Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen
Brigitte
An seinem 83. Geburtstag kommt Eddie bei einem Unfall ums Leben. Es scheint...
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''Albom schreibt wie eine Art literarischer Spielberg: effektvoll, gefühlvoll und ohne Scheu vor Pathos. Schon nach drei Seiten ist man drin in diesem Buch.''
Brigitte
An seinem 83. Geburtstag kommt Eddie bei einem Unfall ums Leben. Es scheint das tragische Ende eines bedeutungslosen Daseins. Im Jenseits begegnet er 5 Menschen, die ihn eines Besseren belehren.
Die fünf Menschen, diedir im Himmel begegnen von Mitch Albom
LESEPROBE
DasEnde
Dies ist die Geschichte eines Mannes namens Eddie, und sie beginnt mit ihremEnde, als Eddie bei Sonnenschein stirbt. Es mag seltsam erscheinen, eineGeschichte an ihrem Ende zu beginnen. Aber jedes Ende ist auch ein Anfang. Dasweiß man da nur noch nicht.
Eddie verbrachte die letzte Stunde seines Lebens, so wie fast alle davon, imRuby Pier, einem Vergnügungspark, der an einem großen, grauen Ozean lag. DerPark besaß die üblichen Attraktionen, eine hölzerne Strandpromenade, einRiesenrad, Achterbahnen, Autoscooter, einen Süßigkeitenstand und eine Schießbude, wo man mitWasserpistolen in den Mund eines Clowns zielte. Es gab auch ein großes,modernes Fahrgeschäft, Freddy's Free Fall, und genaudort sollte Eddie durch einen Unfall sterben, der im ganzen Land fürSchlagzeilen sorgen würde.
Zum Zeitpunkt seines Todes war Eddie ein untersetzter, weißhaariger alter Mannmit kurzem Hals, gewölbter Brust, kräftigen Unterarmen und einer verblasstenArmy-Tätowierung an der rechten Schulter. Die Beine waren dünn und geädert, unddie Arthritis hatte sein im Krieg verletztes linkes Knie endgültig ruiniert. Erging am Stock. Das kantige, von der Sonne zerfurchte Gesicht mit dem grauweißenSchnurrbart und dem etwas vorstehenden Unterkiefer ließ ihn selbstbewussteraussehen, als er war. Hinterm linken Ohr hatte er eine Zigarette stecken, undam Gürtel war ein Schlüsselbund festgehakt. Er trug Schuhe mit Gummisohlen undeine alte Leinenmütze. Die hellbraune Uniform sah nach Handwerker aus, undnichts anderes war er.
Eddie oblag die »Wartung der Fahrgeschäfte«, was im Grunde bedeutete, dass erfür die Sicherheit während ihres Betriebs verantwortlich war. Jeden Nachmittagging er durch den Park und überprüfte jedes einzelne Fahrgeschäft vom Riesenradbis zur Achterbahn. Er suchte nach zerbrochenen Brettern, lockeren Schraubenund abgenutzten Stahlteilen. Manchmal blieb er mit glasigem Blick stehen, sodass die Leute, die an ihm vorbeigingen, sofort dachten, irgendetwas stimmenicht. Dabei lauschte er nur, mehr nicht. Nach so vielen Jahren, sagte er,könne er am Fauchen, Stottern und Klingeln einer Anlage hören, ob es Problemegab.
Als Eddie noch fünfzig Minuten zu leben hatte, ging er zum letzten Mal über denRuby Pier. Er kam an einem älteren Paar vorbei.
»Hallo«, begrüßte er sie und tippte sich an die Mütze.
Die beiden nickten höflich. Die Besucher kannten Eddie. Zumindest dieStammkunden. Sie sahen ihn jeden Sommer wieder, ein Gesicht, das man mit einembestimmten Ort verbindet. Sein Arbeitshemd hatte über der Brust einen Aufnäher, auf dem stand »EDDIE« und darunter »WARTUNG«, undmanchmal sagten sie: »Tag, Eddie Wartung!«, obwohl erdas nicht besonders witzig fand.
Heute war zufällig Eddies Geburtstag, er wurde 83. Letzte Woche hatte ihm einArzt gesagt, er habe Gürtelrose. Gürtelrose? Eddie wusste nicht einmal, was daswar. Früher war er so stark gewesen, dass er mit jeder Hand ein Karussellpferdhochheben konnte. Doch das lag lange zurück.
»Eddie!«... »Nimm mich, Eddie!«... »Nimm mich!«
Noch vierzig Minuten bis zu seinem Tod. Eddie bahnte sich einen Weg an denAnfang der Warteschlange vor der Achterbahn. Er fuhr mit jeder Attraktionmindestens einmal pro Woche, um sicher zu sein, dass Bremsen und Steuerungfunktionierten. Heute war Achterbahn-Tag - diese hier hieß TheGhoster Coaster -, und dieKinder, die Eddie kannten, schrien, weil sie mit ihmzusammen fahren wollten.
Eddie mochte Kinder, Jugendliche dagegen nicht. Sie bereiteten ihmKopfschmerzen. Im Lauf der Jahre hatte Eddie bestimmt jede nur denkbare Art vonarbeitsscheuen, motzigen Jugendlichen erlebt. Kinder,die waren anders. Kinder strahlten Eddie an - mit seinem vorstehendenUnterkiefer schien er immer zu lachen, wie ein Delphin - und vertrauten ihmsofort. Sie fühlten sich zu ihm hingezogen wie kalte Hände zum Feuer. Sieumarmten sein Bein. Sie spielten mit seinen Schlüsseln. Eddie brummte meistnur, er sagte nie viel. Und er glaubte, dass sie ihn gerade deshalb mochten.
Jetzt gab Eddie zwei kleinen Jungen mit verkehrt herum aufgesetztenBaseballmützen einen Klaps. Sie rannten zum Wagen und purzelten hinein. Eddiegab dem Achterbahn-Mann seinen Stock und ließ sich langsam zwischen den beidennieder.
»Los... los!«, quiekte der eine Junge, während derandere sich Eddies Arm um die Schulter legte. Eddie zog den Sicherheitsbügelherunter, und klick-klick-klick ging es nach oben.
Von Eddie, der hier am Pier aufgewachsen war, erzählte man sich folgendeGeschichte: Als Junge war er in eine Rauferei geraten. Fünf Jungen von der Pitkin Avenue hatten seinen Bruder Joe in die Zangegenommen und wollten ihn verprügeln. Eddie saß eine Straße weiter auf einerVeranda und aß gerade ein Sandwich. Er hörte seinen Bruder schreien, rannte indie Gasse hinüber, griff sich einen Mülltonnendeckel und schlug zwei Jungenkrankenhausreif.
Joe redete monatelang nicht mit ihm. Er schämte sich. Joe war der Ältere, derErstgeborene, aber Eddie hatte gekämpft.
»Dürfen wir noch mal fahren, Eddie? Bitte!«
Noch vierunddreißig Minuten zu leben. Eddie schob den Sicherheitsbügel hoch,schenkte jedem Jungen einen Lutscher, bekam seinen Stock zurück und hinkte zurWerkstatt, um sich dort von der Sommerhitze zu erholen. Wenn er von seinemnahen Tod gewusst hätte, wäre er vielleicht woanders hingegangen. Stattdessentat er, was wir alle tun. Er machte weiter in seinem langweiligen Trott, alshätte er alle Zeit der Welt.
Einer der Werkstattarbeiter, ein schlaksiger, hagerer junger Mann namens Dominguez, stand an der Ölwanne und wischte Schmiere voneinem Rad.
»Hey, Eddie«, sagte er.
»Dom«, sagte Eddie.
Die Werkstatt roch nach Sägespänen. Sie war dunkel und eng, hatte eine niedrigeDecke und an den Wänden Lochbleche mit Bohrern, Sägen und Hämmern. Überalllagen Bauteile aus dem Inneren der Fahrgeschäfte herum: Kompressoren, Motoren,Treibriemen, Glühbirnen, der obere Teil eines Piratenschädels. An einer Wandstapelten sich Kaffeebüchsen voller Nägel und Schrauben, und an einer anderenstanden zahllose Kübel mit Schmierfett.
Zum Gleisschmieren, sagte Eddie immer, braucht man nicht mehr Hirn als zumGeschirrspülen, der einzige Unterschied ist, man wird dabei schmutziger, nichtsauberer. Und genau solche Arbeiten verrichtete Eddie: schmieren, Bremseneinstellen, Schrauben festziehen, Schalttafeln kontrollieren. Oft hatte er sichdanach gesehnt, diesen Ort zu verlassen, sich eine andere Arbeit zu suchen, einanderes Leben aufzubauen. Aber dann kam der Krieg. Seine Pläne wurden nieWirklichkeit. Im Lauf der Zeit merkte er, dass er grau wurde, weitere Hosentrug und resigniert hinnahm, welche Art von Mann er war und immer bleibenwürde: ein Mann mit Sand in den Schuhen, umgeben von künstlichem Gelächter undGrillwürstchen. Wie vor ihm sein Vater und wie es der Aufnäherauf seinem Hemd verriet: Eddie war »die Wartung« - der Chef der Wartung - oder,wie die Kinder ihn manchmal nannten, der »Karussell-Mann vom Ruby Pier«.
Noch dreißig Minuten.
»Hey, alles Gute zum Geburtstag«, sagte Dominguez.
Eddie grunzte.
»Keine Party oder so was?«
Eddie bedachte Dominguez mit einem Blick, als halteer ihn für verrückt. Und es streifte ihn der Gedanke, wie komisch es doch war,an einem Ort alt zu werden, an dem es nach Zuckerwatte roch.
»Übrigens, denk dran, Eddie, nächste Woche bin ich weg, ich flieg am Montag.Nach Mexiko.«
Eddie nickte, und Dominguez führte einen kleinen Tanzauf.
»Ich und Theresa. Die ganze Familie besuchen. Parrr-ty!«
Als er merkte, wie Eddie ihn anstarrte, hörte er auf zu tanzen.
»Schon mal da gewesen?«
»Was?«
»In Mexiko.«
Eddie schnaubte. »Junge, ich war nur da, wo man mich mit einem Gewehrhingeschickt hat.«
Er sah Dominguez zu, der wieder an die Wanne trat.Eddie überlegte einen Augenblick. Dann holte er ein kleines Geldbündel aus derTasche, zog die einzigen zwei Zwanzigdollarscheine raus und streckte sie Dominguez hin.
»Kauf deiner Frau was Schönes«, sagte Eddie.
Dominguez schaute das Geld an, lächelte breit undsagte: »Mensch, Mann, ist das dein Ernst?«
Eddie drückte Dominguez das Geld in die Hand. Dannging er hinaus, nach hinten auf den Lagerplatz. Vor Jahren hatte jemand einkleines »Angelloch« in das Holz der Strandpromenade geschnitten, und Eddie hobden Plastikdeckel ab. Er zog an der Nylonschnur, die 25 Meter weit ins Meerhinausreichte. Das Stück Mortadella hing immer noch dran.
»Ist was dran?«, schrie Dominguez.»Sag, dass was dranhängt!«
Eddie fragte sich, wie dieser Junge so optimistisch sein konnte. An dieserAngel war nie was dran.
»Eines Tages«, schrie Dominguez, »fangen wir einenHeilbutt!«
»Jaja«, murmelte Eddie, obwohl er wusste, dass maneinen so großen Fisch nie durch ein so enges Loch kriegen würde.
Noch sechsundzwanzig Minuten zu leben. Eddie ging die Strandpromenade entlangbis zum Südende. Nicht viel los heute. Das Mädchen inder Bonbonbude hatte die Arme aufgestützt und ließ Kaugummiblasen platzen.
Früher war Ruby Pier mal der Sommerausflugsort schlechthin gewesen, mitElefanten, Feuerwerk und Marathon-Tanzwettbewerb. Aber die Leute gingen nichtmehr in die Lunaparks am Meer, sie gingen lieber in Themenparks, wo derEintritt 75 Dollar kostete und man sich mit einem Riesenpelztier fotografierenlassen konnte.
Eddie hinkte am Autoscooter vorbei und sah eineGruppe Jugendliche, die sich über das Geländer lehnten. Toll, dachte er, dashat mir noch gefehlt.
»Weg da«, sagte Eddie, stieg hinauf und klopfte mit seinem Stock aufs Geländer.
»Bewegt euch. Das ist gefährlich.«
Die Teenies starrten ihn wütend an. Die Stromabnehmer an den Autos knisterten sssip, sssip.
»Das ist gefährlich«, wiederholte Eddie.
Die Teenies schauten sich an. Einer mit einer orangefarbenen Strähne im Haargrinste Eddie herausfordernd an und stieg auf die Mittelstrebe des Geländers.»Hey, ihr Knilche, fahrt mich doch um!«, schrie er undwinkte den jungen Autofahrern zu. »Fahrt m-«
Eddie knallte seinen Stock so fest aufs Geländer, dass er fast zerbrach.»WIRD'S BALD!«
Da hauten sie ab.
Es kursierte noch eine andere Geschichte über Eddie. Als Soldat habe er anzahlreichen Kämpfen teilgenommen, hieß es. Er sei sehr tapfer gewesen. Habesogar einen Orden gekriegt. Aber am Ende habe er gegen einen Kameradengekämpft. Auf diese Weise sei Eddie zu seiner Verwundung gekommen. Was mit demanderen Typen passiert war, wusste niemand.
Und niemand fragte nach.
Eddie, dem noch neunzehn Minuten auf Erden blieben, saß zum letzten Mal ineinem alten Aluminium-Strandstuhl. Seine kurzen, muskulösen Arme lagen gefaltetüber der Brust, wie die Flossen eines Seehunds. Die Beine waren rot von derSonne, und am linken Knie sah man immer noch Narben. Überhaupt ließ EddiesKörper an ein überstandenes Gefecht denken. Zahlreichen, von allerlei Gerätverursachten Brüchen verdankte er es, dass sich seine Finger in aberwitzigenWinkeln krümmten. Die Nase hatte er sich mehrmals gebrochen - bei»Saloonschlägereien«, wie er sagte. Das Gesicht mit dem breiten Kiefer hattewahrscheinlich mal gut ausgesehen, vielleicht wie das eines Preisboxers, bevorer zu viele Schläge eingesteckt hat.
Jetzt sah Eddie nur noch müde aus. Das hier war sein Stammplatz auf derRuby-Pier-Strandpromenade, hinter dem Jackrabbit Ride, wo in den Achtzigerjahren der Thunderboltgestanden hatte, in den Siebzigern der Steel Eel, inden Sechzigern Lillipop Swings, in den Fünfzigern LaffIn The Dark und davor der Stardust-Musikpavillon.
Dort war Eddie Marguerite begegnet.
In jedem Leben gibt es einen Augenblick, der zum Inbegriff der Liebe wird. BeiEddie war es an einem warmen Septemberabend nach einem Gewitter so weit, alsdie Holzplanken auf der Promenade vom Wasser ganz glitschig waren. Sie trug eineinfaches gelbes Baumwollkleid und eine rosa Spange im Haar. Eddie sagte nichtviel. Er war so aufgeregt, dass er das Gefühl hatte, die Zunge klebe ihm am Gaumen. Sie tanzten zur Musik einer Big Band, Long Legs Delaney and his Everglades Orchestra. Er spendierteihr einen Lemon Fizz. Sie sagte, sie müsse jetztgehen, bevor ihre Eltern ärgerlich würden. Doch als sie ging, drehte sie sichum und winkte.
Da war er, der entscheidende Augenblick. Sein Leben lang sah Eddie immer, wenner an Marguerite dachte, dieses Bild vor sich, wie sie über die Schulterzurückwinkte und ihr das dunkle Haar über ein Auge fiel, und er spürte immerdie gleiche explosionsartige Liebe.
An diesem Abend kam er heim und weckte seinen Bruder. Er erzählte ihm, er habedas Mädchen kennen gelernt, das er heiraten werde.
»Geh schlafen, Eddie«, ächzte sein Bruder.
Wschhhhh. Eine Welle brach sich am Strand. Eddiehustete etwas hoch, was er nicht sehen wollte. Er spuckte es aus.
Wschhhhh. Früher hatte er viel an Marguerite gedacht.Jetzt nicht mehr so viel. Sie war wie eine Wunde unter einem alten Verband, under hatte sich mittlerweile an den Verband gewöhnt.
Wschhhhh.
Was war das, eine Gürtelrose?
Wschhhhh.
Noch sechzehn Minuten zu leben.
Keine Geschichte steht für sich allein da. Manchmal berühren sich mehrere amRand, manchmal verdeckt die eine wie Kieselsteine in einem Fluss die andere.
Das Ende von Eddies Geschichte war verknüpft mit einer anderen, scheinbarharmlosen Geschichte, die Monate vorher passiert war, an einem trüben Abend,als ein junger Mann mit drei Freunden zum Ruby Pier kam.
Der junge Mann, er hieß Nicky, hatte gerade erstAutofahren gelernt und war noch nicht gewohnt, einen Schlüsselbund zu tragen.Er zog also den Autoschlüssel ab, steckte ihn in die Jackentasche und band sichanschließend die Jacke um den Bauch.
In den nächsten Stunden fuhren er und seine Freunde mit den rasantestenGeräten: dem Flying Falcon, dem Splashdown,dann auf Freddy's Free Fall und dem Ghoster Coaster.
»Hände in die Luft!«, schrie einer von ihnen.
Sie warfen die Hände hoch.
Später, als es dunkel war, kehrten sie auf den Parkplatz zurück; sie warenerschöpft und lachten und tranken Bier, das sie in braunen Papiertütenmitgebracht hatten. Nicky fasste in seineJackentasche und fischte darin herum. Er fluchte.
Der Schlüssel war weg.
Noch vierzehn Minuten bis zum Tod. Eddie wischte sich die Stirn mit einemTaschentuch. Weit draußen auf dem Wasser des Ozeans tanztenSonnenlichtdiamanten, und Eddie starrte auf das flinke Gehüpfe.Er selbst war seit dem Krieg nicht mehr sicher auf den Beinen.
Doch damals im Stardust-Musikpavillon mit Marguerite- da hatte Eddie sich noch elegant bewegen können. Er schloss die Augen undließ die Erinnerung an den Song zu, der sie zusammengebracht hatte, das Lied,das Judy Garland in diesem Film sang. Es vermischtesich in seinem Kopf mit der Kakophonie aus den sich brechenden Wellen und demGekreisch der Kinder von den Karussells.
»You made me love you-«
Wschhhhh.
»- do it, I didn't want to do i-«
Schischhh.
»- me love you -«
Iiiiiiiiii!
»- Time you knew it, and all the -«
Tschuschhh.
»- knew it...«
Eddiespürte ihre Hände auf seinen Schultern. Er kniff die Augen zusammen, damit dieErinnerung noch näher kam.
Noch zwölf Minuten zu leben.
»Tschuldigung.«
Ein kleines Mädchen, vielleicht acht Jahre alt, stand vor ihm und nahm ihm dieSonne weg. Sie hatte blonde Locken und trug Flip Flops, abgeschnittene Jeansund ein limonengrünes T-Shirt mit einer Comic-Ente vorn drauf. Amy, so hieß siewohl. Amy oder Annie. Sie war häufig hier in diesem Sommer; allerdings sahEddie nie eine Mutter oder einen Vater.
»Tschuldigung«, sagte sie noch mal. »Eddie Wartung?«
Eddie seufzte. »Nur Eddie«, sagte er.
»Eddie?«
»Mh?«
»Kannst du mir...«
Sie legte die Hände zusammen, als würde sie beten.
»Komm, Kleine, ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.«
»Kannst du mir ein Tier machen? Bitte?«
Eddie schaute nach oben, als müsse er darüber nachdenken. Dann griff er inseine Brusttasche und zog drei gelbe Pfeifenreiniger heraus. Denn genau dafürhatte er sie dabei.
»Jaaa!«, rief das kleineMädchen und klatschte in die Hände.
Eddie begann die Pfeifenreiniger zu verbiegen. »Wo sind deine Eltern?«
»Die fahren mit irgendwas.«
»Ohne dich?«
Das Mädchen zuckte die Achseln. »Mama ist mit ihrem Freund unterwegs.«
Eddie verdrehte die Augen.
Er bog die Pfeifenreiniger zu mehreren kleinen Schleifen, dann wand er dieSchleifen umeinander. Seine Hände zitterten inzwischen, deshalb dauerte eslänger als früher, aber bald bekamen die Pfeifenreiniger einen Kopf, Ohren,einen Bauch und einen Schwanz.
»Ein Kaninchen?«, fragte das kleine Mädchen.
Eddie zwinkerte.
»Daaanke!«
Sie sauste davon, vertieft in eine Welt, in der Kinder nicht einmal merken,dass ihre Füße sich bewegen. Eddie wischte sich noch mal über die Stirn, dannschloss er die Augen, sackte in den Strandstuhl und versuchte, den alten Songwieder in den Kopf zu bekommen.
Kreischend flog eine Möwe über ihn hinweg.
Wie wählen Menschen ihre letzten Worte aus? Machen sie sich klar, welchesGewicht sie haben? Müssen sie unbedingt weise sein?
Eddie war jetzt 83, und mittlerweile hatte er fast alle Menschen verloren, dieihm etwas bedeuteten. Manche waren jung gestorben, und manche hatten das Glückgehabt, alt zu werden, bevor eine Krankheit oder ein Unfall sie hinwegraffte.Bei den Beerdigungen hörte Eddie zu, wenn die Trauernden sich an das letzteGespräch mit dem Verstorbenen erinnerten. »Als hätte er gewusst, dass ersterben muss...«, hieß es oft.
Eddie glaubte nicht daran. Er sah die Sache folgendermaßen: Wenn die Zeitgekommen war, war sie eben gekommen, basta. Vielleicht sagte man zum Abschiedetwas Kluges, aber genauso gut konnte es auch etwas Dummes sein.
Nur der Vollständigkeit halber: Eddies letzte Worte sollten lauten: »Zurück!« ( )
©Goldmann Verlag
Übersetzung:Andrea Ott
Mitch Albom begeisterte mit seinen Büchern "Dienstags bei Morrie" und "Die fünf Menschen, die dir im Himmel begegnen" weltweit unzählige Leserinnen und Leser. Seine Bücher wurden in 45 Sprachen übersetzt und waren Nummer-1-Bestseller. Er lebt mit seiner Frau Janine in Detroit.
Ott, Andrea
Andrea Ott, geboren 1949, hat sich als Übersetzerin englischer und amerikanischer Literatur einen Namen gemacht. Für den Manesse Verlag hat sie Meisterwerke u.a. von Jane Austen, Anthony Trollope, Charlotte Bronte, Elizabeth Gaskell, Henry James, Edith Wharton und Upton Sinclair ins Deutsche gebracht.
- Autor: Mitch Albom
- 2005, 220 Seiten, Maße: 11,5 x 18,3 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Übersetzung: Ott, Andrea
- Übersetzer: Andrea Ott
- Verlag: Goldmann
- ISBN-10: 3442460778
- ISBN-13: 9783442460779
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