Die Friesenhexe und ihr Vermächtnis
Roman
Föhr im Jahr 1704: Schon immer hatte die schöne Heilerin Kerrin Visionen. Als ihr eines Nachts im Traum ihre verstorbene Mutter mitteilt, dass Kerrins verschollen geglaubter Vater noch am Leben sei, zweifelt sie keinen Augenblick an der...
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Produktinformationen zu „Die Friesenhexe und ihr Vermächtnis “
Föhr im Jahr 1704: Schon immer hatte die schöne Heilerin Kerrin Visionen. Als ihr eines Nachts im Traum ihre verstorbene Mutter mitteilt, dass Kerrins verschollen geglaubter Vater noch am Leben sei, zweifelt sie keinen Augenblick an der Richtigkeit dieser Behauptung. Die mutige junge Frau schließt sich der Besatzung eines Walfängerschiffes an, das bis an die unwirtliche Küste Grönlands fährt. Dort wurde ihr Vater zuletzt gesehen. Doch die Reise gestaltet sich gefährlicher, als Kerrin geahnt hätte. Nicht jeder der raubeinigen Seeleute ist über ihre Anwesenheit an Bord erfreut. Und als sie Grönland endlich erreichen, ist Kerrin ganz auf sich allein gestellt. Wird sie ihren Vater tatsächlich finden?
Klappentext zu „Die Friesenhexe und ihr Vermächtnis “
Föhr im Jahr 1704: Schon immer hatte die schöne Heilerin Kerrin Visionen. Als ihr eines Nachts im Traum ihre verstorbene Mutter mitteilt, dass Kerrins verschollen geglaubter Vater noch am Leben sei, zweifelt sie keinen Augenblick an der Richtigkeit dieser Behauptung. Die mutige junge Frau schließt sich der Besatzung eines Walfängerschiffes an, das bis an die unwirtliche Küste Grönlands fährt. Dort wurde ihr Vater zuletzt gesehen. Doch die Reise gestaltet sich gefährlicher, als Kerrin geahnt hätte. Nicht jeder der raubeinigen Seeleute ist über ihre Anwesenheit an Bord erfreut. Und als sie Grönland endlich erreichen, ist Kerrin ganz auf sich allein gestellt. Wird sie ihren Vater tatsächlich finden?
Lese-Probe zu „Die Friesenhexe und ihr Vermächtnis “
Die Friesenhexe und ihr Vermächtnis von Karla Weigand PROLOG
»Hoch über all den Wellenhügeln
Die lichtumflossen zieh'n zum Strand
Entschwebt mein Geist auf Sehnsuchtsflügeln
Ins ferne, unbekannte Land.«
Stine Andresen (1849 -1927), Abend am Meer
Anno 1704, am Tag vor der Wintersonnenwende
»Uun Gods nööm!«
Die älteste der Mägde auf dem Commandeurshof machte sich dar an, die süßen Weihnachtsbrote zu backen. Keine beherrschte dies so vorzüglich wie Eycke, die auf die siebzig zuging.
Vorwiegend die Frauen waren es, die an den Tagen vor dem Fest von Christi Geburt alle Hände voll zu tun hatten. Haus und Wirtschaftsräume waren gründlich zu reinigen und ordentlich aufzuräumen, weihnachtlich mit Zweigen von Stechpalmen und Misteln zu schmücken - über jeder Tür wurde ein Büschel angebracht, selbst in den Stallungen. Das Dekorieren war Sache der Hausfrau.
Ganz besonders dem pesel galt ihre Aufmerksamkeit, der guten Stube jedes friesischen Hauses, wohin man die Gäste einlud, die an den Tagen zwischen Heiligabend und Neujahr ihre Glückwünsche überbrachten und kleine Geschenke überreichten - und dafür eine Aufforderung zu Teepunsch und Gebäck erwarten durften.
Seit dem frühen Morgen hatte die junge Hausfrau Kerrin Rolufsen zusammen mit Eycke und anderen Mägden in der köögen gestanden, hatte Mehl abgewogen, Nüsse gehackt, Butter schaumig gerührt und Eiweiß geschlagen. Das mehrmalige Kneten des Teiges und das Formen der Gebäckstücke überließ sie Eycke.
... mehr
Sie wurden anschließend, ähnlich wie Brotlaibe, auf dem Grasterbrett aufgereiht, mit Fett bestrichen und schließlich in den Ofen geschoben, wo sie mit ihrem Zimtaroma und dem Geruch nach kandierten Zitronenschalen im ganzen Haus einen himmlischen Duft verbreiteten, den jedermann unwillkürlich mit Weihnachten verband.
Die Nacht zum 21. Dezember, der Wintersonnenwende, nannte man allgemein Thomasnacht. Sie war zugleich die erste der sogenannten Raunächte, in denen in Pelze gehüllte böse Geister umgehen und die Menschen piesacken sollten - aber nur jene, die dar an glaubten.
Pastor Lorenz Brarens, Kerrins Oheim und einer der drei Föhrer Inselgeistlichen, predigte jedes Jahr mit Vehemenz gegen den Aberglauben an und ließ seine Gemeinde, die fleißig die Gottesdienste im Friesendom Sankt Johannis besuchte, wissen, dass bloß noch »rückwärts gewandte, katholische Leute in Süddeutschland und in den Alpenländern für diesen Unsinn zu haben seien«.
Viel schienen seine Bemühungen bei den meisten nicht zu fruchten. Die Furcht vor Dämonen saß wohl noch zu tief.
Kerrin selbst war im Zweifel, ob es böse Geister gab oder nicht. An die guten glaubte sie dagegen unbedingt. So wäre es auch nicht ganz unlogisch, folgerte sie, die bösen ebenfalls für bare Münze zu nehmen ...
Normalerweise blieben die ängstlichen Menschen mindestens bis Mitternacht auf, um die draußen tobenden und gegen die Haustüren polternden, in Tierfelle gehüllten Dämonen zu hören. Durch die nicht vollständig geschlossenen Läden waren sie auch zu beobachten - man konnte sich mächtig dabei gruseln.
Kerrin war an diesem Abend jedoch so müde, dass sie früh schlafen gehen wollte. Es stand ihr noch einiges an Vorbereitungen bevor: Immerhin erwartete man zu den Feiertagen besondere Gäste! Ihr um drei Jahre älterer Bruder Harre hatte mit seinen sechsundzwanzig Jahren in Spanien als Maler Fuß gefasst; spontan hatte er sich dieses Jahr entschlossen, seine Verwandten in Nordfriesland zu besuchen, wor über Kerrin sich ungeheuer freute. Seit Kindertagen waren die mutterlos aufgewachsenen Geschwister einander zutiefst verbunden.
Harre würde auch einen Freund mitbringen, einen Holländer, der ebenfalls malte, sowie seinen spanischen Diener, mit dem es vermutlich nicht leicht sein würde, sich zu verständigen. Im Augenblick hielten sich alle drei irgendwo in Schleswig- Holstein auf dem Festland auf.
Kaum berührte Kerrins Kopf das Kissen, sank sie auch schon in tiefen Schlaf.
Als Eycke sich eine Stunde später neben ihre Herrin ins Wandschrankbett legte, bekam diese nichts mit, obwohl die alte Frau sich nicht gerade leise verhielt. Erst schnäuzte sie sich geräuschvoll, dann musste sie husten, gleich dar auf fiel ihr etwas mit Getöse auf den Boden der komer, das sie mühevoll ächzend aufhob, um sich anschließend laut stöhnend wieder aufzurichten.
Kerrin aber sah und hörte nichts. Sie lag da, mit dem Gesicht zur hölzernen Wand des wie ein breiter Kasten gebauten Bettes gewandt, und schlummerte seelenruhig weiter.
»So gut möchte ich auch wieder einmal schlafen können«, brummte Eycke, ehe sie das Kerzenlicht löschte und zu der Hofherrin unter die Schafwolldecke schlüpfte; wobei sie zumindest achtgab, sich nicht auf Kerrins rotblonder Haarflut niederzulassen. Ein schmerzhaftes Ziepen hätte sie womöglich doch geweckt ...
Die Stimmen - melodisch und fein gleich Harfenklängen - hatten sie schon lange Zeit nicht mehr aufgefordert, ihnen zu folgen; hinaus aus der häuslichen Enge, die schmalen holprigen Gässchen zwischen den Höfen entlang, der Dorfstraße von Naiblem folgend, über die mit Reif überzogenen, winterlich gelbbraunen Wiesen, den breiten grauen Sandstrand querend, bis dicht an den feuchten, schwarz schimmernden Ufersaum, an dem die allmählich in langen flachen Wellen wiederkehrende Flut leckte und auf spielerische Weise ihr angestammtes Territorium erneut in Besitz nahm ...
Sie war nicht allein auf ihrem Weg zum nächtlichen Strand. Eine Heerschar zart leuchtender, gespinstleichter Gestalten begleitete sie, umwaberte sie in ihren langen, fließenden, spinnwebfeinen Gewändern und strebte gleich ihr zum Ufer des gemächlich anrollenden Meeres.
Die Gestalten lächelten ihr zu; wie immer vermochte sie eine leise Melodie zu vernehmen, die vom nächtlichen Sternenhimmel zu kommen schien, während sie jenem heiteren Traumgebilde entgegenschwebte, das sein verklärtes, beinah göttlich schönes Antlitz all die Jahre über nicht verändert hatte.
Obwohl ihr die Lichtgestalt dieser jungen Frau mit verändertem, weil vergeistigtem Aussehen erschien, zweifelte Kerrin keinen Augenblick dar an, dass es sich um Terke handelte, ihre Mutter, die bei der Geburt des dritten Kindes ihr Leben verloren hatte.
In unregelmäßigen Abständen rief Terke ihre Tochter zu sich und weissagte ihr Ereignisse, die sich bisher noch immer bewahrheitet hatten.
Es war eisig kalt in dieser Thomasnacht. Das Wasser in den Prielen war gefroren. Dennoch verspürte die junge Heilerin in ihrem Nachtgewand die Kälte nicht. Es schien, als wärme sie das helle, in zarten Pastellfarben schimmernde Licht, das sie umfloss; selbst ihre nackten Füße blieben vom beißenden Frost verschont; scheinbar berührten sie den gefrorenen Boden nicht. Es war ihr, als schwebe sie über Steine, Sand und auflaufendes Meerwasser ...
An der Art der Musik und am lieblichen Gesang der auf einmal wie Nebelschwaden zerfließenden Gestalten, die ihr den Weg gewiesen hatten, vermochte Kerrin jeweils zu erkennen, ob Terkes Botschaft eine gute sein werde - oder das Gegenteil.
Was würde es dieses Mal sein? Ihr Herz frohlockte; Musik und Gesang hatten weder Schwermut, Trauer noch Ängste ausgedrückt, sondern überaus heiter geklungen. Voll Erwartung blickte sie der Mutter entgegen ...
Am nächsten Morgen, dem Tag des heiligen Thomas - der einst die Auferstehung des Herrn verleugnete, ehe Jesus selbst den Ungläubigen überzeugte -, erwachte Kerrin voller Tatendrang und Lebensfreude. Auch Eycke, die sich kurz vor ihr erhoben hatte, um nach dem Herd in der neben der komer liegenden köögen zu sehen, fiel die gute Laune ihrer Herrin auf.
»Sind wir heute wieder mal bei guter Stimmung, ja?«, erkundigte sie sich mit leichtem Spott, während sie die dünnen grauen Haare zu einem mageren Zöpfchen flocht und auf dem Kopf mit Haarklemmen aus Fischbein feststeckte.
Kerrin, die den nassen Saum ihres Nachtgewands bemerkt hatte und dar aus schloss, während der Nacht wieder einmal von ihren Gesichten heimgesucht worden zu sein - auch wenn sie sich nicht mehr dar an erinnern konnte, während der Nacht Bett und Haus verlassen zu haben -, schaute auf und musterte die Magd mit Unverständnis.
Die alte Frau ließ ein kurzes Lachen hören.
»Masmudig heest weesen, wegenloong, Kerrin!«
»Wochenlang soll ich schlecht gelaunt gewesen sein?«
Das beschämte Kerrin ein bisschen, und sie errötete. Vor den Knechten und Mägden sollte man sich nicht gehen lassen. »Es tut mir leid, Eycke. Ab heute geht es mir besser; das spüre ich - wenn ich auch den Grund dafür nicht kenne. Mir kommt aber vor, als hätte ich von meiner Mutter geträumt, die mir irgendetwas Tröstliches über meinen Vater gesagt hat!«
»Wenn es wichtig war, wirst du noch öfter davon träumen, Kerrin.«
Die alte Eycke kannte sich aus mit den Vorahnungen ihrer jungen Herrin.
EINS
Mit einer Mischung aus Rührung, Dankbarkeit und leichter Belustigung ließ Kerrin Rolufsen den Brief ihrer herzoglichen Freundin Hedwig Sophie in den Schoß sinken. Seit die vierundzwanzigjährige verwitwete Herzogin von Schleswig- Holstein-Gottorf die Insel Föhr im Spätherbst verlassen hatte, um in ihr Schloss zurückzukehren, verging kaum eine Woche, in der sie der Freundin keine Nachricht zukommen ließ.
Meist beklagte sie ihre Einsamkeit - trotz wahrer Heerscharen von edlen Gästen samt illustrem Gefolge. Nicht selten beschwerte sie sich über die lästigen Unarten enger wie entfernter Verwandter, die zu ihrem großen Verdruss nicht davon abließen, ihr ganz offen einen neuen Gemahl nahezulegen.
Ein Unterfangen, von dem die nur um ein Jahr jüngere Kerrin mit Sicherheit wusste, dass es zum Scheitern verurteilt sein werde. Hedwig Sophies verstorbener, anfangs über alles geliebter und verehrter Gemahl, Herzog Friedrich IV., hatte ihre Gefühle zutiefst verletzt.
Schlimm erwies sich für Kerrin jedes Mal der Hinweis der Herzogin, dass Hedwig Sophies Sohn, der kleine Herzog Carl Friedrich, beinahe jeden Tag nach ihr verlangte.
Sie musste dann jedes Mal gegen ihr schlechtes Gewissen ankämpfen, denn auch ihr war der Knabe im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen, und sie vermisste ihn sehr.
»Beinah kommt es mir wie schändliche Fahnenflucht vor, dass ich den kleinen Herzog verlassen habe«, murmelte sie auch jetzt nach der Lektüre des Briefes beschämt. In solchen Augenblicken wurde sie regelrecht von Sentimentalität übermannt - was keineswegs ihrer nüchternen friesischen Art entsprach.
Zudem verstand es die Herzogin ausnehmend geschickt, in jedem ihrer seitenlangen Schreiben die besonderen Umstände der schweren Geburt hervorzuheben, unter denen seinerzeit ihr Sohn in Schweden das Licht der Welt erblickt hatte - als sich sogar die königliche Hebamme feige aus der Verantwortung gezogen und Kerrin das Feld allein überlassen hatte.
Hedwig Sophie wurde nicht müde, Kerrins damaligen Beistand als Ursache des glücklichen Verlaufs der Entbindung zu preisen - natürlich stets verbunden mit einer herzlichen Einladung an den Hof zu Gottorf.
Was Kerrins schlechtes Gewissen ein wenig abmilderte, war der Umstand, dass es der Herzogin gelungen war, nicht nur die liebenswürdige Gabriele von Liebenzell - ihre und ihres Bruders einstige Gouvernante - an den Herzogshof zu holen, sondern auch Frau Alma von Roedingsfeld, die geschätzte Hofdame ihrer verstorbenen Mutter, Königin Ulrika Eleonore.
Frau Alma war eine ältere Dame, die sich nach wie vor bester Beziehungen zum russischen Hof erfreute. Sie würde dafür sorgen, dass am Schleswig-Holsteinischen Herzogshof zumindest der Gesprächsstoff über Zar Peter und seine Eskapaden nicht versandete.
Jäh unterbrochen wurde Kerrins Gedankenfluss durch das ein wenig poltrige Eintreten der alten Magd Eycke. Pastor Lorenz Brarens, Kerrins Oheim und Ziehvater, hatte zugestimmt, dass die im Kopf noch hellwache, aber auf den Beinen zunehmend schwache Greisin ihren Lebensabend bei Kerrin auf dem von den Föhringern Commandeurshof genannten Anwesen verbringen durfte. Obwohl der Hausherr verschollen und vermutlich längst tot war, bezeichneten die Einheimischen Kerrins Elternhaus nach wie vor mit diesem ehrenvollen Namen.
»Was gibt es denn, Eycke?«
Kerrin erhob sich von dem Hocker, auf dem sie sich zum Lesen des herzoglichen Schreibens niedergelassen hatte, und sah der alten Frau, an der sie von Kindesbeinen an wie an einer Großmutter hing, freundlich entgegen.
»Kerrin, du musst dir unbedingt das Kind anschauen, das seine Mutter uns angeschleppt hat. Ich denke, es hat Fieber und zwar heftig! Auch das Luftholen macht dem Kleinen große Schwierigkeiten. Und schwach kommt er mir vor, äußerst schwach«, fügte die alte Frau gewichtig hinzu. »Und ich finde, trotz der roten Flecken auf den Wangen ist er unheimlich blass.«
»Und? Wo ist der Junge?« Kerrin sah sich um. »Her ein mit ihm und seiner Mutter!«
»Ich dachte, du wolltest in Ruhe den Brief der Herzogin lesen und habest vielleicht keine Zeit für eine Behandlung. So hab' ich sie geheißen, draußen im Hof auf dich zu warten. Komm und schau dir den Kleinen an, Kerrin!«
»Das sind ja ganz neue Sitten, Eycke! Damit wollen wir gar nicht erst anfangen!«
Die hübsche junge Frau mit dem langen, mit einem Band im Nacken zusammengebundenen rotgoldenen Haar schüttelte den Kopf. »Du weißt, jeder Kranke - egal wor an er leidet - darf jederzeit in mein Behandlungszimmer. Ich bin schließlich Heilerin und keine Adelsdame, die gnädig Audienzen gewährt!«
Um dem Tadel etwas von seiner Schärfe zu nehmen, lächelte sie der alten Magd, die rot angelaufen war, ins Gesicht und strich ihr sachte über den mageren sehnigen Arm.
»Ich geh die zwei holen«, murmelte die alte Frau und wandte sich zum Gehen.
»Lass nur, Eycke! Das machen wir jetzt ganz einfach!«
Kerrin trat zum Fenster ihrer komer, drückte einen der beiden Flügel nach außen auf, wo Mutter und Sohn dick eingemummt im Hof ausharrten, mit den Füßen immer wieder gegen die winterliche Kälte aufstampften und zum Wohnhaus her überspähten.
»He! Kommt nur her ein! Die Tür steht bei mir immer offen! «
Um ihre Worte zu unterstreichen, winkte sie ihnen zu. Insgeheim wunderte sie sich über das Sehvermögen der alten Dienstmagd: Sie selbst vermochte nämlich beim besten Willen nicht, die Gesichtsfarbe des Kindes zu erkennen ...
Während sie das Fenster schloss, um nicht unnötig eisige Kälte in den Raum zu lassen, beobachtete sie, wie die Frau, deren Kopf und Hals ein grobes Tuch aus grauer Schafwolle verhüllte, nach der Hand ihres etwa fünfjährigen Kindes griff und - erst noch zögernd, dann immer sicherer - den teilweise gepflasterten, sorgfältig vom Schnee blank gefegten Hof überquerte und dem Hauseingang zustrebte, das erschöpfte Kind mehr oder weniger hinter sich her zerrend.
Kerrin und Eycke hörten die Haustür ins Schloss fallen. »Ich geh' dann mal in die köögen«, nuschelte die alte Magd, »und werde eine Kanne Salbeitee aufsetzen!«
»Ja, mach das, Eycke! Die zwei Durchgefrorenen werden sich dar über freuen!«
Nach schüchternem Anklopfen an der Zimmertür und Kerrins freundlichem »Tretet nur ein!«, tauchten zwei, wegen ihrer schützenden Umhänge und Schals nicht kenntliche Personen in der komer auf. Die Frau grüßte mit leiser Stimme, der kleine Junge blieb stumm.
Leicht verlegen begann Kerrin, verstreut liegende Bücher beiseitezuräumen. Das Zimmer diente ihr auch als Schreibkabinett und Leseraum, sooft es sie danach drängte, allein zu sein und in aller Ruhe ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, dem Lesen von Oheim Lorenz' schlauen Büchern.
Mit Besuch hatte sie heute nicht gerechnet, und überall - sogar auf dem Fußboden - lagen Bücher herum. Sie hatte sich nämlich eine kleine Bibliothek zugelegt, worauf sie nicht wenig stolz war, wenn auch ihr um drei Jahre älterer Bruder Harre sie ab und an mit mildem Spott bedachte. Er glaubte, seine Schwester übertreibe es hin und wieder mit ihrem Drang nach Bildung.
»Legt Eure dicken Sachen ab«, forderte Kerrin die Besucherin auf, »sonst kommt Ihr womöglich noch ins Schwitzen!«
Sie war gespannt, wer sich aus den Hüllen her ausschälen würde. Solange sie nicht wusste, wer sich unter der Winterkleidung verbarg, duzte Kerrin die Person auch nicht, wie es sonst auf der Insel üblich war.
Es könnte sich ja immerhin um die Frau eines dänischen Gangfersmannes handeln, eines hohen königlichen Beamten, der mit der Verwaltung der westlichen Hälfte der Insel Föhr betraut war, die nicht dem Herzogtum Schleswig-Holstein unterstand, sondern zum Königreich Dänemark gehörte.
Obwohl die Friesen mit den Dänen im Allgemeinen sehr gut auskamen, hatte Pastor Brarens seiner Nichte eingeschärft, dass es klüger wäre, die Untertanen des Dänenkönigs mit besonderer Höflichkeit und Respekt zu behandeln.
Als Kerrin allerdings sah, wer da unter Schal, Kapuzenumhang und Kopftuch zum Vorschein kam, stockte ihr erst einmal der Atem.
»Nein! Du wagst dich zu mir her? Ausgerechnet du! Du hast wohl überhaupt kein Schamgefühl?«
Zornig schwoll Kerrins in aller Regel leise und freundliche Stimme an.
»Willst mich um Hilfe bitten - die Frau, die du vor einiger Zeit liebend gerne auf dem Scheiterhaufen hättest brennen lassen? Das ist ja wirklich ein starkes Stück!«
Ehe Kerrin es zu verhindern vermochte, fiel das Weib, eine junge Bäuerin und Ehefrau eines Fischers aus dem Dorf Övenum, vor ihr auf die Knie und griff nach ihrer Hand, um diese mit Küssen zu bedecken. Dabei vergoss sie Ströme von Tränen, während ihr kleiner Sohn verlegen danebenstand.
Brüsk entzog Kerrin der Frau ihre Hand und stieß sie grob von sich.
»Steh sofort auf, Frigge Harmsen, und mach augenblicklich, dass du ...« Sie stockte, als ihr Blick auf den Jungen fiel.
ZWEI
»Wie lange hat er das schon?«
»Drei Ta... Ta... Tage«, stotterte Frigge.
Aufgebracht fuhr Kerrin die Mutter an. »Dummes Ding! Damit wärest du besser gleich zu mir gekommen!«
»Ich hab' mich nicht getraut, dir unter die Augen zu kommen, Kerrin Rolufsen«, stammelte die offensichtlich betroffene Bäuerin kleinlaut. »Ich hatte gehofft, es vergeht von allein. Aber es ist noch schlimmer geworden. Nicht wahr, du kannst doch meinen kleinen Ketel wieder gesund machen?«
Kerrin achtete bereits nicht mehr auf die Frau. War sie doch eine von denen, die sich damals dem eifernden Aushilfspastor Jonas Japsen, der ihren Onkel Lorenz Brarens vertrat, angeschlossen hatten, sie gefangen genommen und zu einem geheimen Platz verschleppt hatten, um sie als angebliche Hexe dem Feuertod zu überantworten.
Aber hier handelte es sich um ein unschuldiges Kind, das offenbar an einer höchst gefährlichen, lebensbedrohenden Lungenentzündung litt.
Weil der schwer fiebernde Knabe kaum noch Atem schöpfen konnte und bei jedem quälenden Nach-Luft-Schnappen ein grässliches Rasseln in seiner Lunge zu hören war, ließ dies Kerrins berechtigte Wut gegen seine Mutter augenblicklich zur Nebensache schrumpfen. Deutlich war zu sehen: Der kleine Ketel Harmsen befand sich kurz vor dem Zusammenbruch.
»Hilf mir, ihn auf das Sofa zu legen!«, wies sie Frigge barsch an. »Ehe mir der Kleine, so schwach wie er bereits ist, völlig zusammenklappt!«
»Sag, du kannst ihm doch helfen, Kerrin, ja?« Das Weib heulte jetzt noch lauter.
»Ich bin zu allen, die meine Hilfe suchen, stets ehrlich. Und so sage ich dir jetzt: Ich weiß es nicht!«, meinte Kerrin kurz angebunden.
»Ach Gott! Ach Gott! Mein Ketel darf nicht sterben!«, fing die Bäuerin zu jammern an. Aber dafür hatte Kerrin kein Verständnis. Sie hatte dem Kleinen die Stiefel ausgezogen und begonnen, die Brust des Kindes frei zu machen, um dar an zu horchen.
»Reiß dich ja vor deinem Sohn zusammen, Frigge! Was fällt dir ein, so etwas vor ihm auch nur anzudeuten?« Leiser raunte sie ihr zu: »Jedenfalls kann ich dir die Zusage geben, alles zu versuchen, was möglich ist.«
Lauter befahl sie gleich dar auf: »Du solltest jetzt gehen und zu Hause für ihn beten, Frigge!«
Kerrin riss die Tür auf und rief nach der alten Magd. »Lass das mit dem Tee, Eycke! Bring mir eine Schüssel voll Schnee her ein; ich muss sehen, wie ich das Fieber des Jungen senken kann!«
»Und? Gibst du mir auch Arznei für ihn mit?«, erkundigte die Mutter sich schüchtern.
»Dein Sohn bleibt bei mir und wird hier von mir behandelt. Ein weiteres Mal der weite Weg bis in euer Dorf wäre zu viel für ihn. Wie hast du es überhaupt hierher geschafft, Frigge? Gelaufen kann Ketel ja nicht sein; und zum Tragen ist er zu schwer.«
»Girre, mein Mann, hat uns mit dem Wagen hergebracht! Er wartet am Dorfeingang von Naiblem auf uns.«
Demnach war Fischer Girre Harmsen, der vor Jahren als Harpunier mit ihrem Vater zur See gefahren war und sich schon seit einigen Jahren als Robbenfänger und Heringsfischer verdingte, zu feige gewesen, um sich bei ihr blicken zu lassen. Auch er hatte sich damals als angetrunkener Hexenjäger hervorgetan und war einer von denen gewesen, der am lautesten »lasst die Towersche brennen!« geplärrt hatte ...
Dummes, hinterhältiges und feiges Pack, dachte Kerrin. Laut aber sagte sie: »Lass ihn nicht länger warten, sondern mach dich auf den Heimweg! In drei Tagen magst du wiederkommen und dich nach deinem Sohn erkundigen. Sollte sich vorher etwas Wichtiges ergeben, werde ich dir umgehend Botschaft schicken.«
Während sie die sich vor Verlegenheit windende Frau kurz angebunden abfertigte, war Kerrin ständig um den kleinen Patienten bemüht. So hob sie seinen hochroten Kopf mit einer Hand hoch und versuchte, ihm Wasser zwischen die aufgesprungenen Lippen zu träufeln. Der Junge schluckte gierig.
In diesem Augenblick betrat die alte Eycke die komer mit einer irdenen Schüssel voller Schnee, den sie mit bloßen Händen aus dem Haufen geschaufelt hatte, der von den Knechten in eine der Hofecken gefegt worden war. Dazu hatte sie auch gleich mehrere dicke Tücher mitgebracht.
War ihr doch Kerrins im Winter angewandte Methode geläufig, Fieber mittels um die Unterschenkel gebundener Schneekompressen zu lindern.
Als auch sie jetzt Frigge Harmsen erkannte, erschrak sie sichtlich. Dann allerdings kroch Zorn in der alten Frau hoch. Kerrin schüttelte jedoch energisch den Kopf und starrte ihr mit deutlicher Abwehr in die Augen. Wor auf die Magd gehorsam ihren zum Protestschrei geöffneten Mund wieder schloss.
Ohne ein Wort zu wechseln, begannen Kerrin und Eycke, den mittlerweile vor sich hindämmernden Knaben ganz auszuziehen. Die schweißgetränkten Kleidungsstücke warfen sie auf den Boden. Leise jammernd und händeringend stand Frigge daneben, bis Kerrin es endgültig satthatte. Sie richtete sich auf und blickte der Frau kalt ins Gesicht.
»Nimm deine Sachen und verschwinde endlich!«
Der knappe Befehl und eine entsprechende Handbewegung: Mehr bedurfte es nun nicht mehr, um Frigge, die nur kaum verständlich »danke, tausend Dank!« schluchzte, vom Hof zu scheuchen.
Leise schloss sich die Tür hinter der schwer geprüften Mutter. Die beiden Frauen am Lager des Knaben aber warfen einander einen bangen Blick zu: Ob hier noch etwas auszurichten war, das wusste nur der Herrgott.
»Alles hängt davon ab, wie kräftig das Kind im Allgemeinen ist«, flüsterte Kerrin ihrer Magd zu, nachdem sie Ketel ein Mittel aus Weidenrindenextrakt eingeflößt und ihn zusätzlich in eine zweite Decke eingewickelt hatte.
»Soweit ich sehen konnte, ist der Junge wohlgenährt«, gab Eycke ebenso leise zurück, um das Kind, das jetzt vor Erschöpfung eingeschlafen war, nicht zu wecken.
»Das ist Ketels Glück! Ich vermute, dass er es schaffen kann - wenn es denn der Wille unseres Herrn Jesus ist.«
Von ganzem Herzen hoffte Kerrin, gerade dieses Kind, Sprössling einer ihrer ärgsten Feindinnen, vor dem Tod retten zu können. Das Wichtigste war, des enorm angestiegenen Fiebers Herr zu werden, ehe es den Kleinen umbrachte.
Als Nächstes galt es, ihn bei Kräften zu halten, seinen Körper zu stärken, um gegen die lebensbedrohende Entzündung seiner Lungen anzukämpfen. Dazu war es unumgänglich, Ketel Kraftnahrung zuzuführen. Bei einem so kleinen, noch unverständigen Kind ein äußerst schwieriges Unterfangen.
Die kommende Nacht sollte er von Kerrins Base, Catrina Lorenzen, die sich spontan dazu angeboten hatte, sowie von Kerrin selbst im Wechsel betreut werden. Mit Arznei, Tee und heißer Milch mit Honig würde man den armen Ketel versorgen, sooft er aufwachte. War der Schnee in den Tüchern geschmolzen, würde man ihn so lange ersetzen, bis die ärgste Fieberglut aus dem Fünfjährigen gewichen war.
Ohne es laut auszusprechen, war Kerrin unendlich dankbar für Catrinas Hilfe. Das kluge, aber einst ausnehmend faule Ding, das sich zu Göntjes und des Pastors Kummer mit List vor jeder Aufgabe gedrückt hatte, war mittlerweile zu einer vernünftigen jungen Frau her angewachsen, der das Herz auf dem rechten Fleck saß.
»Schon morgen werden wir mehr wissen«, prophezeite Kerrin. »Ich glaube Anzeichen entdeckt zu haben, die uns eine gewisse Hoffnung auf Besserung erlauben.
Aber sag, was führt dich zu mir, Catrina? Krank bist du ja nicht - bloß schwanger!«
Kerrin lachte laut und umarmte dabei spontan die nahezu Gleichaltrige.
»Woher weißt du das denn schon wieder?« Die junge Frau schien verblüfft. »Nicht einmal meinem Mann Knut habe ich bisher davon erzählt! Und dünn bin ich doch nach wie vor!«
Dabei strich sich Catrina über ihre schlanken Hüften.
»Hiar ens, miin Deern!« Verschmitzt lächelnd legte Kerrin ihrer Cousine den Arm um die Schulter, wobei ihre meergrünen Augen vergnügt funkelten. »Schließlich bin ich hier die Friesenhexe und sehe so etwas sofort in deinen Augen!«
Das brachte beide Cousinen zum Kichern.
»Komm mit in die köögen! Ich denke, es ist noch genug frisches Brot da und Schafskäse. Du wirst hungrig sein, Catrina! Ich werde eine Magd rufen, dass sie einstweilen Wache am Bett des kranken Jungen hält.«
Die jungen Frauen suchten die Küche auf, deren großer Herd ständig brannte und das ganze Haus mit seiner wohligen Wärme versorgte - dank des Beilegerofens in der dörnsk, der Wohnstube nebenan, die man normalerweise benutzte.
Die beiden hatten sich lange nicht mehr gesehen; demzufolge gab es vieles zu bereden. Schließlich gestand Kerrin, dass sie sich daheim ziemlich überflüssig fühle.
»Was? Wie kommt das denn? Wie Mutter mir sagte, führst du Harre doch den Haushalt! Wo ist dein Bruder überhaupt? Wieder einmal auf Motivsuche?«
Kerrin zuckte die Schultern. Wer wusste schon, wo der junge Maler sich ständig her umtrieb? Seine beiden aus Spanien mitgebrachten Begleiter hatte er jedenfalls vorgestern Morgen mitgenommen, einen norddeutschen Malerkollegen und einen spanischen Diener. Sie hatte ihn weder gefragt, wohin er wollte, noch wann er wiederkäme. Wahrscheinlich wusste er es selbst noch nicht.
Sie hoffte nur inständig, er werde nicht wieder eine der verheirateten Frauen der Insel verführen, wie er es schon einmal mit Thur Jepsen getan - und damit ungewollt eine Katastrophe ausgelöst hatte.
»Im Grunde braucht mich hier niemand«, vertraute Kerrin Catrina an. »Die Knechte und Mägde, die mein Vater einst eingestellt hat, sind so vertrauenswürdig und geschickt, dass sie von alleine wissen, was zu tun ist. Meine Anordnungen als Bäuerin sind überhaupt nicht notwendig. Ich habe selbst viel zu geringe Kenntnisse von der Bauernarbeit.
Selbst Fisch- und Muschelfang finden recht gut ohne mich statt. Das Kochen erledigen Eycke und die Mägde; um die paar Kühe, Schweine, Pferde und unsere Schafherde kümmern sich die Knechte aus Jütland. Und was das Hühner- und Entenfüttern anbelangt, verstehen die Kinder unserer Bediensteten genauso viel davon wie ich. Es läuft alles bestens, so wie es immer gewesen ist!
Fähig und loyal wie sie sind, bedürfen unsere Leute keiner Anweisungen. Ich bin nur imstande, alles durcheinanderzubringen. Sobald ich keine Kranken zu versorgen habe, fühle ich mich hier immer mehr fehl am Platz!«
»Na, deine Sorgen möchte ich haben!«, meinte Catrina und lächelte ungläubig. »Ich würde sofort mit dir tauschen. Ich weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht. Da hätte ich gern ein paar Leute, die alles von sich aus richtig machen! «
»Lass uns nicht nur von mir sprechen«, schlug Kerrin vor. »Harre geht es gut mit seiner Pinselei. Dein Vater hilft ihm, Käufer für seine Bilder zu finden, und ist damit recht erfolgreich. Zum Glück! Von sich aus würde mein Bruder kein einziges seiner Gemälde loswerden. Er ist nun mal nicht sehr geschickt im Verhandeln.
Oheim Lorenz ist nicht nur, wie ich behaupte, der beste Pastor in ganz Friesland, sondern dazu noch ein ausgezeichneter Kaufmann.«
Nachdem die jungen Frauen alle Neuigkeiten, nahe und ferne Verwandte und Bekannte betreffend, weidlich durchgekaut hatten, blieb eigentlich nur ein Thema übrig, das Catrina bisher noch nicht berührt hatte - aus Sorge, seine Erwähnung werde Kerrin nur wieder sehr traurig stimmen: Commandeur Roluf Asmussen, Kerrins und Harres auf Grönland verschollener Vater.
Kerrin selbst war es schließlich, die von ihm zu sprechen begann: Wie sehr sie ihn noch immer vermisse und dass der Schmerz über sein Verschwinden noch kein bisschen geringer geworden sei - im Gegenteil.
»Du Arme! Du hörst dich beinah so an, als würdest du dir selbst eine Mitschuld an seinem Schicksal geben, Kerrin«, stellte Catrina mit bemerkenswertem Scharfsinn fest.
»Wie kommst du dar auf, meine Liebe?«
Kerrin war über Catrinas unübliche Feinfühligkeit verblüfft. Vielleicht trug ja der Umstand, dass sie schwanger war, dazu bei?
»Es stimmt, Catrina! Irgendwo tief in meinem Herzen fühle ich, dass ich versagt habe. Wenn ich nur wüsste, wie ich diesen Fehler wiedergutmachen kann!«
»Rede dir ja keinen Unsinn ein, Kerrin! Gab es denn nicht genügend erwachsene und erfahrene Männer, die nach meinem Oheim Roluf hätten suchen sollen?«, erkundigte sich ihre Base.
»Oh! Das haben sie getan - tagelang sogar! Aber es nützte nichts. Vater blieb verschollen.«
Ehe sie beide noch ganz trübsinnig wurden, regte Kerrin an, nach dem kranken Ketel zu sehen. Vielleicht hatte sich wenigstens der Zustand des Kindes schon ein klein wenig zum Besseren gewendet ...
»Immerhin schläft er jetzt ruhig«, erklärte Kerrins Magd Gondel flüsternd. »Der arme Junge hat zuerst im Schlaf um sich geschlagen und laut geschrien!«
Kerrin legte dem Kleinen die Hand auf die Stirn, um seine Körpertemperatur zu überprüfen.
»Wie steht es?«, wollte Catrina wissen, wobei sie sich das weizenblonde Haar unter die Haube strich.
»Das Fieber ist in der Tat her un tergegangen«, freute sich Kerrin. »Ich werde mit dem Schnee noch eine kleine Weile weitermachen! Holst du noch ein wenig davon, Gondel?«
Kerrin reichte der Magd die Schüssel, und die machte sich auf nach draußen, um Nachschub zu holen.
»Wenn du jetzt die Wache übernimmst, Kerrin, werde ich dich in drei Stunden ablösen, falls es dir recht ist!«, schlug ihre Base vor.
»Das ist sehr lieb von dir, Catrina. Du kannst dich einstweilen in der hinteren komer in mein Bett legen! Ich wecke dich, sobald es Zeit für deine Nachtschicht ist.«
DREI
Die kommenden Stunden am Bett des schwerkranken Kindes verbrachte Kerrin in großer Nachdenklichkeit. Sie tauschte die warm gewordenen Wadenwickel gegen eiskalte aus, trocknete dem Jungen regelmäßig die Stirn vom Schweiß und befeuchtete seine Lippen mit Kräutertee. Dabei gingen ihr die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf.
Dass sie Harre trotz all ihrer Bemühungen, ihm ein schönes und bequemes Zuhause zu bieten, nicht auf der Insel würde halten können - dessen war sie sich beinah sicher. Ihr Bruder war in erster Linie ein Künstler, erst dann ein Inselfriese, der sich mit Haus und Hof und einem Segelboot beschied.
Ihn wird es immer in die weite Welt hin ausdrängen, dachte sie bedrückt. Das war ja so weit in Ordnung - so empfanden die Männer hier alle.
»Robben, Heringe und Wale fängt man eben nicht im Wattenmeer gleich vor der Haustür!« Damit trösteten sich die friesischen Frauen jedes Frühjahr, sobald es galt, sich von Mann, Verlobtem, Vater, Sohn oder Bruder für viele Monate zu verabschieden.
Aber Harre war kein Seemann, sondern Maler, stets auf der Suche nach Motiven und nach Inspirationen - und die fand er nicht mehr in der für ihn zu klein gewordenen Heimat, sondern im Ausland, im Süden Europas. Am liebsten in Südspanien, wo er die kunstvollen Überreste der Kultur der Mauren entdeckt hatte, der Araber, die dieses Land einst erobert und regiert hatten.
Das wiederum hatte die Idee in ihm reifen lassen, irgendwann das Ursprungsland dieser großartigen Kunstschöpfungen aufzusuchen - ein Vorhaben, das bei seiner Schwester immer noch blankes Entsetzen hervorrief.
Seit der Kaperung der Fortuna I war ihr Bedarf an allem, was irgendwie mit den Barbaresken zu tun hatte, für ewige Zeiten gedeckt.
Ich sollte vielleicht den Rat meiner Muhme Göntje und den meines toten Vaters befolgen und mir einen Ehemann suchen, überlegte sie nicht zum ersten Mal. Dann bekäme ich wahrscheinlich Kinder und litte nie mehr an Langeweile, sinnierte Kerrin. Hier braucht mich kein Mensch, außer den Kranken.
Für die aber stehen noch andere Heiler und mehrere Heilerinnen auf der Insel zur Verfügung.
Aber woher soll ich einen Mann nehmen, wenn mir doch kein einziger auf Föhr so richtig zusagt?
In Gedanken ging sie noch einmal alle im Alter ungefähr passenden Junggesellen und Witwer durch, auch die ledigen Männer auf den Nachbarinseln Amrum und Sylt sowie die von den Halligen.
Viele von ihnen sahen gut aus, waren nett und fleißig und keine Trunkenbolde. Aber nicht ein einziger war dabei, der sie ernsthaft gereizt hätte. Allen fehlte ... Ja, was eigentlich? Erziehung, Bildung, Wissen, Willensstärke, Verantwortungsgefühl, ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und vor allem jene Souveränität, die sie von ihrem Vater und von Oheim Lorenz gewohnt war.
Kerrin seufzte tief.
Wie es aussieht, werde ich wohl allein bleiben, dachte Kerrin, unverheiratet und kinderlos und weiter das Leben einer Prinzessin führen, die zwar dem Nichtstun frönen könnte, dies aber nicht tut, weil sie sonst vor Langeweile einginge. Womöglich wäre es nicht verkehrt, mich endlich mit den Möglichkeiten einer ertragreichen Landwirtschaft zu befassen.
Kerrin stand, nachdem sie Ketel die schweißnasse Stirn abgetrocknet hatte, vom Hocker auf und streckte sich, um nicht kreuzlahm zu werden.
Ackerbau und Feldwirtschaft fielen auf der Insel, die teils aus trockener Geest und teils aus feuchter Marsch bestand, reichlich karg aus. Vielleicht gelänge es ihr irgendwann, eine neue Methode zu ersinnen, welche die mageren Böden fruchtbarer machte?
Wiederum seufzte Kerrin. Dar an glaubte sie auch nicht wirklich. Stünde es im Bereich des Möglichen, den dürftigen Untergrund ergiebiger zu machen, hätte sich Oheim Lorenz schon längst damit befasst.
Das kranke Kind wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen und streifte immer wieder die Decke ab, die Kerrin jedes Mal geduldig vom Boden aufhob. Längst waren die ersten drei Stunden ihrer Nachtwache um, aber sie beschloss, Catrina nicht aufzuwecken. Werdende Mütter bedurften dringend des Schlafs, während sie selbst sich irgendwann bei Tage Ruhe gönnen konnte.
Die Nachtstunden verstrichen, ohne dass sich im Befinden des Kindes etwas Wesentliches änderte. Nur das Fieber war nicht mehr so heftig. Gegen Morgen wurden auch die Atemzüge ruhiger, das rasselnde Geräusch in der Brust hatte beinah gänzlich aufgehört.
Hatte sie Ketel anfangs für einen Jungen im Alter von etwa fünf, höchstens sechs Jahren eingeschätzt, schien er ihr jetzt bei genauerem Betrachten älter zu sein.
Sie beschloss, ihn, sobald sein Zustand es erlaubte, genauer zu befragen. Bis auf die Tatsache, dass beide Eltern fanatische Anhänger des Aushilfspastors gewesen und ihren grausamen Tod gewünscht hatten, wusste sie wenig von den Harmsens.
Nur, dass Girre Harmsen seine kleine Familie als Fischer und gelegentlicher Robbenschläger ernährte, nachdem er nach einem Unfall für die gefährliche Waljagd nach Ansicht Roluf Asmussens nicht mehr tauglich war. Girre selbst hätte liebend gerne wieder als Walfänger angeheuert. War sein Hass gegen die Tochter seines ehemaligen Commandeurs von daher begründet?
Kerrin seufzte.
Nachdem Harre sie damals buchstäblich in letzter Minute vor den Flammen gerettet und man die Übeltäter abgeurteilt hatte, war es Pastor Brarens gewesen, der für sämtliche von seinem Stellvertreter verblendeten und aufgehetzten Hexenjäger um Gnade gebeten hatte - deren Leben nach Ansicht des Gerichts verwirkt war.
Eine ganze Nacht lang hatte es gedauert, ehe er seine Nichte davon überzeugt hatte, dass christliche Vergebung Gott wohlgefälliger sei als blinde Rachsucht. Anfangs hatte Kerrin sich beharrlich geweigert, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Es fiel ihr ausnehmend schwer, Christi Gebot »so dich einer auf die linke Wange schlägt, reiche ihm auch die andere dar« auf sich selbst zu beziehen und ihren Todfeinden zu verzeihen. Erst in den frühen Morgenstunden hatte der Pastor für sein Werben um Barmherzigkeit bei ihr Gehör gefunden.
Es bedeutete, dass die Urteile nachträglich gnadenhalber reduziert und der Vollzug stark abgeschwächt wurde. So fielen die Wiedergutmachungen reichlich milde aus; die meisten kamen mehr oder weniger mit einer einfachen Entschuldigung davon.
Auch Frigge und Girre waren seinerzeit bei ihr angekrochen und hatten versichert, wie leid ihnen ihr Irrtum tue - aber gerade diesen beiden Eiferern hatte sie den plötzlichen Gesinnungswandel nicht abgenommen. Sie war froh gewesen, als sie die zwei Heuchler nicht mehr hatte sehen müssen.
Da die Kammertür einen Spalt weit geöffnet war, drang Kerrin im Morgengrauen aus der köögen ein heftiges Rumoren ins Ohr. Wie üblich säuberte Gondel den Ofen, der im Winter als einzige Wärmequelle im Haus diente und Tag und Nacht durchgeheizt wurde.
Es war Brauch: Wer sich als Letzter der Hausgemeinschaft in sein Wandbett schlafen legte, kontrollierte noch einmal das Feuer und bedeckte es mit Asche - damit zwar die Flammen erstickten, die Glut jedoch erhalten blieb -, sodass nur noch ein schwaches Glimmen im Herd zu sehen war.
Sie konnte bis in ihr Zimmer hören, wie Gondel ein Lied vor sich hin trällerte, während sie aus dem Ofenloch Asche und Holzkohlenstückchen ausfegte. Dann fachte sie die Glut durch kräftiges Betätigen des Blasebalgs an, ehe sie diese mit dünnen Spänen zum Auflodern brachte. Schließlich legte sie noch etliche Holzscheite nach.
Brennholz war auf der nahezu baumlosen Insel knapp, musste vom Festland bezogen und teuer bezahlt werden. Meist ersetzten es die Föhringer durch getrocknetes und klein geschnittenes Schilf und Heidekraut, während man auf den Halligen den in Ditten abgestochenen und getrockneten Schafmist verfeuerte.
Auch in wohlhabenden Haushalten ging man mit Holz sparsam um und verwendete zum Feuern meist allerlei trockenes Gestrüpp von Sträuchern und Büschen, die im Innern der Insel wuchsen oder die Uferwege säumten.
Die Handgriffe der alltäglichen Arbeitsschritte waren stets die gleichen, und Kerrin wusste genau, was die Magd als Nächstes tun würde: Gondel holte aus der Vorratskammer Milch, Honig und die Hafergrütze, um den Morgenbrei aufzusetzen.
Ehe jeder Hausbewohner seine Schüssel mit dieser sättigenden Morgenmahlzeit vorgesetzt bekam, würde Gondel noch eine kleine Menge geschmolzener und gebräunter Butter dar übergießen. Auch mit der Butter verfuhr man eher geizig.
Es gab nur vereinzelt Kühe auf der Insel, und die Schafe mussten mit ihrer Milch die Lämmer nähren. Die geringe Menge an Schafsbutter verwendete man hauptsächlich für andere Zwecke: zum Braten, zum Backen, zum Schmieren von Wagenrädern, zum Einfetten von Schiffstauen, zum Abdichten von Fischtonnen oder - und nicht zu knapp - zur Herstellung von Heilsalben.
Kerrin spürte, dass sich hinter ihrem Rücken die Tür ein Stück weiter öffnete.
Ohne sich umzuwenden, meinte die übernächtigte junge Frau »Gudmaaren, Eycke!«.
»Ob's ein guter Morgen wird, wird sich erst noch zeigen; aber woher weißt du denn, dass ich es bin?«, fragte Eycke. Dann musste die alte Frau über sich selbst lachen. »Ja, ich weiß, mein Tapern auf dem Flur kann man nicht überhören!«
Sie näherte sich dem Krankenlager, wo der Knabe immer noch sehr unruhig schlief. »Es geht dem armen Kerlchen also weiterhin schlecht, ja? Aber ein bisschen besser sieht er aus, der arme Jung'!«
Eine Antwort wartete Eycke erst gar nicht ab. »Weißt du übrigens, wer bereits seit einer Stunde draußen im Hof wartet und gotterbärmlich friert? Nein? Ketels Mutter ist seit fünf Uhr morgens da und möchte wissen, was mit ihrem Sohn los ist.«
Zu Kerrins Verwunderung klang die Stimme der alten Magd irgendwie mitleidig.
Etwas, das Kerrin verstimmte.
»Soll sie ruhig warten.« Ihre Stimme klang kalt.
»Frigge Harmsen wird sich den Tod in der Eiseskälte holen «, wagte die alte Magd vorzubringen.
Aber Kerrin reagierte nicht.
»Soll ich Frigge her einholen?«, fragte die alte Frau dar aufhin leise.
»Wage es ja nicht!«
Unwillig funkelten Kerrins meerblaue Augen die erschrockene Magd an. »Ich möchte nicht einmal, dass du nur ihren Namen vor mir erwähnst! Allein dem unschuldigen kranken Kind gilt meine Sorge - das Weib hingegen kann meinetwegen zum Teufel gehen!«
Zwar hatte sie dabei ihre Stimme gedämpft, um den Knaben nicht zu wecken, dennoch fröstelte Eycke plötzlich. Sie begriff, dass ihre junge Herrin der Mutter des Kindes keineswegs verziehen hatte - und es wahrscheinlich auch niemals tun würde.
Ein Gedanke, der ihr einerseits eine gewisse Furcht einflößte - wusste sie doch, dass Kerrin über besondere Kräfte verfügte -, sie aber gleichzeitig auch beruhigte, denn es zeigte, dass ihr Herz nicht völlig vom Hass gegen die Harmsens zerfressen war: Vermochte sie doch noch zu unterscheiden zwischen den verblendeten mordlüsternen Eltern und ihrem schuldlosen Kind.
»Wie du meinst, Hausfrau!«, sagte sie kurz angebunden. »Sag mir lieber, wie es kommt, dass du immer noch an Ketels Bett sitzt! War es nicht Catrina, die dich ablösen wollte? Und war um hast du mich nicht geholt?«
Der Vorwurf war deutlich und entlockte Kerrin ein Lächeln. »Du kannst jetzt hierbleiben, Eycke, und den Knaben versorgen, wenn du magst! Catrina habe ich absichtlich nicht geweckt, denn sie erwartet ein Kind und braucht ihren Schlaf.«
»So? Sie erwartet Nachwuchs? Das ist schön! Da wird sich ihr Mann Knut Detlefsen aber freuen! Natürlich bleibe ich gerne.«
»Ich werde dir deinen Morgenbrei aus der köögen holen, Eycke - nachdem ich Ketels Mutter über ihren Sohn Bescheid gegeben habe.« Letzteres erwähnte sie betont beiläufig.
Damit begab sich Kerrin in den Flur und vor zur Haustür, deren obere Hälfte nach außen aufzuklappen war, während man den unteren Teil geschlossen halten konnte. Durch die obere Öffnung, die Klönschnackdoor, rief sie Frigge Harmsen an.
»Hör zu! Dein Sohn hat die Nacht überlebt. Das Fieber plagt ihn nicht mehr ganz so heftig. Er hat Milch mit Honig und Heilkräutertee getrunken - und vor allem viel geschlafen. «
»Gott sei Lob und Dank! Und auch dir, Kerrin Rolufsen, sei für deine Mühe gedankt! Darf ich meinen Jungen sehen - nur ganz kurz?« Die Stimme der Mutter klang kleinlaut. Die brennende Laterne in ihrer Hand zitterte.
»Komm meinetwegen übermorgen wieder!«, beschied Kerrin die Fischersfrau mit Nachdruck; so, als habe sie deren Bitte überhört. Damit schloss sie geräuschvoll die obere Türhälfte und ließ Frigge draußen stehen.
Alle, die im Haus bereits auf waren, hatten den Wortwechsel mitbekommen und konnten beobachten, wie Frigge mit ihrem dicken Umhang über dem gebeugten Kopf und den eingezogenen Schultern durch den über Nacht frisch gefallenen Schnee in der winterlichen Finsternis davonstapfte.
»Sie soll froh sein, dass unsere Herrin ihr krankes Balg bei sich aufgenommen hat! Das täte bei Gott nicht jeder, der durch die Eltern einst so schandbar behandelt worden ist!« Damit sprach Gondel dem Großteil der Hausbewohner, deren zustimmendes Gemurmel aus der Küche bis auf den Flur hin aus zu hören war, aus dem Herzen. Auch Kerrin - auf dem Weg in die Küche - hörte diese Worte. Sie war sich nur zu sehr der Tatsache bewusst, dass sie sich keineswegs so verhielt, dass auch ihr verehrter Oheim, Pastor Brarens, es gutheißen würde. Was er sie als Kind über christliche Demut, Barmherzigkeit und Vergebung gelehrt hatte, entsprach nicht dem, wie sie mit Frigge verfuhr ...
Sie wünschte den um den Tisch versammelten, bereits seit dem Morgengrauen im Stall beschäftigten Knechten und Mägden ein freundliches »gudai!« und eine »gud bekimene mialtidj!«, leerte ein Glas warmer Schafsmilch auf einen Zug, nahm dann zwei gefüllte Breischalen und einen weiteren Becher Milch für Eycke mit und verließ die köögen wieder.
Sie würde mit der alten Magd essen und so den übrigen Domestiken die Möglichkeit geben, sich den Mund über ihren kleinen Patienten und vor allem über dessen Mutter zu zerreißen.
Und auch über mich, dachte sie bitter. Nicht alle werden finden, dass ich gut dar an tue, die arme Frau nicht zu ihrem kranken Kind zu lassen. Aber - der Herr ist mein Zeuge - ich ertrage die Gegenwart dieses heimtückischen und grausamen Weibes einfach nicht!
Hatte sie doch heute noch die bösartig geifernde Stimme Frigges im Ohr, die seinerzeit ihren Mann Girre angestachelt hatte, Waltran auf den Reisig- und Spänehaufen zu gießen, »um für die Hexe das Höllenfeuer besonders schön lodern zu lassen!«.
VIER
»Schön, dass du es noch geschafft hast, zum Weihnachtsfest bei uns zu sein, Harre!«
In einem bei ihr seltenen Anfall von öffentlich zur Schau getragener Geschwisterliebe fiel Kerrin ihrem Bruder um den Hals und küsste ihn auf die stoppelige Wange. Während des tagelangen Her umstreifens auf dem Festland hatte er keine Zeit gefunden, sich barbieren zu lassen.
»He! Womit habe ich das verdient?«
Harre fasste seine jüngere Schwester um die schmale Taille und schwenkte sie übermütig im pesel herum.
»Ich habe mich vorhin bei Eycke eingeschmeichelt«, verriet er Kerrin und grinste verschmitzt. »Sie hat mir verraten, welches Festtagsessen du für morgen geplant hast. Da wäre es doch jammerschade gewesen, wenn ich und meine Begleiter es versäumt hätten!
Überhaupt, meine Liebe, deine Fürsorge für mich, deinen unnützen Bruder, ist geradezu überwältigend. Wie du weißt, bin ich kein Mann großer Worte - und von Schmeicheleien halte ich nicht viel. Aber es ist endlich an der Zeit, dir, meine liebste Kerrin, ein dickes Lob auszusprechen!«
Er ließ sie endlich los, und Kerrin, von leichtem Schwindel erfasst, griff flink nach seinem Arm, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Es ist erstaunlich, wie großartig du mittlerweile den Haushalt in Schwung hältst - ich jedenfalls genieße deine weibliche Fürsorge außerordentlich!«
Kerrin strahlte den hochgewachsenen jungen Mann mit den schulterlangen braunen Haaren und den intensiv blauen Augen, die so manche Frau schon zum Träumen gebracht hatten, an. Komplimente von Harre waren in der Tat etwas Rares - und damit etwas ganz Besonderes.
Vielleicht hatte sie sich getäuscht, und ihr Bruder liebte doch das Leben auf der Insel - und das Zusammensein mit ihr. Könnte sie sicher sein, dass Harre bei ihr bliebe, wäre alles für sie um ein Vielfaches leichter; sie besäße eine Aufgabe, der sie mit Freude und Eifer nachkäme.
»Es wäre zu schön, Kerrin, wenn ich dich nach Spanien als meine Haushälterin mitnehmen könnte«, fügte der junge Künstler nun hinzu und lachte, während sein holländischer Freund applaudierte. »Überlege es dir gut, ob du mein Angebot nicht annehmen möchtest - die spanischen señores sind ganz verrückt nach blonden Frauen mit hellen Augen! Deine Aussichten, einen geeigneten Mann zu finden, wären ausgezeichnet! «
Kerrins Miene versteinerte, das Strahlen in ihren Augen verebbte. Wie eine Seifenblase war der schöne Traum zerplatzt.
»Danke für das Angebot, Harre. Leider wirst du dir eine andere suchen müssen, die dich künftig versorgt!«
Abrupt wandte sie sich ab, um einer Magd einen Auftrag zu erteilen, die diesen von sich aus längst erledigt hatte.
Die Stimmung am Weihnachtstag war etwas gedrückt, obwohl die Entenfleischsuppe, der Lammbraten mit Minze nach englischer Art sowie der Wein - ein Geschenk Herzogin Hedwig Sophies - ausgezeichnet mundeten und Kerrin sich große Mühe gab, sich ihre Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
Dass Harre offenbar nicht im Mindesten dar an dachte, für immer auf Föhr zu bleiben, betrübte sie sehr.
»Du wirkst so traurig, Schwesterchen«, stellte Harre am Weihnachtsabend fest. »Was ist los?«
Es war ganz offensichtlich, dass er ihre gedrückte Stimmung keineswegs mit sich und seiner Absicht, bald nach Spanien abzureisen, in Verbindung brachte.
»Bist du traurig, weil dein kleiner Patient dich zu Weihnachten verlassen hat?«
»Sprichst du von Ketel?«
Reichlich verblüfft blickte Kerrin ihrem Bruder ins Gesicht.
Wieder einmal fiel ihr beinahe schmerzlich die starke Ähnlichkeit seiner feinen und doch sehr männlichen Gesichtszüge mit dem Antlitz ihres Oheims Lorenz auf, während er ganz offensichtlich die kräftige Statur ihres Vaters Roluf geerbt hatte.
Kein Zweifel, ihr Bruder war einer der ansehnlichsten Männer auf der Insel. Ein Dutzend Mal hätte er sich bereits mit hübschen und wohlhabenden Frauen verheiraten können. Aber von engen Bindungen hielt er offenbar herzlich wenig.
»Wo denkst du hin, Harre? Ich habe mich doch für den kleinen Jungen gefreut«, widersprach Kerrin vehement Harres absurder Vermutung.
»Für Familie Harmsen muss es gewesen sein, als käme das Christuskind persönlich zu ihnen! Kerrin, was täten die Leute hier nur ohne dich? Eigentlich beneide ich dich manchmal, Schwesterchen! Dir ist es gegeben, etwas Sinnvolles zu tun, indem du vielen Gesundheit und Lebensfreude schenkst - während ich nur Überflüssiges zustande bringe! Ohne Bilder kann man sehr gut leben. Was vom gesundheitlichen Wohlbefinden nicht zu behaupten ist!«
»Sag das um Himmels willen nicht, Harre! Kunst verschönert und bereichert das ganze Leben! Alles, was du als Künstler auf die Leinwand bannst, wird noch lange nach deinem Tod weiterwirken - vielleicht für viele Hundert Jahre, wenn von mir längst nicht mehr die Rede sein wird!«
»Wenn du es so sehen willst, Kerrin ...«
Harres Blick blieb ein wenig skeptisch; aber wie seine Schwester erkannte, mischte sich ein gewisser Stolz hinein, verbunden mit Genugtuung.
»In diesem Zusammenhang habe ich ein Anliegen an dich, Harre! Und ich bitte dich sehr, schlage mir meinen Wunsch nicht ab«, nützte Kerrin die günstige Gelegenheit aus. »Ehe du dieses Mal Föhr verlässt, möchte ich, dass du von Oheim Lorenz ein Porträt anfertigst, im Gewand eines Pastors!«
Harre lächelte geschmeichelt.
»War um nicht? Wenn Monsieur Lorenz nichts dagegen hat, mir Modell zu sitzen, soll es mir ein Vergnügen sein, ihn für die Zukunft auf Leinwand festzuhalten.
Wie steht es im Übrigen mit dir selbst? Auch dich würde ich - wie schon des Öfteren angeboten - sehr gerne malen!«
Aber das lehnte Kerrin nach wie vor strikt ab. Es kam ihr anmaßend vor. Ja, es erschien ihr geradezu unziemlich, sich auf diese Art zur Schau zu stellen, ganz so, als sei sie etwas Besonderes.
Nach anfänglichem Zögern erklärte der Nieblumer Seelenhirte sich dazu bereit, sich von seinem Neffen porträtieren zu lassen. Allerdings setzte er sich anfangs energisch gegen Kerrins Plan zur Wehr, das Gemälde in seiner Kirche aufzuhängen - nicht einmal im dunklen Seitenschiff, unter den in der oberen Etage angebrachten Sitzbänken, oder in einer Nische der geräumigen Vorhalle wollte er das Bild dulden.
»Für derlei Eitelkeiten bin ich nicht zu haben! Das Porträt soll im Pfarrhaus hängen und einst meine geistlichen Nachfolger an mich erinnern; aber in einem Haus des Herrn hat es nichts verloren«, erklärte er kategorisch. Kerrin fand das äußerst schade und gab nicht so schnell auf.
Harre hatte sich beinah selbst übertroffen, indem er seinen Verwandten so naturgetreu wie möglich dargestellt hatte, die edlen Gesichtszüge mit den intelligent blickenden blaugrauen Augen, der scharfen Nase und dem breiten vollen Mund, das Ganze gepaart mit pastoraler Milde, die ihn zeitlebens auszeichnete.
Gleichzeitig schimmerte auch die moralische Strenge auf, die Lorenz Brarens gleichfalls innewohnte - allerdings ohne jene eifernde Unerbittlichkeit, die so manchen Geistlichen im Umgang mit seinen Schäfchen auszeichnete.
Seine Frau Göntje und seine Kinder beknieten den Pastor regelrecht, seine Meinung zu ändern. Harre wusste zum Glück etliche Beispiele ins Feld zu führen, wo hohe Geistliche
© 2014 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
Sie wurden anschließend, ähnlich wie Brotlaibe, auf dem Grasterbrett aufgereiht, mit Fett bestrichen und schließlich in den Ofen geschoben, wo sie mit ihrem Zimtaroma und dem Geruch nach kandierten Zitronenschalen im ganzen Haus einen himmlischen Duft verbreiteten, den jedermann unwillkürlich mit Weihnachten verband.
Die Nacht zum 21. Dezember, der Wintersonnenwende, nannte man allgemein Thomasnacht. Sie war zugleich die erste der sogenannten Raunächte, in denen in Pelze gehüllte böse Geister umgehen und die Menschen piesacken sollten - aber nur jene, die dar an glaubten.
Pastor Lorenz Brarens, Kerrins Oheim und einer der drei Föhrer Inselgeistlichen, predigte jedes Jahr mit Vehemenz gegen den Aberglauben an und ließ seine Gemeinde, die fleißig die Gottesdienste im Friesendom Sankt Johannis besuchte, wissen, dass bloß noch »rückwärts gewandte, katholische Leute in Süddeutschland und in den Alpenländern für diesen Unsinn zu haben seien«.
Viel schienen seine Bemühungen bei den meisten nicht zu fruchten. Die Furcht vor Dämonen saß wohl noch zu tief.
Kerrin selbst war im Zweifel, ob es böse Geister gab oder nicht. An die guten glaubte sie dagegen unbedingt. So wäre es auch nicht ganz unlogisch, folgerte sie, die bösen ebenfalls für bare Münze zu nehmen ...
Normalerweise blieben die ängstlichen Menschen mindestens bis Mitternacht auf, um die draußen tobenden und gegen die Haustüren polternden, in Tierfelle gehüllten Dämonen zu hören. Durch die nicht vollständig geschlossenen Läden waren sie auch zu beobachten - man konnte sich mächtig dabei gruseln.
Kerrin war an diesem Abend jedoch so müde, dass sie früh schlafen gehen wollte. Es stand ihr noch einiges an Vorbereitungen bevor: Immerhin erwartete man zu den Feiertagen besondere Gäste! Ihr um drei Jahre älterer Bruder Harre hatte mit seinen sechsundzwanzig Jahren in Spanien als Maler Fuß gefasst; spontan hatte er sich dieses Jahr entschlossen, seine Verwandten in Nordfriesland zu besuchen, wor über Kerrin sich ungeheuer freute. Seit Kindertagen waren die mutterlos aufgewachsenen Geschwister einander zutiefst verbunden.
Harre würde auch einen Freund mitbringen, einen Holländer, der ebenfalls malte, sowie seinen spanischen Diener, mit dem es vermutlich nicht leicht sein würde, sich zu verständigen. Im Augenblick hielten sich alle drei irgendwo in Schleswig- Holstein auf dem Festland auf.
Kaum berührte Kerrins Kopf das Kissen, sank sie auch schon in tiefen Schlaf.
Als Eycke sich eine Stunde später neben ihre Herrin ins Wandschrankbett legte, bekam diese nichts mit, obwohl die alte Frau sich nicht gerade leise verhielt. Erst schnäuzte sie sich geräuschvoll, dann musste sie husten, gleich dar auf fiel ihr etwas mit Getöse auf den Boden der komer, das sie mühevoll ächzend aufhob, um sich anschließend laut stöhnend wieder aufzurichten.
Kerrin aber sah und hörte nichts. Sie lag da, mit dem Gesicht zur hölzernen Wand des wie ein breiter Kasten gebauten Bettes gewandt, und schlummerte seelenruhig weiter.
»So gut möchte ich auch wieder einmal schlafen können«, brummte Eycke, ehe sie das Kerzenlicht löschte und zu der Hofherrin unter die Schafwolldecke schlüpfte; wobei sie zumindest achtgab, sich nicht auf Kerrins rotblonder Haarflut niederzulassen. Ein schmerzhaftes Ziepen hätte sie womöglich doch geweckt ...
Die Stimmen - melodisch und fein gleich Harfenklängen - hatten sie schon lange Zeit nicht mehr aufgefordert, ihnen zu folgen; hinaus aus der häuslichen Enge, die schmalen holprigen Gässchen zwischen den Höfen entlang, der Dorfstraße von Naiblem folgend, über die mit Reif überzogenen, winterlich gelbbraunen Wiesen, den breiten grauen Sandstrand querend, bis dicht an den feuchten, schwarz schimmernden Ufersaum, an dem die allmählich in langen flachen Wellen wiederkehrende Flut leckte und auf spielerische Weise ihr angestammtes Territorium erneut in Besitz nahm ...
Sie war nicht allein auf ihrem Weg zum nächtlichen Strand. Eine Heerschar zart leuchtender, gespinstleichter Gestalten begleitete sie, umwaberte sie in ihren langen, fließenden, spinnwebfeinen Gewändern und strebte gleich ihr zum Ufer des gemächlich anrollenden Meeres.
Die Gestalten lächelten ihr zu; wie immer vermochte sie eine leise Melodie zu vernehmen, die vom nächtlichen Sternenhimmel zu kommen schien, während sie jenem heiteren Traumgebilde entgegenschwebte, das sein verklärtes, beinah göttlich schönes Antlitz all die Jahre über nicht verändert hatte.
Obwohl ihr die Lichtgestalt dieser jungen Frau mit verändertem, weil vergeistigtem Aussehen erschien, zweifelte Kerrin keinen Augenblick dar an, dass es sich um Terke handelte, ihre Mutter, die bei der Geburt des dritten Kindes ihr Leben verloren hatte.
In unregelmäßigen Abständen rief Terke ihre Tochter zu sich und weissagte ihr Ereignisse, die sich bisher noch immer bewahrheitet hatten.
Es war eisig kalt in dieser Thomasnacht. Das Wasser in den Prielen war gefroren. Dennoch verspürte die junge Heilerin in ihrem Nachtgewand die Kälte nicht. Es schien, als wärme sie das helle, in zarten Pastellfarben schimmernde Licht, das sie umfloss; selbst ihre nackten Füße blieben vom beißenden Frost verschont; scheinbar berührten sie den gefrorenen Boden nicht. Es war ihr, als schwebe sie über Steine, Sand und auflaufendes Meerwasser ...
An der Art der Musik und am lieblichen Gesang der auf einmal wie Nebelschwaden zerfließenden Gestalten, die ihr den Weg gewiesen hatten, vermochte Kerrin jeweils zu erkennen, ob Terkes Botschaft eine gute sein werde - oder das Gegenteil.
Was würde es dieses Mal sein? Ihr Herz frohlockte; Musik und Gesang hatten weder Schwermut, Trauer noch Ängste ausgedrückt, sondern überaus heiter geklungen. Voll Erwartung blickte sie der Mutter entgegen ...
Am nächsten Morgen, dem Tag des heiligen Thomas - der einst die Auferstehung des Herrn verleugnete, ehe Jesus selbst den Ungläubigen überzeugte -, erwachte Kerrin voller Tatendrang und Lebensfreude. Auch Eycke, die sich kurz vor ihr erhoben hatte, um nach dem Herd in der neben der komer liegenden köögen zu sehen, fiel die gute Laune ihrer Herrin auf.
»Sind wir heute wieder mal bei guter Stimmung, ja?«, erkundigte sie sich mit leichtem Spott, während sie die dünnen grauen Haare zu einem mageren Zöpfchen flocht und auf dem Kopf mit Haarklemmen aus Fischbein feststeckte.
Kerrin, die den nassen Saum ihres Nachtgewands bemerkt hatte und dar aus schloss, während der Nacht wieder einmal von ihren Gesichten heimgesucht worden zu sein - auch wenn sie sich nicht mehr dar an erinnern konnte, während der Nacht Bett und Haus verlassen zu haben -, schaute auf und musterte die Magd mit Unverständnis.
Die alte Frau ließ ein kurzes Lachen hören.
»Masmudig heest weesen, wegenloong, Kerrin!«
»Wochenlang soll ich schlecht gelaunt gewesen sein?«
Das beschämte Kerrin ein bisschen, und sie errötete. Vor den Knechten und Mägden sollte man sich nicht gehen lassen. »Es tut mir leid, Eycke. Ab heute geht es mir besser; das spüre ich - wenn ich auch den Grund dafür nicht kenne. Mir kommt aber vor, als hätte ich von meiner Mutter geträumt, die mir irgendetwas Tröstliches über meinen Vater gesagt hat!«
»Wenn es wichtig war, wirst du noch öfter davon träumen, Kerrin.«
Die alte Eycke kannte sich aus mit den Vorahnungen ihrer jungen Herrin.
EINS
Mit einer Mischung aus Rührung, Dankbarkeit und leichter Belustigung ließ Kerrin Rolufsen den Brief ihrer herzoglichen Freundin Hedwig Sophie in den Schoß sinken. Seit die vierundzwanzigjährige verwitwete Herzogin von Schleswig- Holstein-Gottorf die Insel Föhr im Spätherbst verlassen hatte, um in ihr Schloss zurückzukehren, verging kaum eine Woche, in der sie der Freundin keine Nachricht zukommen ließ.
Meist beklagte sie ihre Einsamkeit - trotz wahrer Heerscharen von edlen Gästen samt illustrem Gefolge. Nicht selten beschwerte sie sich über die lästigen Unarten enger wie entfernter Verwandter, die zu ihrem großen Verdruss nicht davon abließen, ihr ganz offen einen neuen Gemahl nahezulegen.
Ein Unterfangen, von dem die nur um ein Jahr jüngere Kerrin mit Sicherheit wusste, dass es zum Scheitern verurteilt sein werde. Hedwig Sophies verstorbener, anfangs über alles geliebter und verehrter Gemahl, Herzog Friedrich IV., hatte ihre Gefühle zutiefst verletzt.
Schlimm erwies sich für Kerrin jedes Mal der Hinweis der Herzogin, dass Hedwig Sophies Sohn, der kleine Herzog Carl Friedrich, beinahe jeden Tag nach ihr verlangte.
Sie musste dann jedes Mal gegen ihr schlechtes Gewissen ankämpfen, denn auch ihr war der Knabe im Laufe der Zeit ans Herz gewachsen, und sie vermisste ihn sehr.
»Beinah kommt es mir wie schändliche Fahnenflucht vor, dass ich den kleinen Herzog verlassen habe«, murmelte sie auch jetzt nach der Lektüre des Briefes beschämt. In solchen Augenblicken wurde sie regelrecht von Sentimentalität übermannt - was keineswegs ihrer nüchternen friesischen Art entsprach.
Zudem verstand es die Herzogin ausnehmend geschickt, in jedem ihrer seitenlangen Schreiben die besonderen Umstände der schweren Geburt hervorzuheben, unter denen seinerzeit ihr Sohn in Schweden das Licht der Welt erblickt hatte - als sich sogar die königliche Hebamme feige aus der Verantwortung gezogen und Kerrin das Feld allein überlassen hatte.
Hedwig Sophie wurde nicht müde, Kerrins damaligen Beistand als Ursache des glücklichen Verlaufs der Entbindung zu preisen - natürlich stets verbunden mit einer herzlichen Einladung an den Hof zu Gottorf.
Was Kerrins schlechtes Gewissen ein wenig abmilderte, war der Umstand, dass es der Herzogin gelungen war, nicht nur die liebenswürdige Gabriele von Liebenzell - ihre und ihres Bruders einstige Gouvernante - an den Herzogshof zu holen, sondern auch Frau Alma von Roedingsfeld, die geschätzte Hofdame ihrer verstorbenen Mutter, Königin Ulrika Eleonore.
Frau Alma war eine ältere Dame, die sich nach wie vor bester Beziehungen zum russischen Hof erfreute. Sie würde dafür sorgen, dass am Schleswig-Holsteinischen Herzogshof zumindest der Gesprächsstoff über Zar Peter und seine Eskapaden nicht versandete.
Jäh unterbrochen wurde Kerrins Gedankenfluss durch das ein wenig poltrige Eintreten der alten Magd Eycke. Pastor Lorenz Brarens, Kerrins Oheim und Ziehvater, hatte zugestimmt, dass die im Kopf noch hellwache, aber auf den Beinen zunehmend schwache Greisin ihren Lebensabend bei Kerrin auf dem von den Föhringern Commandeurshof genannten Anwesen verbringen durfte. Obwohl der Hausherr verschollen und vermutlich längst tot war, bezeichneten die Einheimischen Kerrins Elternhaus nach wie vor mit diesem ehrenvollen Namen.
»Was gibt es denn, Eycke?«
Kerrin erhob sich von dem Hocker, auf dem sie sich zum Lesen des herzoglichen Schreibens niedergelassen hatte, und sah der alten Frau, an der sie von Kindesbeinen an wie an einer Großmutter hing, freundlich entgegen.
»Kerrin, du musst dir unbedingt das Kind anschauen, das seine Mutter uns angeschleppt hat. Ich denke, es hat Fieber und zwar heftig! Auch das Luftholen macht dem Kleinen große Schwierigkeiten. Und schwach kommt er mir vor, äußerst schwach«, fügte die alte Frau gewichtig hinzu. »Und ich finde, trotz der roten Flecken auf den Wangen ist er unheimlich blass.«
»Und? Wo ist der Junge?« Kerrin sah sich um. »Her ein mit ihm und seiner Mutter!«
»Ich dachte, du wolltest in Ruhe den Brief der Herzogin lesen und habest vielleicht keine Zeit für eine Behandlung. So hab' ich sie geheißen, draußen im Hof auf dich zu warten. Komm und schau dir den Kleinen an, Kerrin!«
»Das sind ja ganz neue Sitten, Eycke! Damit wollen wir gar nicht erst anfangen!«
Die hübsche junge Frau mit dem langen, mit einem Band im Nacken zusammengebundenen rotgoldenen Haar schüttelte den Kopf. »Du weißt, jeder Kranke - egal wor an er leidet - darf jederzeit in mein Behandlungszimmer. Ich bin schließlich Heilerin und keine Adelsdame, die gnädig Audienzen gewährt!«
Um dem Tadel etwas von seiner Schärfe zu nehmen, lächelte sie der alten Magd, die rot angelaufen war, ins Gesicht und strich ihr sachte über den mageren sehnigen Arm.
»Ich geh die zwei holen«, murmelte die alte Frau und wandte sich zum Gehen.
»Lass nur, Eycke! Das machen wir jetzt ganz einfach!«
Kerrin trat zum Fenster ihrer komer, drückte einen der beiden Flügel nach außen auf, wo Mutter und Sohn dick eingemummt im Hof ausharrten, mit den Füßen immer wieder gegen die winterliche Kälte aufstampften und zum Wohnhaus her überspähten.
»He! Kommt nur her ein! Die Tür steht bei mir immer offen! «
Um ihre Worte zu unterstreichen, winkte sie ihnen zu. Insgeheim wunderte sie sich über das Sehvermögen der alten Dienstmagd: Sie selbst vermochte nämlich beim besten Willen nicht, die Gesichtsfarbe des Kindes zu erkennen ...
Während sie das Fenster schloss, um nicht unnötig eisige Kälte in den Raum zu lassen, beobachtete sie, wie die Frau, deren Kopf und Hals ein grobes Tuch aus grauer Schafwolle verhüllte, nach der Hand ihres etwa fünfjährigen Kindes griff und - erst noch zögernd, dann immer sicherer - den teilweise gepflasterten, sorgfältig vom Schnee blank gefegten Hof überquerte und dem Hauseingang zustrebte, das erschöpfte Kind mehr oder weniger hinter sich her zerrend.
Kerrin und Eycke hörten die Haustür ins Schloss fallen. »Ich geh' dann mal in die köögen«, nuschelte die alte Magd, »und werde eine Kanne Salbeitee aufsetzen!«
»Ja, mach das, Eycke! Die zwei Durchgefrorenen werden sich dar über freuen!«
Nach schüchternem Anklopfen an der Zimmertür und Kerrins freundlichem »Tretet nur ein!«, tauchten zwei, wegen ihrer schützenden Umhänge und Schals nicht kenntliche Personen in der komer auf. Die Frau grüßte mit leiser Stimme, der kleine Junge blieb stumm.
Leicht verlegen begann Kerrin, verstreut liegende Bücher beiseitezuräumen. Das Zimmer diente ihr auch als Schreibkabinett und Leseraum, sooft es sie danach drängte, allein zu sein und in aller Ruhe ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen, dem Lesen von Oheim Lorenz' schlauen Büchern.
Mit Besuch hatte sie heute nicht gerechnet, und überall - sogar auf dem Fußboden - lagen Bücher herum. Sie hatte sich nämlich eine kleine Bibliothek zugelegt, worauf sie nicht wenig stolz war, wenn auch ihr um drei Jahre älterer Bruder Harre sie ab und an mit mildem Spott bedachte. Er glaubte, seine Schwester übertreibe es hin und wieder mit ihrem Drang nach Bildung.
»Legt Eure dicken Sachen ab«, forderte Kerrin die Besucherin auf, »sonst kommt Ihr womöglich noch ins Schwitzen!«
Sie war gespannt, wer sich aus den Hüllen her ausschälen würde. Solange sie nicht wusste, wer sich unter der Winterkleidung verbarg, duzte Kerrin die Person auch nicht, wie es sonst auf der Insel üblich war.
Es könnte sich ja immerhin um die Frau eines dänischen Gangfersmannes handeln, eines hohen königlichen Beamten, der mit der Verwaltung der westlichen Hälfte der Insel Föhr betraut war, die nicht dem Herzogtum Schleswig-Holstein unterstand, sondern zum Königreich Dänemark gehörte.
Obwohl die Friesen mit den Dänen im Allgemeinen sehr gut auskamen, hatte Pastor Brarens seiner Nichte eingeschärft, dass es klüger wäre, die Untertanen des Dänenkönigs mit besonderer Höflichkeit und Respekt zu behandeln.
Als Kerrin allerdings sah, wer da unter Schal, Kapuzenumhang und Kopftuch zum Vorschein kam, stockte ihr erst einmal der Atem.
»Nein! Du wagst dich zu mir her? Ausgerechnet du! Du hast wohl überhaupt kein Schamgefühl?«
Zornig schwoll Kerrins in aller Regel leise und freundliche Stimme an.
»Willst mich um Hilfe bitten - die Frau, die du vor einiger Zeit liebend gerne auf dem Scheiterhaufen hättest brennen lassen? Das ist ja wirklich ein starkes Stück!«
Ehe Kerrin es zu verhindern vermochte, fiel das Weib, eine junge Bäuerin und Ehefrau eines Fischers aus dem Dorf Övenum, vor ihr auf die Knie und griff nach ihrer Hand, um diese mit Küssen zu bedecken. Dabei vergoss sie Ströme von Tränen, während ihr kleiner Sohn verlegen danebenstand.
Brüsk entzog Kerrin der Frau ihre Hand und stieß sie grob von sich.
»Steh sofort auf, Frigge Harmsen, und mach augenblicklich, dass du ...« Sie stockte, als ihr Blick auf den Jungen fiel.
ZWEI
»Wie lange hat er das schon?«
»Drei Ta... Ta... Tage«, stotterte Frigge.
Aufgebracht fuhr Kerrin die Mutter an. »Dummes Ding! Damit wärest du besser gleich zu mir gekommen!«
»Ich hab' mich nicht getraut, dir unter die Augen zu kommen, Kerrin Rolufsen«, stammelte die offensichtlich betroffene Bäuerin kleinlaut. »Ich hatte gehofft, es vergeht von allein. Aber es ist noch schlimmer geworden. Nicht wahr, du kannst doch meinen kleinen Ketel wieder gesund machen?«
Kerrin achtete bereits nicht mehr auf die Frau. War sie doch eine von denen, die sich damals dem eifernden Aushilfspastor Jonas Japsen, der ihren Onkel Lorenz Brarens vertrat, angeschlossen hatten, sie gefangen genommen und zu einem geheimen Platz verschleppt hatten, um sie als angebliche Hexe dem Feuertod zu überantworten.
Aber hier handelte es sich um ein unschuldiges Kind, das offenbar an einer höchst gefährlichen, lebensbedrohenden Lungenentzündung litt.
Weil der schwer fiebernde Knabe kaum noch Atem schöpfen konnte und bei jedem quälenden Nach-Luft-Schnappen ein grässliches Rasseln in seiner Lunge zu hören war, ließ dies Kerrins berechtigte Wut gegen seine Mutter augenblicklich zur Nebensache schrumpfen. Deutlich war zu sehen: Der kleine Ketel Harmsen befand sich kurz vor dem Zusammenbruch.
»Hilf mir, ihn auf das Sofa zu legen!«, wies sie Frigge barsch an. »Ehe mir der Kleine, so schwach wie er bereits ist, völlig zusammenklappt!«
»Sag, du kannst ihm doch helfen, Kerrin, ja?« Das Weib heulte jetzt noch lauter.
»Ich bin zu allen, die meine Hilfe suchen, stets ehrlich. Und so sage ich dir jetzt: Ich weiß es nicht!«, meinte Kerrin kurz angebunden.
»Ach Gott! Ach Gott! Mein Ketel darf nicht sterben!«, fing die Bäuerin zu jammern an. Aber dafür hatte Kerrin kein Verständnis. Sie hatte dem Kleinen die Stiefel ausgezogen und begonnen, die Brust des Kindes frei zu machen, um dar an zu horchen.
»Reiß dich ja vor deinem Sohn zusammen, Frigge! Was fällt dir ein, so etwas vor ihm auch nur anzudeuten?« Leiser raunte sie ihr zu: »Jedenfalls kann ich dir die Zusage geben, alles zu versuchen, was möglich ist.«
Lauter befahl sie gleich dar auf: »Du solltest jetzt gehen und zu Hause für ihn beten, Frigge!«
Kerrin riss die Tür auf und rief nach der alten Magd. »Lass das mit dem Tee, Eycke! Bring mir eine Schüssel voll Schnee her ein; ich muss sehen, wie ich das Fieber des Jungen senken kann!«
»Und? Gibst du mir auch Arznei für ihn mit?«, erkundigte die Mutter sich schüchtern.
»Dein Sohn bleibt bei mir und wird hier von mir behandelt. Ein weiteres Mal der weite Weg bis in euer Dorf wäre zu viel für ihn. Wie hast du es überhaupt hierher geschafft, Frigge? Gelaufen kann Ketel ja nicht sein; und zum Tragen ist er zu schwer.«
»Girre, mein Mann, hat uns mit dem Wagen hergebracht! Er wartet am Dorfeingang von Naiblem auf uns.«
Demnach war Fischer Girre Harmsen, der vor Jahren als Harpunier mit ihrem Vater zur See gefahren war und sich schon seit einigen Jahren als Robbenfänger und Heringsfischer verdingte, zu feige gewesen, um sich bei ihr blicken zu lassen. Auch er hatte sich damals als angetrunkener Hexenjäger hervorgetan und war einer von denen gewesen, der am lautesten »lasst die Towersche brennen!« geplärrt hatte ...
Dummes, hinterhältiges und feiges Pack, dachte Kerrin. Laut aber sagte sie: »Lass ihn nicht länger warten, sondern mach dich auf den Heimweg! In drei Tagen magst du wiederkommen und dich nach deinem Sohn erkundigen. Sollte sich vorher etwas Wichtiges ergeben, werde ich dir umgehend Botschaft schicken.«
Während sie die sich vor Verlegenheit windende Frau kurz angebunden abfertigte, war Kerrin ständig um den kleinen Patienten bemüht. So hob sie seinen hochroten Kopf mit einer Hand hoch und versuchte, ihm Wasser zwischen die aufgesprungenen Lippen zu träufeln. Der Junge schluckte gierig.
In diesem Augenblick betrat die alte Eycke die komer mit einer irdenen Schüssel voller Schnee, den sie mit bloßen Händen aus dem Haufen geschaufelt hatte, der von den Knechten in eine der Hofecken gefegt worden war. Dazu hatte sie auch gleich mehrere dicke Tücher mitgebracht.
War ihr doch Kerrins im Winter angewandte Methode geläufig, Fieber mittels um die Unterschenkel gebundener Schneekompressen zu lindern.
Als auch sie jetzt Frigge Harmsen erkannte, erschrak sie sichtlich. Dann allerdings kroch Zorn in der alten Frau hoch. Kerrin schüttelte jedoch energisch den Kopf und starrte ihr mit deutlicher Abwehr in die Augen. Wor auf die Magd gehorsam ihren zum Protestschrei geöffneten Mund wieder schloss.
Ohne ein Wort zu wechseln, begannen Kerrin und Eycke, den mittlerweile vor sich hindämmernden Knaben ganz auszuziehen. Die schweißgetränkten Kleidungsstücke warfen sie auf den Boden. Leise jammernd und händeringend stand Frigge daneben, bis Kerrin es endgültig satthatte. Sie richtete sich auf und blickte der Frau kalt ins Gesicht.
»Nimm deine Sachen und verschwinde endlich!«
Der knappe Befehl und eine entsprechende Handbewegung: Mehr bedurfte es nun nicht mehr, um Frigge, die nur kaum verständlich »danke, tausend Dank!« schluchzte, vom Hof zu scheuchen.
Leise schloss sich die Tür hinter der schwer geprüften Mutter. Die beiden Frauen am Lager des Knaben aber warfen einander einen bangen Blick zu: Ob hier noch etwas auszurichten war, das wusste nur der Herrgott.
»Alles hängt davon ab, wie kräftig das Kind im Allgemeinen ist«, flüsterte Kerrin ihrer Magd zu, nachdem sie Ketel ein Mittel aus Weidenrindenextrakt eingeflößt und ihn zusätzlich in eine zweite Decke eingewickelt hatte.
»Soweit ich sehen konnte, ist der Junge wohlgenährt«, gab Eycke ebenso leise zurück, um das Kind, das jetzt vor Erschöpfung eingeschlafen war, nicht zu wecken.
»Das ist Ketels Glück! Ich vermute, dass er es schaffen kann - wenn es denn der Wille unseres Herrn Jesus ist.«
Von ganzem Herzen hoffte Kerrin, gerade dieses Kind, Sprössling einer ihrer ärgsten Feindinnen, vor dem Tod retten zu können. Das Wichtigste war, des enorm angestiegenen Fiebers Herr zu werden, ehe es den Kleinen umbrachte.
Als Nächstes galt es, ihn bei Kräften zu halten, seinen Körper zu stärken, um gegen die lebensbedrohende Entzündung seiner Lungen anzukämpfen. Dazu war es unumgänglich, Ketel Kraftnahrung zuzuführen. Bei einem so kleinen, noch unverständigen Kind ein äußerst schwieriges Unterfangen.
Die kommende Nacht sollte er von Kerrins Base, Catrina Lorenzen, die sich spontan dazu angeboten hatte, sowie von Kerrin selbst im Wechsel betreut werden. Mit Arznei, Tee und heißer Milch mit Honig würde man den armen Ketel versorgen, sooft er aufwachte. War der Schnee in den Tüchern geschmolzen, würde man ihn so lange ersetzen, bis die ärgste Fieberglut aus dem Fünfjährigen gewichen war.
Ohne es laut auszusprechen, war Kerrin unendlich dankbar für Catrinas Hilfe. Das kluge, aber einst ausnehmend faule Ding, das sich zu Göntjes und des Pastors Kummer mit List vor jeder Aufgabe gedrückt hatte, war mittlerweile zu einer vernünftigen jungen Frau her angewachsen, der das Herz auf dem rechten Fleck saß.
»Schon morgen werden wir mehr wissen«, prophezeite Kerrin. »Ich glaube Anzeichen entdeckt zu haben, die uns eine gewisse Hoffnung auf Besserung erlauben.
Aber sag, was führt dich zu mir, Catrina? Krank bist du ja nicht - bloß schwanger!«
Kerrin lachte laut und umarmte dabei spontan die nahezu Gleichaltrige.
»Woher weißt du das denn schon wieder?« Die junge Frau schien verblüfft. »Nicht einmal meinem Mann Knut habe ich bisher davon erzählt! Und dünn bin ich doch nach wie vor!«
Dabei strich sich Catrina über ihre schlanken Hüften.
»Hiar ens, miin Deern!« Verschmitzt lächelnd legte Kerrin ihrer Cousine den Arm um die Schulter, wobei ihre meergrünen Augen vergnügt funkelten. »Schließlich bin ich hier die Friesenhexe und sehe so etwas sofort in deinen Augen!«
Das brachte beide Cousinen zum Kichern.
»Komm mit in die köögen! Ich denke, es ist noch genug frisches Brot da und Schafskäse. Du wirst hungrig sein, Catrina! Ich werde eine Magd rufen, dass sie einstweilen Wache am Bett des kranken Jungen hält.«
Die jungen Frauen suchten die Küche auf, deren großer Herd ständig brannte und das ganze Haus mit seiner wohligen Wärme versorgte - dank des Beilegerofens in der dörnsk, der Wohnstube nebenan, die man normalerweise benutzte.
Die beiden hatten sich lange nicht mehr gesehen; demzufolge gab es vieles zu bereden. Schließlich gestand Kerrin, dass sie sich daheim ziemlich überflüssig fühle.
»Was? Wie kommt das denn? Wie Mutter mir sagte, führst du Harre doch den Haushalt! Wo ist dein Bruder überhaupt? Wieder einmal auf Motivsuche?«
Kerrin zuckte die Schultern. Wer wusste schon, wo der junge Maler sich ständig her umtrieb? Seine beiden aus Spanien mitgebrachten Begleiter hatte er jedenfalls vorgestern Morgen mitgenommen, einen norddeutschen Malerkollegen und einen spanischen Diener. Sie hatte ihn weder gefragt, wohin er wollte, noch wann er wiederkäme. Wahrscheinlich wusste er es selbst noch nicht.
Sie hoffte nur inständig, er werde nicht wieder eine der verheirateten Frauen der Insel verführen, wie er es schon einmal mit Thur Jepsen getan - und damit ungewollt eine Katastrophe ausgelöst hatte.
»Im Grunde braucht mich hier niemand«, vertraute Kerrin Catrina an. »Die Knechte und Mägde, die mein Vater einst eingestellt hat, sind so vertrauenswürdig und geschickt, dass sie von alleine wissen, was zu tun ist. Meine Anordnungen als Bäuerin sind überhaupt nicht notwendig. Ich habe selbst viel zu geringe Kenntnisse von der Bauernarbeit.
Selbst Fisch- und Muschelfang finden recht gut ohne mich statt. Das Kochen erledigen Eycke und die Mägde; um die paar Kühe, Schweine, Pferde und unsere Schafherde kümmern sich die Knechte aus Jütland. Und was das Hühner- und Entenfüttern anbelangt, verstehen die Kinder unserer Bediensteten genauso viel davon wie ich. Es läuft alles bestens, so wie es immer gewesen ist!
Fähig und loyal wie sie sind, bedürfen unsere Leute keiner Anweisungen. Ich bin nur imstande, alles durcheinanderzubringen. Sobald ich keine Kranken zu versorgen habe, fühle ich mich hier immer mehr fehl am Platz!«
»Na, deine Sorgen möchte ich haben!«, meinte Catrina und lächelte ungläubig. »Ich würde sofort mit dir tauschen. Ich weiß manchmal nicht, wo mir der Kopf steht. Da hätte ich gern ein paar Leute, die alles von sich aus richtig machen! «
»Lass uns nicht nur von mir sprechen«, schlug Kerrin vor. »Harre geht es gut mit seiner Pinselei. Dein Vater hilft ihm, Käufer für seine Bilder zu finden, und ist damit recht erfolgreich. Zum Glück! Von sich aus würde mein Bruder kein einziges seiner Gemälde loswerden. Er ist nun mal nicht sehr geschickt im Verhandeln.
Oheim Lorenz ist nicht nur, wie ich behaupte, der beste Pastor in ganz Friesland, sondern dazu noch ein ausgezeichneter Kaufmann.«
Nachdem die jungen Frauen alle Neuigkeiten, nahe und ferne Verwandte und Bekannte betreffend, weidlich durchgekaut hatten, blieb eigentlich nur ein Thema übrig, das Catrina bisher noch nicht berührt hatte - aus Sorge, seine Erwähnung werde Kerrin nur wieder sehr traurig stimmen: Commandeur Roluf Asmussen, Kerrins und Harres auf Grönland verschollener Vater.
Kerrin selbst war es schließlich, die von ihm zu sprechen begann: Wie sehr sie ihn noch immer vermisse und dass der Schmerz über sein Verschwinden noch kein bisschen geringer geworden sei - im Gegenteil.
»Du Arme! Du hörst dich beinah so an, als würdest du dir selbst eine Mitschuld an seinem Schicksal geben, Kerrin«, stellte Catrina mit bemerkenswertem Scharfsinn fest.
»Wie kommst du dar auf, meine Liebe?«
Kerrin war über Catrinas unübliche Feinfühligkeit verblüfft. Vielleicht trug ja der Umstand, dass sie schwanger war, dazu bei?
»Es stimmt, Catrina! Irgendwo tief in meinem Herzen fühle ich, dass ich versagt habe. Wenn ich nur wüsste, wie ich diesen Fehler wiedergutmachen kann!«
»Rede dir ja keinen Unsinn ein, Kerrin! Gab es denn nicht genügend erwachsene und erfahrene Männer, die nach meinem Oheim Roluf hätten suchen sollen?«, erkundigte sich ihre Base.
»Oh! Das haben sie getan - tagelang sogar! Aber es nützte nichts. Vater blieb verschollen.«
Ehe sie beide noch ganz trübsinnig wurden, regte Kerrin an, nach dem kranken Ketel zu sehen. Vielleicht hatte sich wenigstens der Zustand des Kindes schon ein klein wenig zum Besseren gewendet ...
»Immerhin schläft er jetzt ruhig«, erklärte Kerrins Magd Gondel flüsternd. »Der arme Junge hat zuerst im Schlaf um sich geschlagen und laut geschrien!«
Kerrin legte dem Kleinen die Hand auf die Stirn, um seine Körpertemperatur zu überprüfen.
»Wie steht es?«, wollte Catrina wissen, wobei sie sich das weizenblonde Haar unter die Haube strich.
»Das Fieber ist in der Tat her un tergegangen«, freute sich Kerrin. »Ich werde mit dem Schnee noch eine kleine Weile weitermachen! Holst du noch ein wenig davon, Gondel?«
Kerrin reichte der Magd die Schüssel, und die machte sich auf nach draußen, um Nachschub zu holen.
»Wenn du jetzt die Wache übernimmst, Kerrin, werde ich dich in drei Stunden ablösen, falls es dir recht ist!«, schlug ihre Base vor.
»Das ist sehr lieb von dir, Catrina. Du kannst dich einstweilen in der hinteren komer in mein Bett legen! Ich wecke dich, sobald es Zeit für deine Nachtschicht ist.«
DREI
Die kommenden Stunden am Bett des schwerkranken Kindes verbrachte Kerrin in großer Nachdenklichkeit. Sie tauschte die warm gewordenen Wadenwickel gegen eiskalte aus, trocknete dem Jungen regelmäßig die Stirn vom Schweiß und befeuchtete seine Lippen mit Kräutertee. Dabei gingen ihr die unterschiedlichsten Gedanken durch den Kopf.
Dass sie Harre trotz all ihrer Bemühungen, ihm ein schönes und bequemes Zuhause zu bieten, nicht auf der Insel würde halten können - dessen war sie sich beinah sicher. Ihr Bruder war in erster Linie ein Künstler, erst dann ein Inselfriese, der sich mit Haus und Hof und einem Segelboot beschied.
Ihn wird es immer in die weite Welt hin ausdrängen, dachte sie bedrückt. Das war ja so weit in Ordnung - so empfanden die Männer hier alle.
»Robben, Heringe und Wale fängt man eben nicht im Wattenmeer gleich vor der Haustür!« Damit trösteten sich die friesischen Frauen jedes Frühjahr, sobald es galt, sich von Mann, Verlobtem, Vater, Sohn oder Bruder für viele Monate zu verabschieden.
Aber Harre war kein Seemann, sondern Maler, stets auf der Suche nach Motiven und nach Inspirationen - und die fand er nicht mehr in der für ihn zu klein gewordenen Heimat, sondern im Ausland, im Süden Europas. Am liebsten in Südspanien, wo er die kunstvollen Überreste der Kultur der Mauren entdeckt hatte, der Araber, die dieses Land einst erobert und regiert hatten.
Das wiederum hatte die Idee in ihm reifen lassen, irgendwann das Ursprungsland dieser großartigen Kunstschöpfungen aufzusuchen - ein Vorhaben, das bei seiner Schwester immer noch blankes Entsetzen hervorrief.
Seit der Kaperung der Fortuna I war ihr Bedarf an allem, was irgendwie mit den Barbaresken zu tun hatte, für ewige Zeiten gedeckt.
Ich sollte vielleicht den Rat meiner Muhme Göntje und den meines toten Vaters befolgen und mir einen Ehemann suchen, überlegte sie nicht zum ersten Mal. Dann bekäme ich wahrscheinlich Kinder und litte nie mehr an Langeweile, sinnierte Kerrin. Hier braucht mich kein Mensch, außer den Kranken.
Für die aber stehen noch andere Heiler und mehrere Heilerinnen auf der Insel zur Verfügung.
Aber woher soll ich einen Mann nehmen, wenn mir doch kein einziger auf Föhr so richtig zusagt?
In Gedanken ging sie noch einmal alle im Alter ungefähr passenden Junggesellen und Witwer durch, auch die ledigen Männer auf den Nachbarinseln Amrum und Sylt sowie die von den Halligen.
Viele von ihnen sahen gut aus, waren nett und fleißig und keine Trunkenbolde. Aber nicht ein einziger war dabei, der sie ernsthaft gereizt hätte. Allen fehlte ... Ja, was eigentlich? Erziehung, Bildung, Wissen, Willensstärke, Verantwortungsgefühl, ausgeprägtes Einfühlungsvermögen und vor allem jene Souveränität, die sie von ihrem Vater und von Oheim Lorenz gewohnt war.
Kerrin seufzte tief.
Wie es aussieht, werde ich wohl allein bleiben, dachte Kerrin, unverheiratet und kinderlos und weiter das Leben einer Prinzessin führen, die zwar dem Nichtstun frönen könnte, dies aber nicht tut, weil sie sonst vor Langeweile einginge. Womöglich wäre es nicht verkehrt, mich endlich mit den Möglichkeiten einer ertragreichen Landwirtschaft zu befassen.
Kerrin stand, nachdem sie Ketel die schweißnasse Stirn abgetrocknet hatte, vom Hocker auf und streckte sich, um nicht kreuzlahm zu werden.
Ackerbau und Feldwirtschaft fielen auf der Insel, die teils aus trockener Geest und teils aus feuchter Marsch bestand, reichlich karg aus. Vielleicht gelänge es ihr irgendwann, eine neue Methode zu ersinnen, welche die mageren Böden fruchtbarer machte?
Wiederum seufzte Kerrin. Dar an glaubte sie auch nicht wirklich. Stünde es im Bereich des Möglichen, den dürftigen Untergrund ergiebiger zu machen, hätte sich Oheim Lorenz schon längst damit befasst.
Das kranke Kind wälzte sich unruhig von einer Seite zur anderen und streifte immer wieder die Decke ab, die Kerrin jedes Mal geduldig vom Boden aufhob. Längst waren die ersten drei Stunden ihrer Nachtwache um, aber sie beschloss, Catrina nicht aufzuwecken. Werdende Mütter bedurften dringend des Schlafs, während sie selbst sich irgendwann bei Tage Ruhe gönnen konnte.
Die Nachtstunden verstrichen, ohne dass sich im Befinden des Kindes etwas Wesentliches änderte. Nur das Fieber war nicht mehr so heftig. Gegen Morgen wurden auch die Atemzüge ruhiger, das rasselnde Geräusch in der Brust hatte beinah gänzlich aufgehört.
Hatte sie Ketel anfangs für einen Jungen im Alter von etwa fünf, höchstens sechs Jahren eingeschätzt, schien er ihr jetzt bei genauerem Betrachten älter zu sein.
Sie beschloss, ihn, sobald sein Zustand es erlaubte, genauer zu befragen. Bis auf die Tatsache, dass beide Eltern fanatische Anhänger des Aushilfspastors gewesen und ihren grausamen Tod gewünscht hatten, wusste sie wenig von den Harmsens.
Nur, dass Girre Harmsen seine kleine Familie als Fischer und gelegentlicher Robbenschläger ernährte, nachdem er nach einem Unfall für die gefährliche Waljagd nach Ansicht Roluf Asmussens nicht mehr tauglich war. Girre selbst hätte liebend gerne wieder als Walfänger angeheuert. War sein Hass gegen die Tochter seines ehemaligen Commandeurs von daher begründet?
Kerrin seufzte.
Nachdem Harre sie damals buchstäblich in letzter Minute vor den Flammen gerettet und man die Übeltäter abgeurteilt hatte, war es Pastor Brarens gewesen, der für sämtliche von seinem Stellvertreter verblendeten und aufgehetzten Hexenjäger um Gnade gebeten hatte - deren Leben nach Ansicht des Gerichts verwirkt war.
Eine ganze Nacht lang hatte es gedauert, ehe er seine Nichte davon überzeugt hatte, dass christliche Vergebung Gott wohlgefälliger sei als blinde Rachsucht. Anfangs hatte Kerrin sich beharrlich geweigert, Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Es fiel ihr ausnehmend schwer, Christi Gebot »so dich einer auf die linke Wange schlägt, reiche ihm auch die andere dar« auf sich selbst zu beziehen und ihren Todfeinden zu verzeihen. Erst in den frühen Morgenstunden hatte der Pastor für sein Werben um Barmherzigkeit bei ihr Gehör gefunden.
Es bedeutete, dass die Urteile nachträglich gnadenhalber reduziert und der Vollzug stark abgeschwächt wurde. So fielen die Wiedergutmachungen reichlich milde aus; die meisten kamen mehr oder weniger mit einer einfachen Entschuldigung davon.
Auch Frigge und Girre waren seinerzeit bei ihr angekrochen und hatten versichert, wie leid ihnen ihr Irrtum tue - aber gerade diesen beiden Eiferern hatte sie den plötzlichen Gesinnungswandel nicht abgenommen. Sie war froh gewesen, als sie die zwei Heuchler nicht mehr hatte sehen müssen.
Da die Kammertür einen Spalt weit geöffnet war, drang Kerrin im Morgengrauen aus der köögen ein heftiges Rumoren ins Ohr. Wie üblich säuberte Gondel den Ofen, der im Winter als einzige Wärmequelle im Haus diente und Tag und Nacht durchgeheizt wurde.
Es war Brauch: Wer sich als Letzter der Hausgemeinschaft in sein Wandbett schlafen legte, kontrollierte noch einmal das Feuer und bedeckte es mit Asche - damit zwar die Flammen erstickten, die Glut jedoch erhalten blieb -, sodass nur noch ein schwaches Glimmen im Herd zu sehen war.
Sie konnte bis in ihr Zimmer hören, wie Gondel ein Lied vor sich hin trällerte, während sie aus dem Ofenloch Asche und Holzkohlenstückchen ausfegte. Dann fachte sie die Glut durch kräftiges Betätigen des Blasebalgs an, ehe sie diese mit dünnen Spänen zum Auflodern brachte. Schließlich legte sie noch etliche Holzscheite nach.
Brennholz war auf der nahezu baumlosen Insel knapp, musste vom Festland bezogen und teuer bezahlt werden. Meist ersetzten es die Föhringer durch getrocknetes und klein geschnittenes Schilf und Heidekraut, während man auf den Halligen den in Ditten abgestochenen und getrockneten Schafmist verfeuerte.
Auch in wohlhabenden Haushalten ging man mit Holz sparsam um und verwendete zum Feuern meist allerlei trockenes Gestrüpp von Sträuchern und Büschen, die im Innern der Insel wuchsen oder die Uferwege säumten.
Die Handgriffe der alltäglichen Arbeitsschritte waren stets die gleichen, und Kerrin wusste genau, was die Magd als Nächstes tun würde: Gondel holte aus der Vorratskammer Milch, Honig und die Hafergrütze, um den Morgenbrei aufzusetzen.
Ehe jeder Hausbewohner seine Schüssel mit dieser sättigenden Morgenmahlzeit vorgesetzt bekam, würde Gondel noch eine kleine Menge geschmolzener und gebräunter Butter dar übergießen. Auch mit der Butter verfuhr man eher geizig.
Es gab nur vereinzelt Kühe auf der Insel, und die Schafe mussten mit ihrer Milch die Lämmer nähren. Die geringe Menge an Schafsbutter verwendete man hauptsächlich für andere Zwecke: zum Braten, zum Backen, zum Schmieren von Wagenrädern, zum Einfetten von Schiffstauen, zum Abdichten von Fischtonnen oder - und nicht zu knapp - zur Herstellung von Heilsalben.
Kerrin spürte, dass sich hinter ihrem Rücken die Tür ein Stück weiter öffnete.
Ohne sich umzuwenden, meinte die übernächtigte junge Frau »Gudmaaren, Eycke!«.
»Ob's ein guter Morgen wird, wird sich erst noch zeigen; aber woher weißt du denn, dass ich es bin?«, fragte Eycke. Dann musste die alte Frau über sich selbst lachen. »Ja, ich weiß, mein Tapern auf dem Flur kann man nicht überhören!«
Sie näherte sich dem Krankenlager, wo der Knabe immer noch sehr unruhig schlief. »Es geht dem armen Kerlchen also weiterhin schlecht, ja? Aber ein bisschen besser sieht er aus, der arme Jung'!«
Eine Antwort wartete Eycke erst gar nicht ab. »Weißt du übrigens, wer bereits seit einer Stunde draußen im Hof wartet und gotterbärmlich friert? Nein? Ketels Mutter ist seit fünf Uhr morgens da und möchte wissen, was mit ihrem Sohn los ist.«
Zu Kerrins Verwunderung klang die Stimme der alten Magd irgendwie mitleidig.
Etwas, das Kerrin verstimmte.
»Soll sie ruhig warten.« Ihre Stimme klang kalt.
»Frigge Harmsen wird sich den Tod in der Eiseskälte holen «, wagte die alte Magd vorzubringen.
Aber Kerrin reagierte nicht.
»Soll ich Frigge her einholen?«, fragte die alte Frau dar aufhin leise.
»Wage es ja nicht!«
Unwillig funkelten Kerrins meerblaue Augen die erschrockene Magd an. »Ich möchte nicht einmal, dass du nur ihren Namen vor mir erwähnst! Allein dem unschuldigen kranken Kind gilt meine Sorge - das Weib hingegen kann meinetwegen zum Teufel gehen!«
Zwar hatte sie dabei ihre Stimme gedämpft, um den Knaben nicht zu wecken, dennoch fröstelte Eycke plötzlich. Sie begriff, dass ihre junge Herrin der Mutter des Kindes keineswegs verziehen hatte - und es wahrscheinlich auch niemals tun würde.
Ein Gedanke, der ihr einerseits eine gewisse Furcht einflößte - wusste sie doch, dass Kerrin über besondere Kräfte verfügte -, sie aber gleichzeitig auch beruhigte, denn es zeigte, dass ihr Herz nicht völlig vom Hass gegen die Harmsens zerfressen war: Vermochte sie doch noch zu unterscheiden zwischen den verblendeten mordlüsternen Eltern und ihrem schuldlosen Kind.
»Wie du meinst, Hausfrau!«, sagte sie kurz angebunden. »Sag mir lieber, wie es kommt, dass du immer noch an Ketels Bett sitzt! War es nicht Catrina, die dich ablösen wollte? Und war um hast du mich nicht geholt?«
Der Vorwurf war deutlich und entlockte Kerrin ein Lächeln. »Du kannst jetzt hierbleiben, Eycke, und den Knaben versorgen, wenn du magst! Catrina habe ich absichtlich nicht geweckt, denn sie erwartet ein Kind und braucht ihren Schlaf.«
»So? Sie erwartet Nachwuchs? Das ist schön! Da wird sich ihr Mann Knut Detlefsen aber freuen! Natürlich bleibe ich gerne.«
»Ich werde dir deinen Morgenbrei aus der köögen holen, Eycke - nachdem ich Ketels Mutter über ihren Sohn Bescheid gegeben habe.« Letzteres erwähnte sie betont beiläufig.
Damit begab sich Kerrin in den Flur und vor zur Haustür, deren obere Hälfte nach außen aufzuklappen war, während man den unteren Teil geschlossen halten konnte. Durch die obere Öffnung, die Klönschnackdoor, rief sie Frigge Harmsen an.
»Hör zu! Dein Sohn hat die Nacht überlebt. Das Fieber plagt ihn nicht mehr ganz so heftig. Er hat Milch mit Honig und Heilkräutertee getrunken - und vor allem viel geschlafen. «
»Gott sei Lob und Dank! Und auch dir, Kerrin Rolufsen, sei für deine Mühe gedankt! Darf ich meinen Jungen sehen - nur ganz kurz?« Die Stimme der Mutter klang kleinlaut. Die brennende Laterne in ihrer Hand zitterte.
»Komm meinetwegen übermorgen wieder!«, beschied Kerrin die Fischersfrau mit Nachdruck; so, als habe sie deren Bitte überhört. Damit schloss sie geräuschvoll die obere Türhälfte und ließ Frigge draußen stehen.
Alle, die im Haus bereits auf waren, hatten den Wortwechsel mitbekommen und konnten beobachten, wie Frigge mit ihrem dicken Umhang über dem gebeugten Kopf und den eingezogenen Schultern durch den über Nacht frisch gefallenen Schnee in der winterlichen Finsternis davonstapfte.
»Sie soll froh sein, dass unsere Herrin ihr krankes Balg bei sich aufgenommen hat! Das täte bei Gott nicht jeder, der durch die Eltern einst so schandbar behandelt worden ist!« Damit sprach Gondel dem Großteil der Hausbewohner, deren zustimmendes Gemurmel aus der Küche bis auf den Flur hin aus zu hören war, aus dem Herzen. Auch Kerrin - auf dem Weg in die Küche - hörte diese Worte. Sie war sich nur zu sehr der Tatsache bewusst, dass sie sich keineswegs so verhielt, dass auch ihr verehrter Oheim, Pastor Brarens, es gutheißen würde. Was er sie als Kind über christliche Demut, Barmherzigkeit und Vergebung gelehrt hatte, entsprach nicht dem, wie sie mit Frigge verfuhr ...
Sie wünschte den um den Tisch versammelten, bereits seit dem Morgengrauen im Stall beschäftigten Knechten und Mägden ein freundliches »gudai!« und eine »gud bekimene mialtidj!«, leerte ein Glas warmer Schafsmilch auf einen Zug, nahm dann zwei gefüllte Breischalen und einen weiteren Becher Milch für Eycke mit und verließ die köögen wieder.
Sie würde mit der alten Magd essen und so den übrigen Domestiken die Möglichkeit geben, sich den Mund über ihren kleinen Patienten und vor allem über dessen Mutter zu zerreißen.
Und auch über mich, dachte sie bitter. Nicht alle werden finden, dass ich gut dar an tue, die arme Frau nicht zu ihrem kranken Kind zu lassen. Aber - der Herr ist mein Zeuge - ich ertrage die Gegenwart dieses heimtückischen und grausamen Weibes einfach nicht!
Hatte sie doch heute noch die bösartig geifernde Stimme Frigges im Ohr, die seinerzeit ihren Mann Girre angestachelt hatte, Waltran auf den Reisig- und Spänehaufen zu gießen, »um für die Hexe das Höllenfeuer besonders schön lodern zu lassen!«.
VIER
»Schön, dass du es noch geschafft hast, zum Weihnachtsfest bei uns zu sein, Harre!«
In einem bei ihr seltenen Anfall von öffentlich zur Schau getragener Geschwisterliebe fiel Kerrin ihrem Bruder um den Hals und küsste ihn auf die stoppelige Wange. Während des tagelangen Her umstreifens auf dem Festland hatte er keine Zeit gefunden, sich barbieren zu lassen.
»He! Womit habe ich das verdient?«
Harre fasste seine jüngere Schwester um die schmale Taille und schwenkte sie übermütig im pesel herum.
»Ich habe mich vorhin bei Eycke eingeschmeichelt«, verriet er Kerrin und grinste verschmitzt. »Sie hat mir verraten, welches Festtagsessen du für morgen geplant hast. Da wäre es doch jammerschade gewesen, wenn ich und meine Begleiter es versäumt hätten!
Überhaupt, meine Liebe, deine Fürsorge für mich, deinen unnützen Bruder, ist geradezu überwältigend. Wie du weißt, bin ich kein Mann großer Worte - und von Schmeicheleien halte ich nicht viel. Aber es ist endlich an der Zeit, dir, meine liebste Kerrin, ein dickes Lob auszusprechen!«
Er ließ sie endlich los, und Kerrin, von leichtem Schwindel erfasst, griff flink nach seinem Arm, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Es ist erstaunlich, wie großartig du mittlerweile den Haushalt in Schwung hältst - ich jedenfalls genieße deine weibliche Fürsorge außerordentlich!«
Kerrin strahlte den hochgewachsenen jungen Mann mit den schulterlangen braunen Haaren und den intensiv blauen Augen, die so manche Frau schon zum Träumen gebracht hatten, an. Komplimente von Harre waren in der Tat etwas Rares - und damit etwas ganz Besonderes.
Vielleicht hatte sie sich getäuscht, und ihr Bruder liebte doch das Leben auf der Insel - und das Zusammensein mit ihr. Könnte sie sicher sein, dass Harre bei ihr bliebe, wäre alles für sie um ein Vielfaches leichter; sie besäße eine Aufgabe, der sie mit Freude und Eifer nachkäme.
»Es wäre zu schön, Kerrin, wenn ich dich nach Spanien als meine Haushälterin mitnehmen könnte«, fügte der junge Künstler nun hinzu und lachte, während sein holländischer Freund applaudierte. »Überlege es dir gut, ob du mein Angebot nicht annehmen möchtest - die spanischen señores sind ganz verrückt nach blonden Frauen mit hellen Augen! Deine Aussichten, einen geeigneten Mann zu finden, wären ausgezeichnet! «
Kerrins Miene versteinerte, das Strahlen in ihren Augen verebbte. Wie eine Seifenblase war der schöne Traum zerplatzt.
»Danke für das Angebot, Harre. Leider wirst du dir eine andere suchen müssen, die dich künftig versorgt!«
Abrupt wandte sie sich ab, um einer Magd einen Auftrag zu erteilen, die diesen von sich aus längst erledigt hatte.
Die Stimmung am Weihnachtstag war etwas gedrückt, obwohl die Entenfleischsuppe, der Lammbraten mit Minze nach englischer Art sowie der Wein - ein Geschenk Herzogin Hedwig Sophies - ausgezeichnet mundeten und Kerrin sich große Mühe gab, sich ihre Enttäuschung nicht allzu deutlich anmerken zu lassen.
Dass Harre offenbar nicht im Mindesten dar an dachte, für immer auf Föhr zu bleiben, betrübte sie sehr.
»Du wirkst so traurig, Schwesterchen«, stellte Harre am Weihnachtsabend fest. »Was ist los?«
Es war ganz offensichtlich, dass er ihre gedrückte Stimmung keineswegs mit sich und seiner Absicht, bald nach Spanien abzureisen, in Verbindung brachte.
»Bist du traurig, weil dein kleiner Patient dich zu Weihnachten verlassen hat?«
»Sprichst du von Ketel?«
Reichlich verblüfft blickte Kerrin ihrem Bruder ins Gesicht.
Wieder einmal fiel ihr beinahe schmerzlich die starke Ähnlichkeit seiner feinen und doch sehr männlichen Gesichtszüge mit dem Antlitz ihres Oheims Lorenz auf, während er ganz offensichtlich die kräftige Statur ihres Vaters Roluf geerbt hatte.
Kein Zweifel, ihr Bruder war einer der ansehnlichsten Männer auf der Insel. Ein Dutzend Mal hätte er sich bereits mit hübschen und wohlhabenden Frauen verheiraten können. Aber von engen Bindungen hielt er offenbar herzlich wenig.
»Wo denkst du hin, Harre? Ich habe mich doch für den kleinen Jungen gefreut«, widersprach Kerrin vehement Harres absurder Vermutung.
»Für Familie Harmsen muss es gewesen sein, als käme das Christuskind persönlich zu ihnen! Kerrin, was täten die Leute hier nur ohne dich? Eigentlich beneide ich dich manchmal, Schwesterchen! Dir ist es gegeben, etwas Sinnvolles zu tun, indem du vielen Gesundheit und Lebensfreude schenkst - während ich nur Überflüssiges zustande bringe! Ohne Bilder kann man sehr gut leben. Was vom gesundheitlichen Wohlbefinden nicht zu behaupten ist!«
»Sag das um Himmels willen nicht, Harre! Kunst verschönert und bereichert das ganze Leben! Alles, was du als Künstler auf die Leinwand bannst, wird noch lange nach deinem Tod weiterwirken - vielleicht für viele Hundert Jahre, wenn von mir längst nicht mehr die Rede sein wird!«
»Wenn du es so sehen willst, Kerrin ...«
Harres Blick blieb ein wenig skeptisch; aber wie seine Schwester erkannte, mischte sich ein gewisser Stolz hinein, verbunden mit Genugtuung.
»In diesem Zusammenhang habe ich ein Anliegen an dich, Harre! Und ich bitte dich sehr, schlage mir meinen Wunsch nicht ab«, nützte Kerrin die günstige Gelegenheit aus. »Ehe du dieses Mal Föhr verlässt, möchte ich, dass du von Oheim Lorenz ein Porträt anfertigst, im Gewand eines Pastors!«
Harre lächelte geschmeichelt.
»War um nicht? Wenn Monsieur Lorenz nichts dagegen hat, mir Modell zu sitzen, soll es mir ein Vergnügen sein, ihn für die Zukunft auf Leinwand festzuhalten.
Wie steht es im Übrigen mit dir selbst? Auch dich würde ich - wie schon des Öfteren angeboten - sehr gerne malen!«
Aber das lehnte Kerrin nach wie vor strikt ab. Es kam ihr anmaßend vor. Ja, es erschien ihr geradezu unziemlich, sich auf diese Art zur Schau zu stellen, ganz so, als sei sie etwas Besonderes.
Nach anfänglichem Zögern erklärte der Nieblumer Seelenhirte sich dazu bereit, sich von seinem Neffen porträtieren zu lassen. Allerdings setzte er sich anfangs energisch gegen Kerrins Plan zur Wehr, das Gemälde in seiner Kirche aufzuhängen - nicht einmal im dunklen Seitenschiff, unter den in der oberen Etage angebrachten Sitzbänken, oder in einer Nische der geräumigen Vorhalle wollte er das Bild dulden.
»Für derlei Eitelkeiten bin ich nicht zu haben! Das Porträt soll im Pfarrhaus hängen und einst meine geistlichen Nachfolger an mich erinnern; aber in einem Haus des Herrn hat es nichts verloren«, erklärte er kategorisch. Kerrin fand das äußerst schade und gab nicht so schnell auf.
Harre hatte sich beinah selbst übertroffen, indem er seinen Verwandten so naturgetreu wie möglich dargestellt hatte, die edlen Gesichtszüge mit den intelligent blickenden blaugrauen Augen, der scharfen Nase und dem breiten vollen Mund, das Ganze gepaart mit pastoraler Milde, die ihn zeitlebens auszeichnete.
Gleichzeitig schimmerte auch die moralische Strenge auf, die Lorenz Brarens gleichfalls innewohnte - allerdings ohne jene eifernde Unerbittlichkeit, die so manchen Geistlichen im Umgang mit seinen Schäfchen auszeichnete.
Seine Frau Göntje und seine Kinder beknieten den Pastor regelrecht, seine Meinung zu ändern. Harre wusste zum Glück etliche Beispiele ins Feld zu führen, wo hohe Geistliche
© 2014 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München
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Autoren-Porträt von Karla Weigand
Weigand, KarlaKarla Weigand wurde 1944 in München geboren. Sie arbeitete zwanzig Jahre lang als Lehrerin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Freiburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karla Weigand
- 2014, 496 Seiten, 1 Schwarz-Weiß-Abbildungen, Maße: 11,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345347130X
- ISBN-13: 9783453471306
- Erscheinungsdatum: 14.04.2014
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