Die Friesenhexe
Roman. Deutsche Erstausgabe
Föhr, Ende des 17. Jahrhunderts: Kerrin, Tochter des Kommandeurs Asmussen, spürt, dass sie anders ist. Sie besitzt heilende Hände und sieht Dinge, die anderen verborgen bleiben. Als man sie der Hexerei verdächtigt, wird ihre Gabe jedoch...
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Produktinformationen zu „Die Friesenhexe “
Föhr, Ende des 17. Jahrhunderts: Kerrin, Tochter des Kommandeurs Asmussen, spürt, dass sie anders ist. Sie besitzt heilende Hände und sieht Dinge, die anderen verborgen bleiben. Als man sie der Hexerei verdächtigt, wird ihre Gabe jedoch zum Fluch. Kerrin flieht und heuert als Schiffsärztin an.
Klappentext zu „Die Friesenhexe “
Ein packendes Frauenschicksal in der rauen Insellandschaft FöhrsFöhr, Ende des 17. Jahrhunderts: Kerrin, die Tochter des angesehenen Kommandeurs Asmussen, erkennt früh, dass sie anders ist. Durch Handauflegen kann sie heilen. Nachts zieht es sie an die sturmumtoste Küste und sie sieht Dinge, die den anderen verborgen bleiben. Als man sie der Hexerei verdächtigt, wird ihr die Gabe jedoch zum Fluch. Kerrin flieht und heuert als Schiffsärztin an. Eine gefährliche Reise beginnt.
Lese-Probe zu „Die Friesenhexe “
Die Friesenhexe von Karla WeigandPROLOG
So ihre Haar' und Augen waren rot,
schlug man sie gleich als Hexe tot.
Altes friesisches Sprichwort
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DIE ALTEN FRIESEN WAREN seit jeher ein sehr frommes und gottesfürchtiges Volk. Sie vom alten germanischen Glauben zum Christentum zu bekehren, dauerte lange Zeit. Wer letztlich das Christentum auf die friesischen Inseln brachte, ist nicht genau bekannt. Wahrscheinlich verbreitete es sich erst unter der Regierung des Dänenkönigs Knuts des Großen (1016/1018-1035).
Aber lange noch verehrten die Friesen insgeheim die heidnischen Götter. Manche Bräuche aus uralter Zeit haben sich sogar bis in die Gegenwart erhalten. Die Macht der Päpste spielte in Friesland kaum eine Rolle. Selbst der Priesterzölibat wurde auf den Inseln nicht verwirklicht: Die Bevölkerung lehnte unverheiratete Priester kategorisch ab. Erstaunlich rasch vollzog sich einige Jahrhunderte später die Einführung der Reformation: Geradezu über Nacht wurden die Föhringer von bedingt eifrigen Katholiken zu überzeugten Protestanten.
Wer im Verdacht stand, insgeheim immer noch katholisch zu sein -- etwa Heiligenbilder anzubeten oder den Papst zu verehren -, hatte es sehr schwer. Selbst Pastoren gerieten ins Visier übereifriger Luther aner, was zu Verfolgung und Vertreibung mancher Geistlicher führte.
Ebenso unausrottbar wie die häufig geradezu fanatische Frömmigkeit erwies sich auch der Hang zum Aberglauben. Man war sich sicher, dass in jedem Haus die Unterirdischen, die Odderbantjes, das Regiment führten. Fühlten sich diese Geister gestört, rächten sie sich durch vielerlei Schabernack.
Der Glaube an die Macht der Hexen trat allerdings erst im 15. und 16. Jahrhundert auf und lag seitdem wie ein Alpdruck auf der Bevölkerung. Man war der festen Überzeugung, bestimmte Frauen stünden mit dem Teufel und mit bösen Geistern in Verbindung und setzten ihre unheilvollen Kräfte zum Schaden ihrer Mitmenschen ein.
Verursacht durch derart irrationale Ängste ereigneten sich auf der Insel Föhr grausame Hexenverfolgungen; auch auf Sylt und Amrum hatten Frauen unter diesem Wahn zu leiden. Selbst der Protestantismus änderte dar an nichts. Alte Überlieferungen berichten, dass Hexen besonders zahlreich in den Föhringer Ortschaften Dunsum, Alkersum und Övenum gelebt haben sollen. Der Gegenmittel gab es unzählige - eines absurder als das andere.
FÖHR IN GANZ ALTER ZEIT
»FLUCH ÜBER EUCH nichtswürdige Mörder und Meineidige! Gott, der Herr, wird euch strafen für dieses Verbrechen an mir, einer Unschuldigen! Zur Hölle mit euch allen, die ihr dieses schändliche Urteil über mich zu verantworten habt!«
Kurz vor ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen im August 1498 verfluchte Kaiken Mommsen, die einundzwanzigjährige Tochter des Seemanns Momme Drefsen, ihre Peiniger und alle, die dazu beigetragen hatten, sie diesem barbarischen Schicksal zu unterwerfen.
Kaiken galt in Nieblum als heil- und kräuterkundig. Wann immer einer der Dorfbewohner sich verletzte, einen Ausschlag hatte oder erkältet war, suchte er Kaiken auf, um sich von der hilfsbereiten und geschickten jungen Frau kurieren zu lassen.
Als sich im Jahr zuvor der kleine Nachbarsjunge Johann Detlefsen beim Spielen die Hand an einer scharfkantigen Muschelschale verletzte, lief seine Mutter mit ihrem Sohn zu Kaiken Mommsen, damit die sich der Sache annähme. Kaiken wusch die Wunde sorgfältig aus, gab Ringelblumensalbe dar auf und verband anschließend die Hand des Kindes. Der Schnitt war allerdings sehr tief ins Fleisch gegangen und es musste sich, von Kaiken leider unbemerkt, Schmutz in der Verletzung festgesetzt haben. Die Wunde eiterte und der Schmerz begann dar in zu toben, so dass der kleine Junge Tag und Nacht weinte und schließlich jämmerlich zu schreien anfing. Als man endlich nach Tagen den Verband löste, war die Hand bereits schwarz geworden.
Bei Goting, im Süden der Insel, lebte damals in Küstennähe ein alter Schäfer, der nebenbei das Geschäft eines Zahnbrechers und Knocheneinrenkers betrieb. Ihn zog nun die besorgte Familie des Kleinen zurate. Um das Leben des Jungen zu retten, blieb dem Alten nur, den abgestorbenen Arm bis zum Ellenbogen abzuschneiden.
Die Eltern gaben Kaiken die Schuld an der Verstümmelung ihres Kindes, wagten jedoch nicht, laut Anklage zu erheben, denn das Mädchen war im Dorf und in der gesamten Umgebung sehr beliebt.
Seit diesem Drama begannen sich allerdings insgeheim Gerüchte über Kaiken Mommsen zu verbreiten, die besagten, mit der jungen Frau »stimme etwas ganz und gar nicht« - die übliche Umschreibung für den lebensgefährlichen Verdacht, eine Person habe Umgang mit »bösen Mächten«. Der Same des Übels war gesät, in aller Stille sollte er keimen, sprießen und gedeihen und letztlich die unschuldige junge Frau ins Verderben reißen.
Im Jahr dar auf stand im Dorf Midlum die Roggenernte an. Flirrend waberte die Augusthitze über dem Getreidefeld. Auf Föhr wurde noch nach altem germanischem Brauch Allmendewirtschaft betrieben: Felder, Wiesen und Äcker gehörten nicht einzelnen Bauern, sondern der gesamten Dorfgemeinschaft und wurden auch mit ein an der bestellt und gepflegt. An den Erntearbeiten beteiligten sich alle, um anschließend den Ertrag gerecht, je nach Größe ihres jeweiligen Hofes, aufzuteilen. Oftmals gehörten die bewirtschafteten Grundstücke mehreren Gemeinden zusammen. So waren jetzt auf dem Roggenfeld Frauen sowohl aus Midlum wie auch aus Alkersum und Övenum vertreten, dar unter auch Kaiken Mommsen.
Körperliche Anstrengung, Staub und feuchtheiße Luft trieben den Erntehelferinnen den Schweiß auf die Stirn. Schon nach kurzer Zeit klebten ihnen die Kleider am Körper.
Eigentlich war es harte Männerarbeit, die hier verrichtet wurde; aber traditionell waren die Insel-Frauen auf sich alleine gestellt: Ehemänner, Brüder, Söhne und die meisten der unter sechzig Jahre alten Väter waren Seeleute und vom zeitigen Frühjahr an, über den ganzen Sommer hinweg, bis in den Spätherbst hin ein als Heringsfänger hauptsächlich vor der Insel Helgoland unterwegs.
Die friesischen Frauen waren es gewohnt, sämtliche Tätigkeiten, die in Haus und Hof, auf Acker und Feld anfielen, selbst in Angriff zu nehmen. Dazu kamen traditionell noch der Krabben- und Rochenfang, das »Schollenpricken«, die Entenjagd und nicht zuletzt die Sorge um die Aufzucht und Erziehung der Kinder. Seit Generationen schon war das so; genauer gesagt, seit mit der Salzgewinnung und der Salzsiederei, die im 11. Jahrhundert auf der Insel ihren Anfang genommen hatten, Schluss war. Immerhin hatte dies bewirkt, dass die Friesinnen ungewöhnlich tatkräftige, selbstständige und sehr selbstbewusste Frauen waren.
Verbrachten die Männer auch meist den Winter daheim - außer sie waren auf großer mehrjähriger Handelsfahrt -, bestimmten trotzdem alleine die Frauen, was im häuslichen Umfeld zu geschehen hatte: Wie die Kinder erzogen wurden, was angeschafft werden musste und wen die Sprösslinge einmal heiraten sollten; vor allem aber, wie das Geld, das die Männer mit der Seefahrt verdienten, zu verwenden war.
»Ich will einen Teil der Heuer, die Jan im Herbst nach Hause bringt, für ein Pferd ausgeben«, tat eine der jungen Feldarbeiterinnen kund. »Ich bin es leid, den schweren Karren alleine zu ziehen oder unsere einzige Milchkuh davor zu spannen. Und auf einem Wagen zu sitzen ist allemal angenehmer, als zu Fuß zu laufen.«
Sie legte eine Pause ein, stützte sich auf ihren Rechen und wischte sich mit einem Tuch über das schweißtriefende Gesicht.
»Ich muss schließlich meinen Rücken ein wenig schonen, um meinen Jan ordentlich nach Strich und Faden zu verwöhnen - wenn er nach so langer Zeit endlich wieder daheim ist. Wenn ihr versteht, was ich damit sagen will!« Sie verdrehte bedeutungsvoll die Augen und kicherte übermütig.
Die anderen Frauen ließen die Sicheln und Rechen ruhen, grinsten verständnisvoll und manch eine stöhnte sehnsüchtig auf. Ja, die Männer! Sie vermissten sie manchmal schrecklich, vor allem in den langen Nächten...
Die Mäherinnen und Garbenbinderinnen machten Anstalten, gleichfalls die Arbeit für einen Augenblick ruhen zu lassen. Marret Ketelsen aus Alkersum, die reichste von allen und daher stillschweigend als Anführerin der Gruppe anerkannt, wusste das jedoch zu verhindern.
»Seht ihr nicht, dass die Schwüle und die schwarzen Wolken über uns ein Gewitter ankündigen? Es ist jetzt keine Zeit, um über dies und das zu klönen. Beeilt euch! Das Getreide muss noch heute ins Trockene! Wenn durch unsere Nachlässigkeit der Roggen verdirbt, werden uns unsere Männer dies bestimmt nicht danken!«
Schweigend gehorchten die Frauen. Marret hatte Recht: Der Himmel wirkte äußerst bedrohlich. Alle verdoppelten noch ihre bisherigen Anstrengungen. Aber schon nach wenigen Minuten prasselten dicke Regentropfen von oben her ab und die Schnitterinnen packten Sicheln, Rechen und die Hanfseilspulen zusammen, rafften ihre langen Röcke und beeilten sich, um unter dem weit vorstehenden Dach einer nahe gelegenen großen Scheune Unterschlupf zu finden. Sie würden den Schauer abwarten und gleich danach weiterarbeiten.
Als es zu donnern und zu blitzen begann, flüchteten sich die meisten Frauen ins Innere des Unterstands; bloß ein paar ganz Mutige blieben unter dem Scheunentor stehen, um das Gewitter von sicherer Warte aus zu beobachten.
Nur Kaiken Mommsen war auf dem Feld zurückgeblieben; sie wollte erst noch ihre Getreidegarbe fertigbinden und ordentlich aufstellen. Die Sonne war mittlerweile ganz verschwunden und drohende Schwärze, unterbrochen von giftigem Schwefelgelb, überzog den Himmel, der nach dem Kreuz des Kirchturms von St. Johannis in Nieblum zu greifen schien und nach den Flügeln einer der erst kürzlich aufgestellten Bockmühlen.
»Warum kommt Kaiken denn nicht auch unters schützende Dach?«, fragte eine ältere Frau aus Övenum. »Die Ärmste muss mittlerweile völlig durchnässt sein. Aber wie es scheint, genießt sie das Unwetter regelrecht!«
Erneut war grollender Donner zu vernehmen und gleich dar auf fuhren zischend mehrere Blitze dicht neben dem Feld in den Erdboden.
»Wen wundert's?«, ließ sich spöttisch Sabbe Michelsen aus Midlum vernehmen. »Hat sie es doch selbst gemacht!«
»Was willst du damit sagen?«, fuhr Marret Sabbe unwillig an. Sie wusste - wie alle übrigen auch -, dass die beiden jungen Frauen sich einmal wegen eines gut aussehenden Matrosen in die Haare geraten waren. Die anderen der unter dem Vordach zusammengedrängten Frauen spitzten neugierig die Ohren. Das roch jetzt geradezu nach einer bösartigen Auseinandersetzung!
»Seht doch bloß, wie Kaiken ihre Arme zum Himmel reckt - so, als wolle sie zu Thor beten, dass der alte Wettergott ja ein ganz besonders fürchterliches Gewitter über unser Land kommen lassen möge!«, ereiferte sich Sabbe.
»Ich sage dir, hör auf damit, solchen Unfug zu verbreiten!«
Marret Ketelsen war nun ernsthaft zornig. Ihre blauen Augen blitzten und sie warf der Verleumderin wütende Blicke zu.
»Dummes Geschwätz dieser Art hat schon manches arme Weib ins Unglück gestürzt. Wir wissen alle, dass du Kaiken nicht leiden kannst. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, schlecht über sie zu reden! Merk dir das! Im Übrigen könnte man aus deinem Gerede über den Heidengott Thor durchaus auch her aushören, du selbst glaubtest noch an ihn!«
Sabbe Michelsens Mundwinkel zuckten verächtlich, aber sie verstummte und verzog sich zu den anderen ins Innere der Scheune, die groß genug war, den gesamten gemeinschaftlichen Ernteertrag aufzunehmen.
Gleich dar auf schien der Himmel zu explodieren: Hagelkörner, manche von der Größe von Hühnereiern, prasselten wie Steine hernieder und verschonten weder die noch stehenden Halme mit den schweren Getreideähren, noch die bereits abgemähten, ordentlich gebundenen und nebeneinander gleich Soldaten aufgereihten Garben.
Auch Kaiken war dem Geschosshagel ausgesetzt. Die Frauen beobachteten, wie sie vergebens versuchte, das große Kopftuch über Haare und Schultern zu ziehen und gleichzeitig ihren langen regenschweren Rock im heftigen Sturm am Hochflattern zu hindern. Ihr fruchtloses Bemühen verursachte indessen nur hektische, seltsam anmutende Verrenkungen.
Erneut stellte Sabbe sich zu den anderen Frauen ans offene Scheunentor.
»Schaut sie euch doch an! Dass sich Kaiken über unser aller Unglück freut - das kann ja jetzt wohl jede von uns sehen!
Würde diese Hexe sonst mitten in dem Gewitter einen Freudentanz aufführen?«
Dieses Mal kam Marret gar nicht mehr zu Wort, obwohl sie den Versuch unternahm, die Frauen zum Beten anzuhalten. Diese, entsetzt über den Schaden, den der Hagelschlag nicht nur im Roggenfeld anrichten würde und angesteckt von einer blind machenden Hysterie, stießen auf einmal ins selbe Horn wie Sabbe. Plötzlich brach ein unglaublicher Lärm in der Scheune los. Jammergeschrei, Flüche und Verwünschungen gegen Kaiken waren zu hören.
»Die Towersche tanzt tatsächlich mitten im Unwetter!«, kreischte eine der Älteren. »Fluch über sie!«
»Ihr dummen Weiber seht doch bloß, was ihr sehen wollt und wozu euch Sabbe aufgestachelt hat!«, schrie Marret Ketelsen dagegen an, aber ihre Stimme drang nicht durch.
Als Kaiken endlich zerzaust und bis auf die Haut durchnässt in der Scheune anlangte, konnte Marret lediglich mit Mühe und Not verhindern, dass man die junge Frau gnadenlos verprügelte. Alle umringten sie mit Drohgebärden und schrien gleichzeitig wütend auf sie ein. Die Anwesenden machten allen Ernstes Kaiken für die Katastrophe, die mindestens die halbe Ernte der Insel vernichtete - auch die Gerste stand schließlich noch auf dem Halm - verantwortlich. Der Hagelschlag würde selbst die ohnehin magere Birnenernte vernichten, von den Kohlköpfen und Rüben auf dem Acker und den Haselnüssen und Holunderdolden an den vereinzelt wachsenden Sträuchern ganz zu schweigen.»Das bedeutet den Winter über grausame Hungersnot für uns alle, du Höllenbrut, du elende Hexe! Du hast das Unwetter gemacht und uns den Hagel geschickt! Verflucht sollst du sein, verdammter Troler!«
Sabbe kreischte hysterisch und riss Kaiken an den langen, blonden, jetzt von der Nässe strähnigen Haaren. Sie und andere packten die junge Frau und fesselten sie - trotz Kaikens heftigster Gegenwehr -- mit dem Strick, der eigentlich zum Garbenbinden dienen sollte.
Als sie nicht aufhörte, lauthals ihre Unschuld zu beteuern, wurde Sabbe ganz ausfallend. »Halt endlich dein Maul, sonst stopfen wir es dir mit Stroh und Mist! Ich habe dich schon seit damals in Verdacht, du Drecksstück, als du deinem Nachbars-jungen die Hand hast abfaulen lassen!«
Diesen Vorwurf laut auszusprechen war ungeheuerlich. Aber alle Frauen in der Scheune schienen die bösartige Unterstellung zu billigen. Auf Marrets Stimme der Vernunft hörte schon lange keine mehr.
Man beschloss, Kaiken zu Pfarrer Martin Hornemann nach Nieblum zu schaffen, sobald das Gewitter vor über wäre. Der Geistliche, der als Pastor an der als »Friesendom« bezeichneten St. Johanniskirche seines Amtes waltete, wüsste sicher, wie mit »so einer« zu verfahren sei.
Bis dahin vegetierte die junge Frau angekettet, bei Wasser und Brot, in einem finsteren, stinkenden Loch unterhalb des Gemeindehauses. In der winzigen Zelle war es ihr kaum möglich, aufrecht zu stehen. Zu ihrer Bewachung beorderte die Gemeinde Nieblum zwei Burschen, die zwar über kräftige Muskeln, aber über wenig Hirn und noch weniger Herz verfügten.
Vom ersten Augenblick an schikanierten diese primitiven Kerle Kaiken auf das Übelste; bald fingen sie auch an, sie schamlos zu bedrängen, indem sie ihr an die Brüste oder unter den Rock fassten. Dazu befleißigten sie sich einer Ausdrucksweise, die den Geistlichen, als er einmal zufällig Zeuge davon wurde, vor Schreck erblassen ließ.
Diese jungen Männer kannte er nur als gute Katholiken, die an keinem einzigen Sonntag die Messe versäumten! Auch zur heiligen Kommunion erschienen sie regelmäßig und sie sangen voller Inbrunst im Kirchenchor mit.
Dass sie jetzt auf einmal so sündhafte Worte gebrauchten, konnte nur die Schuld dieser gottlosen Hexe sein, welche die braven Burschen verdarb. Es wurde Zeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten und die Verhandlung beginnen zu lassen.
Das nächste Mal platzte der Pfarrer im Kerker mitten in eine höchst anstößige Szenerie: Kaiken kniete vor einem der beiden Wächter und befriedigte ihn mit dem Mund. Dass der Kerl ihr dabei ein Messer an die Kehle hielt, übersah Martin Hornemann...
Vom Pastor dennoch empört zur Rede gestellt, besaß dieser Mensch die Frechheit, ihm weiszumachen, die Hexe habe ihn dazu gezwungen. Auf diese Weise versuche sie regelmäßig, ihren Bewachern »die Lebenskraft« auszusaugen und diese damit zu schwächen. Auf die Waffe kam er von selbst zu sprechen, er behauptete allen Ernstes, das Messer habe er zu Hilfe genommen, um das Weibsstück abzuwehren. Dabei sah er Martin Hornemann seelenruhig, mit fast treuherzigem Augenaufschlag, ins Gesicht.
Pastor Hornemann, ein etwas naiver Zeitgenosse, legte sich nun persönlich mit Feuereifer ins Zeug: Zusammen mit den zwölf Ratsmännern, die sozusagen die »Regierung« des östlichen, zum Herzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf gehörigen Inselteils bildeten (Westerland Föhr gehörte hingegen zum Königreich Dänemark), trug er genügend Beweise gegen die Beschuldigte zusammen. Als Erstes war da das Vorkommnis mit der abgestorbenen Hand des kleinen Johann Detlefsen; diese unselige Geschichte musste erneut aufgerollt werden. Für den Pastor bestand kein Zweifel, dass die Hexe Kaiken es zu verantworten habe, dass der Junge niemals - wie sein Vater und Großvater - ein Seemann werden konnte.
Dann war da noch die äußerst merkwürdige Sache mit dem alten Knut Olufsen, einem Witwer von zweiundachtzig Jahren, für den Kaiken hin und wieder gekocht und gewirtschaftet hatte, nachdem er alleine nicht mehr so gut zurechtkam. Knut war neulich in seiner Köögen einfach umgefallen. Als ihm eine Nachbarin zu Hilfe kommen wollte, war er schon tot gewesen - nachdem Kaiken kurz zuvor sein Haus verlassen hatte! Was brauchte es noch mehr an Beweisen für das teuflische Wirken der jungen Frau?
Es gab nun durchaus Menschen mit Herz und Vernunft auf Föhr, darunter Marret Ketelsen, die Knuts hohes Alter zu bedenken gaben.
...
Copyright © 2012 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
DIE ALTEN FRIESEN WAREN seit jeher ein sehr frommes und gottesfürchtiges Volk. Sie vom alten germanischen Glauben zum Christentum zu bekehren, dauerte lange Zeit. Wer letztlich das Christentum auf die friesischen Inseln brachte, ist nicht genau bekannt. Wahrscheinlich verbreitete es sich erst unter der Regierung des Dänenkönigs Knuts des Großen (1016/1018-1035).
Aber lange noch verehrten die Friesen insgeheim die heidnischen Götter. Manche Bräuche aus uralter Zeit haben sich sogar bis in die Gegenwart erhalten. Die Macht der Päpste spielte in Friesland kaum eine Rolle. Selbst der Priesterzölibat wurde auf den Inseln nicht verwirklicht: Die Bevölkerung lehnte unverheiratete Priester kategorisch ab. Erstaunlich rasch vollzog sich einige Jahrhunderte später die Einführung der Reformation: Geradezu über Nacht wurden die Föhringer von bedingt eifrigen Katholiken zu überzeugten Protestanten.
Wer im Verdacht stand, insgeheim immer noch katholisch zu sein -- etwa Heiligenbilder anzubeten oder den Papst zu verehren -, hatte es sehr schwer. Selbst Pastoren gerieten ins Visier übereifriger Luther aner, was zu Verfolgung und Vertreibung mancher Geistlicher führte.
Ebenso unausrottbar wie die häufig geradezu fanatische Frömmigkeit erwies sich auch der Hang zum Aberglauben. Man war sich sicher, dass in jedem Haus die Unterirdischen, die Odderbantjes, das Regiment führten. Fühlten sich diese Geister gestört, rächten sie sich durch vielerlei Schabernack.
Der Glaube an die Macht der Hexen trat allerdings erst im 15. und 16. Jahrhundert auf und lag seitdem wie ein Alpdruck auf der Bevölkerung. Man war der festen Überzeugung, bestimmte Frauen stünden mit dem Teufel und mit bösen Geistern in Verbindung und setzten ihre unheilvollen Kräfte zum Schaden ihrer Mitmenschen ein.
Verursacht durch derart irrationale Ängste ereigneten sich auf der Insel Föhr grausame Hexenverfolgungen; auch auf Sylt und Amrum hatten Frauen unter diesem Wahn zu leiden. Selbst der Protestantismus änderte dar an nichts. Alte Überlieferungen berichten, dass Hexen besonders zahlreich in den Föhringer Ortschaften Dunsum, Alkersum und Övenum gelebt haben sollen. Der Gegenmittel gab es unzählige - eines absurder als das andere.
FÖHR IN GANZ ALTER ZEIT
»FLUCH ÜBER EUCH nichtswürdige Mörder und Meineidige! Gott, der Herr, wird euch strafen für dieses Verbrechen an mir, einer Unschuldigen! Zur Hölle mit euch allen, die ihr dieses schändliche Urteil über mich zu verantworten habt!«
Kurz vor ihrem Tod auf dem Scheiterhaufen im August 1498 verfluchte Kaiken Mommsen, die einundzwanzigjährige Tochter des Seemanns Momme Drefsen, ihre Peiniger und alle, die dazu beigetragen hatten, sie diesem barbarischen Schicksal zu unterwerfen.
Kaiken galt in Nieblum als heil- und kräuterkundig. Wann immer einer der Dorfbewohner sich verletzte, einen Ausschlag hatte oder erkältet war, suchte er Kaiken auf, um sich von der hilfsbereiten und geschickten jungen Frau kurieren zu lassen.
Als sich im Jahr zuvor der kleine Nachbarsjunge Johann Detlefsen beim Spielen die Hand an einer scharfkantigen Muschelschale verletzte, lief seine Mutter mit ihrem Sohn zu Kaiken Mommsen, damit die sich der Sache annähme. Kaiken wusch die Wunde sorgfältig aus, gab Ringelblumensalbe dar auf und verband anschließend die Hand des Kindes. Der Schnitt war allerdings sehr tief ins Fleisch gegangen und es musste sich, von Kaiken leider unbemerkt, Schmutz in der Verletzung festgesetzt haben. Die Wunde eiterte und der Schmerz begann dar in zu toben, so dass der kleine Junge Tag und Nacht weinte und schließlich jämmerlich zu schreien anfing. Als man endlich nach Tagen den Verband löste, war die Hand bereits schwarz geworden.
Bei Goting, im Süden der Insel, lebte damals in Küstennähe ein alter Schäfer, der nebenbei das Geschäft eines Zahnbrechers und Knocheneinrenkers betrieb. Ihn zog nun die besorgte Familie des Kleinen zurate. Um das Leben des Jungen zu retten, blieb dem Alten nur, den abgestorbenen Arm bis zum Ellenbogen abzuschneiden.
Die Eltern gaben Kaiken die Schuld an der Verstümmelung ihres Kindes, wagten jedoch nicht, laut Anklage zu erheben, denn das Mädchen war im Dorf und in der gesamten Umgebung sehr beliebt.
Seit diesem Drama begannen sich allerdings insgeheim Gerüchte über Kaiken Mommsen zu verbreiten, die besagten, mit der jungen Frau »stimme etwas ganz und gar nicht« - die übliche Umschreibung für den lebensgefährlichen Verdacht, eine Person habe Umgang mit »bösen Mächten«. Der Same des Übels war gesät, in aller Stille sollte er keimen, sprießen und gedeihen und letztlich die unschuldige junge Frau ins Verderben reißen.
Im Jahr dar auf stand im Dorf Midlum die Roggenernte an. Flirrend waberte die Augusthitze über dem Getreidefeld. Auf Föhr wurde noch nach altem germanischem Brauch Allmendewirtschaft betrieben: Felder, Wiesen und Äcker gehörten nicht einzelnen Bauern, sondern der gesamten Dorfgemeinschaft und wurden auch mit ein an der bestellt und gepflegt. An den Erntearbeiten beteiligten sich alle, um anschließend den Ertrag gerecht, je nach Größe ihres jeweiligen Hofes, aufzuteilen. Oftmals gehörten die bewirtschafteten Grundstücke mehreren Gemeinden zusammen. So waren jetzt auf dem Roggenfeld Frauen sowohl aus Midlum wie auch aus Alkersum und Övenum vertreten, dar unter auch Kaiken Mommsen.
Körperliche Anstrengung, Staub und feuchtheiße Luft trieben den Erntehelferinnen den Schweiß auf die Stirn. Schon nach kurzer Zeit klebten ihnen die Kleider am Körper.
Eigentlich war es harte Männerarbeit, die hier verrichtet wurde; aber traditionell waren die Insel-Frauen auf sich alleine gestellt: Ehemänner, Brüder, Söhne und die meisten der unter sechzig Jahre alten Väter waren Seeleute und vom zeitigen Frühjahr an, über den ganzen Sommer hinweg, bis in den Spätherbst hin ein als Heringsfänger hauptsächlich vor der Insel Helgoland unterwegs.
Die friesischen Frauen waren es gewohnt, sämtliche Tätigkeiten, die in Haus und Hof, auf Acker und Feld anfielen, selbst in Angriff zu nehmen. Dazu kamen traditionell noch der Krabben- und Rochenfang, das »Schollenpricken«, die Entenjagd und nicht zuletzt die Sorge um die Aufzucht und Erziehung der Kinder. Seit Generationen schon war das so; genauer gesagt, seit mit der Salzgewinnung und der Salzsiederei, die im 11. Jahrhundert auf der Insel ihren Anfang genommen hatten, Schluss war. Immerhin hatte dies bewirkt, dass die Friesinnen ungewöhnlich tatkräftige, selbstständige und sehr selbstbewusste Frauen waren.
Verbrachten die Männer auch meist den Winter daheim - außer sie waren auf großer mehrjähriger Handelsfahrt -, bestimmten trotzdem alleine die Frauen, was im häuslichen Umfeld zu geschehen hatte: Wie die Kinder erzogen wurden, was angeschafft werden musste und wen die Sprösslinge einmal heiraten sollten; vor allem aber, wie das Geld, das die Männer mit der Seefahrt verdienten, zu verwenden war.
»Ich will einen Teil der Heuer, die Jan im Herbst nach Hause bringt, für ein Pferd ausgeben«, tat eine der jungen Feldarbeiterinnen kund. »Ich bin es leid, den schweren Karren alleine zu ziehen oder unsere einzige Milchkuh davor zu spannen. Und auf einem Wagen zu sitzen ist allemal angenehmer, als zu Fuß zu laufen.«
Sie legte eine Pause ein, stützte sich auf ihren Rechen und wischte sich mit einem Tuch über das schweißtriefende Gesicht.
»Ich muss schließlich meinen Rücken ein wenig schonen, um meinen Jan ordentlich nach Strich und Faden zu verwöhnen - wenn er nach so langer Zeit endlich wieder daheim ist. Wenn ihr versteht, was ich damit sagen will!« Sie verdrehte bedeutungsvoll die Augen und kicherte übermütig.
Die anderen Frauen ließen die Sicheln und Rechen ruhen, grinsten verständnisvoll und manch eine stöhnte sehnsüchtig auf. Ja, die Männer! Sie vermissten sie manchmal schrecklich, vor allem in den langen Nächten...
Die Mäherinnen und Garbenbinderinnen machten Anstalten, gleichfalls die Arbeit für einen Augenblick ruhen zu lassen. Marret Ketelsen aus Alkersum, die reichste von allen und daher stillschweigend als Anführerin der Gruppe anerkannt, wusste das jedoch zu verhindern.
»Seht ihr nicht, dass die Schwüle und die schwarzen Wolken über uns ein Gewitter ankündigen? Es ist jetzt keine Zeit, um über dies und das zu klönen. Beeilt euch! Das Getreide muss noch heute ins Trockene! Wenn durch unsere Nachlässigkeit der Roggen verdirbt, werden uns unsere Männer dies bestimmt nicht danken!«
Schweigend gehorchten die Frauen. Marret hatte Recht: Der Himmel wirkte äußerst bedrohlich. Alle verdoppelten noch ihre bisherigen Anstrengungen. Aber schon nach wenigen Minuten prasselten dicke Regentropfen von oben her ab und die Schnitterinnen packten Sicheln, Rechen und die Hanfseilspulen zusammen, rafften ihre langen Röcke und beeilten sich, um unter dem weit vorstehenden Dach einer nahe gelegenen großen Scheune Unterschlupf zu finden. Sie würden den Schauer abwarten und gleich danach weiterarbeiten.
Als es zu donnern und zu blitzen begann, flüchteten sich die meisten Frauen ins Innere des Unterstands; bloß ein paar ganz Mutige blieben unter dem Scheunentor stehen, um das Gewitter von sicherer Warte aus zu beobachten.
Nur Kaiken Mommsen war auf dem Feld zurückgeblieben; sie wollte erst noch ihre Getreidegarbe fertigbinden und ordentlich aufstellen. Die Sonne war mittlerweile ganz verschwunden und drohende Schwärze, unterbrochen von giftigem Schwefelgelb, überzog den Himmel, der nach dem Kreuz des Kirchturms von St. Johannis in Nieblum zu greifen schien und nach den Flügeln einer der erst kürzlich aufgestellten Bockmühlen.
»Warum kommt Kaiken denn nicht auch unters schützende Dach?«, fragte eine ältere Frau aus Övenum. »Die Ärmste muss mittlerweile völlig durchnässt sein. Aber wie es scheint, genießt sie das Unwetter regelrecht!«
Erneut war grollender Donner zu vernehmen und gleich dar auf fuhren zischend mehrere Blitze dicht neben dem Feld in den Erdboden.
»Wen wundert's?«, ließ sich spöttisch Sabbe Michelsen aus Midlum vernehmen. »Hat sie es doch selbst gemacht!«
»Was willst du damit sagen?«, fuhr Marret Sabbe unwillig an. Sie wusste - wie alle übrigen auch -, dass die beiden jungen Frauen sich einmal wegen eines gut aussehenden Matrosen in die Haare geraten waren. Die anderen der unter dem Vordach zusammengedrängten Frauen spitzten neugierig die Ohren. Das roch jetzt geradezu nach einer bösartigen Auseinandersetzung!
»Seht doch bloß, wie Kaiken ihre Arme zum Himmel reckt - so, als wolle sie zu Thor beten, dass der alte Wettergott ja ein ganz besonders fürchterliches Gewitter über unser Land kommen lassen möge!«, ereiferte sich Sabbe.
»Ich sage dir, hör auf damit, solchen Unfug zu verbreiten!«
Marret Ketelsen war nun ernsthaft zornig. Ihre blauen Augen blitzten und sie warf der Verleumderin wütende Blicke zu.
»Dummes Geschwätz dieser Art hat schon manches arme Weib ins Unglück gestürzt. Wir wissen alle, dass du Kaiken nicht leiden kannst. Aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, schlecht über sie zu reden! Merk dir das! Im Übrigen könnte man aus deinem Gerede über den Heidengott Thor durchaus auch her aushören, du selbst glaubtest noch an ihn!«
Sabbe Michelsens Mundwinkel zuckten verächtlich, aber sie verstummte und verzog sich zu den anderen ins Innere der Scheune, die groß genug war, den gesamten gemeinschaftlichen Ernteertrag aufzunehmen.
Gleich dar auf schien der Himmel zu explodieren: Hagelkörner, manche von der Größe von Hühnereiern, prasselten wie Steine hernieder und verschonten weder die noch stehenden Halme mit den schweren Getreideähren, noch die bereits abgemähten, ordentlich gebundenen und nebeneinander gleich Soldaten aufgereihten Garben.
Auch Kaiken war dem Geschosshagel ausgesetzt. Die Frauen beobachteten, wie sie vergebens versuchte, das große Kopftuch über Haare und Schultern zu ziehen und gleichzeitig ihren langen regenschweren Rock im heftigen Sturm am Hochflattern zu hindern. Ihr fruchtloses Bemühen verursachte indessen nur hektische, seltsam anmutende Verrenkungen.
Erneut stellte Sabbe sich zu den anderen Frauen ans offene Scheunentor.
»Schaut sie euch doch an! Dass sich Kaiken über unser aller Unglück freut - das kann ja jetzt wohl jede von uns sehen!
Würde diese Hexe sonst mitten in dem Gewitter einen Freudentanz aufführen?«
Dieses Mal kam Marret gar nicht mehr zu Wort, obwohl sie den Versuch unternahm, die Frauen zum Beten anzuhalten. Diese, entsetzt über den Schaden, den der Hagelschlag nicht nur im Roggenfeld anrichten würde und angesteckt von einer blind machenden Hysterie, stießen auf einmal ins selbe Horn wie Sabbe. Plötzlich brach ein unglaublicher Lärm in der Scheune los. Jammergeschrei, Flüche und Verwünschungen gegen Kaiken waren zu hören.
»Die Towersche tanzt tatsächlich mitten im Unwetter!«, kreischte eine der Älteren. »Fluch über sie!«
»Ihr dummen Weiber seht doch bloß, was ihr sehen wollt und wozu euch Sabbe aufgestachelt hat!«, schrie Marret Ketelsen dagegen an, aber ihre Stimme drang nicht durch.
Als Kaiken endlich zerzaust und bis auf die Haut durchnässt in der Scheune anlangte, konnte Marret lediglich mit Mühe und Not verhindern, dass man die junge Frau gnadenlos verprügelte. Alle umringten sie mit Drohgebärden und schrien gleichzeitig wütend auf sie ein. Die Anwesenden machten allen Ernstes Kaiken für die Katastrophe, die mindestens die halbe Ernte der Insel vernichtete - auch die Gerste stand schließlich noch auf dem Halm - verantwortlich. Der Hagelschlag würde selbst die ohnehin magere Birnenernte vernichten, von den Kohlköpfen und Rüben auf dem Acker und den Haselnüssen und Holunderdolden an den vereinzelt wachsenden Sträuchern ganz zu schweigen.»Das bedeutet den Winter über grausame Hungersnot für uns alle, du Höllenbrut, du elende Hexe! Du hast das Unwetter gemacht und uns den Hagel geschickt! Verflucht sollst du sein, verdammter Troler!«
Sabbe kreischte hysterisch und riss Kaiken an den langen, blonden, jetzt von der Nässe strähnigen Haaren. Sie und andere packten die junge Frau und fesselten sie - trotz Kaikens heftigster Gegenwehr -- mit dem Strick, der eigentlich zum Garbenbinden dienen sollte.
Als sie nicht aufhörte, lauthals ihre Unschuld zu beteuern, wurde Sabbe ganz ausfallend. »Halt endlich dein Maul, sonst stopfen wir es dir mit Stroh und Mist! Ich habe dich schon seit damals in Verdacht, du Drecksstück, als du deinem Nachbars-jungen die Hand hast abfaulen lassen!«
Diesen Vorwurf laut auszusprechen war ungeheuerlich. Aber alle Frauen in der Scheune schienen die bösartige Unterstellung zu billigen. Auf Marrets Stimme der Vernunft hörte schon lange keine mehr.
Man beschloss, Kaiken zu Pfarrer Martin Hornemann nach Nieblum zu schaffen, sobald das Gewitter vor über wäre. Der Geistliche, der als Pastor an der als »Friesendom« bezeichneten St. Johanniskirche seines Amtes waltete, wüsste sicher, wie mit »so einer« zu verfahren sei.
Bis dahin vegetierte die junge Frau angekettet, bei Wasser und Brot, in einem finsteren, stinkenden Loch unterhalb des Gemeindehauses. In der winzigen Zelle war es ihr kaum möglich, aufrecht zu stehen. Zu ihrer Bewachung beorderte die Gemeinde Nieblum zwei Burschen, die zwar über kräftige Muskeln, aber über wenig Hirn und noch weniger Herz verfügten.
Vom ersten Augenblick an schikanierten diese primitiven Kerle Kaiken auf das Übelste; bald fingen sie auch an, sie schamlos zu bedrängen, indem sie ihr an die Brüste oder unter den Rock fassten. Dazu befleißigten sie sich einer Ausdrucksweise, die den Geistlichen, als er einmal zufällig Zeuge davon wurde, vor Schreck erblassen ließ.
Diese jungen Männer kannte er nur als gute Katholiken, die an keinem einzigen Sonntag die Messe versäumten! Auch zur heiligen Kommunion erschienen sie regelmäßig und sie sangen voller Inbrunst im Kirchenchor mit.
Dass sie jetzt auf einmal so sündhafte Worte gebrauchten, konnte nur die Schuld dieser gottlosen Hexe sein, welche die braven Burschen verdarb. Es wurde Zeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten und die Verhandlung beginnen zu lassen.
Das nächste Mal platzte der Pfarrer im Kerker mitten in eine höchst anstößige Szenerie: Kaiken kniete vor einem der beiden Wächter und befriedigte ihn mit dem Mund. Dass der Kerl ihr dabei ein Messer an die Kehle hielt, übersah Martin Hornemann...
Vom Pastor dennoch empört zur Rede gestellt, besaß dieser Mensch die Frechheit, ihm weiszumachen, die Hexe habe ihn dazu gezwungen. Auf diese Weise versuche sie regelmäßig, ihren Bewachern »die Lebenskraft« auszusaugen und diese damit zu schwächen. Auf die Waffe kam er von selbst zu sprechen, er behauptete allen Ernstes, das Messer habe er zu Hilfe genommen, um das Weibsstück abzuwehren. Dabei sah er Martin Hornemann seelenruhig, mit fast treuherzigem Augenaufschlag, ins Gesicht.
Pastor Hornemann, ein etwas naiver Zeitgenosse, legte sich nun persönlich mit Feuereifer ins Zeug: Zusammen mit den zwölf Ratsmännern, die sozusagen die »Regierung« des östlichen, zum Herzogtum Schleswig-Holstein-Gottorf gehörigen Inselteils bildeten (Westerland Föhr gehörte hingegen zum Königreich Dänemark), trug er genügend Beweise gegen die Beschuldigte zusammen. Als Erstes war da das Vorkommnis mit der abgestorbenen Hand des kleinen Johann Detlefsen; diese unselige Geschichte musste erneut aufgerollt werden. Für den Pastor bestand kein Zweifel, dass die Hexe Kaiken es zu verantworten habe, dass der Junge niemals - wie sein Vater und Großvater - ein Seemann werden konnte.
Dann war da noch die äußerst merkwürdige Sache mit dem alten Knut Olufsen, einem Witwer von zweiundachtzig Jahren, für den Kaiken hin und wieder gekocht und gewirtschaftet hatte, nachdem er alleine nicht mehr so gut zurechtkam. Knut war neulich in seiner Köögen einfach umgefallen. Als ihm eine Nachbarin zu Hilfe kommen wollte, war er schon tot gewesen - nachdem Kaiken kurz zuvor sein Haus verlassen hatte! Was brauchte es noch mehr an Beweisen für das teuflische Wirken der jungen Frau?
Es gab nun durchaus Menschen mit Herz und Vernunft auf Föhr, darunter Marret Ketelsen, die Knuts hohes Alter zu bedenken gaben.
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Copyright © 2012 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House
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Autoren-Porträt von Karla Weigand
Weigand, KarlaKarla Weigand wurde 1944 in München geboren. Sie arbeitete zwanzig Jahre lang als Lehrerin, bevor sie sich dem Schreiben zuwandte. Sie lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Freiburg.
Bibliographische Angaben
- Autor: Karla Weigand
- 2012, Originalausgabe., Maße: 11,8 x 18,7 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Heyne
- ISBN-10: 345347113X
- ISBN-13: 9783453471139
- Erscheinungsdatum: 09.05.2012
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