Die fernen Stunden
Ein geheimnisvoller Brief, ein verfallenes Schloss, eine unerfüllte Liebe
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Ein geheimnisvoller Brief, ein verfallenes Schloss, eine unerfüllte Liebe
Es beginnt mit einem verloren geglaubten Brief. Ein halbes Jahrhundert hat er darauf gewartet, gelesen zu werden. Die Suche nach dem Absender führt die junge Edie nach Milderhurst Castle, wo seit Jahrzehnten die exzentrischen Blythe-Schwestern leben. Als Edie das verfallene Schloss betritt, beginnt sie zu ahnen, dass hinter den alten Mauern der Schlüssel zur rätselhaften Vergangenheit ihrer Mutter liegt.
London 1939: Als die ersten Bomben auf die Stadt fallen, befindet sich die zwölfjährige Meredith mit einer Gruppe evakuierter Kinder auf dem Weg nach Kent, wo sie Zuflucht bei einer fremden Familie findet. Staunend und eingeschüchtert zieht sie auf das herrschaftliche Milderhurt Castle, wo die siebzehnjährige Juniper mit ihren Zwillingsschwestern und ihrem Vater, dem bekannten Schriftsteller Raymond Blythe, lebt. Sie taucht ein in eine Welt der Geschichten und der Fantasie - bis etwas geschieht, das das Leben des Mädchens für immer verändert. Nie ist sie nach Milderhurst zurückgekehrt, doch das Auftauchen eines lange verschollenen Postsacks führt ihre Tochter Edie auf die Spur einer geheimnisvollen Vergangenheit.
Innerhalb der düsteren Gemäuer kommt mehr ans Licht, als Edie sich je hätte vorstellen können. Damals geriet auch die Welt der jungen Juniper Blythe aus den Angeln, doch vielleicht ist es noch nicht zu spät, Vergangenheit und Gegenwart miteinander zu versöhnen.
Wieder erschafft Kate Morton eine Welt voller Zauber und Geheimnisse, die einen bis zur letzten Seite fesselt.
"Seitenweise Spannung. Die Australierin schreibt einen Superschmöker nach dem anderen. (...). (...) und wieder kann man sich der eindringlichen Atmosphäre ihrer Geschichte nicht entziehen." -- Freundin
"Unfassbar spannend!" -- Für Sie
Schsch! Hörst du ihn?
Die Bäume hören ihn. Sie wissen als Erste, dass er kommt.
Horch! Im tiefen, dunklen Wald erzittern die Bäume, ihre
Blätter rascheln wie Silberfolie, ein verstohlener Wind geistert
und schlängelt sich glitzernd durch ihre Kronen und flüstert,
dass es bald anfangen wird.
Die Bäume wissen es, denn sie sind alt und haben es schon
vielmals erlebt.
Es ist Neumond.
Es ist Neumond, wenn der Modermann kommt. Die Nacht
hat sich weiche Lederhandschuhe übergezogen und ein schwar-
zes Laken über dem Land ausgebreitet, eine List, eine Verklei-
dung, ein Bann, damit alles in süßem Schlaf schlummert.
Undurchdringliches Dunkel. Doch auch die Dunkelheit hat
ihre Nuancen, ihre Konturen. Schau: Der dichte Wald ist ein
rauer Pelz, die Felder sind eine Flickendecke, das Wasser im
Schlossgraben glänzt wie Sirup.
Und dennoch. Wenn du nicht ganz großes Pech hast, siehst
du nicht, dass sich etwas bewegt hat, dort, wo sich nichts regen
dürfte. Und du kannst dich glücklich schätzen, denn niemand,
der gesehen hat, wie der Modermann sich erhebt, lebt lange ge-
nug, um später davon zu berichten.
Da - siehst du? Der stille, schwarze Schlossgraben, der
schlammige Schlossgraben liegt nicht mehr spiegelglatt da.
Eine Blase hat sich gebildet, wo er am breitesten ist, eine große
Blase, ein leichtes Kräuseln rundherum, eine Ahnung ...
Aber du hast dich abgewendet! Und das war klug. Ein sol-
cher Anblick ist nichts für deinesgleichen. Wenden wir unsere
Aufmerksamkeit lieber dem Schloss zu, denn auch dort regt
sich etwas.
Hoch oben im Turm.
Schau hin, und du wirst es sehen.
Ein kleines Mädchen schlägt seine Decke zurück.
Man hat es Stunden zuvor zu Bett gebracht; im Nebenzim-
mer schnarcht seine Kinderfrau leise,
lien und hohen Gläsern mit warmer, frischer Milch. Aber ir-
gendetwas hat das Mädchen geweckt. Vorsichtig setzt es sich
auf, rutscht über das saubere weiße Laken, stellt die blassen,
schmalen Füße auf den Holzboden.
Kein Mond steht am Himmel, den es anschauen oder der
ihm Licht spenden könnte, und doch fühlt es sich zum Fenster
hingezogen. Das blasige Glas ist kalt; das Mädchen spürt das
Flirren der eiskalten Nachtluft, als es auf das halbhohe Bücher-
regal mit den ausrangierten Kinderbüchern klettert, den Op-
fern seiner Ungeduld, erwachsen und flügge zu werden. Es
zieht das Nachthemd über die blassen Beine und legt das Kinn
in die Mulde, die sich zwischen den Knien bildet.
Die Welt ist da draußen, Menschen bewegen sich darin wie
Aufziehpuppen.
Das alles will es sich demnächst mit eigenen Augen ansehen.
Zwar sind alle Türen in diesem Schloss mit schweren Schlös-
sern und die Fenster mit Riegeln versehen, aber sie dienen
dazu, den dort draußen nicht hereinzulassen, nicht dazu, das
Mädchen festzuhalten.
Der dort draußen.
Das Mädchen hat Geschichten über ihn gehört. Er ist eine
Geschichte. Er ist eine alte Legende, und die Riegel und Schlös-
ser sind Überreste einer Zeit, als die Menschen noch an solche
Dinge glaubten. An Gerüchte über Ungeheuer in Schlossgrä-
ben, die auf der Lauer lagen, um Jagd auf schöne Jungfrauen zu
machen. Über einen Mann, dem vor langer Zeit ein Unrecht
getan wurde und der immer und immer wieder auf Rache sinnt.
Aber das kleine Mädchen - es würde finster dreinblicken,
wenn es wüsste, dass man es so bezeichnet - fürchtet sich nicht
mehr vor den Ungeheuern und Märchen seiner Kindheit. Es ist
unruhig. Es ist ein Kind der modernen Zeit und es ist auch
nicht mehr klein und es will endlich fort. Dieses Fenster, diese
Burg können ihm nichts mehr bieten, aber vorerst muss es sich
damit begnügen, und so schaut es niedergeschlagen hinaus.
Da draußen, in der Ferne, im Tal zwischen den Hügeln,
sinkt das Dorf in den Schlaf. Ein dumpf rumpelnder Zug, der
letzte an diesem Abend, kündigt seine Ankunft an: ein einsa-
mer Ruf, der unbeantwortet bleibt. Der Bahnhofswärter mit
Schirmmütze stolpert heraus, um die Kelle zu heben. Im nahe
gelegenen Wald begutachtet ein Wilderer seine frisch erlegte
Beute und träumt davon, nach Hause ins Bett zu kommen,
während am Dorfrand, in einer Hütte, wo die Farbe von den
Wänden abblättert, ein Neugeborenes weint.
Vollkommen gewöhnliche Vorkommnisse in einer Welt, wo
alles einen Sinn ergibt. Wo man Dinge sieht, wenn sie da sind,
und Dinge, die nicht da sind, allenfalls vermisst. Eine ganz an-
dere Welt als die, in der das Mädchen erwacht ist.
Denn dort unten, ganz nahe bei dem Mädchen, das seinen
Blick in die Ferne schweifen lässt, geschieht etwas.
Der Graben hat angefangen zu atmen. Tief, tief unten im
Schlamm schlägt das nasse Herz des begrabenen Mannes. Ein
leises Geräusch wie das Stöhnen des Windes steigt aus den Tie-
fen auf und vibriert dicht über der Oberfläche. Das Mädchen
hört es, nein, es spürt es, denn die Fundamente des Schlosses
sind eins mit dem Schlamm, und das Stöhnen dringt durch die
Steine, die Mauern empor, Stockwerk für Stockwerk und un-
merklich durch das Bücherregal, auf dem es sitzt. Ein einst heiß
geliebtes Buch fällt um, und das Mädchen im Turm erschrickt.
Der Modermann öffnet ein Auge. Verschlagen blickt es hin
und her. Denkt er in diesem Augenblick an seine verlorene Fa-
milie? An die hübsche, zierliche Frau und die beiden kleinen,
wohlgenährten Kinder, die er zurückgelassen hat? Oder gehen
seine Gedanken noch weiter zurück, zu den Tagen seiner Kind-
heit, als er mit seinem Bruder über die Wiesen, durch das hohe
Gras lief? Oder denkt er vielleicht an die andere Frau, die ihn
vor seinem Tod liebte? An ihre Schmeicheleien und Aufmerk-
samkeiten, an ihre Weigerung, seine Weigerung hinzunehmen,
was den Modermann am Ende alles gekostet hat ...
Etwas verändert sich. Das Mädchen spürt es und fröstelt. Legt
eine Hand an die eisige Fensterscheibe, wo sie auf dem feuch-
ten Film einen sternförmigen Abdruck hinterlässt. Die Geister-
stunde ist angebrochen, auch wenn das Mädchen nicht weiß,
dass man sie so nennt. Jetzt ist niemand mehr da, der ihm hel-
fen kann. Der Zug ist fort, der Wilddieb kuschelt sich an seine
Frau, und selbst das Neugeborene schläft und hat es aufgege-
ben, der Welt mitzuteilen, was es weiß.
Im Schloss ist nur das Mädchen am Fenster wach. Die Kin-
derfrau hat aufgehört zu schnarchen, und sie atmet so leicht,
dass man meinen könnte, sie sei erfroren. Auch die Vögel im
Wald sind still, sie haben die Köpfchen unter die zitternden
Flügel gesteckt und die Augen zu dünnen, grauen Linien ge-
schlossen, um nicht sehen zu müssen, was sich da nähert.
Nur das Mädchen ist wach. Und der Mann, der im Schlamm
erwacht ist. Sein Herz pumpt jetzt schneller, denn seine Zeit ist
gekommen, und sie ist kurz bemessen. Er bewegt seine Hand-
und Fußgelenke und steigt aus seinem schlammigen Bett.
Sieh nicht hin. In Gottes Namen, schau dir nicht an, wie er
durch die Oberfläche bricht, wie er aus dem Graben steigt, wie
er sich auf dem schwarzen, nassen Ufer aufrichtet, die Arme
streckt und Luft holt. Wie er sich erinnert, wie es sich anfühlt
zu atmen, zu lieben, zu leiden.
© Kate Morton 2010
© by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
- Autor: Kate Morton
- 2010, 2, 719 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Gebunden, Deutsch
- Übersetzung: Breuer, Charlotte
- Übersetzer: Charlotte Breuer, Norbert Möllemann
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453290941
- ISBN-13: 9783453290945
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