Die Flucht
Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten
Während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach verloren 14 Millionen Deutsche ihre Heimat. Berichte von Vertreibung & Tod - und den Hintergründen.
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Produktinformationen zu „Die Flucht “
Während der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs und in den Jahren danach verloren 14 Millionen Deutsche ihre Heimat. Berichte von Vertreibung & Tod - und den Hintergründen.
Unter Verwendung authentischer Zeugnisse und seltenen Bildmaterials zeichnen namhafte Historiker und "Spiegel"-Redakteure ein bedrückendes Bild der Massenverteibungen im Osten. Dabei betten sie die Ereignisse ein in nationalsozialistische Eroberungspolik und Krieg - und sie beschreiben das Versagen der Wehrmacht, die Rache der Sieger und persönliche Tragödien.
Lese-Probe zu „Die Flucht “
Die Flucht - Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten von Stephan Burgdorff und Stefan AustEinleitung
Von Hans-Ulrich Wehler
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Zur Epoche der totalen Kriege im 20. Jahrhundert gehören auch Vertreibungsaktionen von einem beispiellosen Ausmaß. Am Anfang steht der mitten im Ersten Weltkrieg vom Osmanischen Reich veranstaltete Genozid an den Armeniern: Rund 1,5 Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Dieser bis heute offiziell geleugnete Gewaltakt entsprang keiner anachronistischen Xenophobie oder dem Christenhass fanatisierter Muslims, vielmehr dem Eifer der jungtürkischen Reformbewegung, die das europäische Ideal des ethnisch homogenen Nationalstaats verwirklichen wollte.
Nach Kriegsende wurden, demselben Impuls folgend, 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien vertrieben, im Gegenzug 600 000 Türken aus dem europäischen Gebiet auf der anderen Seite des Bosporus. Nachdem die schlimmsten Exzesse passiert waren, regelte 1923 der Friede von Lausanne einen „geordneten Bevölkerungsaustausch". Damit endeten 3000 Jahre griechischer Geschichte in Kleinasien, wo Griechen seit der Zeit von Homers „Ilias" gelebt hatten.
In den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts waren zwar auch Abertausende vertrieben worden oder ins Exil gegangen, so zogen etwa hunderttausende von calvinistischen Hugenotten aus Frankreich nach Holland oder Preußen. Aber die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts empfanden die von Massakern begleitete Vertreibung der Armenier, Türken und Griechen zu Recht als einen unerhörten, neuartigen Vorgang.
Er stand auch Hitler und der NS-Führung klar vor Augen. Als der „Führer" im August 1939 der Generalität den Charakter des künftigen Ostkrieges beschrieb, zu dem auch Bevölkerungsverschiebungen gehören würden, suchte er Einwänden mit der zynischen rhetorischen Frage zu begegnen: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Unmittelbar danach hat die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik der „ethnischen Flurbereinigung", wie sie im SS-Jargon hieß, einen neuen Höhepunkt der Massenvertreibung erreicht. Ihr folgte seit 1944 der Gegenschlag, der im größten Exodus der neueren Geschichte zur Vertreibung und Flucht von rund 14 Millionen Deutschen und „Volksdeutschen" führte.
Jahrzehntelang blieb die Diskussion über dieses euphemistisch „Transfer" genannte Verbrechen eine Sache der Landsmannschaften und Vertriebenenverbände. Dagegen wurde die allgemeine Öffentlichkeit in Westdeutschland - in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR blieb das Thema ohnehin tabu - durch dieses Problem nur relativ selten bewegt. Diese Zurückhaltung besaß geraume Zeit ihre Berechtigung. Denn die Deutschen mussten sich erst den eigenen Verbrechen stellen, mithin die Gefahr vermeiden, deutsches Leid sogleich gegen deutsche Untaten aufzurechnen - etwa gegen das Menschheitsverbrechen des Holocaust. Bei diesem Massenmord an zwei Dritteln der europäischen Judenheit ging es um eine geradezu industrielle Liquidierung ohne Ansehen von Person, Alter und Geschlecht, während die deutschen Vertriebenen trotz aller Schrecken ungleich verteilte Überlebenschancen besaßen.
Jahrzehntelang lief die Mehrheitsmeinung darauf hinaus, den Vertriebenen die Privatisierung ihres Leids zuzumuten. Nach ersten Untersuchungen in den 1950er/60er Jahren kam auch im Grunde keine seriöse Vertreibungsforschung in Gang. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ist Bewegung in diese Problematik geraten. Mit der Fusion der beiden Neustaaten von 1949 entstand erstmals ein deutscher Staat, der ohne Grenz- und Minderheitenprobleme existiert. Diese neuartige Konstellation erleichtert die nüchterne Analyse, die nach Möglichkeit eine vergleichende Perspektive besitzen sollte. So gehört etwa die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien in ein und den selben Zusammenhang mit der Vertreibung der Polen aus dem im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochenen Ostpolen. Überdies haben die Balkankriege der 1990er Jahre die Gräuel der „ethnischen Säuberung" erneut heraufbeschworen. Sie erinnern an die Erfahrungen der Vertriebenen ein halbes Jahrhundert zuvor, und sie demonstrieren auch den damals nicht betroffenen jüngeren Deutschen die barbarischen Schrecken dieser Gewaltpolitik.
Die jetzt in der Bundesrepublik einsetzende Diskussion könnte eine befreiende Wirkung insofern haben, als die verdrängte, abgesunkene Leidensgeschichte von Millionen Menschen zutage gefördert wird und endlich im hellen Licht der Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert werden kann. Offensichtlich gibt es dabei aber eine Gefahr: Wenn diese Diskussion nicht behutsam, auch ohne Selbstgerechtigkeit, geführt wird, könnte sie eine Hemmschwelle aufbauen, die sich gegen den EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten auswirkt. Doch ihre Aufnahme ist nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetisierung schon deshalb geboten, um die politische und sozialökonomische Verfassung dieser genuin europäischen Länder endlich zu stabilisieren.
Allerdings handelt es sich dabei nicht allein um eine latente Gefahr der deutschen Debatte. Vielmehr zeigt etwa die Starrsinnigkeit der Prager Verteidigung eines Teils der Benes -Dekrete, was die tschechische Öffentlichkeit, etwa im Vergleich mit der polnischen, über die eigenen Verbrechen noch zu lernen hat, ehe die EU-Mitgliedschaft mehrheitlich wirklich akzeptiert werden kann.
Wie konnte es zu den Massenvertreibungen in Osteuropa und Ostdeutschland kommen: erst der Polen durch die deutsche Besatzungsherrschaft, dann der Deutschen und „Volksdeutschen" in Polen und der Tschechoslowakei, in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien? Die Vorläuferphänomene, die Vertreibung der Armenier, Türken und Griechen, galten bis 1939 als Schreckenstaten in Kleinasien und auf dem Balkan, abseits der Kernzone europäischer Zivilisation. Wozu man aber eben dort fähig war, trat seit 1939 zutage. Den Anfang machte die NS-Politik, mitten in Europa, mit einer riesigen „Umsiedlung" von Polen, um für „Volksdeutsche" aus Osteuropa Platz zu schaffen: für die Baltendeutschen und die deutschsprachigen „Volksgruppen" aus Wolhynien, Galizien und den Karpaten, später aus der Bukowina, aus Siebenbürgen und Bessarabien, aus der Dobrudscha und der Gottschee.
Hitler hatte im Herbst 1939 die Neuordnung der nationalen Landkarte Europas angekündigt. Dem „Reichsführer SS" Heinrich Himmler wurde als neu ernanntem „Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums" die umfassende Germanisierung des Ostens übertragen. Dort sollte ein riesiges Vorfeld des „Großgermanischen Reiches" entstehen, besiedelt mit „volksdeutschen" und reichsdeutschen Wehrbauern. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion sollte sich dieses Gebiet bis zum Ural erstrecken, da der „Generalplan Ost", später umfassender noch der „Generalsiedlungsplan", eine derartige Expansion mit einer kühl einkalkulierten Verlustquote von rund 32 Millionen Russen vorsah.
Zunächst wurden in kurzer Zeit 500 000 Polen aus Westpreußen und Posen in das südliche Restpolen, das „Generalgouvernement", abtransportiert, während zwei Millionen polnische Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt wurden. In die entleerten polnischen Dörfer wurden „volksdeutsche" Umsiedler eingewiesen, die nach drei, vier Jahren vor der Roten Armee flüchteten. Der Hexenkessel dieser deutschen Germanisierungspolitik mit ihren brutalen Bevölkerungsverschiebungen von gewaltigem Ausmaß erzeugte einen selbstgeschaffenen Druck, der auch den Übergang zur „Endlösung" der „Judenfrage" beförderte, da das Chaos ausgenutzt wurde, um „judenfreie" Gebiete zu schaffen. Die Umsiedlung von „Volksdeutschen" erfasste die Zone vom Baltikum bis zur Krain, aber für die Germanisierung der weiten Räume des Osten fehlten dann nach Himmlers Berechnungen immer noch fünf bis sechs Millionen reichsdeutsche Siedlungswillige. Doch die Bauernsöhne im „Altreich" dachten nicht daran, als Wehrbauern in die Ungewissheit des östlichen Vorfelds zu ziehen.
Angeregt durch das türkisch-griechische Vorbild geisterten Umsiedlungspläne auch in radikalnationalistischen Kreisen der osteuropäischen Nachfolgestaaten des zarischen und des österreichisch-ungarischen Vielvölkerreichs herum, ohne zu konkreten politischen Plänen zu führen. Solche Überlegungen tauchten dann aber unter den Exilpolitikern dieser Länder seit 1939/40 wieder auf. Zum einen ging es ihnen um eine radikale Lösung all jener belastenden Probleme, die bisher mit großen deutschen Minderheiten verbunden gewesen waren; zum anderen um die Beseitigung von Konfliktherden nach dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte.
Hinzu kam seit 1941 aber auch noch die rabiate Umsiedlungspolitik Stalins. Der ließ, als die deutschen Truppen schnell vorrückten, ganze Völkerschaften, wie etwa die Tschetschenen, und die große Minderheit der Wolgadeutschen wegen des Kollaborationsrisikos in die kasachische Steppe abtransportieren, ohne jede Rücksicht auf die horrenden Verluste an Leben. Eine künftige Siegermacht demonstrierte damit ganz konkret die Möglichkeiten menschenfeindlicher Politik. Nach dem Kriegsende erwies sich: Der gewaltsame „Transfer" als Folge deutscher und russischer Politik hatte den Erfahrungs- und Denkhorizont der Zeitgenossen unheilvoll ausgeweitet. Die Planung eines neuen „Transfers" der deutschsprachigen Minderheiten aus Osteuropa und der deutschen Bevölkerung aus Ostdeutschland galt seither als ein legitimes Mittel zur Beseitigung künftiger Konflikte (wie das auch Churchill glaubte), zugleich als verständlicher Racheakt, um den Todfeind aus dem eigenen Land oder aus dem soeben annektierten ehemaligen deutschen Staatsgebiet möglichst lückenlos zu vertreiben. Als Folge des anlaufenden „Transfers" wurden die Deutschen, sofern sie nicht rechtzeitig geflüchtet waren, mit gnadenloser Härte vertrieben. Die riesige Verlustziffer liegt weit über einer Million, nähert sich aber vielleicht, wenn man die späteren Todesfälle als Folge wochenlang anhaltender Transporte oder Trecks mit einbezieht, sogar der Zwei-Millionen-Grenze.
Wurde dadurch tatsächlich, wenn man das unermessliche Leid einmal verdrängt, der innere Frieden in Europa gesichert, wie das die politisch verantwortlichen Akteure anfangs beansprucht haben? Hunderttausende von deutschsprachigen Bewohnern Ungarns und Rumäniens, wo keine derart fanatische Vertreibung wie in Polen oder in der Tschechoslowakei stattfand, warfen mit ihrer Anwesenheit für diese Staaten kein gravierendes Problem auf. Die inhumane Vertreibung aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Jugoslawien löste auch nicht die inneren Nachkriegsprobleme dieser Länder, reduzierte aber die Konfliktmöglichkeiten der Nationalitätenpolitik.
Ein bitter erkaufter Gewinn: Die Bundesrepublik hat heute keine Irredentaprobleme, keine „unerlösten" Minderheiten jenseits ihrer Ostgrenzen, auch wenn eine Landsmannschaft wider alle Vernunft die kleine deutsche Minderheit in Polen künstlich zu vergrößern sucht. Solch eine Entspannung entkräftet indes nicht die Gefahr, dass aus der Konfliktminderung auf dem Feld der Nationalitätenspannungen eine quasi-moralische Rechtfertigung grässlicher Verbrechen hergeleitet wird.
Gegen die unterkühlte, mit dem Argument des inneren Friedens operierende Legitimierung der Vertreibung der Deutschen und „Volksdeutschen" lässt sich einwenden: Im Kalten Krieg sorgte das Gleichgewicht des atomaren Schreckens für einen prekären Frieden, nicht aber die „ethnische Säuberung" mit ihrer Nomadisierung von Millionen Menschen. Die verblüffend schnelle Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in die Wachstumsgesellschaft des westdeutschen Wirtschaftswunders verhinderte einen militanten Revanchismus, mithin die Erzeugung gefährlicher Spannungen nicht nur in Deutschland, das die Alliierten doch hatten ruhig stellen wollen.
Was bleibt? Die osteuropäischen Siedlungsgebiete und die ostdeutschen Provinzen sind ein für allemal verloren. Es überlebt ein wenig Folklore, die Erinnerung an historische Leistungen, für Ältere die nostalgische Beschwörung der Heimat. Millionen zahlten mit dem Verlust ihrer Heimat und den erlebten Schrecken der Vertreibung einen hohen Preis für den zweiten verlorenen totalen Krieg, für den Gegenschlag gegen die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik. Doch die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik haben es ermöglicht - und ermöglichen es weiterhin - diese Bürde zu ertragen.
Sollte es in naher Zukunft tatsächlich zu einem „Zentrum der Erinnerung" an die Vertreibung kommen, müssen zwei Vorbedingungen erfüllt sein. Zum einen müsste eine solche Begegnungsstätte der Erinnerung einer gemeineuropäischen Katastrophe gewidmet sein, mithin nicht auf eine isolierte Behandlung der Vertreibung der Deutschen beschränkt werden. Zum anderen läge ein solches Zentrum ungleich besser in Breslau als in Berlin. Denn in Schlesien fördert es die Verständigung mit Polen, das ebenfalls den Millionen seiner Vertriebenen eine neue Heimat schaffen musste. Vor allem aber implizierte die symbolpolitische Konkurrenz eines Berliner Zentrums mit dem Holocaust-Denkmal die Gefahr, dass in nächster Nähe des Totenmals doch noch eine Aufrechnung unvergleichbaren Leidens unternommen würde.
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Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Zur Epoche der totalen Kriege im 20. Jahrhundert gehören auch Vertreibungsaktionen von einem beispiellosen Ausmaß. Am Anfang steht der mitten im Ersten Weltkrieg vom Osmanischen Reich veranstaltete Genozid an den Armeniern: Rund 1,5 Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Dieser bis heute offiziell geleugnete Gewaltakt entsprang keiner anachronistischen Xenophobie oder dem Christenhass fanatisierter Muslims, vielmehr dem Eifer der jungtürkischen Reformbewegung, die das europäische Ideal des ethnisch homogenen Nationalstaats verwirklichen wollte.
Nach Kriegsende wurden, demselben Impuls folgend, 1,5 Millionen Griechen aus Kleinasien vertrieben, im Gegenzug 600 000 Türken aus dem europäischen Gebiet auf der anderen Seite des Bosporus. Nachdem die schlimmsten Exzesse passiert waren, regelte 1923 der Friede von Lausanne einen „geordneten Bevölkerungsaustausch". Damit endeten 3000 Jahre griechischer Geschichte in Kleinasien, wo Griechen seit der Zeit von Homers „Ilias" gelebt hatten.
In den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts waren zwar auch Abertausende vertrieben worden oder ins Exil gegangen, so zogen etwa hunderttausende von calvinistischen Hugenotten aus Frankreich nach Holland oder Preußen. Aber die Zeitgenossen des frühen 20. Jahrhunderts empfanden die von Massakern begleitete Vertreibung der Armenier, Türken und Griechen zu Recht als einen unerhörten, neuartigen Vorgang.
Er stand auch Hitler und der NS-Führung klar vor Augen. Als der „Führer" im August 1939 der Generalität den Charakter des künftigen Ostkrieges beschrieb, zu dem auch Bevölkerungsverschiebungen gehören würden, suchte er Einwänden mit der zynischen rhetorischen Frage zu begegnen: „Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?"
Unmittelbar danach hat die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik der „ethnischen Flurbereinigung", wie sie im SS-Jargon hieß, einen neuen Höhepunkt der Massenvertreibung erreicht. Ihr folgte seit 1944 der Gegenschlag, der im größten Exodus der neueren Geschichte zur Vertreibung und Flucht von rund 14 Millionen Deutschen und „Volksdeutschen" führte.
Jahrzehntelang blieb die Diskussion über dieses euphemistisch „Transfer" genannte Verbrechen eine Sache der Landsmannschaften und Vertriebenenverbände. Dagegen wurde die allgemeine Öffentlichkeit in Westdeutschland - in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der DDR blieb das Thema ohnehin tabu - durch dieses Problem nur relativ selten bewegt. Diese Zurückhaltung besaß geraume Zeit ihre Berechtigung. Denn die Deutschen mussten sich erst den eigenen Verbrechen stellen, mithin die Gefahr vermeiden, deutsches Leid sogleich gegen deutsche Untaten aufzurechnen - etwa gegen das Menschheitsverbrechen des Holocaust. Bei diesem Massenmord an zwei Dritteln der europäischen Judenheit ging es um eine geradezu industrielle Liquidierung ohne Ansehen von Person, Alter und Geschlecht, während die deutschen Vertriebenen trotz aller Schrecken ungleich verteilte Überlebenschancen besaßen.
Jahrzehntelang lief die Mehrheitsmeinung darauf hinaus, den Vertriebenen die Privatisierung ihres Leids zuzumuten. Nach ersten Untersuchungen in den 1950er/60er Jahren kam auch im Grunde keine seriöse Vertreibungsforschung in Gang. Erst in den letzten zehn, fünfzehn Jahren ist Bewegung in diese Problematik geraten. Mit der Fusion der beiden Neustaaten von 1949 entstand erstmals ein deutscher Staat, der ohne Grenz- und Minderheitenprobleme existiert. Diese neuartige Konstellation erleichtert die nüchterne Analyse, die nach Möglichkeit eine vergleichende Perspektive besitzen sollte. So gehört etwa die Vertreibung der Deutschen aus Schlesien in ein und den selben Zusammenhang mit der Vertreibung der Polen aus dem im Hitler-Stalin-Pakt der Sowjetunion zugesprochenen Ostpolen. Überdies haben die Balkankriege der 1990er Jahre die Gräuel der „ethnischen Säuberung" erneut heraufbeschworen. Sie erinnern an die Erfahrungen der Vertriebenen ein halbes Jahrhundert zuvor, und sie demonstrieren auch den damals nicht betroffenen jüngeren Deutschen die barbarischen Schrecken dieser Gewaltpolitik.
Die jetzt in der Bundesrepublik einsetzende Diskussion könnte eine befreiende Wirkung insofern haben, als die verdrängte, abgesunkene Leidensgeschichte von Millionen Menschen zutage gefördert wird und endlich im hellen Licht der Öffentlichkeit ernsthaft diskutiert werden kann. Offensichtlich gibt es dabei aber eine Gefahr: Wenn diese Diskussion nicht behutsam, auch ohne Selbstgerechtigkeit, geführt wird, könnte sie eine Hemmschwelle aufbauen, die sich gegen den EU-Beitritt der osteuropäischen Staaten auswirkt. Doch ihre Aufnahme ist nach den Schrecken des Zweiten Weltkriegs und der Sowjetisierung schon deshalb geboten, um die politische und sozialökonomische Verfassung dieser genuin europäischen Länder endlich zu stabilisieren.
Allerdings handelt es sich dabei nicht allein um eine latente Gefahr der deutschen Debatte. Vielmehr zeigt etwa die Starrsinnigkeit der Prager Verteidigung eines Teils der Benes -Dekrete, was die tschechische Öffentlichkeit, etwa im Vergleich mit der polnischen, über die eigenen Verbrechen noch zu lernen hat, ehe die EU-Mitgliedschaft mehrheitlich wirklich akzeptiert werden kann.
Wie konnte es zu den Massenvertreibungen in Osteuropa und Ostdeutschland kommen: erst der Polen durch die deutsche Besatzungsherrschaft, dann der Deutschen und „Volksdeutschen" in Polen und der Tschechoslowakei, in Ungarn, Rumänien und Jugoslawien? Die Vorläuferphänomene, die Vertreibung der Armenier, Türken und Griechen, galten bis 1939 als Schreckenstaten in Kleinasien und auf dem Balkan, abseits der Kernzone europäischer Zivilisation. Wozu man aber eben dort fähig war, trat seit 1939 zutage. Den Anfang machte die NS-Politik, mitten in Europa, mit einer riesigen „Umsiedlung" von Polen, um für „Volksdeutsche" aus Osteuropa Platz zu schaffen: für die Baltendeutschen und die deutschsprachigen „Volksgruppen" aus Wolhynien, Galizien und den Karpaten, später aus der Bukowina, aus Siebenbürgen und Bessarabien, aus der Dobrudscha und der Gottschee.
Hitler hatte im Herbst 1939 die Neuordnung der nationalen Landkarte Europas angekündigt. Dem „Reichsführer SS" Heinrich Himmler wurde als neu ernanntem „Reichskommissar für die Festigung Deutschen Volkstums" die umfassende Germanisierung des Ostens übertragen. Dort sollte ein riesiges Vorfeld des „Großgermanischen Reiches" entstehen, besiedelt mit „volksdeutschen" und reichsdeutschen Wehrbauern. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion sollte sich dieses Gebiet bis zum Ural erstrecken, da der „Generalplan Ost", später umfassender noch der „Generalsiedlungsplan", eine derartige Expansion mit einer kühl einkalkulierten Verlustquote von rund 32 Millionen Russen vorsah.
Zunächst wurden in kurzer Zeit 500 000 Polen aus Westpreußen und Posen in das südliche Restpolen, das „Generalgouvernement", abtransportiert, während zwei Millionen polnische Zwangsarbeiter ins Reich verschleppt wurden. In die entleerten polnischen Dörfer wurden „volksdeutsche" Umsiedler eingewiesen, die nach drei, vier Jahren vor der Roten Armee flüchteten. Der Hexenkessel dieser deutschen Germanisierungspolitik mit ihren brutalen Bevölkerungsverschiebungen von gewaltigem Ausmaß erzeugte einen selbstgeschaffenen Druck, der auch den Übergang zur „Endlösung" der „Judenfrage" beförderte, da das Chaos ausgenutzt wurde, um „judenfreie" Gebiete zu schaffen. Die Umsiedlung von „Volksdeutschen" erfasste die Zone vom Baltikum bis zur Krain, aber für die Germanisierung der weiten Räume des Osten fehlten dann nach Himmlers Berechnungen immer noch fünf bis sechs Millionen reichsdeutsche Siedlungswillige. Doch die Bauernsöhne im „Altreich" dachten nicht daran, als Wehrbauern in die Ungewissheit des östlichen Vorfelds zu ziehen.
Angeregt durch das türkisch-griechische Vorbild geisterten Umsiedlungspläne auch in radikalnationalistischen Kreisen der osteuropäischen Nachfolgestaaten des zarischen und des österreichisch-ungarischen Vielvölkerreichs herum, ohne zu konkreten politischen Plänen zu führen. Solche Überlegungen tauchten dann aber unter den Exilpolitikern dieser Länder seit 1939/40 wieder auf. Zum einen ging es ihnen um eine radikale Lösung all jener belastenden Probleme, die bisher mit großen deutschen Minderheiten verbunden gewesen waren; zum anderen um die Beseitigung von Konfliktherden nach dem Sieg der Alliierten über die Achsenmächte.
Hinzu kam seit 1941 aber auch noch die rabiate Umsiedlungspolitik Stalins. Der ließ, als die deutschen Truppen schnell vorrückten, ganze Völkerschaften, wie etwa die Tschetschenen, und die große Minderheit der Wolgadeutschen wegen des Kollaborationsrisikos in die kasachische Steppe abtransportieren, ohne jede Rücksicht auf die horrenden Verluste an Leben. Eine künftige Siegermacht demonstrierte damit ganz konkret die Möglichkeiten menschenfeindlicher Politik. Nach dem Kriegsende erwies sich: Der gewaltsame „Transfer" als Folge deutscher und russischer Politik hatte den Erfahrungs- und Denkhorizont der Zeitgenossen unheilvoll ausgeweitet. Die Planung eines neuen „Transfers" der deutschsprachigen Minderheiten aus Osteuropa und der deutschen Bevölkerung aus Ostdeutschland galt seither als ein legitimes Mittel zur Beseitigung künftiger Konflikte (wie das auch Churchill glaubte), zugleich als verständlicher Racheakt, um den Todfeind aus dem eigenen Land oder aus dem soeben annektierten ehemaligen deutschen Staatsgebiet möglichst lückenlos zu vertreiben. Als Folge des anlaufenden „Transfers" wurden die Deutschen, sofern sie nicht rechtzeitig geflüchtet waren, mit gnadenloser Härte vertrieben. Die riesige Verlustziffer liegt weit über einer Million, nähert sich aber vielleicht, wenn man die späteren Todesfälle als Folge wochenlang anhaltender Transporte oder Trecks mit einbezieht, sogar der Zwei-Millionen-Grenze.
Wurde dadurch tatsächlich, wenn man das unermessliche Leid einmal verdrängt, der innere Frieden in Europa gesichert, wie das die politisch verantwortlichen Akteure anfangs beansprucht haben? Hunderttausende von deutschsprachigen Bewohnern Ungarns und Rumäniens, wo keine derart fanatische Vertreibung wie in Polen oder in der Tschechoslowakei stattfand, warfen mit ihrer Anwesenheit für diese Staaten kein gravierendes Problem auf. Die inhumane Vertreibung aus Polen, der Tschechoslowakei und aus Jugoslawien löste auch nicht die inneren Nachkriegsprobleme dieser Länder, reduzierte aber die Konfliktmöglichkeiten der Nationalitätenpolitik.
Ein bitter erkaufter Gewinn: Die Bundesrepublik hat heute keine Irredentaprobleme, keine „unerlösten" Minderheiten jenseits ihrer Ostgrenzen, auch wenn eine Landsmannschaft wider alle Vernunft die kleine deutsche Minderheit in Polen künstlich zu vergrößern sucht. Solch eine Entspannung entkräftet indes nicht die Gefahr, dass aus der Konfliktminderung auf dem Feld der Nationalitätenspannungen eine quasi-moralische Rechtfertigung grässlicher Verbrechen hergeleitet wird.
Gegen die unterkühlte, mit dem Argument des inneren Friedens operierende Legitimierung der Vertreibung der Deutschen und „Volksdeutschen" lässt sich einwenden: Im Kalten Krieg sorgte das Gleichgewicht des atomaren Schreckens für einen prekären Frieden, nicht aber die „ethnische Säuberung" mit ihrer Nomadisierung von Millionen Menschen. Die verblüffend schnelle Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in die Wachstumsgesellschaft des westdeutschen Wirtschaftswunders verhinderte einen militanten Revanchismus, mithin die Erzeugung gefährlicher Spannungen nicht nur in Deutschland, das die Alliierten doch hatten ruhig stellen wollen.
Was bleibt? Die osteuropäischen Siedlungsgebiete und die ostdeutschen Provinzen sind ein für allemal verloren. Es überlebt ein wenig Folklore, die Erinnerung an historische Leistungen, für Ältere die nostalgische Beschwörung der Heimat. Millionen zahlten mit dem Verlust ihrer Heimat und den erlebten Schrecken der Vertreibung einen hohen Preis für den zweiten verlorenen totalen Krieg, für den Gegenschlag gegen die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik. Doch die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik haben es ermöglicht - und ermöglichen es weiterhin - diese Bürde zu ertragen.
Sollte es in naher Zukunft tatsächlich zu einem „Zentrum der Erinnerung" an die Vertreibung kommen, müssen zwei Vorbedingungen erfüllt sein. Zum einen müsste eine solche Begegnungsstätte der Erinnerung einer gemeineuropäischen Katastrophe gewidmet sein, mithin nicht auf eine isolierte Behandlung der Vertreibung der Deutschen beschränkt werden. Zum anderen läge ein solches Zentrum ungleich besser in Breslau als in Berlin. Denn in Schlesien fördert es die Verständigung mit Polen, das ebenfalls den Millionen seiner Vertriebenen eine neue Heimat schaffen musste. Vor allem aber implizierte die symbolpolitische Konkurrenz eines Berliner Zentrums mit dem Holocaust-Denkmal die Gefahr, dass in nächster Nähe des Totenmals doch noch eine Aufrechnung unvergleichbaren Leidens unternommen würde.
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Bibliographische Angaben
- Autoren: Stefan Aust , Stephan Burgdorff
- 256 Seiten, teilweise farbige Abbildungen, teilweise Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 14 x 21,9 cm, Gebunden
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3828945201
- ISBN-13: 9783828945203
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