Die Frauen der Pasqualinis
"Eine opulente deutsch-italienische Liebes- und Familiengeschichte, spannend und anrührend."
Buchjournal
Neapel 1908: Nur kurz währt das Liebesglück zwischen Stefano Pasqualini und Sofia Mazone, dann muss...
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Produktinformationen zu „Die Frauen der Pasqualinis “
"Eine opulente deutsch-italienische Liebes- und Familiengeschichte, spannend und anrührend."
Buchjournal
Neapel 1908: Nur kurz währt das Liebesglück zwischen Stefano Pasqualini und Sofia Mazone, dann muss Sofia aus geschäftlichem Kalkül einen anderen Mann heiraten. Stefano reist nach Deutschland, wo er der klugen Anna Seiler begegnet. Mit ihrer Hilfe wird aus dem italienischen ''Zitronenschüttler'' bald ein angesehener Unternehmer und Vater. Doch eines Tages steht Sofia plötzlich vor seiner Tür. Von diesem Tag an werden die Pasqualini-Frauen auf immer schicksalhaft verbunden sein.
Lese-Probe zu „Die Frauen der Pasqualinis “
Die Frauen der Pasqualinis von Barbara PiazzaProlog
Neapel, Sommer 1905
Sofia Mazone interessierte sich für die weltliche Liebe und das jenseitige Leben. Beides war eine logische Konsequenz ihres Lebensalters und ihrer Umgebung. Vor allem aber war sowohl das eine wie auch das andere hinter den Schleiern der Unwissenheit versteckt – und sie liebte Geheimnisse. Sofia war fünfzehn Jahre alt und befand sich seit eineinhalb Jahren im Klosterinternat der Franziskanerinnen von Neapel.
Die Luft in dem gewölbten Unterrichtssaal war trotz der dicken Mauern des alten Klosters stickig und schwül. Mit der Penetranz eines defekten Wasserhahns tröpfelten die Worte einer Heiligenlegende
aus dem Mund der dürren, argwöhnischen Aufsichtsschwester Agneta und perlten an den Gedanken der acht jugendlichen Schülerinnen ab wie Regen an einer Fensterscheibe. Sofia legte das feine Leinentuch beiseite, das in einigen Jahren ihr Ehebett schmücken sollte. Ihre Aufgabe war es, mit einem weißen Seidenfaden einen Hohlsaum anzubringen. Zum tausendsten Mal fragte sie sich erbittert, weshalb sie die Kunst des Weißnähens erlernen musste.
Ihr Vater, der Reeder Archangelo Mazone, war in der Lage, Dutzende und Aberdutzende dieser Decken fertigen zu lassen, von Personen, die besser für solche Arbeiten geeignet waren als sie oder zumindest Spaß daran hatten. Tante Serafina zum Beispiel verbrachte Nachmittage und Abende mit dieser idiotischen Beschäftigung. Sie setzte ihre Nadel wie ein Uhrmacher sein Werkzeug, jeder Stich eine absolute Kopie des vorherigen, und der Stumpfsinn des ganzen Unternehmens schien ihr nichts auszumachen. Sie sang oder plauderte dabei, nahm immer wieder ein Schlückchen Portwein aus ihrem geliebten venezianischen Glas und machte dennoch keinen einzigen Flecken.
Aufmüpfig betrachtete Sofia die eigenen unregelmäßigen Stiche und
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die Druckstellen ihrer schweißnassen Finger auf dem zarten Gewebe. Sie verwünschte ihre Familie, die darauf bestanden hatte, sie in die Schule der Franziskanerinnen zu schicken, um all das zu erlernen, was eine Tochter der neapolitanischen Oberschicht zur Führung eines Hauswesens benötigte. Angeblich benötigte. Denn natürlich diente dieser Internatsaufenthalt vor allem dem Zweck, eine kostbare spätere Heiratskandidatin eine Zeit lang vor den überall lauernden Gefahren der Verführung wegzusperren. Außer dem Pater Superior, einem Greis von über siebzig Jahren, gab es in diesem Gefängnis, das sich Schule nannte, keinen einzigen Mann. Doch genau das war es, was die jungen Damen in Wahrheit beschäftigte. In ihren Gesprächen und Gedanken erschufen sie, selbst noch während ihrer fünf täglichen Gebete, einen Ritter, der sie auf Händen trug und ihnen Rosen streute. Dem es an nichts, aber auch gar nichts gebrach, vor allem nicht an Schönheit und Charme. In manchen Nächten aber, wenn etwas sie aus ihrem leichten
Schlaf geweckt hatte und sie den Atemzügen der anderen drei Mädchen im Schlafsaal lauschte, dachte Sofia an das jenseitige Leben; an das, in welches ihre Mutter verschwunden war.
Den Nonnen nach befand sie sich dort in einem Zustand immerwährenden Glücks. Sofia fragte sich oft, wie ein solches Glück beschaffen sein mochte. Denn immerhin war Carlota Mazone durch ihren Tod gezwungen worden, eine wichtige und unerledigte Aufgabe zu hinterlassen, nämlich sie, ihre Tochter Sofia. Sofia vermisste die Mutter schmerzhaft, zumindest dann, wenn sie anderer Meinung war als Vater und Tante. Bei der Entscheidung für die Klosterschule war dies der Fall gewesen, und ihr Widerstand hatte angehalten bis zum heutigen Tage. Hätte eine Mutter ihr zur Seite gestanden, niemals wäre sie hinter diesen Klostermauern gelandet, dessen war sie sich sicher. Weswegen Sofia auch der Überzeugung war, ihr diesseitiges Unglück und das jenseitige umfassende Glück ihrer Mutter entspräche keiner gerechten Verteilung.
Aus diesen Gründen hatte Sofia auch ihre Zweifel an der Richtigkeit der göttlichen Vorsehung angemeldet. Doch die wenigen Versuche, mit ihrem Vater, mit Tante Serafina oder gar mit dem Pater Superior darüber zu sprechen, hatten nur zu blasphemischen Wutanfällen ihres Vaters, schicksalsergebenen Seufzern ihrer Tante Serafina und der Aufforderung des Paters Superior geführt, diesen lästerlichen Gedanken mit Rosenkranzgebeten zu begegnen Sofia zog eine Grimasse. Sie spulte einen weiteren Seidenfaden von der Rolle, schnitt ihn ab, schob ihn zwischen die Lippen, benetzte das Ende mit Spucke, presste ihn gerade und führte ihn durch das Nadelöhr. Sie hatte noch mindestens eine Stunde zu nähen, bevor die Aufsichtsschwester das Buch zuklappen und die Schülerinnen zum Mittagstisch entlassen würde. Doch anstatt weiterzuarbeiten, stand sie auf und näherte sich der monoton lesenden Nonne.
»Darf ich mal austreten?«, flüsterte sie und schlug züchtig die Augen nieder, damit Schwester Agneta die Lüge darin nicht erkannte. Der Habicht, wie Schwester Agneta von den Schülerinnen genannt wurde, nickte leicht mit dem Schnabel, doch ein kurzes, verächtliches Heben der Augenbrauen machte Sofia klar, dass Agneta die Absicht durchschaute, es aber für unter ihrer Würde hielt, um die Notwendigkeit dieses Gangs mit ihr zu feilschen.
Erleichtert zog Sofia die Tür hinter sich zu und bummelte den langen, dämmrig-kühlen Kreuzgang hinab, der sich zu einem schattigen Innenhof öffnete. Mit leichten Schritten ging sie über den gepflegten Rasen zu dem großen Brunnen, der den Mittelpunkt des sonst schmucklosen Gartens bildete. Rasch schob sie die langen Ärmel ihres Baumwollkleids hoch und hielt die Finger in die Wasserkaskaden. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie ihn.
Er hatte ungebärdige schwarze Locken, ein männlich-kantiges Gesicht mit einem schön geschwungenen Mund und einem energischen Kinn – und er war nackt bis zur Taille. Unter der straffen, tief gebräunten Haut verbargen sich ausgeprägte Muskeln. Er sah aus, als ob er aus Bronze gegossen wäre, doch die Statue, die einen Moment lang ebenso erstarrt gewesen war wie Sofia, begann sich zu bewegen, sogar zu sprechen. »Buon giorno, Signorina«, sagte der Fremde. »Wo, bitte, kann
ich die Mutter Oberin finden?« Sofia schluckte trocken. »Die Oberin?«, fragte er, noch immer freundlich, aber nachdrücklicher. Erstaunlicherweise hatte er blaue Augen, so blau wie das Tyrrhenische Meer an Sonnentagen, eine intensive, stählerne Bläue. Sofia starrte ihn unverwandt an und fühlte plötzlich, wie eine unbekannte Hitze durch ihren Körper schoss, die etwas zu schmelzen schien, von dessen Existenz sie bisher noch nichts gewusst hatte. Sie wandte sich um und rannte mit fliegenden Röcken zurück zum Kreuzgang. Der junge Mann schaute ihr nach. Die dunkelbraunen, glatten Haare flatterten wie eine Fahne im Wind. Das Mädchen hatte die Figur und die Bewegungen eines Kindes, und dennoch war es so weiblich wie keine der Frauen, die er bisher getroffen hatte. Auf der zarten Haut ihres Gesichts hatte das Leben noch keine Abdrücke hinterlassen, dennoch ahnte man bereits die Stärke und Leidenschaft der Frau, die sie später einmal sein würde. Sie war etwas Besonderes, und plötzlich wusste er, wie er die
Züge der steinernen Immaculata gestalten würde, die nach dem Willen der Oberin künftig die Säule in der Mitte des Brunnens zieren sollte. Sofia rannte den langen Kreuzgang entlang, als ob der Leibhaftige hinter ihr her wäre, von dem Schwester Agneta manchmal im Flüsterton sprach. Neben der Tür des Unterrichtssaals blieb sie stehen und rang nach Luft.
Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Sandsteinwand, schloss die Augen und sah den Fremden noch einmal vor sich, deutlicher sogar als in den Sekunden der realen Begegnung. Sie versuchte, das Bild festzuhalten, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte und die süße Hitze in ihr verebbt war. Dann öffnete sie die Tür und ging zurück zu ihrem Platz. Schwester Agneta drehte nicht einmal den Kopf, sondern las unbewegt weiter. Sie wurde erst später aufmerksam, als Sofia eine ungewöhnliche Betriebsamkeit entwickelte.
Die Schwester stand auf und ging, mit dem Buch in der Hand und noch immer vorlesend, zum Arbeitstisch ihrer schwierigsten Schülerin. Sie ist intelligent, verhätschelt, kapriziös und unberechenbar, dachte sie und war sich dabei bewusst, dass dieses ungebärdige Füllen ihr mehr Freude bereitete als all die anderen, die sie in den vierunddreißig Jahren ihres Ordenslebens betreut hatte. Sofia hatte den bereits genähten Saum aufgetrennt und war eben dabei, mit einem goldenen Faden neu zu beginnen. »Was soll das?«, wollte Schwester Agneta wissen. Sie verabscheute zu heftigen Prunk und war der Auffassung, dass die goldene Garnrolle der Stickerei von Altardecken vorbehalten sein sollte. »Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte Sofia lakonisch. »Und warum?« »Weil ich mich an diesen Tag erinnern möchte«, sagte Sofia, und in ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit. Schwester Agneta widmete den ersten goldenen Stichen einen nachdenklichen Blick. Sie fragte sich besorgt, was in den wenigen Minuten von Sofias Abwesenheit vorgefallen sein mochte, aber sie war erfahren genug, nicht in das Mädchen zu dringen.
Wenn es etwas Wesentliches gewesen war, wovon sie ausging, würde diese fünfzehnjährige Heranwachsende es niemals einer Ordensfrau berichten, die sie als Habicht betrachtete.
Teil Eins
13
Neapel – März 1908
1
Natürlich war es ein Vorwand, aber Sofia mochte Vorwände. Sie waren ihre einzige Chance, das Haus zu verlassen und den Teil des Lebens kennenzulernen, der sich außerhalb der dichten Lorbeerhecke abspielte, die das Anwesen des Reeders Mazone umgab. Glücklicherweise war Tante Serafina nicht besonders streng, kein Vergleich zum unvergesslichen Habicht.
Außerdem war dem Wunsch einer Tochter, das Grab ihrer Mutter aufzusuchen, schwer zu widersprechen. Sofia suchte sich eine Schere und ging in den Garten, um ein paar der früh blühenden Rosen von den Sträuchern zu schneiden. Sie umwickelte die Blumen mit einem feuchten Lappen, legte sie in ihren Henkelkorb und machte sich auf den Weg zum Friedhof, der nicht allzu weit entfernt war. Es handelte sich natürlich um keinen gewöhnlichen Friedhof, in dem ganz normale Menschen bestattet waren, sondern um Santo Michele, die Ruhestätte der oberen Zehntausend Neapels.
Ein Platz, der die letzte Möglichkeit bot, die Bedeutung derer zu demonstrieren, die dort zum ewigen Schlaf gebettet waren. Santo Michele war eine Totenstadt, in der jeder sein eigenes, möglichst pompöses Haus hatte.
Es gab Einzel- und Familienstätten in Form von kleinen Kapellen, winzigen Palästen, Tempeln, Fantasiebauwerken und Grotten, dazwischen befanden sich ummauerte Podeste, auf denen Kreuze, Obelisken und Engel, griechische und römische Göttinnen und Götter oder trauernde Fabelwesen zu sehen waren. Sofias Mutter ruhte in einem Mausoleum, das wenige Wochen nach ihrem Tod erbaut worden war. Es war der Akropolis nachempfunden, und Sofia fand es ausgesprochen hässlich.
Sie fragte sich manchmal, ob ihre Mutter mit dieser letzten Behausung einverstanden gewesen wäre, hätte man ihr das Bauwerk zeigen können, bevor sie das Zeitliche segnete. Leider hatte niemand eine solche Möglichkeit erwogen, was nicht verwundern konnte: Carlota Mazone war knapp zwanzig Jahre alt gewesen, als dieser bedauerliche Umstand eingetreten war; anlässlich ihrer Geburt im Übrigen, wie sich Sofia hin und wieder von Schuldbewusstsein gequält vorhielt.
Es waren die Tage, an denen sie der Verschiedenen das allumfassende Glück im unbekannten Umfeld Gottes von Herzen gönnte. Die Rosen hatten unter dem kurzen Weg nicht gelitten. Sofia wickelte sie aus dem Lappen und legte sie auf den gekalkten Kies vor dem Grabmal. Sie sprach ein kurzes Gebet, während sie ein weiteres Mal das Bild der unbekannten Frau betrachtete, das unter schützendem Glas in der Grabtafel versenkt war. Ihre verstorbene Mutter hatte das gleiche Oval des Gesichts, das dominiert
wurde von lebhaften braunen Augen. Es war, wie das der Tochter, eingerahmt von einer Fülle dunkler Haare. Beide hatten sie die charakteristische schmale Nase der Scottis, deren volle Lippen – und vermutlich auch denselben Hang zum Eigensinn, denn die kleinen Grübchen im rechten Mundwinkel
waren ebenfalls identisch. Es war wie ein Blick in den Spiegel. Sofia fröstelte, obwohl der Morgen warm und freundlich war. Sie drehte sich um, und das Wunder geschah erneut. Da stand er, genauso, als ob er aus einem ihrer zahlreichen Träume gesprungen wäre. Die Haare waren so lockig wie damals, ein klein wenig länger vielleicht. Um Wangen und Kinn lagen die dunklen Schatten eines Barts, der heute noch nicht rasiert worden war, und er war auch dieses Mal nackt bis zur Taille. In der rechten Hand hielt er einen mit Steinen gefüllten Eimer, was die Muskeln unter der braunen Haut noch stärker hervortreten ließ. Sie musterten sich schweigend. Dann verzog der Mann seinen schön geschwungenen Mund zu einem kleinen Lächeln und sagte, während er den Eimer abstellte: »Das Kind aus dem Kloster!« Sofia war verblüfft. Er hatte sie wiedererkannt, was bemerkenswert war. Immerhin war die Begegnung nur kurz gewesen, und knapp drei Jahre lagen dazwischen. »Ich bin kein Kind mehr«, stellte Sofia trotzig klar.
Sein Lächeln vertiefte sich, und er sagte ein wenig belustigt: »Verzeihen Sie bitte, Signorina.« »Bitte«, erwiderte Sofia ein wenig schnippisch und überlegte fieberhaft, wie diese Begegnung wohl zu verlängern wäre. Denn eigentlich war jetzt der gebotene Zeitpunkt, mit einem hochnäsigen Nicken an ihm vorbeizurauschen, wie es ihr Stand verlangte. Andererseits, sie befand sich am Grab ihrer Mutter, und was eigentlich hatte er hier zu suchen? »Ich bin damit beschäftigt, den Engel dort zu reparieren«,
erklärte der Mann, als ob er ihre Gedanken lesen könnte, und deutete auf das Grabmal der Vicorettis, das sich schräg hinter dem der Mazones befand. Sofia erkannte jetzt auch den weinenden Engel, der, in zwei Teile zerbrochen, auf dem Boden neben der Grabplatte lag. »Und wie machen Sie das?«, fragte Sofia verständnislos, mit einem Blick auf den Eimer. Vielleicht war der Engel ja innen hohl, und der Mann hegte die Absicht, ihn mit den Steinen aufzufüllen, damit er schwerer wurde und den Winterstürmen besser standhalten konnte. »Mit Zement«, klärte Stefano sie auf. »Und was ist mit den Steinen?« »Die brauche ich für ein neues Podest!« »Ah ja«, sagte Sofia und war sich darüber im Klaren, dass das Gespräch nun zu Ende war. Dennoch blieb sie stehen und fragte: »Und was haben Sie damals im Kloster gemacht?«
»Eine neue Brunnenfigur. Eine Madonna, eine Immaculata. Haben Sie sie noch nie gesehen?« »Doch. Natürlich«, log Sofia rasch und errötete. Sie hatte nicht die Absicht, ihm mitzuteilen, dass sie wenige Wochen nach dem damaligen Zusammentreffen das Kloster vorzeitig verlassen hatte und nie wieder dort aufgekreuzt war. Es war einer ihrer zahlreichen Siege über den Willen ihres Vaters gewesen, die zwei schrecklichen Jahre um ein halbes zu kürzen. Keine einzige Nadel hatte sie seitdem mehr angerührt, selbst das Betttuch mit dem goldenen Saum hatte Tante Serafina fertig stellen müssen.
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Barbara Piazza und Limes Verlag,
Verlagsgruppe Random House, München.
Schlaf geweckt hatte und sie den Atemzügen der anderen drei Mädchen im Schlafsaal lauschte, dachte Sofia an das jenseitige Leben; an das, in welches ihre Mutter verschwunden war.
Den Nonnen nach befand sie sich dort in einem Zustand immerwährenden Glücks. Sofia fragte sich oft, wie ein solches Glück beschaffen sein mochte. Denn immerhin war Carlota Mazone durch ihren Tod gezwungen worden, eine wichtige und unerledigte Aufgabe zu hinterlassen, nämlich sie, ihre Tochter Sofia. Sofia vermisste die Mutter schmerzhaft, zumindest dann, wenn sie anderer Meinung war als Vater und Tante. Bei der Entscheidung für die Klosterschule war dies der Fall gewesen, und ihr Widerstand hatte angehalten bis zum heutigen Tage. Hätte eine Mutter ihr zur Seite gestanden, niemals wäre sie hinter diesen Klostermauern gelandet, dessen war sie sich sicher. Weswegen Sofia auch der Überzeugung war, ihr diesseitiges Unglück und das jenseitige umfassende Glück ihrer Mutter entspräche keiner gerechten Verteilung.
Aus diesen Gründen hatte Sofia auch ihre Zweifel an der Richtigkeit der göttlichen Vorsehung angemeldet. Doch die wenigen Versuche, mit ihrem Vater, mit Tante Serafina oder gar mit dem Pater Superior darüber zu sprechen, hatten nur zu blasphemischen Wutanfällen ihres Vaters, schicksalsergebenen Seufzern ihrer Tante Serafina und der Aufforderung des Paters Superior geführt, diesen lästerlichen Gedanken mit Rosenkranzgebeten zu begegnen Sofia zog eine Grimasse. Sie spulte einen weiteren Seidenfaden von der Rolle, schnitt ihn ab, schob ihn zwischen die Lippen, benetzte das Ende mit Spucke, presste ihn gerade und führte ihn durch das Nadelöhr. Sie hatte noch mindestens eine Stunde zu nähen, bevor die Aufsichtsschwester das Buch zuklappen und die Schülerinnen zum Mittagstisch entlassen würde. Doch anstatt weiterzuarbeiten, stand sie auf und näherte sich der monoton lesenden Nonne.
»Darf ich mal austreten?«, flüsterte sie und schlug züchtig die Augen nieder, damit Schwester Agneta die Lüge darin nicht erkannte. Der Habicht, wie Schwester Agneta von den Schülerinnen genannt wurde, nickte leicht mit dem Schnabel, doch ein kurzes, verächtliches Heben der Augenbrauen machte Sofia klar, dass Agneta die Absicht durchschaute, es aber für unter ihrer Würde hielt, um die Notwendigkeit dieses Gangs mit ihr zu feilschen.
Erleichtert zog Sofia die Tür hinter sich zu und bummelte den langen, dämmrig-kühlen Kreuzgang hinab, der sich zu einem schattigen Innenhof öffnete. Mit leichten Schritten ging sie über den gepflegten Rasen zu dem großen Brunnen, der den Mittelpunkt des sonst schmucklosen Gartens bildete. Rasch schob sie die langen Ärmel ihres Baumwollkleids hoch und hielt die Finger in die Wasserkaskaden. Als sie sich wieder umdrehte, sah sie ihn.
Er hatte ungebärdige schwarze Locken, ein männlich-kantiges Gesicht mit einem schön geschwungenen Mund und einem energischen Kinn – und er war nackt bis zur Taille. Unter der straffen, tief gebräunten Haut verbargen sich ausgeprägte Muskeln. Er sah aus, als ob er aus Bronze gegossen wäre, doch die Statue, die einen Moment lang ebenso erstarrt gewesen war wie Sofia, begann sich zu bewegen, sogar zu sprechen. »Buon giorno, Signorina«, sagte der Fremde. »Wo, bitte, kann
ich die Mutter Oberin finden?« Sofia schluckte trocken. »Die Oberin?«, fragte er, noch immer freundlich, aber nachdrücklicher. Erstaunlicherweise hatte er blaue Augen, so blau wie das Tyrrhenische Meer an Sonnentagen, eine intensive, stählerne Bläue. Sofia starrte ihn unverwandt an und fühlte plötzlich, wie eine unbekannte Hitze durch ihren Körper schoss, die etwas zu schmelzen schien, von dessen Existenz sie bisher noch nichts gewusst hatte. Sie wandte sich um und rannte mit fliegenden Röcken zurück zum Kreuzgang. Der junge Mann schaute ihr nach. Die dunkelbraunen, glatten Haare flatterten wie eine Fahne im Wind. Das Mädchen hatte die Figur und die Bewegungen eines Kindes, und dennoch war es so weiblich wie keine der Frauen, die er bisher getroffen hatte. Auf der zarten Haut ihres Gesichts hatte das Leben noch keine Abdrücke hinterlassen, dennoch ahnte man bereits die Stärke und Leidenschaft der Frau, die sie später einmal sein würde. Sie war etwas Besonderes, und plötzlich wusste er, wie er die
Züge der steinernen Immaculata gestalten würde, die nach dem Willen der Oberin künftig die Säule in der Mitte des Brunnens zieren sollte. Sofia rannte den langen Kreuzgang entlang, als ob der Leibhaftige hinter ihr her wäre, von dem Schwester Agneta manchmal im Flüsterton sprach. Neben der Tür des Unterrichtssaals blieb sie stehen und rang nach Luft.
Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Sandsteinwand, schloss die Augen und sah den Fremden noch einmal vor sich, deutlicher sogar als in den Sekunden der realen Begegnung. Sie versuchte, das Bild festzuhalten, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte und die süße Hitze in ihr verebbt war. Dann öffnete sie die Tür und ging zurück zu ihrem Platz. Schwester Agneta drehte nicht einmal den Kopf, sondern las unbewegt weiter. Sie wurde erst später aufmerksam, als Sofia eine ungewöhnliche Betriebsamkeit entwickelte.
Die Schwester stand auf und ging, mit dem Buch in der Hand und noch immer vorlesend, zum Arbeitstisch ihrer schwierigsten Schülerin. Sie ist intelligent, verhätschelt, kapriziös und unberechenbar, dachte sie und war sich dabei bewusst, dass dieses ungebärdige Füllen ihr mehr Freude bereitete als all die anderen, die sie in den vierunddreißig Jahren ihres Ordenslebens betreut hatte. Sofia hatte den bereits genähten Saum aufgetrennt und war eben dabei, mit einem goldenen Faden neu zu beginnen. »Was soll das?«, wollte Schwester Agneta wissen. Sie verabscheute zu heftigen Prunk und war der Auffassung, dass die goldene Garnrolle der Stickerei von Altardecken vorbehalten sein sollte. »Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte Sofia lakonisch. »Und warum?« »Weil ich mich an diesen Tag erinnern möchte«, sagte Sofia, und in ihrer Stimme schwang ein seltsamer Unterton mit. Schwester Agneta widmete den ersten goldenen Stichen einen nachdenklichen Blick. Sie fragte sich besorgt, was in den wenigen Minuten von Sofias Abwesenheit vorgefallen sein mochte, aber sie war erfahren genug, nicht in das Mädchen zu dringen.
Wenn es etwas Wesentliches gewesen war, wovon sie ausging, würde diese fünfzehnjährige Heranwachsende es niemals einer Ordensfrau berichten, die sie als Habicht betrachtete.
Teil Eins
13
Neapel – März 1908
1
Natürlich war es ein Vorwand, aber Sofia mochte Vorwände. Sie waren ihre einzige Chance, das Haus zu verlassen und den Teil des Lebens kennenzulernen, der sich außerhalb der dichten Lorbeerhecke abspielte, die das Anwesen des Reeders Mazone umgab. Glücklicherweise war Tante Serafina nicht besonders streng, kein Vergleich zum unvergesslichen Habicht.
Außerdem war dem Wunsch einer Tochter, das Grab ihrer Mutter aufzusuchen, schwer zu widersprechen. Sofia suchte sich eine Schere und ging in den Garten, um ein paar der früh blühenden Rosen von den Sträuchern zu schneiden. Sie umwickelte die Blumen mit einem feuchten Lappen, legte sie in ihren Henkelkorb und machte sich auf den Weg zum Friedhof, der nicht allzu weit entfernt war. Es handelte sich natürlich um keinen gewöhnlichen Friedhof, in dem ganz normale Menschen bestattet waren, sondern um Santo Michele, die Ruhestätte der oberen Zehntausend Neapels.
Ein Platz, der die letzte Möglichkeit bot, die Bedeutung derer zu demonstrieren, die dort zum ewigen Schlaf gebettet waren. Santo Michele war eine Totenstadt, in der jeder sein eigenes, möglichst pompöses Haus hatte.
Es gab Einzel- und Familienstätten in Form von kleinen Kapellen, winzigen Palästen, Tempeln, Fantasiebauwerken und Grotten, dazwischen befanden sich ummauerte Podeste, auf denen Kreuze, Obelisken und Engel, griechische und römische Göttinnen und Götter oder trauernde Fabelwesen zu sehen waren. Sofias Mutter ruhte in einem Mausoleum, das wenige Wochen nach ihrem Tod erbaut worden war. Es war der Akropolis nachempfunden, und Sofia fand es ausgesprochen hässlich.
Sie fragte sich manchmal, ob ihre Mutter mit dieser letzten Behausung einverstanden gewesen wäre, hätte man ihr das Bauwerk zeigen können, bevor sie das Zeitliche segnete. Leider hatte niemand eine solche Möglichkeit erwogen, was nicht verwundern konnte: Carlota Mazone war knapp zwanzig Jahre alt gewesen, als dieser bedauerliche Umstand eingetreten war; anlässlich ihrer Geburt im Übrigen, wie sich Sofia hin und wieder von Schuldbewusstsein gequält vorhielt.
Es waren die Tage, an denen sie der Verschiedenen das allumfassende Glück im unbekannten Umfeld Gottes von Herzen gönnte. Die Rosen hatten unter dem kurzen Weg nicht gelitten. Sofia wickelte sie aus dem Lappen und legte sie auf den gekalkten Kies vor dem Grabmal. Sie sprach ein kurzes Gebet, während sie ein weiteres Mal das Bild der unbekannten Frau betrachtete, das unter schützendem Glas in der Grabtafel versenkt war. Ihre verstorbene Mutter hatte das gleiche Oval des Gesichts, das dominiert
wurde von lebhaften braunen Augen. Es war, wie das der Tochter, eingerahmt von einer Fülle dunkler Haare. Beide hatten sie die charakteristische schmale Nase der Scottis, deren volle Lippen – und vermutlich auch denselben Hang zum Eigensinn, denn die kleinen Grübchen im rechten Mundwinkel
waren ebenfalls identisch. Es war wie ein Blick in den Spiegel. Sofia fröstelte, obwohl der Morgen warm und freundlich war. Sie drehte sich um, und das Wunder geschah erneut. Da stand er, genauso, als ob er aus einem ihrer zahlreichen Träume gesprungen wäre. Die Haare waren so lockig wie damals, ein klein wenig länger vielleicht. Um Wangen und Kinn lagen die dunklen Schatten eines Barts, der heute noch nicht rasiert worden war, und er war auch dieses Mal nackt bis zur Taille. In der rechten Hand hielt er einen mit Steinen gefüllten Eimer, was die Muskeln unter der braunen Haut noch stärker hervortreten ließ. Sie musterten sich schweigend. Dann verzog der Mann seinen schön geschwungenen Mund zu einem kleinen Lächeln und sagte, während er den Eimer abstellte: »Das Kind aus dem Kloster!« Sofia war verblüfft. Er hatte sie wiedererkannt, was bemerkenswert war. Immerhin war die Begegnung nur kurz gewesen, und knapp drei Jahre lagen dazwischen. »Ich bin kein Kind mehr«, stellte Sofia trotzig klar.
Sein Lächeln vertiefte sich, und er sagte ein wenig belustigt: »Verzeihen Sie bitte, Signorina.« »Bitte«, erwiderte Sofia ein wenig schnippisch und überlegte fieberhaft, wie diese Begegnung wohl zu verlängern wäre. Denn eigentlich war jetzt der gebotene Zeitpunkt, mit einem hochnäsigen Nicken an ihm vorbeizurauschen, wie es ihr Stand verlangte. Andererseits, sie befand sich am Grab ihrer Mutter, und was eigentlich hatte er hier zu suchen? »Ich bin damit beschäftigt, den Engel dort zu reparieren«,
erklärte der Mann, als ob er ihre Gedanken lesen könnte, und deutete auf das Grabmal der Vicorettis, das sich schräg hinter dem der Mazones befand. Sofia erkannte jetzt auch den weinenden Engel, der, in zwei Teile zerbrochen, auf dem Boden neben der Grabplatte lag. »Und wie machen Sie das?«, fragte Sofia verständnislos, mit einem Blick auf den Eimer. Vielleicht war der Engel ja innen hohl, und der Mann hegte die Absicht, ihn mit den Steinen aufzufüllen, damit er schwerer wurde und den Winterstürmen besser standhalten konnte. »Mit Zement«, klärte Stefano sie auf. »Und was ist mit den Steinen?« »Die brauche ich für ein neues Podest!« »Ah ja«, sagte Sofia und war sich darüber im Klaren, dass das Gespräch nun zu Ende war. Dennoch blieb sie stehen und fragte: »Und was haben Sie damals im Kloster gemacht?«
»Eine neue Brunnenfigur. Eine Madonna, eine Immaculata. Haben Sie sie noch nie gesehen?« »Doch. Natürlich«, log Sofia rasch und errötete. Sie hatte nicht die Absicht, ihm mitzuteilen, dass sie wenige Wochen nach dem damaligen Zusammentreffen das Kloster vorzeitig verlassen hatte und nie wieder dort aufgekreuzt war. Es war einer ihrer zahlreichen Siege über den Willen ihres Vaters gewesen, die zwei schrecklichen Jahre um ein halbes zu kürzen. Keine einzige Nadel hatte sie seitdem mehr angerührt, selbst das Betttuch mit dem goldenen Saum hatte Tante Serafina fertig stellen müssen.
Copyright © der Originalausgabe 2009 by Barbara Piazza und Limes Verlag,
Verlagsgruppe Random House, München.
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Autoren-Porträt von Barbara Piazza
Barbara Piazza wurde 1945 in Eislingen/Fils geboren. Nach einer Verwaltungsausbildung hat sie über viele Jahre erfolgreich als Drehbuchautorin für viele Fernsehfilme und Serien gearbeitet. »Die Frauen der Pasqualinis« ist ihr erster großer Roman. Barbara Piazza ist verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt mit ihrem Mann in Oberschwaben.
Bibliographische Angaben
- Autor: Barbara Piazza
- 766 Seiten, Maße: 13,6 x 21,5 cm, Hochw. Broschur mit Klappeinb.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004432
- ISBN-13: 9783868004434
Rezension zu „Die Frauen der Pasqualinis “
"Über drei Generationen spannt die Drehbuchautorin Barbara Piazza den Erzählfaden ihres großartigen Epos und erzählt wie nebenbei auch von 60 Jahren deutsch-italienischer Geschichte."
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