezia Panarotti.« Die schwarze Mähne wirbelte um ihren schmalen Römerkopf. »Papa nannte mich Luzi. Er starb vor zwei Jahren.«
»Vergiftet?«, fragte Trosky. Die Panarotti starrte ihn entgeistert an.
»Er stürzte bei einer Klettertour in den Abruzzen ab. Wieso vergiftet ...?«
»Ich dachte nur. Der Name Lucrezia verpflichtet. Lucrezia Borgia war da nicht zimperlich.«
»Sehr witzig!«
»Ist es wichtig, dass wir unsere Kosenamen nennen?«, fragte Helena Sydgriff deutlich aggressiv. »Sie heißen also Luzi. Mein Vater nannte mich Blondie. Und Sie, Trosky?«
»Stinker. - Pardon, ich kann mit süßeren Namen nicht aufwarten. Mein Vater war ein humorloser Mann. Was blieb ihm anderes übrig - er war der 1. Wärter des städtischen Klär beckens.«
Losskow blinzelte ihm zu, aber Trosky erwiderte es nicht. Erst jetzt merkte Losskow, dass Trosky keinen dummen Witz gemacht hatte.
»Blondie, Luzi und Stinker«, sagte Lucrezia und bog sich in den Hüften. »Nur unser künftiger Herr und Meister schweigt.«
»Statt Peter wurde ich Peer gerufen.« Losskow hob wie bedauernd die Schultern. »Mein Vater hatte einen Nordlandtick! Die Losskows - so hatte er nachgeforscht - waren mit einem normannischen König verwandt. Losokau - oder so ähnlich. In grauer Vorzeit.«
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Autoren-Porträt von Heinz G. Konsalik
Heinz G. Konsalik, 1921 in Köln geboren, begann schon früh zu schreiben. Der Durchbruch kam 1958 mit der Veröffentlichung des Romans Der Arzt von Stalingrad. Er wurde einer der erfolgreichsten Autoren der Gegenwart und hat weit mehr als hundert Bücher geschrieben. Alle Romane Konsaliks wurden Bestseller, in viele Sprachen übersetzt und einige davon auch verfilmt. Die Weltauflage beträgt über 80 Millionen Exemplare. Heinz G. Konsalik verstarb im Herbst 1999.
Bibliographische Angaben
- Autor: Heinz G. Konsalik
- 2011, 1, 256 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868008713
- ISBN-13: 9783868008715
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