Die Frauen von Arranoo
Eve flieht im Zweiten Weltkrieg aus Italien ins australische Perth. Auf ihrer Farm Arranoo zieht sie ihre Tochter Nina groß. Die schämt sich für die oft seltsamen europäischen Bräuche ihrer Mutter. Erst als Nina...
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Produktinformationen zu „Die Frauen von Arranoo “
Eve flieht im Zweiten Weltkrieg aus Italien ins australische Perth. Auf ihrer Farm Arranoo zieht sie ihre Tochter Nina groß. Die schämt sich für die oft seltsamen europäischen Bräuche ihrer Mutter. Erst als Nina selbst schwanger wird, beginnt auch sie, die Familienbande zu schätzen. Doch dann droht ein tragischer Unfall alles zu zerstören, was die Frauen aufgebaut haben.
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Die Frauen von Aranoo von Jo DuttonERSTER TEIL
Eves Familie
1
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Als Eve schwanger wurde, dachte sie zuerst, sie würde sich die Symptome vielleicht nur einbilden. Ihre Periode war seit Jahren unregelmäßig gewesen, und sie hatte sich schon seit langem mit der Tatsache abgefunden, dass der Preis für das Überleben des Krieges vielleicht ihre Unfruchtbarkeit war. Nach drei Monaten Übelkeit, als ihre Brüste geschwollen waren wie reifende Früchte und ihr Körper eben begonnen hatte, einen kleinen, rundlichen Bauch zu entwickeln, war sie allmählich sicher genug, um es ihrem Mann, Peter, zu sagen. Er nahm die Neuigkeit gelassen auf, fuhr dann zum westlichsten Punkt des Grundstücks und stieg auf den Granitabbruch, bis er einen guten Ausblick über sein Land hatte. In der braunen Erde des ausgedörrten Landes sah er eine neue Zeitlosigkeit, während die ungeahnte Möglichkeit eines Erben, seines eigen Fleisch und Blut, wie winzige Luftbläschen in jede Pore seines Wesens eindrang und ihn mit einer solch ungeheuren Freude erfüllte, dass er fast zu platzen glaubte.
Anders als Eve, die vertrieben worden war, nachdem der Frieden endlich auf einer bauschigen Wolke gekommen war, kehrte Peter aus dem Grauen in sein eigenes Land zurück. Als er nach Hause kam, gewann er Arranoo in einer Farmlotterie für heimgekehrte Soldaten. Später sollte er das Land seines Nachbarn unter Umständen kaufen, von denen er sich gewünscht hätte, dass sie sich nie ereignet hätten. In Peters eigenem Bezirk war fast jeder Mann und Junge, der fortgegangen war, nicht zurückgekehrt. Das Mahnmal für die Toten im Rotary Park ragte hoch über den Rosenbüschen auf und verlieh dem Garten ein düsteres Aussehen. Peter war ein Freiwilliger gewesen, älter als die Wehrpflichtigen, mit denen er gedient hatte, und er hatte im Dampf des Pazifiks Gefechte überlebt, die das Leben von Männern forderten, die halb so alt waren wie er. Männer, die noch weitaus mehr ihres Lebens vor sich hatten. Er kehrte voller Schuldgefühle nach Hause zurück, entschlossen, einen Weg zu finden, seinem Leben einen Sinn zu geben. Es war nicht einfach. Ausgezeichnet mit Medaillen für Tapferkeit bei Ereignissen, die, wie er wusste, nicht mehr erforderten als Urinstinkte im Angesicht des Todes, hatte er kein Interesse an der Rolle des Lokalmatadors.
Dann lernte er Eve in einem Flüchtlingslager der Kirche kennen. Sie war dunkelhaarig und zu dünn, aber ihre großen braunen Augen, ihre elegante Nase mit den feinen Nasenlöchern, die bebten, wenn sie emotional wurde, und ein unverwechselbares Grübchen auf einer Wange überzeugten ihn, dass sie die schönste junge Frau war, die er je gesehen hatte. Er beobachtete sie vorsichtig aus der Ferne, bewunderte ihre kräftigen Arme, ihre mädchenhaften Beine. Eines Abends kam sie und setzte sich beim Essen neben ihn. Es gab noch andere freie Stühle, aber sie wählte den neben ihm. Sie aß ihr Essen langsam, als sei es eine lästige Aufgabe. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Jede Bewegung, die sie vollführte, entzückte ihn; die Gabelspitze, die an ihren Lippen ruhte, die Biegung ihres Handgelenks, wenn sie zwischen zwei Bissen innehielt, die Verengungen ihrer Kehle, wenn sie schluckte.
Nach langer Unentschlossenheit überwand er schließlich seine Schüchternheit und sprach sie an.
«Ich nehme an, das ist nicht die Art Essen, die Sie gewohnt sind.»
Sie sah ihn an, und es schien, als würde sie eine Weile brauchen, um den Blick auf einen Teil seines Gesichts zu richten, der ihr gefiel.
«Es ist gut», sagte sie. «Alles Essen.»
Sie sprach ernst. Er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er so unsensibel war. Die halbe Welt litt noch immer Hunger. Sein Gesicht errötete vor Verlegenheit.
Unerwartet beugte sie sich vor und flüsterte: «Ja, es ist grauenhaft.»
Sie lächelte. Ihr Mund war breit, und zwischen ihren Schneidezähnen klaffte eine große Lücke. Später sollte sie zu ihm sagen, je weiter der Abstand, desto größer das Glück. Sie war so nahe, dass er ihren Duft von Velvet-Seife riechen konnte. Ohne jedes Aufheben begriff er in diesem Augenblick, wie es war, sich Hals über Kopf zu verlieben.
Als Peter in der Nacht aufwachte, hatten die Wehen bereits voll eingesetzt, und Eve befand sich tief in jenem mystischen Raum, den er Tiere hatte aufsuchen sehen, wenn sie neues Leben zur Welt brachten.
«Ich hole den Wagen», sagte er, «oder den Lastwagen, soll ich den Lastwagen holen und eine Matratze hineinlegen?» Er schlüpfte in seine Hose und schnallte sich den Gürtel zu, während er sprach.
«Nein», sagte Eve, schwer durch die Nase atmend. «Kein Krankenhaus. Nur du und ich.»
Sie zeigte auf eine Tasche am Boden. Darin befanden sich frische Handtücher, steifgewaschene Laken, Scheren, kleine Musselindeckchen. Offensichtlich hatte sie sich darauf vorbereitet, es zu Hause zu tun. Einen Augenblick lang hielt Peter inne, verletzt, dass sie ihm ihren Plan nicht anvertraut hatte, räumte jedoch im selben Moment ein, dass sie gewusst hatte, dass er versuchen würde, ihr eine Hausgeburt auszureden.
«Was soll ich tun?», fragte er.
«Richte mit den Laken ein frisches Lager her.»
Er ließ sie einen Augenblick lang allein, um sich die Hände zu waschen, zwang sich, es gründlich zu tun, verhakte die Finger ineinander und schrubbte sie, während sein Herz raste, voller Panik, rasch an ihre Seite zurückzukehren. Jeder Atemzug, jedes Pressen, jedes bisschen Energie, das Eve besaß, war völlig auf die Geburt ausgerichtet. Die pure Schönheit ihrer Anstrengungen flößte ihm Ehrfurcht und Entsetzen ein, aber er ließ seine Angst dort vergraben, wo er sie im Krieg versteckt hatte. Blut sickerte an den Innenseiten von Eves Schenkeln hinunter. Sie legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Kopf. Er schluckte ängstlich. Schweiß glänzte auf ihrem nackten Körper, ihr Mund stand weit offen, und sie trank Wasser in kleinen Schlucken, Eissplitter, die er ihr einfl ößte. Sie war strahlend. Draußen kam der Neumond endlich in Sicht, und Eve begann zu pressen.
Das Baby, ein Mädchen, kam in einem Wasserschwall zur Welt, die Arme an den Seiten ordentlich an sich gedrückt. Peter fi ng ihren warmen Kopf auf, stützte sie bei ihrem Eintritt in die Welt und glaubte vor Liebe zu zerspringen.
Eve nahm ihr Kind, und ihr Gesicht glühte, genau wie das ihres Ehemanns, mit einem Blick voller Verwunderung und Stolz. Sie drückte das winzige Mädchen auf ihren weichen Bauch, während Peter Decken um sie beide herrichtete. Trotz der Wärme der Nacht zitterte Eve. Mit einer Hand, die er abstützen musste, durchtrennte er die Nabelschnur, die Mutter und Kind verband, und Tränen strömten ihm übers Gesicht, verblüfften ihn so sehr, dass er lachen musste. Seine Tochter schrie bei dem Geräusch auf, und Eve streckte eine Hand nach ihrem Mann aus und beschwichtigte ihn und das Baby mit einem besänftigenden Säuseln.
«Wir werden sie Nina nennen», sagte sie. Er fragte nicht, wessen Name es war. Er hatte nichts dagegen, wenn sie ihrem Kind Dinge aus der Vergangenheit gab, ohne es zu erklären. Ihm war es genug, dass es ein hübscher Name war.
Die Plazenta wollte sich nicht von allein lösen. Letztendlich musste Peter helfen, sie zu gebären, indem er sanft an der dicken, blauen Nabelschnur zog und Eves Gebärmutter mit seiner fl achen Hand auf ihrem Bauch massierte. Schließlich tauchte das seltsame Organ auf, riesig und gummiartig, und glücklicherweise unversehrt.
«Heb sie auf», sagte sie. «Im Gefrierfach. Ich will sie haben.»
Alles, er wusste, von diesem Augenblick an würde er alles tun, worum sie ihn bat, ganz gleich, wie bizarr. Die Liebe, die er vor dieser Nacht für sie empfunden hatte, war nicht mehr als die Verknalltheit eines Jungen im Vergleich zu der Tiefe des Gefühls, das er nun für sie hatte. Er trug das blutige Päckchen in die Küche und verstaute es in einem Behälter im Gefrierfach.
Über das nasse Gras ging Peter zu dem Zaun vor dem Haus. Er lehnte sich auf den Draht, die Arme der Sonne entgegengereckt. Die ersten Strahlen des Morgenlichts streckten sich nach ihm aus, bis er in einen goldenen Schimmer getaucht war. Das hieß es also, Vater zu sein, dachte er. Es hieß, gesegnet zu sein.
Als er leise auf Socken ins Haus ging, hörte er seine Tochter weinen, das seltsame Miauen eines Neugeborenen. Er steckte den Kopf ins Zimmer und sah zu seinem Entsetzen, dass sie kaum in Eves Armen geborgen war, lose dalag und unsicher mit den Armen ruderte. Mit wenigen großen Schritten war Peter am Bett. Er musste die Decke nicht zurückschlagen, um zu sehen, was passiert war; selbst die oberste war rot verfärbt. Einen Augenblick lang zögerte er - wen sollte er zuerst hochheben? Er legte seine Tochter in ihr Körbchen und ließ sie dort zurück, während er Eve zum Wagen trug und sie in Decken gewickelt auf die Rückbank bettete. Er riskierte es, noch mehr Zeit zu verlieren, als er aus der Küche eine Flasche Whiskey holte. Seine Tochter schrie wild, während er sie unbeholfen zum Wagen trug. Das Geräusch rüttelte Eve auf. Gut, dachte er, gut. Er goss Eve eine Verschlusskappe Whiskey in den Mund und nahm dann selbst einen Schluck. Eine Hand auf dem Babykörbchen, nahm er den Wagen aus dem Leerlauf und legte den Gang ein. Zum Glück war es keine vielbefahrene Straße. Zum Glück hatte der Bezirk ein Krankenhaus. Das war es, was Peter sich sagte, als er fuhr, während ein anderer Teil von ihm so laut und klar wie seine neue Tochter schrie, das ist nicht fair.
In jener Nacht, als Eve aus der unmittelbaren Gefahr war, ging Peter zum Münztelefon und rief Carmen an. Niemand konnte ihm mit Sicherheit sagen, dass es durch die Maßnahmen, die man ergriffen hatte, um Eve zu retten, keine Komplikationen geben würde, aber sie war inzwischen so stabil, dass er sie allein lassen konnte, um ihre beste Freundin anzurufen. Carmen stammte aus derselben Provinz wie seine Frau, und sie hatten sich auf dem Schiff nach Australien kennengelernt. Sie war Eves Brautjungfer gewesen.
Ein Fremder nahm das Telefon ab. Carmen war in Melbourne. Peter spürte, wie er egoistischerweise erleichtert war, dass er seine Nachtwache allein halten würde.
Trotz der Proteste des Pflegepersonals konnte er die Oberschwester, die er sein Leben lang gekannt hatte, überzeugen, dass Nina mit ihm zusammen an Eves Seite bleiben durfte. Er wusste, wenn irgendetwas sie retten konnte, dann ihr Instinkt, sich um ihr Kind zu kümmern, und so legte er Nina in dieser Nacht immer wieder Eve auf die Brust. Er wollte, dass Eve ihren Atem spürte, ihren Herzschlag, ihr pulsierendes Bedürfnis nach der Fürsorge ihrer Mutter.
Einen Monat später fuhr er Eve, um ihre Olivenbäume abzuholen. Sie war noch immer ein wenig blutarm, blass und bleich. Er hatte zunächst Bedenken gehabt, was diese Fahrt betraf, aber sie hatte darauf bestanden. Nina schlief auf der heißen Fahrt friedlich in ihrem Körbchen zwischen ihnen, kühler als sie beide unter nassen Windeln, die über dem Körbchen hingen. Peter und Eve sprachen wenig, zufrieden mit dem schlichten Vergnügen, zusammen zu sein. Sie sahen hinaus auf die Straße und das Land, flach und braun, gesichert von Umzäunungen, die in Drahtschleifen am Straßenrand verliefen. Schafe kauerten sich trostlos unter vereinzelten Bäumen zusammen, die geschorenen Felle schmutzig vom sommerlichen Staub. Mähdrescher standen unbenutzt neben vollen Scheunen. Hin und wieder ruhte ein europäischer Heuballen, ein honigfarbener Kegel, inmitten eines Felds. An einem alten Palisadenzaun vor einem verlassenen Farmhaus sah Eve einen wilden Passionsfruchtstrauch, der soeben erblühte, eine federnartige Pracht in Weiß und Violett. Der Himmel war klar und weißblau. Sie fand überall Schönheit.
Sie und Peter reichten sich immer wieder eine Wasserflasche zu, um ihren ständigen Durst zu stillen. Von Zeit zu Zeit streckte er eine Hand aus und berührte ihre warme Wange, dann drehte sie seine Handfläche zu sich um und küsste sie.
Sie waren auf dem Weg zu Marco, einem Mann, den Carmen mit Eve bekannt gemacht hatte und der ein paar Olivenbäume aus dem Bestand der alten Benediktiner-Abtei von New Norcia hatte. An die hiesigen Bedingungen gewöhnt, würden es gute Bäume sein, so viel wusste sie, und darüber hinaus besaß er viele der älteren Tomatensorten, die sie gern anbauen wollte. Und Weintrauben, für die Zukunft.
Als sie seinen kleinen Gemüseanbaubetrieb erreichten, bestand Marco darauf, dass sie zum Mittagessen blieben. Sie möchten ihm den Gefallen tun und einem alten Mann Gesellschaft leisten, bat er, sodass sie kaum eine andere Wahl hatten. Aber Peter war froh, dass sie blieben. Von seinem Liegestuhl aus hörte er zu, wie seine Frau und Marco ins Italienische überwechselten, während er wegdöste, behaglich unter dem großzügigen Schatten der Weinranken. Er mochte den Klang der Sprache, die Art, wie sie in einen melodiösen Singsang verfiel. Sie wieder gesprochen zu hören erinnerte ihn an die Zeit, als er Eve kennengelernt hatte, und glücklich gab er sich der Erinnerung hin, während er in einen tiefen Schlaf sank, den Bauch schwer gefüllt mit dem Mittagessen, das aus Pasta und kleinen Törtchen bestanden hatte, die er mit zu viel selbstgemachter Sahne gegessen hatte.
«Kommt im Frühjahr wieder», lud Marco sie ein, als sie in der kühleren Luft der Abenddämmerung aufbrachen. «Für die Weintrauben.»
Während sie nach Hause fuhren, wandte sich Eve von Zeit zu Zeit um, um sich zu vergewissern, dass ihre Olivenbäume, sechs kleine, dunkle Stecken, noch immer auf der Ladefläche des Geländewagens standen.
Am nächsten Tag half Peter ihr, die Bäume in die von ihr sorgsam vorbereitete Erde zu pflanzen. Sie hatte eine Stelle unweit der außerhalb des Hauses gelegenen Waschküche gewählt, sodass sie für die Bewässerung das Waschwasser ableiten konnte, sobald sie sich eingerichtet hatten. Sie pflanzten für jedes Mitglied ihrer Familie, das gestorben war, einen Baum. Fünf kleine Bäume. Die höchsten pflanzte sie für ihre Mutter und ihren Vater. Einen Baum mit einem seltsamen kleinen Knoten über dem Setzling für ihre Großmutter. Den mit der leichten Krümmung für ihren Großvater. Der kleinste Baum war für ihre jüngere Schwester. Peter sah zu, wie Eve die Bäume sorgfältig pflanzte, jeden Topf umdrehte, die Pflanze unten festhielt und dann einmal hart gegen den Boden des Topfs klopfte, um den Baum zu lockern, bis er frei war. Sie hielt jeden einzelnen behutsam in ihrer Hand, während die Pflanzmischung die Wurzeln noch immer sicher schützte, bevor sie sie nacheinander in den Löchern versenkte und dann die Erde darüber festklopfte. Als Eve begann, den Baum zu pflanzen, den sie für ihre Schwester ausgesucht hatte, sah sie auf, mit dünnen, verkniffenen Lippen, und runzelte unsicher die Stirn.
«Einen Augenblick lang war es, als sei sie hier. Ich konnte ihre Locken auf meinem Schoß spüren, ihre Hand auf meinem Schenkel. Sie hatte Hände wie weiche Klöße.» Ihr Mund bebte, dann stieß sie einen entsetzlichen Laut aus. Peter zuckte zusammen, als ihr Weinen immer abgehackter und gequälter wurde. Er hob Nina hoch und tröstete sie, obwohl sie friedlich schlief. Er wiegte sein Baby in seinen Armen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Eve um ihre Familie trauern zu lassen, und dem Bedürfnis, sie mit Worten und Gesten des Trostes zum Schweigen zu bringen. Schließlich konnte er ihr Weinen nicht länger ertragen und kauerte sich neben sie, zog sie mit seinem freien Arm an sich, und sie klammerte sich verzweifelt an seine Hüfte, während ihre Tränen sein Hemd durchnässten.
«Ist ja gut, mein Schatz», sagte er schließlich, als sie sich erschöpft hatte und zusammengesunken und leise schniefend dalag. Er küsste ihr warmes Haar, wobei er das Baby unbeholfen drückte, sodass es einen kurzen spitzen Schrei ausstieß. Bei dem Geräusch schreckte Eve hoch, doch Nina hatte sich schon wieder zum Schlafen in die Armbeuge ihres Vaters gekuschelt. Eves Blick wurde schärfer, als sei sie im Begriff, aufzuwachen, und sie legte ihre erdverkrusteten Finger an die Wange ihrer Tochter, wo sie eine hauchdünne Spur hinterließen.
«Dein Land», flüsterte sie, «unser Zuhause.»
An jenem Nachmittag, während Peter mit Eve auf ihrem gemeinsamen Bett lag, Nina schlafend zwischen sich, schloss er die Augen und fi el in einen friedlichen Schlaf. Zum ersten Mal seit Jahren wurde er nicht von Erinnerungen an einen schlammigen und blutigen Dschungel wachgerissen.
Bei Einbruch der Dunkelheit ließ Eve ihn den großen Behälter aus der Spüle in der Waschküche holen. Er warf einen Blick hinein, und im ersten Augenblick erkannte er das blutige Organ nicht. Sie hatte bereits ein Loch vorbereitet, in das der Inhalt gekippt werden sollte.
«Das ist Ninas», sagte Eve, während ihr Mann den letzten Baum in das Loch steckte und dann die Erde darüber festklopfte.
«Pass auf», sagte sie, «dieser Baum wird in die Höhe schießen. Er wird lange vor den anderen Früchte tragen.»
Sie drückte die winzigen Füße ihrer Tochter auf die Erde und stopfte die Baumwurzeln fest in die Erde.
Peter beugte sich hinunter und küsste seine Frau auf den Kopf. Ihr Haar war warm und duftete nach dem Rosmarinwasser, mit dem sie es spülte, um seinen dunklen Glanz zu bewahren. Er wollte sich in seiner Süße vergraben.
«Geh ins Haus», sagte er. «Ich bringe Nina mit und räume alles auf.» Er fürchtete, der Tag könnte sie zu sehr erschöpft haben.
Eva lachte und hob ihr Baby von einer Patchworkdecke auf, die sie auf den Boden gebreitet hatte.
«Es geht mir so gut wie seit Jahren nicht mehr.»
Er sah ihr nach, als sie ging, das Baby auf ihrer Schulter, mit schmalen, schwingenden Hüften wie die eines Mädchens, und dachte, sie könnte recht haben.
Am Rand der Felder brannte die Sonne den letzten Rest ihres Lichts rot und feurig auf den westlichen Boden. Peter stand vor dem Haus und sah zu, wie der Sonnenuntergang zu einem sanften Schimmer verblasste und es kühl wurde, während die Stoppeln des Weizens im schwindenden Licht golden glänzten. Auf dem Weg zu seiner Rechten regte sich etwas. Eine Staubschicht erhob sich und leuchtete hell. Ein Fahrzeug näherte sich. Peter beobachtete es, um zu sehen, ob es vorbeifahren würde; aus dieser Entfernung ließ sich unmöglich sagen, ob es sein Tempo verlangsamte. Doch da an dieser Straße außer ihrer nur zwei andere Farmen lagen, bestand durchaus die Möglichkeit, dass es auf dem Weg zu ihrem Haus war, auch wenn er keine Ahnung hatte, wer jetzt noch zu Besuch kommen könnte. Es war zu spät, als dass irgendjemand aus der Gegend vorbeischauen würde.
Der Wagen bog zu ihnen ein. Peter stand da und sah nervös zu, wie der Holden die Hauptauffahrt hinunterfuhr, bis die Fahrerin in Sicht kam. Carmen. Sie winkte schwungvoll aus dem Fenster, das dunkle Haar hinten zu einem kunstvollen Knoten zusammengebunden, das breite Gesicht von einem riesigen Lächeln zweigeteilt. Sie fuhr in einer Staubwolke vor und bremste zu schnell. Alles, was Carmen tat, war für Peters Geschmack ein bisschen zu schnell.
«Endlich bin ich da», sagte sie fröhlich. «Hilf mir bitte, da sind so viele Einkäufe, dass ich den netten Tramper, den ich gesehen habe, gar nicht mitnehmen konnte.»
«Ein Glück», sagte Peter. «Man weiß nie, was für Ärger man sich einhandelt.»
«Du nimmst sie doch auch immer mit. Du meinst, es ist nicht gut, weil ich eine Frau bin?»
Peter ließ das Thema fallen. Es lohnte sich nicht, sich mit Carmen zu streiten. Von dem Augenblick an, als Eve sie einander vorgestellt hatte, hatte er gewusst, dass sie eine Frau mit sehr entschiedenen Ansichten war.
«Schön, dich zu sehen», sagte er. «Hübscher neuer Wagen.
Ich werde all deine Sachen gleich ausladen. Komm ins Haus, Eve wird böse werden, wenn ich dich noch eine Sekunde länger von ihr und Nina fernhalte.»
Carmen schlug ihm scherzhaft auf den Arm. «Na los, gehen wir.»
Er führte sie den Flur hinunter in die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses. Wie er erwartet hatte, hatte Eve bereits den Kaffee auf dem Herd und einen Teller Kekse auf dem hölzernen Tisch. Er sah zu, wie die beiden Freundinnen sich umarmten, und als er die Farbe sah, die Eve in die Wangen stieg, und ihre Freude spürte, musste er schnell den winzigen Klumpen Groll hinunterschlucken, den er hegte, da Carmen nun die ganze Aufmerksamkeit seiner Frau an sich reißen würde. Carmen war nicht für immer gekommen, rief er sich in Erinnerung. Sie liebte Eve und war völlig außer sich gewesen, weil sie so weit weg war, als ihre Freundin krank gewesen war. Aber sie mochte das Leben auf dem Land nicht besonders und würde sicher nicht lange bleiben. Ihm war aufgefallen, dass sie sich nie über die Gärten des Hauses hinauswagte, und obwohl sie Perth als Großstadt verachtete - sie nannte es kleingeistig, provinziell -, spürte Peter doch, dass sie die Vielfalt, die die Stadt zu bieten hatte, hier draußen bald vermisste. Während ihrer Aufenthalte suchte er oft nach Anzeichen, dass seine Frau ihre Freundin um ihr eher kosmopolitisches Leben beneidete, aber er fand nie irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass das der Fall sein könnte.
Im Laufe der kommenden Jahre lehrten Peter und Eve Nina voller Liebe, die Wertvorstellungen ihrer Eltern anzunehmen. Sie lernte, das Tischgebet zu sprechen, kein Essen auf dem Teller liegen zu lassen, Eiweiß locker unter einen Biskuitteig zu heben, stets die Gatter zu schließen, nie ein Werkzeug auf der Bank zu vergessen, sondern immer auf das Werkzeugregal an der Wand zu legen, und den Hund auf genau die richtige Art zurückzurufen. An manchen Sonntagen ging sie zur Kirche, manchmal mit ihren beiden Eltern, aber öfter nur mit Eve. Als sie älter wurde, lernte sie, die Ausrede ihres Vaters, er müsse arbeiten, zu benutzen, um die langen Predigten in der zugigen hölzernen Kirche zu meiden, in der die Betenden im Winter froren und im Sommer schmorten. Und sie lernte, die Küche zu meiden. Ihrem Vater im Freien Gesellschaft zu leisten.
An dem Morgen, an dem sie eingeschult werden sollte, schenkte ihr Vater ihr einen Malkasten. Sie legte ihn in ihre Schublade und bewahrte ihn als etwas auf, worauf sie sich am Ende des Tages freuen konnte. Nach einem Frühstück, bei dem sie nur lustlos auf ihrem Teller herumstochern konnte, fuhr ihre Mutter sie zum Gatter, wo sie auf den Bus wartete. Es sollte ihr erster Tag ohne ihre beiden Eltern sein, und sie hatte entsetzliche Angst. Sie versuchte, tapfer zu sein, sich in Erinnerung zu rufen, dass ihre Mutter erst ein junges Mädchen gewesen war, als sie ihre Eltern für immer verlor, aber es klappte nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Ihre Mutter wischte sie sanft beiseite. Sie holte ein Foto aus ihrer Tasche. Es zeigte sie alle, wie sie die ersten Weinstöcke pflanzten. Die Thompson Seedless und die Flame Tokay. Marco hatte ihnen die Pflanzen gegeben. Auf dem Foto hatte Nina eben laufen gelernt, und sie hielt den Gartenschlauch wie ein Feuerwehrmann umklammert.
«Sieh mal», sagte Eve und deutete über das abgeerntete Feld auf den Weinberg.
Nina warf einen Blick zurück. Selbst aus der Ferne konnte sie bis zu der Ostseite des Hauses in der Nähe der Schafscherer-Unterkünfte blicken, wo sich die Weinranken laubreich über ihren Draht erstreckten und die Früchte schwer an ihnen hinunterhingen.
«Die Zeit vergeht rasch», sagte ihre Mutter. «Ehe du dich's versiehst, wird der Tag schon vorbei sein.»
Nina sah ihre Mutter seltsam an. Es war das erste Mal, dass sie ihr nicht glaubte.
Das lärmende Chaos der Schule und die Feindseligkeit der Lehrer waren schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte. Es war ein Schock für sie, dass nicht jeder so sanft wie ihre Eltern war. Und der Tag war für ihren Geschmack allzu durchsetzt von Unterbrechungen. Aber der erste Tag verstrich, und dann der nächste. Sie lernte, in der Schule stillzuhalten, wie sie es in den braunen Gewässern des Stausees tat, und sich einfach treiben zu lassen.
Im Laufe der Jahre täuschte sie oft Übelkeit vor, um zu Hause auf der Farm zu bleiben. Eve zog die Augenbrauen hoch angesichts der außergewöhnlichen Temperaturen, die Nina erreichte, indem sie das Thermometer in heißen Tee tauchte, aber Nina konnte sich immer auf Peters Unterstützung verlassen. Er zwang sie selten zu etwas, auch wenn Nina mitunter, damit sie die Situation nicht allzu oft ausnutzte, gezwungen wurde, im Bett zu bleiben und das falsche Spiel wirklich durchzuspielen. Aber meistens durfte sie sich, sobald der Schulbus vor dem Gatter vorbeigefahren war, zu ihrem Vater gesellen, wo immer er auf dem Grundstück arbeitete.
Nina tröstete sich mit dem Gedanken, dass jeder Tag, so eintönig er auch war, sie den Ferien ein Stückchen näher brachte. Sobald das Schultrimester zu Ende war, wurde die Morgendämmerung wieder zu ihrer Freundin. Dann stand sie in dem weichen, gelblichen Licht zusammen mit ihrem Vater auf und trank schweigend in der Küche mit ihm Tee.
Übersetzung: Veronika Dünninger
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
Als Eve schwanger wurde, dachte sie zuerst, sie würde sich die Symptome vielleicht nur einbilden. Ihre Periode war seit Jahren unregelmäßig gewesen, und sie hatte sich schon seit langem mit der Tatsache abgefunden, dass der Preis für das Überleben des Krieges vielleicht ihre Unfruchtbarkeit war. Nach drei Monaten Übelkeit, als ihre Brüste geschwollen waren wie reifende Früchte und ihr Körper eben begonnen hatte, einen kleinen, rundlichen Bauch zu entwickeln, war sie allmählich sicher genug, um es ihrem Mann, Peter, zu sagen. Er nahm die Neuigkeit gelassen auf, fuhr dann zum westlichsten Punkt des Grundstücks und stieg auf den Granitabbruch, bis er einen guten Ausblick über sein Land hatte. In der braunen Erde des ausgedörrten Landes sah er eine neue Zeitlosigkeit, während die ungeahnte Möglichkeit eines Erben, seines eigen Fleisch und Blut, wie winzige Luftbläschen in jede Pore seines Wesens eindrang und ihn mit einer solch ungeheuren Freude erfüllte, dass er fast zu platzen glaubte.
Anders als Eve, die vertrieben worden war, nachdem der Frieden endlich auf einer bauschigen Wolke gekommen war, kehrte Peter aus dem Grauen in sein eigenes Land zurück. Als er nach Hause kam, gewann er Arranoo in einer Farmlotterie für heimgekehrte Soldaten. Später sollte er das Land seines Nachbarn unter Umständen kaufen, von denen er sich gewünscht hätte, dass sie sich nie ereignet hätten. In Peters eigenem Bezirk war fast jeder Mann und Junge, der fortgegangen war, nicht zurückgekehrt. Das Mahnmal für die Toten im Rotary Park ragte hoch über den Rosenbüschen auf und verlieh dem Garten ein düsteres Aussehen. Peter war ein Freiwilliger gewesen, älter als die Wehrpflichtigen, mit denen er gedient hatte, und er hatte im Dampf des Pazifiks Gefechte überlebt, die das Leben von Männern forderten, die halb so alt waren wie er. Männer, die noch weitaus mehr ihres Lebens vor sich hatten. Er kehrte voller Schuldgefühle nach Hause zurück, entschlossen, einen Weg zu finden, seinem Leben einen Sinn zu geben. Es war nicht einfach. Ausgezeichnet mit Medaillen für Tapferkeit bei Ereignissen, die, wie er wusste, nicht mehr erforderten als Urinstinkte im Angesicht des Todes, hatte er kein Interesse an der Rolle des Lokalmatadors.
Dann lernte er Eve in einem Flüchtlingslager der Kirche kennen. Sie war dunkelhaarig und zu dünn, aber ihre großen braunen Augen, ihre elegante Nase mit den feinen Nasenlöchern, die bebten, wenn sie emotional wurde, und ein unverwechselbares Grübchen auf einer Wange überzeugten ihn, dass sie die schönste junge Frau war, die er je gesehen hatte. Er beobachtete sie vorsichtig aus der Ferne, bewunderte ihre kräftigen Arme, ihre mädchenhaften Beine. Eines Abends kam sie und setzte sich beim Essen neben ihn. Es gab noch andere freie Stühle, aber sie wählte den neben ihm. Sie aß ihr Essen langsam, als sei es eine lästige Aufgabe. Er konnte den Blick nicht von ihr abwenden. Jede Bewegung, die sie vollführte, entzückte ihn; die Gabelspitze, die an ihren Lippen ruhte, die Biegung ihres Handgelenks, wenn sie zwischen zwei Bissen innehielt, die Verengungen ihrer Kehle, wenn sie schluckte.
Nach langer Unentschlossenheit überwand er schließlich seine Schüchternheit und sprach sie an.
«Ich nehme an, das ist nicht die Art Essen, die Sie gewohnt sind.»
Sie sah ihn an, und es schien, als würde sie eine Weile brauchen, um den Blick auf einen Teil seines Gesichts zu richten, der ihr gefiel.
«Es ist gut», sagte sie. «Alles Essen.»
Sie sprach ernst. Er hätte sich dafür ohrfeigen können, dass er so unsensibel war. Die halbe Welt litt noch immer Hunger. Sein Gesicht errötete vor Verlegenheit.
Unerwartet beugte sie sich vor und flüsterte: «Ja, es ist grauenhaft.»
Sie lächelte. Ihr Mund war breit, und zwischen ihren Schneidezähnen klaffte eine große Lücke. Später sollte sie zu ihm sagen, je weiter der Abstand, desto größer das Glück. Sie war so nahe, dass er ihren Duft von Velvet-Seife riechen konnte. Ohne jedes Aufheben begriff er in diesem Augenblick, wie es war, sich Hals über Kopf zu verlieben.
Als Peter in der Nacht aufwachte, hatten die Wehen bereits voll eingesetzt, und Eve befand sich tief in jenem mystischen Raum, den er Tiere hatte aufsuchen sehen, wenn sie neues Leben zur Welt brachten.
«Ich hole den Wagen», sagte er, «oder den Lastwagen, soll ich den Lastwagen holen und eine Matratze hineinlegen?» Er schlüpfte in seine Hose und schnallte sich den Gürtel zu, während er sprach.
«Nein», sagte Eve, schwer durch die Nase atmend. «Kein Krankenhaus. Nur du und ich.»
Sie zeigte auf eine Tasche am Boden. Darin befanden sich frische Handtücher, steifgewaschene Laken, Scheren, kleine Musselindeckchen. Offensichtlich hatte sie sich darauf vorbereitet, es zu Hause zu tun. Einen Augenblick lang hielt Peter inne, verletzt, dass sie ihm ihren Plan nicht anvertraut hatte, räumte jedoch im selben Moment ein, dass sie gewusst hatte, dass er versuchen würde, ihr eine Hausgeburt auszureden.
«Was soll ich tun?», fragte er.
«Richte mit den Laken ein frisches Lager her.»
Er ließ sie einen Augenblick lang allein, um sich die Hände zu waschen, zwang sich, es gründlich zu tun, verhakte die Finger ineinander und schrubbte sie, während sein Herz raste, voller Panik, rasch an ihre Seite zurückzukehren. Jeder Atemzug, jedes Pressen, jedes bisschen Energie, das Eve besaß, war völlig auf die Geburt ausgerichtet. Die pure Schönheit ihrer Anstrengungen flößte ihm Ehrfurcht und Entsetzen ein, aber er ließ seine Angst dort vergraben, wo er sie im Krieg versteckt hatte. Blut sickerte an den Innenseiten von Eves Schenkeln hinunter. Sie legte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Kopf. Er schluckte ängstlich. Schweiß glänzte auf ihrem nackten Körper, ihr Mund stand weit offen, und sie trank Wasser in kleinen Schlucken, Eissplitter, die er ihr einfl ößte. Sie war strahlend. Draußen kam der Neumond endlich in Sicht, und Eve begann zu pressen.
Das Baby, ein Mädchen, kam in einem Wasserschwall zur Welt, die Arme an den Seiten ordentlich an sich gedrückt. Peter fi ng ihren warmen Kopf auf, stützte sie bei ihrem Eintritt in die Welt und glaubte vor Liebe zu zerspringen.
Eve nahm ihr Kind, und ihr Gesicht glühte, genau wie das ihres Ehemanns, mit einem Blick voller Verwunderung und Stolz. Sie drückte das winzige Mädchen auf ihren weichen Bauch, während Peter Decken um sie beide herrichtete. Trotz der Wärme der Nacht zitterte Eve. Mit einer Hand, die er abstützen musste, durchtrennte er die Nabelschnur, die Mutter und Kind verband, und Tränen strömten ihm übers Gesicht, verblüfften ihn so sehr, dass er lachen musste. Seine Tochter schrie bei dem Geräusch auf, und Eve streckte eine Hand nach ihrem Mann aus und beschwichtigte ihn und das Baby mit einem besänftigenden Säuseln.
«Wir werden sie Nina nennen», sagte sie. Er fragte nicht, wessen Name es war. Er hatte nichts dagegen, wenn sie ihrem Kind Dinge aus der Vergangenheit gab, ohne es zu erklären. Ihm war es genug, dass es ein hübscher Name war.
Die Plazenta wollte sich nicht von allein lösen. Letztendlich musste Peter helfen, sie zu gebären, indem er sanft an der dicken, blauen Nabelschnur zog und Eves Gebärmutter mit seiner fl achen Hand auf ihrem Bauch massierte. Schließlich tauchte das seltsame Organ auf, riesig und gummiartig, und glücklicherweise unversehrt.
«Heb sie auf», sagte sie. «Im Gefrierfach. Ich will sie haben.»
Alles, er wusste, von diesem Augenblick an würde er alles tun, worum sie ihn bat, ganz gleich, wie bizarr. Die Liebe, die er vor dieser Nacht für sie empfunden hatte, war nicht mehr als die Verknalltheit eines Jungen im Vergleich zu der Tiefe des Gefühls, das er nun für sie hatte. Er trug das blutige Päckchen in die Küche und verstaute es in einem Behälter im Gefrierfach.
Über das nasse Gras ging Peter zu dem Zaun vor dem Haus. Er lehnte sich auf den Draht, die Arme der Sonne entgegengereckt. Die ersten Strahlen des Morgenlichts streckten sich nach ihm aus, bis er in einen goldenen Schimmer getaucht war. Das hieß es also, Vater zu sein, dachte er. Es hieß, gesegnet zu sein.
Als er leise auf Socken ins Haus ging, hörte er seine Tochter weinen, das seltsame Miauen eines Neugeborenen. Er steckte den Kopf ins Zimmer und sah zu seinem Entsetzen, dass sie kaum in Eves Armen geborgen war, lose dalag und unsicher mit den Armen ruderte. Mit wenigen großen Schritten war Peter am Bett. Er musste die Decke nicht zurückschlagen, um zu sehen, was passiert war; selbst die oberste war rot verfärbt. Einen Augenblick lang zögerte er - wen sollte er zuerst hochheben? Er legte seine Tochter in ihr Körbchen und ließ sie dort zurück, während er Eve zum Wagen trug und sie in Decken gewickelt auf die Rückbank bettete. Er riskierte es, noch mehr Zeit zu verlieren, als er aus der Küche eine Flasche Whiskey holte. Seine Tochter schrie wild, während er sie unbeholfen zum Wagen trug. Das Geräusch rüttelte Eve auf. Gut, dachte er, gut. Er goss Eve eine Verschlusskappe Whiskey in den Mund und nahm dann selbst einen Schluck. Eine Hand auf dem Babykörbchen, nahm er den Wagen aus dem Leerlauf und legte den Gang ein. Zum Glück war es keine vielbefahrene Straße. Zum Glück hatte der Bezirk ein Krankenhaus. Das war es, was Peter sich sagte, als er fuhr, während ein anderer Teil von ihm so laut und klar wie seine neue Tochter schrie, das ist nicht fair.
In jener Nacht, als Eve aus der unmittelbaren Gefahr war, ging Peter zum Münztelefon und rief Carmen an. Niemand konnte ihm mit Sicherheit sagen, dass es durch die Maßnahmen, die man ergriffen hatte, um Eve zu retten, keine Komplikationen geben würde, aber sie war inzwischen so stabil, dass er sie allein lassen konnte, um ihre beste Freundin anzurufen. Carmen stammte aus derselben Provinz wie seine Frau, und sie hatten sich auf dem Schiff nach Australien kennengelernt. Sie war Eves Brautjungfer gewesen.
Ein Fremder nahm das Telefon ab. Carmen war in Melbourne. Peter spürte, wie er egoistischerweise erleichtert war, dass er seine Nachtwache allein halten würde.
Trotz der Proteste des Pflegepersonals konnte er die Oberschwester, die er sein Leben lang gekannt hatte, überzeugen, dass Nina mit ihm zusammen an Eves Seite bleiben durfte. Er wusste, wenn irgendetwas sie retten konnte, dann ihr Instinkt, sich um ihr Kind zu kümmern, und so legte er Nina in dieser Nacht immer wieder Eve auf die Brust. Er wollte, dass Eve ihren Atem spürte, ihren Herzschlag, ihr pulsierendes Bedürfnis nach der Fürsorge ihrer Mutter.
Einen Monat später fuhr er Eve, um ihre Olivenbäume abzuholen. Sie war noch immer ein wenig blutarm, blass und bleich. Er hatte zunächst Bedenken gehabt, was diese Fahrt betraf, aber sie hatte darauf bestanden. Nina schlief auf der heißen Fahrt friedlich in ihrem Körbchen zwischen ihnen, kühler als sie beide unter nassen Windeln, die über dem Körbchen hingen. Peter und Eve sprachen wenig, zufrieden mit dem schlichten Vergnügen, zusammen zu sein. Sie sahen hinaus auf die Straße und das Land, flach und braun, gesichert von Umzäunungen, die in Drahtschleifen am Straßenrand verliefen. Schafe kauerten sich trostlos unter vereinzelten Bäumen zusammen, die geschorenen Felle schmutzig vom sommerlichen Staub. Mähdrescher standen unbenutzt neben vollen Scheunen. Hin und wieder ruhte ein europäischer Heuballen, ein honigfarbener Kegel, inmitten eines Felds. An einem alten Palisadenzaun vor einem verlassenen Farmhaus sah Eve einen wilden Passionsfruchtstrauch, der soeben erblühte, eine federnartige Pracht in Weiß und Violett. Der Himmel war klar und weißblau. Sie fand überall Schönheit.
Sie und Peter reichten sich immer wieder eine Wasserflasche zu, um ihren ständigen Durst zu stillen. Von Zeit zu Zeit streckte er eine Hand aus und berührte ihre warme Wange, dann drehte sie seine Handfläche zu sich um und küsste sie.
Sie waren auf dem Weg zu Marco, einem Mann, den Carmen mit Eve bekannt gemacht hatte und der ein paar Olivenbäume aus dem Bestand der alten Benediktiner-Abtei von New Norcia hatte. An die hiesigen Bedingungen gewöhnt, würden es gute Bäume sein, so viel wusste sie, und darüber hinaus besaß er viele der älteren Tomatensorten, die sie gern anbauen wollte. Und Weintrauben, für die Zukunft.
Als sie seinen kleinen Gemüseanbaubetrieb erreichten, bestand Marco darauf, dass sie zum Mittagessen blieben. Sie möchten ihm den Gefallen tun und einem alten Mann Gesellschaft leisten, bat er, sodass sie kaum eine andere Wahl hatten. Aber Peter war froh, dass sie blieben. Von seinem Liegestuhl aus hörte er zu, wie seine Frau und Marco ins Italienische überwechselten, während er wegdöste, behaglich unter dem großzügigen Schatten der Weinranken. Er mochte den Klang der Sprache, die Art, wie sie in einen melodiösen Singsang verfiel. Sie wieder gesprochen zu hören erinnerte ihn an die Zeit, als er Eve kennengelernt hatte, und glücklich gab er sich der Erinnerung hin, während er in einen tiefen Schlaf sank, den Bauch schwer gefüllt mit dem Mittagessen, das aus Pasta und kleinen Törtchen bestanden hatte, die er mit zu viel selbstgemachter Sahne gegessen hatte.
«Kommt im Frühjahr wieder», lud Marco sie ein, als sie in der kühleren Luft der Abenddämmerung aufbrachen. «Für die Weintrauben.»
Während sie nach Hause fuhren, wandte sich Eve von Zeit zu Zeit um, um sich zu vergewissern, dass ihre Olivenbäume, sechs kleine, dunkle Stecken, noch immer auf der Ladefläche des Geländewagens standen.
Am nächsten Tag half Peter ihr, die Bäume in die von ihr sorgsam vorbereitete Erde zu pflanzen. Sie hatte eine Stelle unweit der außerhalb des Hauses gelegenen Waschküche gewählt, sodass sie für die Bewässerung das Waschwasser ableiten konnte, sobald sie sich eingerichtet hatten. Sie pflanzten für jedes Mitglied ihrer Familie, das gestorben war, einen Baum. Fünf kleine Bäume. Die höchsten pflanzte sie für ihre Mutter und ihren Vater. Einen Baum mit einem seltsamen kleinen Knoten über dem Setzling für ihre Großmutter. Den mit der leichten Krümmung für ihren Großvater. Der kleinste Baum war für ihre jüngere Schwester. Peter sah zu, wie Eve die Bäume sorgfältig pflanzte, jeden Topf umdrehte, die Pflanze unten festhielt und dann einmal hart gegen den Boden des Topfs klopfte, um den Baum zu lockern, bis er frei war. Sie hielt jeden einzelnen behutsam in ihrer Hand, während die Pflanzmischung die Wurzeln noch immer sicher schützte, bevor sie sie nacheinander in den Löchern versenkte und dann die Erde darüber festklopfte. Als Eve begann, den Baum zu pflanzen, den sie für ihre Schwester ausgesucht hatte, sah sie auf, mit dünnen, verkniffenen Lippen, und runzelte unsicher die Stirn.
«Einen Augenblick lang war es, als sei sie hier. Ich konnte ihre Locken auf meinem Schoß spüren, ihre Hand auf meinem Schenkel. Sie hatte Hände wie weiche Klöße.» Ihr Mund bebte, dann stieß sie einen entsetzlichen Laut aus. Peter zuckte zusammen, als ihr Weinen immer abgehackter und gequälter wurde. Er hob Nina hoch und tröstete sie, obwohl sie friedlich schlief. Er wiegte sein Baby in seinen Armen, hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, Eve um ihre Familie trauern zu lassen, und dem Bedürfnis, sie mit Worten und Gesten des Trostes zum Schweigen zu bringen. Schließlich konnte er ihr Weinen nicht länger ertragen und kauerte sich neben sie, zog sie mit seinem freien Arm an sich, und sie klammerte sich verzweifelt an seine Hüfte, während ihre Tränen sein Hemd durchnässten.
«Ist ja gut, mein Schatz», sagte er schließlich, als sie sich erschöpft hatte und zusammengesunken und leise schniefend dalag. Er küsste ihr warmes Haar, wobei er das Baby unbeholfen drückte, sodass es einen kurzen spitzen Schrei ausstieß. Bei dem Geräusch schreckte Eve hoch, doch Nina hatte sich schon wieder zum Schlafen in die Armbeuge ihres Vaters gekuschelt. Eves Blick wurde schärfer, als sei sie im Begriff, aufzuwachen, und sie legte ihre erdverkrusteten Finger an die Wange ihrer Tochter, wo sie eine hauchdünne Spur hinterließen.
«Dein Land», flüsterte sie, «unser Zuhause.»
An jenem Nachmittag, während Peter mit Eve auf ihrem gemeinsamen Bett lag, Nina schlafend zwischen sich, schloss er die Augen und fi el in einen friedlichen Schlaf. Zum ersten Mal seit Jahren wurde er nicht von Erinnerungen an einen schlammigen und blutigen Dschungel wachgerissen.
Bei Einbruch der Dunkelheit ließ Eve ihn den großen Behälter aus der Spüle in der Waschküche holen. Er warf einen Blick hinein, und im ersten Augenblick erkannte er das blutige Organ nicht. Sie hatte bereits ein Loch vorbereitet, in das der Inhalt gekippt werden sollte.
«Das ist Ninas», sagte Eve, während ihr Mann den letzten Baum in das Loch steckte und dann die Erde darüber festklopfte.
«Pass auf», sagte sie, «dieser Baum wird in die Höhe schießen. Er wird lange vor den anderen Früchte tragen.»
Sie drückte die winzigen Füße ihrer Tochter auf die Erde und stopfte die Baumwurzeln fest in die Erde.
Peter beugte sich hinunter und küsste seine Frau auf den Kopf. Ihr Haar war warm und duftete nach dem Rosmarinwasser, mit dem sie es spülte, um seinen dunklen Glanz zu bewahren. Er wollte sich in seiner Süße vergraben.
«Geh ins Haus», sagte er. «Ich bringe Nina mit und räume alles auf.» Er fürchtete, der Tag könnte sie zu sehr erschöpft haben.
Eva lachte und hob ihr Baby von einer Patchworkdecke auf, die sie auf den Boden gebreitet hatte.
«Es geht mir so gut wie seit Jahren nicht mehr.»
Er sah ihr nach, als sie ging, das Baby auf ihrer Schulter, mit schmalen, schwingenden Hüften wie die eines Mädchens, und dachte, sie könnte recht haben.
Am Rand der Felder brannte die Sonne den letzten Rest ihres Lichts rot und feurig auf den westlichen Boden. Peter stand vor dem Haus und sah zu, wie der Sonnenuntergang zu einem sanften Schimmer verblasste und es kühl wurde, während die Stoppeln des Weizens im schwindenden Licht golden glänzten. Auf dem Weg zu seiner Rechten regte sich etwas. Eine Staubschicht erhob sich und leuchtete hell. Ein Fahrzeug näherte sich. Peter beobachtete es, um zu sehen, ob es vorbeifahren würde; aus dieser Entfernung ließ sich unmöglich sagen, ob es sein Tempo verlangsamte. Doch da an dieser Straße außer ihrer nur zwei andere Farmen lagen, bestand durchaus die Möglichkeit, dass es auf dem Weg zu ihrem Haus war, auch wenn er keine Ahnung hatte, wer jetzt noch zu Besuch kommen könnte. Es war zu spät, als dass irgendjemand aus der Gegend vorbeischauen würde.
Der Wagen bog zu ihnen ein. Peter stand da und sah nervös zu, wie der Holden die Hauptauffahrt hinunterfuhr, bis die Fahrerin in Sicht kam. Carmen. Sie winkte schwungvoll aus dem Fenster, das dunkle Haar hinten zu einem kunstvollen Knoten zusammengebunden, das breite Gesicht von einem riesigen Lächeln zweigeteilt. Sie fuhr in einer Staubwolke vor und bremste zu schnell. Alles, was Carmen tat, war für Peters Geschmack ein bisschen zu schnell.
«Endlich bin ich da», sagte sie fröhlich. «Hilf mir bitte, da sind so viele Einkäufe, dass ich den netten Tramper, den ich gesehen habe, gar nicht mitnehmen konnte.»
«Ein Glück», sagte Peter. «Man weiß nie, was für Ärger man sich einhandelt.»
«Du nimmst sie doch auch immer mit. Du meinst, es ist nicht gut, weil ich eine Frau bin?»
Peter ließ das Thema fallen. Es lohnte sich nicht, sich mit Carmen zu streiten. Von dem Augenblick an, als Eve sie einander vorgestellt hatte, hatte er gewusst, dass sie eine Frau mit sehr entschiedenen Ansichten war.
«Schön, dich zu sehen», sagte er. «Hübscher neuer Wagen.
Ich werde all deine Sachen gleich ausladen. Komm ins Haus, Eve wird böse werden, wenn ich dich noch eine Sekunde länger von ihr und Nina fernhalte.»
Carmen schlug ihm scherzhaft auf den Arm. «Na los, gehen wir.»
Er führte sie den Flur hinunter in die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses. Wie er erwartet hatte, hatte Eve bereits den Kaffee auf dem Herd und einen Teller Kekse auf dem hölzernen Tisch. Er sah zu, wie die beiden Freundinnen sich umarmten, und als er die Farbe sah, die Eve in die Wangen stieg, und ihre Freude spürte, musste er schnell den winzigen Klumpen Groll hinunterschlucken, den er hegte, da Carmen nun die ganze Aufmerksamkeit seiner Frau an sich reißen würde. Carmen war nicht für immer gekommen, rief er sich in Erinnerung. Sie liebte Eve und war völlig außer sich gewesen, weil sie so weit weg war, als ihre Freundin krank gewesen war. Aber sie mochte das Leben auf dem Land nicht besonders und würde sicher nicht lange bleiben. Ihm war aufgefallen, dass sie sich nie über die Gärten des Hauses hinauswagte, und obwohl sie Perth als Großstadt verachtete - sie nannte es kleingeistig, provinziell -, spürte Peter doch, dass sie die Vielfalt, die die Stadt zu bieten hatte, hier draußen bald vermisste. Während ihrer Aufenthalte suchte er oft nach Anzeichen, dass seine Frau ihre Freundin um ihr eher kosmopolitisches Leben beneidete, aber er fand nie irgendwelche Anhaltspunkte dafür, dass das der Fall sein könnte.
Im Laufe der kommenden Jahre lehrten Peter und Eve Nina voller Liebe, die Wertvorstellungen ihrer Eltern anzunehmen. Sie lernte, das Tischgebet zu sprechen, kein Essen auf dem Teller liegen zu lassen, Eiweiß locker unter einen Biskuitteig zu heben, stets die Gatter zu schließen, nie ein Werkzeug auf der Bank zu vergessen, sondern immer auf das Werkzeugregal an der Wand zu legen, und den Hund auf genau die richtige Art zurückzurufen. An manchen Sonntagen ging sie zur Kirche, manchmal mit ihren beiden Eltern, aber öfter nur mit Eve. Als sie älter wurde, lernte sie, die Ausrede ihres Vaters, er müsse arbeiten, zu benutzen, um die langen Predigten in der zugigen hölzernen Kirche zu meiden, in der die Betenden im Winter froren und im Sommer schmorten. Und sie lernte, die Küche zu meiden. Ihrem Vater im Freien Gesellschaft zu leisten.
An dem Morgen, an dem sie eingeschult werden sollte, schenkte ihr Vater ihr einen Malkasten. Sie legte ihn in ihre Schublade und bewahrte ihn als etwas auf, worauf sie sich am Ende des Tages freuen konnte. Nach einem Frühstück, bei dem sie nur lustlos auf ihrem Teller herumstochern konnte, fuhr ihre Mutter sie zum Gatter, wo sie auf den Bus wartete. Es sollte ihr erster Tag ohne ihre beiden Eltern sein, und sie hatte entsetzliche Angst. Sie versuchte, tapfer zu sein, sich in Erinnerung zu rufen, dass ihre Mutter erst ein junges Mädchen gewesen war, als sie ihre Eltern für immer verlor, aber es klappte nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen.
Ihre Mutter wischte sie sanft beiseite. Sie holte ein Foto aus ihrer Tasche. Es zeigte sie alle, wie sie die ersten Weinstöcke pflanzten. Die Thompson Seedless und die Flame Tokay. Marco hatte ihnen die Pflanzen gegeben. Auf dem Foto hatte Nina eben laufen gelernt, und sie hielt den Gartenschlauch wie ein Feuerwehrmann umklammert.
«Sieh mal», sagte Eve und deutete über das abgeerntete Feld auf den Weinberg.
Nina warf einen Blick zurück. Selbst aus der Ferne konnte sie bis zu der Ostseite des Hauses in der Nähe der Schafscherer-Unterkünfte blicken, wo sich die Weinranken laubreich über ihren Draht erstreckten und die Früchte schwer an ihnen hinunterhingen.
«Die Zeit vergeht rasch», sagte ihre Mutter. «Ehe du dich's versiehst, wird der Tag schon vorbei sein.»
Nina sah ihre Mutter seltsam an. Es war das erste Mal, dass sie ihr nicht glaubte.
Das lärmende Chaos der Schule und die Feindseligkeit der Lehrer waren schlimmer, als sie sich vorgestellt hatte. Es war ein Schock für sie, dass nicht jeder so sanft wie ihre Eltern war. Und der Tag war für ihren Geschmack allzu durchsetzt von Unterbrechungen. Aber der erste Tag verstrich, und dann der nächste. Sie lernte, in der Schule stillzuhalten, wie sie es in den braunen Gewässern des Stausees tat, und sich einfach treiben zu lassen.
Im Laufe der Jahre täuschte sie oft Übelkeit vor, um zu Hause auf der Farm zu bleiben. Eve zog die Augenbrauen hoch angesichts der außergewöhnlichen Temperaturen, die Nina erreichte, indem sie das Thermometer in heißen Tee tauchte, aber Nina konnte sich immer auf Peters Unterstützung verlassen. Er zwang sie selten zu etwas, auch wenn Nina mitunter, damit sie die Situation nicht allzu oft ausnutzte, gezwungen wurde, im Bett zu bleiben und das falsche Spiel wirklich durchzuspielen. Aber meistens durfte sie sich, sobald der Schulbus vor dem Gatter vorbeigefahren war, zu ihrem Vater gesellen, wo immer er auf dem Grundstück arbeitete.
Nina tröstete sich mit dem Gedanken, dass jeder Tag, so eintönig er auch war, sie den Ferien ein Stückchen näher brachte. Sobald das Schultrimester zu Ende war, wurde die Morgendämmerung wieder zu ihrer Freundin. Dann stand sie in dem weichen, gelblichen Licht zusammen mit ihrem Vater auf und trank schweigend in der Küche mit ihm Tee.
Übersetzung: Veronika Dünninger
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH,
Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Bibliographische Angaben
- Autor: Jo Dutton
- 480 Seiten, Maße: 12,5 x 18,7 cm, Taschenbuch
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3868004777
- ISBN-13: 9783868004779
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