Die Goldspinnerin
Historischer Roman
Lübeck, 1397: Die Goldspinnerin Cristin Bremer und ihr Mann Lukas führen eine angesehene Werkstatt. Ihre Tochter macht das Glück der beiden perfekt. Doch dann wird Lukas vergiftet und Cristin des Mordes beschuldigt. Nur der Henkerssohn Baldo glaubt an ihre Unschuld.
Leider schon ausverkauft
Buch
4.99 €
Produktdetails
Produktinformationen zu „Die Goldspinnerin “
Lübeck, 1397: Die Goldspinnerin Cristin Bremer und ihr Mann Lukas führen eine angesehene Werkstatt. Ihre Tochter macht das Glück der beiden perfekt. Doch dann wird Lukas vergiftet und Cristin des Mordes beschuldigt. Nur der Henkerssohn Baldo glaubt an ihre Unschuld.
Klappentext zu „Die Goldspinnerin “
Lübeck, anno 1397. Die Goldspinnerin Cristin Bremer führt mit ihrem Mann Lukas eine angesehene Werkstatt in der florierenden Hansestadt. Mit der Geburt ihrer ersten Tochter scheint das Glück des Ehepaars perfekt. Doch kurz darauf wird Lukas vergiftet und die junge Mutter von ihrer eigenen Schwägerin des Mordes und der Hexerei beschuldigt und dem Henker übergeben. Nur dessen Sohn Baldo glaubt an ihre Unschuld. Gemeinsam fliehen sie aus der Stadt, doch nichts wird Cristin daran hindern heimzukehren, um die hinterlistigen Mörder ihres Mannes zu überführen und ihre Tochter wiederzufinden Eine opulente Geschichte um Macht und Glauben, Gier und Verrat, Liebe und Treue.
Süffig, spannend, farbenprächtig!
Lübeck, anno 1397. Die Goldspinnerin Cristin Bremer führt mit ihrem Mann Lukas eine angesehene Werkstatt in der florierenden Hansestadt. Mit der Geburt ihrer ersten Tochter scheint das Glück des Ehepaars perfekt. Doch kurz darauf wird Lukas vergiftet und die junge Mutter von ihrer eigenen Schwägerin des Mordes und der Hexerei beschuldigt - und dem Henker übergeben. Nur dessen Sohn Baldo glaubt an ihre Unschuld. Gemeinsam fliehen sie aus der Stadt, doch nichts wird Cristin daran hindern heimzukehren, um die hinterlistigen Mörder ihres Mannes zu überführen und ihre Tochter wiederzufinden ...
Eine opulente Geschichte um Macht und Glauben, Gier und Verrat, Liebe und Treue.
Lübeck, anno 1397. Die Goldspinnerin Cristin Bremer führt mit ihrem Mann Lukas eine angesehene Werkstatt in der florierenden Hansestadt. Mit der Geburt ihrer ersten Tochter scheint das Glück des Ehepaars perfekt. Doch kurz darauf wird Lukas vergiftet und die junge Mutter von ihrer eigenen Schwägerin des Mordes und der Hexerei beschuldigt - und dem Henker übergeben. Nur dessen Sohn Baldo glaubt an ihre Unschuld. Gemeinsam fliehen sie aus der Stadt, doch nichts wird Cristin daran hindern heimzukehren, um die hinterlistigen Mörder ihres Mannes zu überführen und ihre Tochter wiederzufinden ...
Eine opulente Geschichte um Macht und Glauben, Gier und Verrat, Liebe und Treue.
Lese-Probe zu „Die Goldspinnerin “
Warum sie sich an diesem Tage mit der Menge treiben ließ, Cristin würde es später nicht mehr sagen können. Vermutlich hatte Neugierde sie dazu getrieben, Prozession durch die engen Gassen zwischen den Kaufmannshäusern aus rotem Backstein zu folgen, vorbei an St. Jakobi, am Heiligen-Geist-Hospital und an der Gropengrove, den schmalen Gängen zwischen unzähligen Holzhütten und Buden, in denen die Armen, Bettler und Krüppel der stolzen Hansestadt hausten. Thaddäus Büttenwart, der wohlbeleibte Lübecker Richteherr, dem der linke Unterarm fehlte, ein halbes Dutzend Ratsmitglieder und ein Priester in dunklem Habit führten den Zug an, gefolgt von zahlreichen Männern, Frauen und Kindern. Begleitet von frommen Gesängen, wurde sie durch das Burgtor hinausgeschubst und -geschoben. Unweit des Friedhofes, auf dem die Opfer der großen Pest begraben worden waren, und der brachliegenden Äcker, die sich vor der Stadtmauer erstreckten, entdeckte sie einen Hügel, über dem die Morgennebel noch wie von Licht durchdrungene Schleier hingen - der Köpfelberg. Cristin wusste, was dort von Zeit zu Zeit geschah. Als würde ein unsichtbares Band sie mit all den anderen verbinden, die der Richtstätte zustrebten, ging sie weiter, bis sie schließlich am Fuß des lehmigen Hügels zum Stehen kam und sich in den Kreis aus Leibern einreihte, der die Anhöhe in freudiger Erwartung umgab.Zwei Männer hielten einen Burschen von vielleicht fünfzehn, sechzehn Lenzen fest umklammert. Kreidebleich und mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die johlende Menge. Gaben die Beine unter ihm nach? Fast schien es so, denn die beiden Männer, die den Burschen festhielten, zogen ihn ein Stück in die Höhe. Der ältere trug einen knöchellangen Mantel aus grobem, dunklem Stoff. Sein Kopf war unter einer Kapuze verborgen, doch Cristin konnte einige lange, dunkle Haarsträhnen ausmachen, die daraus hervorlugten. Der barhäuptige Gehilfe des Mannes mochte ungefähr in ihrem Alter sein. Das hellbraune Haar hing ihm fast bis auf
... mehr
die Schultern. Sein einfacher Leibrock war knielang.
"Jakob Tieme, du hast dich des schweren Kirchendiebstahls in St. Marien schuldig gemacht", hörte sie den Richteherrn sagen. "Dafür wurdest du zum Tod durch das Rad verurteilt. Dieses Urteil wird heute am 2. August 1396 des Herrn vollstreckt!"
Cristin bekreuzigte sich. Das Rad! Sie hatte davon reden hören. Jede Art, einen Menschen hinzurichten, war schrecklich, aber zwischen zwei Wagenrädern zerquetscht zu werden, bis buchstäblich jeder Knochen im Leib gebrochen war ... Sie sah sich um. Immer mehr Menschen drängten sich auf dem Köpfelberg, um dem grausigen Schauspiel beizuwohnen, Bettler und Hübschlerinnen ebenso wie Ratsmitglieder und einfache Bürger mit ihren Kindern. Cristin spürte, wie sich die feinen Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten. Mit ihren neunzehn Lenzen war sie eine vernünftige, verheiratete Frau und wusste, was recht war und was nicht. Dies hier war grausam! Sie suchte eine Möglichkeit umzukehren. Doch die Menge schob sich näher heran.
"Vollstreckt endlich das Urteil!", rief ein Mann. Gleich einer Welle übertrug sich sein Ruf von einem Zuschauer auf den nächsten, wurde immer lauter und fordernder.
"Ja, Henker - töte ihn!"
Ein dicklicher Mann mit teigiger Haut in dunklem Talar trat neben den Delinquenten. "Willst du noch ein letztes Gebet sprechen, Sünder? Willst du Buße tun, ehe du vor deinen Schöpfer trittst?"
Der Junge wimmerte. "Bitte, habt doch Erbarmen ...", konnte Cristin ihn flüstern hören. Dann - alle sahen es - verfärbte sich seine Bruche, und Urin lief in einem feinen Rinnsal an den dünnen, nackten Beinen hinab. Eine Frau - dem schwarzen Band an ihrer hellen Mütze nach eine Hure - lachte grell, ein paar alte Vetteln fielen ein. Cristin schloss die Augen.
"Er hat sich eingepisst", rief ein rotznäsiger Junge neben ihr, aber seine Mutter versetzte ihm einen Klaps in den Nacken. "Still! Er weiß, sein letztes Stündlein hat geschlagen!"
"Emmerik", brüllte ein zahnloser Kerl neben Cristin, "fang endlich an!"
Der Mann mit der Kapuze und sein junger Gehilfe zerrten Jakob Tieme zu den beiden Wagenrädern, die am Rande des Hügels lagen. Sie drückten den Jungen auf eines der Räder und banden ihn mit geübten Handgriffen daran fest. Der größere der beiden Männer bückte sich, griff nach dem zweiten Wagenrad und hob es in die Höhe, damit ein jeder es gut sehen konnte. Im nächsten Moment ließ er es mit Wucht auf die Unterschenkel des Jungen krachen.
Deutlich war das Geräusch der berstenden Knochen zu hören. Der Schmerzensschrei des Jungen gellte Cristin in den Ohren. Sie wollte fortlaufen und konnte sich doch nicht bewegen, fast so, als hielte ein böser Zauber sie an diesem Ort des Grauens fest. Wieder hob der Henker das Wagenrad hoch über seinen Kopf, abermals sauste es hinab, traf diesmal die gespreizten Oberschenkel des Jungen. Jakob Tieme brüllte auf wie ein wildes Tier. Einen kurzen Moment lang sah Cristin vor ihrem inneren Auge die zermalmten Knochen und die gequetschten Muskeln vor sich. Nur mit Gewalt konnte sie das grauenvolle Bild abschütteln.
"Mach ein Ende, Henker!", schrie ein Mann, während der gestreckte Körper des Jungen sich aufbäumte. Blutiger Schaum trat zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Rad sauste hernieder, traf seinen schmalen Brustkorb, brach ihm mehrere Rippen.
Der Priester schaute zu den Männern und Frauen, die ihre Kinder an sich drückten, und hob die Hände. "So ergeht es allen, die es wagen, Gott zu bestehlen!"
Cristins Blick fiel auf den Gehilfen des Henkers. Er war ein paar Schritte zur Seite getreten und wandte sich ab.
Plötzlich war die Stimme des Verurteilten zu hören, verhalten zwar, und doch deutlich zu verstehen. "Verrecken sollt ihr allesamt!"
Dann brach ihm das Wagenrad den Schädel und ließ ihn für immer verstummen. Ruckartig fuhr Cristin herum, kämpfte sich den Weg frei, stolperte den Hügel hinab und erbrach sich.
2 ie Augustsonne warf gleißende Lichtpunkte auf die gezackten Giebel und Fenster der hoch aufragenden Häuser und Kirchen der Stadt. Cristin passierte das Burgtor, ein frischer Wind bauschte den dünnen Surcot über ihrer Tunika, als sie am Dominikanerkloster vorbeilief. Über die uralten Mauern drang das Geräusch von Sägen und Hämmern an ihre Ohren. Hatte es überhaupt einmal eine Zeit gegeben, in der hier nicht gebaut wurde? Jäh überfiel sie ein erneuter Würgreiz. Wäre sie doch nur nicht den Menschen gefolgt! Sie lehnte sich gegen eine hohe Mauer aus abgebröckelten, verwitterten Ziegelsteinen, die die Hütten der Armen - Dirnen, Bettler und Wakenitzschiffer - vom ehrbaren Teil der Stadt trennte. Cristin schob eine Hand in die weite Ärmelöffnung ihres Surcots und presste sie auf ihren Magen. Der Verurteilte war doch fast noch ein Kind gewesen! Seine Schreie hallten noch in ihr nach. Von weit her hörte sie die Rufe eines Bäckers, der seine Waren lautstark feilbot. Eine Schar Kinder tobte, eine Katze jagend, an ihr vorbei.
"Ist Euch nicht gut?" Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
Cristin sah geradewegs in das runde Gesicht einer älteren Frau mit einem Brokathut auf dem Kopf. "Es geht schon wieder, danke." Sie griff nach dem Rosenkranz, den sie stets an ihrem Gürtel bei sich trug.
"Wart Ihr auch auf dem Köpfelberg?", fragte die Frau. Kaum verhohlene Neugier klang aus ihrer Stimme.
"Ja", erwiderte Cristin und raffte ihr langes Obergewand. "Ich muss weiter. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet?"
"Diese Brut ist jedenfalls ausgelöscht! Wo kommen wir denn hin, wenn wir zulassen würden, dass die Schätze unseres Herrn geraubt werden!"
Wortlos wandte Cristin sich ab. Sie fröstelte plötzlich trotz der warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Schon von Weitem erkannte sie die füllige Gestalt von Minna, einer ihrer Spinnerinnen, die vor der Tür der Werkstatt nicht weit vom Ufer der Wakenitz stand und ihr zuwinkte. Cristin versuchte ein Lächeln.
"Ihr wart lange fort. Habt Ihr alles erledigen können?"
"Was sagst du?" Cristin nestelte an ihrer Haube herum. Eigentlich hatte sie Stoff bestellen wollen, denn ihre Kleider wurden allmählich eng. Nicht mehr lange, und jeder würde sehen können, dass sie ein Kind erwartete. "Nein, Minna. Ich bin unterwegs aufgehalten worden", gab sie zerstreut zurück und betrat die Goldspinnerei, die sie mit ihrem fünfzehn Lenze älteren Ehemann Lukas führte. Wie lange hatten sie auf dieses Kind warten müssen! Sie waren beinahe vier Winter verheiratet, und insgeheim hatte Cristin sich so manches Mal gefragt, ob der Samen ihres Mannes nicht schon zu verbraucht war, um ein Kind zeugen zu können. Umso glücklicher waren sie gewesen, als ihre Monatsblutung endlich ausgeblieben war.
Lukas lächelte. Als sie jedoch näher trat, kniff er die Augen zusammen. "Du bist bleich, mein Lieb! Quält dich die Übelkeit wieder?"
Cristin sank schwer auf einen der Stühle, die für Kunden vorgesehen waren. Da sie allein waren, band sie ihre Haube ab und löste den Zopf. Sie nickte. "Ich war auf dem Köpfelberg. Sie ... sie haben dort einen ...", brach sie ab.
Seine Stirn umwölkte sich, sein Blick wurde düster. "Du warst an der Richtstätte?"
Cristin senkte den Kopf. "Ein Junge wurde getötet, Lukas. Zwischen Wagenrädern zermalmt. Er soll Kirchendiebstahl begangen haben." Sie erhob sich, trat ans Fenster und betrachtete den hübschen kleinen Kräutergarten, den sie vergangenes Jahr im Hinterhof angelegt hatte. "Es war furchtbar."
"Schickt es sich für das Weib eines anständigen und angesehenen Geschäftsmannes, einer Hinrichtung beizuwohnen? Hast du es nötig, dich zu diesen Gaffern zu gesellen? Lukas Bremers Frau hat dort nichts zu suchen!" Sie drehte sich um. Lukas' Miene war ernst, während seine blauen Augen über ihre schlanke Gestalt wanderten. "Noch dazu in deinem Zustand."
Cristin zuckte unter seinem Tonfall zusammen. "Sei nicht böse, Lieber."
Sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und schaute zu ihrem hochgewachsenen Mann auf, der in seinem taillierten Wams über dem bestickten Hemd und den engen Hosen ausgesprochen gut aussah. Seine dunkelbraunen Haare waren noch immer voll. Doch am meisten liebte sie sein Lächeln, wenn sich die vielen Fältchen um seine Augen vertieften.
"Sie haben ihm jeden Knochen einzeln gebrochen. Wie der Arme geschrien hat! Das ist einfach nicht recht!" Cristin erhob sich erregt. "Fünfzehn Lenze, kaum mehr, Lukas! Bestimmt konnte der Junge die Folgen dieses Diebstahls gar nicht ermessen. Wer fragt danach, warum er das getan hat?" Sie trat auf ihren Mann zu. "Vielleicht hat er einen Kerzenleuchter vom Marienaltar gestohlen, in der Hoffnung, davon Medizin für einen kranken Verwandten kaufen zu können?"
"Schweig, Frau!", fiel er ihr ins Wort. "Es steht dir nicht zu, die Handlungsweise unserer Richteherren zu kritisieren! Zügle deine Zunge! Wenn dich jemand reden hört, stehst du bald am Pranger!"
Sie stemmte die Hände in die Hüften. "Du kannst erwarten, dass ich mich außerhalb unseres Heimes zurückhalte.
Niemals würde ich dir in Gegenwart anderer widersprechen. Aber hier, in unseren eigenen vier Wänden, lasse ich mir nicht den Mund verbieten!"
Lukas Bremer schüttelte den Kopf. Ein feines Lächeln umspielte jetzt die schmalen Lippen. "Darum geht es nicht, Cristin. Ich möchte einfach nicht, dass dich dein vorlautes Mundwerk irgendwann einmal in Schwierigkeiten bringt!" Vermutlich war seine Frau einfach noch zu jung, um zu verstehen, wie gefährlich ihr Verhalten werden konnte. Und er liebte sie viel zu sehr, um ihr jemals ernsthaft böse sein zu können. "Ich weiß, dass du dir nicht den Mund verbieten lässt. Doch denke bitte daran, in einigen Monaten trägst du die Verantwortung für unser Kind. Vergiss das nicht!"
Mit ausgestreckten Armen ging Lukas auf sie zu und zog sie an sich. "Geh nie wieder zum Köpfelberg. Dieser Ort ist nichts für dich. Versprichst du mir das?" Cristin lehnte ihren Kopf an seine Brust und genoss die Vertrautheit des Augenblicks. Voller Zuneigung blickte sie zu ihm auf. Ihre Eltern hatten mit Lukas eine gute Wahl getroffen. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen Ehemann bekommen zu haben, der sie aufrichtig liebte. Cristin wusste, dass es mittlerweile in der Stadt möglich war, den Ehemann selbst zu wählen. Doch obwohl sie Lukas vorher kaum gekannt hatte, hatte sie auf den weisen Ratschlag der Eltern vertraut und in die Ehe eingewilligt. Und sie war glücklich mit ihm. Johann und Gesche Weber waren bereits vor einiger Zeit verstorben. Sie waren schon älter gewesen, als Cristin geboren worden war. Wenn sie später danach gefragt hatte, warum sie keine Geschwister bekam, hatte ihre Mutter stets erklärt, Gott hätte es so gewollt, dass sie ihr einziges Kind blieb. Auch jetzt noch vermisste sie ihre weisen und liebevollen Eltern. Doch nun hatte sie Lukas.
Sie strich ihm über die hohe Stirn, woraufhin er lächelte und sich zu ihr herunterbeugte. Ihre Lippen trafen sich zu einem zärtlichen Kuss. In diesem Moment hörte Cristin eine fremde Stimme in der Werkstatt. "Bis später, Lukas. Wir haben Kundschaft."
Eilig zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und legte die wenigen Schritte bis zur Goldspinnerei zurück. Ein gut gekleideter, untersetzter Mann, dessen schulterlange Haare sich bereits am Ansatz lichteten, stand mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen vor ihr. "Herr Bräunling. Wie nett, Euch zu sehen", begrüßte sie ihn und fragte sich im Stillen, was der Knochenhauer, der es in seiner Gilde zu Ansehen gebracht hatte, wohl von ihr wünschte. "Was kann ich für Euch tun?"
Der Mann, dessen Oberlippe durch eine breite Spalte verunstaltet wurde, lächelte. "Euer Anblick verschönert meinen Tag", erwiderte er nuschelnd. Seine Augen ruhten anerkennend auf ihrer Gestalt. "Ist Euer Gatte im Haus?"
"Selbstverständlich, Herr Bräunling. Nur ist er sehr beschäftigt. Kann ich Euch weiterhelfen?"
"Nun, es verhält sich so, werte Frau Bremer: Mein Bruder ist der Abt des Franziskanerklosters. Das wisst Ihr doch sicher?"
"Bruder Paulus, ja, ich weiß, Herr Bräunling."
Er beugte sich vertraulich zu ihr herüber. "Mit Eurem Gemahl wurde abgesprochen, dass ich sein Gewand abholen darf."
Sein intensiv nach Wein riechender Atem streifte Cristins Wange. Sie hatte von Lukas gehört, wie oft er den Knochenhauer schon am frühen Morgen in eine Schänke hatte gehen sehen.
Cristin räusperte sich. "Aber gern. Dann wartet einen Moment. Ich hole es Euch rasch."
Sie wandte sich ab und ging in den Nebenraum, in dem sie neben Garnen und Stoffen auch die fertigen Waren aufbewahrten. Kurze Zeit später kam sie mit einem Bündel zurück und reichte es ihm. Ihre Finger berührten sich, und sie zuckte zusammen. Ein Blitz schien in ihren Körper gefahren zu sein, Feuerzungen durch ihren Leib zu kriechen. Cristin schnappte nach Luft, spürte Schweiß aus allen Poren treten. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen wich sie vor ihm zurück.
"Was ist denn los?", fragte Herr Bräunling irritiert. "Warum starrt Ihr mich so an?" Er lachte ein wenig gekünstelt. "Oder ist mir eine Warze im Gesicht gewachsen?"
"Nein", stammelte sie, "natürlich nicht. Ich ... ich fühle mich nicht wohl. Entschuldigt." Sie rannte aus der Werkstatt, ohne auf die verblüfften Gesichter der Arbeiterinnen zu achten.
Nachdem sie die Holztreppe zu ihrer geräumigen Wohnung hinaufgestolpert war, warf sie sich auf das Ehebett. Cristin bebte am ganzen Körper. Was, im Namen Gottes, hatte das zu bedeuten gehabt? Dieser furchtbare Schrecken, als sie die Hand des Kunden ergriffen hatte. Der Eindruck von alles vernichtender Hitze. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Sie hatte den Schmerz just in dem Moment erlebt, als ihre Hände sich berührten. In seinem Leib musste eine Krankheit wüten, von der er nichts ahnte. Ganz deutlich hatte sie empfunden, wie üble Säfte begannen, sich durch seinen Körper zu fressen. War er krank? Er musste krank sein. Der Hals wurde ihr eng. Könnte sie den guten Mann nur warnen und ihm anraten, einen Medicus aufzusuchen. Doch das durfte sie nicht. Wer sollte ihr schon glauben? Cristin biss sich auf die Lippen. War es wieder einer jener geheimnisvollen Momente, in denen sie körperlich empfinden konnte, wenn anderen Menschen eine Krankheit oder ein Unheil drohte? Mochte Gott geben, dass sie sich irrte! Gewiss gab es eine andere Erklärung für dieses Gefühl, und sie hatte sich diese Empfindungen nur eingebildet. Und wenn nicht? Könnte ich nur meine Hände auf ihn legen, um seine Krankheit zu lindern, dachte sie seufzend.
Cristin wanderte weiter zu den Erinnerungen in den Tagen ihrer Kindheit zurück. Warum passierte ihr das? Wieso nur? Vor vielen Jahren, sie war neun oder zehn Lenze alt gewesen, erinnerte sie sich, da hatte sie etwas Ähnliches erlebt - und ebenfalls aus Angst, als Hexe beschimpft zu werden, geschwiegen. Dabei verstand Cristin selbst am wenigsten, was mit ihr geschah! Oder der Moment, in dem sie das erste Mal gespürt hatte, dass etwas an ihr anders, ja fast unheimlich war. Grede, eine Freundin, war beim Spielen einfach zusammengesackt. Sie erinnerte sich noch lebhaft an den Augenblick, als sie tröstend den Bauch des Mädchens berührt hatte. Während sie sich erkundigte, ob der Freundin etwas zugestoßen sei, hatte ihre Hand plötzlich zu zittern begonnen. Es war wie ein Sog, der ihre Haut kribbeln ließ. Sie erschrak, wollte sich abwenden.
"Es tut nicht mehr weh, Cristin." Das Mädchen hatte sie verblüfft angestarrt. Einen Moment später war Grede aufgestanden und hatte weitergespielt, so als wäre nichts geschehen.
Sie waren beide zu jung gewesen, um sich weiter Gedanken darüber zu machen. Seither passierte es immer wieder, dass Menschen, denen sie die Hand auflegte, wieder gesund wurden. Das Schlimmste jedoch war, sich niemandem anvertrauen zu können. Die Zeit verging. Je älter sie wurde, desto beängstigender erschien ihr das Ganze. Der einzige Trost in jenen einsamen Zeiten, als sie noch ein Kind und voller Fragen gewesen war, auf die niemand eine Antwort gewusst hätte, war ihr unsichtbarer Gefährte gewesen, mit dem sie stets gesprochen und gespielt und dem sie alles anvertraut hatte. Cristin hatte ihn nur Freund genannt, denn sie kannte seinen Namen nicht. Er war ungefähr in ihrem Alter gewesen, seine Haare eher von der Farbe reifen Korns und von größerer Gestalt als sie. In seinem Gesicht spiegelte sich der Schalk wider. Am meisten hatte sie aber seine Stimme geliebt, tiefer und rauchiger als ihre und stets etwas atemlos. Meist kam er zu ihr, wenn sie allein oder im Spiel versunken war, und setzte sich zu ihr. Gemeinsam hatten sie sich Geschichten von tapferen Rittern und schönen Jungfrauen ausgedacht, die gerettet werden mussten. Dann wurde ihr Herz leichter, und sie vergaß ihre bösen Träume von Hexen und Dämonen, die sie schreckten und bis in den Tag verfolgten.
Oft hatte sie sich gewünscht, dieser Junge könnte bei ihr bleiben und würde sich nicht plötzlich nach dem Spiel wieder in Luft auflösen. Manchmal hatte ihre Mutter sie dabei erwischt, wenn sie mit ihm gesprochen oder gelacht hatte, und ihr mit ernster Miene immer wieder versichert, diesen Spielgefährten bildete sie sich nur ein. Aber für Cristin, kaum acht Lenze alt, war der Freund so wahr und echt gewesen wie der Erdboden unter ihren Füßen und die nächtlichen Sterne am Himmel.
Cristin lächelte, als die Bilder aus der Vergangenheit in ihr verblassten. Ihr unsichtbarer Freund erschien ihr nun, da sie erwachsen war und selbst bald Mutter sein würde, wie das kostbarste Geschenk ihrer Kindheit. Später dann, als sie älter und verständiger war, hatte sie erkannt, dass der Junge tatsächlich ihrer Fantasie entsprungen sein musste, denn als sie allmählich zu einer Frau heranreifte, kam er nicht mehr. Seither waren es lediglich wenige Träume, in denen sie meinte, die Wärme einer anderen vertrauten Person neben sich ausmachen zu können. Doch auch dies war gewiss nur eine Wunschvorstellung und hatte mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen. Immer wenn sie an diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt war, überfiel sie ein Ziehen in der Herzgegend. Die Trauer darüber, den Gefährten verloren zu haben, konnte sie auch in diesem Augenblick noch spüren.
3 inna und die junge Mirke waren nach einem langen Arbeitstag damit beschäftigt, die Werkstatt aufzuräumen. Cristin beobachtete das blonde, zierliche Mädchen mit dem runden Gesicht aus den Augenwinkeln. Die noch ein wenig schüchtern und unsicher wirkende Mirke war erst kurze Zeit bei ihnen und gab sich redlich Mühe, den Anforderungen ihres Herrn gerecht zu werden. Allerdings war sie ungewöhnlich geschickt, wenn es darum ging, besonders gleichmäßiges Garn zu spinnen. Cristin nickte dem Mädchen In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und ein schlanker Mann betrat die Werkstatt. Seine blonden, halblangen Haare waren von einem flachen Filzhut bedeckt, den eine Brosche zierte, die gut und gerne einen halben Gulden gekostet haben mochte. Er lächelte. "Gott zum Gruße, verehrte Damen."
"Gott zum Gruße, Lynhard", begrüßte Cristin ihren Schwager höflich. "Was führt dich zu dieser späten Stunde noch hierher?"
Lynhard Bremer schloss die Tür und musterte seine Schwägerin wohlwollend. Seine blauen Augen funkelten. "Ich wünsche Lukas zu sprechen. Ist er hier?"
Cristin nickte in Richtung der kleinen Schreibstube. "Er ist in der Dornse. Geh nur hinein."
Sein Blick suchte kurz den ihren, doch sie wich ihm aus. Es war ihr stets unangenehm, wenn er sie auf diese Weise betrachtete. Obwohl er mit seinem formvollendeten Auftreten und dem charmanten Lächeln sicher das Herz so mancher jungen Frau höher schlagen ließ, konnte sie sich einer gewissen Abneigung gegenüber Lynhard nicht erwehren. Seinem Wesen fehlten die Wärme und der Humor, die sie an Lukas so liebte. Sie sah ihm nach, wie er mit eleganten Bewegungen die Werkstatt verließ, wobei ihr Mirkes träumerischer Ausdruck nicht entging. Kopfschüttelnd machte sie sich wieder an die Arbeit.
Nachdem sie die Goldspinnerei abgesperrt hatte und die Lohnarbeiter gegangen waren, machte Cristin sich an die Zubereitung des Abendessens. Wenig später saß sie mit Lukas am Tisch. Beide genossen diese ruhigen Momente, in denen sie Muße hatten, ungestört miteinander plaudern zu können. Sie trug ein dunkelgrünes Untergewand mit einem hellen Surcot darüber, denn Cristin wusste, wie gut die Farben zu ihrem Haar und der hellen Haut passten. Seine Augen wanderten über ihre Gestalt. Sie lächelte und hob ihren Becher, er tat es ihr gleich. Lukas begann, seinen Teller mit Suppe zu füllen. Um ihm eine Freude zu bereiten, hatte sie den Tisch liebevoll mit Blumen aus ihrem Garten dekoriert. Eine Kerze in einem bronzenen Leuchter verbreitete den süßen Duft von Honig.
"Wir werden eine zusätzliche Lohnarbeiterin einstellen müssen", eröffnete Lukas das Gespräch. "Ich habe heute vom Richteherrn Büttenwart einen Auftrag bekommen, für ihn und seine Familie neue Gewänder anzufertigen. Eine schöne Schecke und Beinlinge für ihn und je einen Surcot für seine Frau und die zwei Töchter. Außerdem ein Hochzeitsgewand für Magdalena, seine Älteste. Sie wird im kommenden Sommer heiraten."
"Ist gut. Ich werde mich nach einer fähigen Spinnerin umsehen." Cristin blickte aus dem Fenster. Die Blätter der Ahornbäume leuchteten im letzten Licht der Augustsonne in ersten Rot- und Goldtönen. Rot wie Blut. Wieder sah sie den jungen Kirchendieb vor sich, den Büttenwart zum Tode verurteilt hatte. Der Richteherr, der nun die Hochzeit seiner Tochter feiern wollte. Einen Moment lang wurde ihr die Kehle eng. Gewaltsam musste sie die Erinnerung an das grausame Geschehen auf dem Köpfelberg abschütteln.
Lukas bedachte seine Frau mit einem nachdenklichen Blick. "Außerdem solltest du nicht mehr so hart arbeiten, Cristin."
Sie tunkte ihren Löffel in die Suppe. "Aber Lukas, was soll ich denn den lieben langen Tag anfangen, wenn ich nicht mehr arbeite? Es geht mir doch gut."
Der Kaufmann tätschelte ihr die Hand. "Warum triffst du dich nicht öfter mit Mechthild? Sie wäre bestimmt über deine Gesellschaft erfreut."
Cristin rollte mit den Augen. "Mechthild redet doch von nichts anderem als von ihren Kindern. Sie ist ja eine nette Person, zugegeben, aber auch", sie verzog das Gesicht, "todlangweilig!"
Lukas hob die Mundwinkel. "Auch du wirst bald Mutter sein."
"Ja, Lukas." Sie griff nach einem Mundtuch, wischte sich über die Lippen und wechselte das Thema. "Ich bin jung und möchte noch so vieles lernen! Natürlich werde ich unseren Kindern eine gute Mutter sein. Aber das reicht mir nicht."
Lukas runzelte die Stirn. "Was denn noch, Cristin? Du bist eine hübsche Kaufmannsfrau und hast alles, was dein Herz begehrt, oder etwa nicht?"
"Ja, Liebling. Trotzdem gibt es da etwas, das ich gerne ..."
"Was ist es?"
Erregung erfasste sie. "Lehre mich das Lesen, Liebster!"
Lukas' Brauen schossen in die Höhe. "Lesen? Was sind das wieder für Hirngespinste, die in deinem Kopf herumspuken? Du weißt genau, dass es sich für eine Frau nicht schickt, das Lesen zu erlernen."
Cristins Wangen röteten sich, doch ihre Stimme wurde einschmeichelnd. "Ach, Lukas. Niemand muss etwas davon erfahren."
Er erhob sich, schob den Stuhl zurück und trat neben sie. "Was sollen die Leute von uns denken, Cristin? Nein, das kommt nicht in Frage."
Sie strich ihm zart über die Hand. "Denk nur mal, wie sinnvoll ich die Zeit bis zur Geburt verbringen könnte, wenn ich nicht mehr arbeite! Außerdem könnte ich dir später viel besser ."
"... bei den Geschäften helfen?", beendete er ihren Satz.
"Ja, auch das. Aber darum geht es mir gar nicht, du führst das Geschäft vorzüglich."
Kopfschüttelnd wandte er sich ab, doch Cristin war nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Sie stand ebenfalls auf, schlang ihm von hinten die Arme um den Nacken und schmiegte sich an seine Wange. Den wahren Grund, warum sie lesen lernen wollte, verschwieg sie: Möglicherweise könnte sie mehr über die Heilkunst erfahren. Endlich könnte sie auch herausfinden, was es mit ihrer eigenartigen Gabe auf sich hatte. Ob es noch mehr Menschen wie sie gab, die imstande waren, Dinge zu erspüren, durch bloßes Handauflegen Schmerzen zu lindern oder Krankheiten zu heilen. Seit dem beunruhigenden Erlebnis von vor einigen Tagen, als sie plötzlich diese sengende Hitze bei dem Händeschütteln mit Herrn Bräunling verspürt hatte, ließen diese Gedanken sie nicht mehr los. Sie musste wissen, was das alles bedeutete!
"Ach, Lukas. Was kann es schon schaden, wenn du deiner Frau etwas beibringst?", bat sie noch einmal. "Nur zu meinem Vergnügen."Lukas rang sichtlich mit sich. "Bitte. Sag ja, Liebster!"
Er drehte sich um und zog sie an sich. "Gut", lenkte er widerstrebend ein und sah ihr in die Augen. "Ich werde dir ein paar meiner Pergamente geben. Aber nur unter einer Bedingung - du darfst niemals etwas davon verlauten lassen. Gegenüber niemandem, hörst du?"
Cristin nickte, auch wenn sie dieses ungeschriebene Gesetz nicht verstehen konnte. Warum nur war es den Frauen nicht erlaubt, sich zu bilden? Wahrscheinlich ist es den Männern nicht recht, wenn die Frauen ihren Verstand benutzen, überlegte sie zynisch, hütete sich jedoch, diesen Gedanken laut auszusprechen, um sich nicht eine weitere Rüge ihres Mannes einzuhandeln. "Ich verspreche es, Lukas. Danke", rief sie und umarmte ihn stürmisch, bis er lachend protestierte.
"Was hat Lynhard eigentlich von dir gewollt?", fragte Cris- tin eine Weile später, als sie zur Ruhe gehen wollten.
Lukas machte eine wegwerfende Handbewegung. "Nichts Besonderes, rein geschäftlich", murmelte er und griff nach einer Bürste.
Doch Cristin bemerkte, wie seine Miene sich schlagartig verfinsterte. Wahrscheinlich hatten die Brüder wieder gestritten. Das geschah öfter, und dann waren ihre aufgebrachten Stimmen bis in die Werkstatt zu hören. Cristin ärgerte es, dass Lukas sie nicht in alle Dinge einbezog. Schließlich war sie seine Frau und wissbegierig bei allem, was das Geschäft betraf. Sie hütete sich jedoch, weiter in ihn zu dringen. Lukas konnte dann sehr ungehalten werden.
"Jakob Tieme, du hast dich des schweren Kirchendiebstahls in St. Marien schuldig gemacht", hörte sie den Richteherrn sagen. "Dafür wurdest du zum Tod durch das Rad verurteilt. Dieses Urteil wird heute am 2. August 1396 des Herrn vollstreckt!"
Cristin bekreuzigte sich. Das Rad! Sie hatte davon reden hören. Jede Art, einen Menschen hinzurichten, war schrecklich, aber zwischen zwei Wagenrädern zerquetscht zu werden, bis buchstäblich jeder Knochen im Leib gebrochen war ... Sie sah sich um. Immer mehr Menschen drängten sich auf dem Köpfelberg, um dem grausigen Schauspiel beizuwohnen, Bettler und Hübschlerinnen ebenso wie Ratsmitglieder und einfache Bürger mit ihren Kindern. Cristin spürte, wie sich die feinen Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten. Mit ihren neunzehn Lenzen war sie eine vernünftige, verheiratete Frau und wusste, was recht war und was nicht. Dies hier war grausam! Sie suchte eine Möglichkeit umzukehren. Doch die Menge schob sich näher heran.
"Vollstreckt endlich das Urteil!", rief ein Mann. Gleich einer Welle übertrug sich sein Ruf von einem Zuschauer auf den nächsten, wurde immer lauter und fordernder.
"Ja, Henker - töte ihn!"
Ein dicklicher Mann mit teigiger Haut in dunklem Talar trat neben den Delinquenten. "Willst du noch ein letztes Gebet sprechen, Sünder? Willst du Buße tun, ehe du vor deinen Schöpfer trittst?"
Der Junge wimmerte. "Bitte, habt doch Erbarmen ...", konnte Cristin ihn flüstern hören. Dann - alle sahen es - verfärbte sich seine Bruche, und Urin lief in einem feinen Rinnsal an den dünnen, nackten Beinen hinab. Eine Frau - dem schwarzen Band an ihrer hellen Mütze nach eine Hure - lachte grell, ein paar alte Vetteln fielen ein. Cristin schloss die Augen.
"Er hat sich eingepisst", rief ein rotznäsiger Junge neben ihr, aber seine Mutter versetzte ihm einen Klaps in den Nacken. "Still! Er weiß, sein letztes Stündlein hat geschlagen!"
"Emmerik", brüllte ein zahnloser Kerl neben Cristin, "fang endlich an!"
Der Mann mit der Kapuze und sein junger Gehilfe zerrten Jakob Tieme zu den beiden Wagenrädern, die am Rande des Hügels lagen. Sie drückten den Jungen auf eines der Räder und banden ihn mit geübten Handgriffen daran fest. Der größere der beiden Männer bückte sich, griff nach dem zweiten Wagenrad und hob es in die Höhe, damit ein jeder es gut sehen konnte. Im nächsten Moment ließ er es mit Wucht auf die Unterschenkel des Jungen krachen.
Deutlich war das Geräusch der berstenden Knochen zu hören. Der Schmerzensschrei des Jungen gellte Cristin in den Ohren. Sie wollte fortlaufen und konnte sich doch nicht bewegen, fast so, als hielte ein böser Zauber sie an diesem Ort des Grauens fest. Wieder hob der Henker das Wagenrad hoch über seinen Kopf, abermals sauste es hinab, traf diesmal die gespreizten Oberschenkel des Jungen. Jakob Tieme brüllte auf wie ein wildes Tier. Einen kurzen Moment lang sah Cristin vor ihrem inneren Auge die zermalmten Knochen und die gequetschten Muskeln vor sich. Nur mit Gewalt konnte sie das grauenvolle Bild abschütteln.
"Mach ein Ende, Henker!", schrie ein Mann, während der gestreckte Körper des Jungen sich aufbäumte. Blutiger Schaum trat zwischen seinen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Rad sauste hernieder, traf seinen schmalen Brustkorb, brach ihm mehrere Rippen.
Der Priester schaute zu den Männern und Frauen, die ihre Kinder an sich drückten, und hob die Hände. "So ergeht es allen, die es wagen, Gott zu bestehlen!"
Cristins Blick fiel auf den Gehilfen des Henkers. Er war ein paar Schritte zur Seite getreten und wandte sich ab.
Plötzlich war die Stimme des Verurteilten zu hören, verhalten zwar, und doch deutlich zu verstehen. "Verrecken sollt ihr allesamt!"
Dann brach ihm das Wagenrad den Schädel und ließ ihn für immer verstummen. Ruckartig fuhr Cristin herum, kämpfte sich den Weg frei, stolperte den Hügel hinab und erbrach sich.
2 ie Augustsonne warf gleißende Lichtpunkte auf die gezackten Giebel und Fenster der hoch aufragenden Häuser und Kirchen der Stadt. Cristin passierte das Burgtor, ein frischer Wind bauschte den dünnen Surcot über ihrer Tunika, als sie am Dominikanerkloster vorbeilief. Über die uralten Mauern drang das Geräusch von Sägen und Hämmern an ihre Ohren. Hatte es überhaupt einmal eine Zeit gegeben, in der hier nicht gebaut wurde? Jäh überfiel sie ein erneuter Würgreiz. Wäre sie doch nur nicht den Menschen gefolgt! Sie lehnte sich gegen eine hohe Mauer aus abgebröckelten, verwitterten Ziegelsteinen, die die Hütten der Armen - Dirnen, Bettler und Wakenitzschiffer - vom ehrbaren Teil der Stadt trennte. Cristin schob eine Hand in die weite Ärmelöffnung ihres Surcots und presste sie auf ihren Magen. Der Verurteilte war doch fast noch ein Kind gewesen! Seine Schreie hallten noch in ihr nach. Von weit her hörte sie die Rufe eines Bäckers, der seine Waren lautstark feilbot. Eine Schar Kinder tobte, eine Katze jagend, an ihr vorbei.
"Ist Euch nicht gut?" Eine Hand legte sich auf ihre Schulter.
Cristin sah geradewegs in das runde Gesicht einer älteren Frau mit einem Brokathut auf dem Kopf. "Es geht schon wieder, danke." Sie griff nach dem Rosenkranz, den sie stets an ihrem Gürtel bei sich trug.
"Wart Ihr auch auf dem Köpfelberg?", fragte die Frau. Kaum verhohlene Neugier klang aus ihrer Stimme.
"Ja", erwiderte Cristin und raffte ihr langes Obergewand. "Ich muss weiter. Wenn Ihr mich entschuldigen würdet?"
"Diese Brut ist jedenfalls ausgelöscht! Wo kommen wir denn hin, wenn wir zulassen würden, dass die Schätze unseres Herrn geraubt werden!"
Wortlos wandte Cristin sich ab. Sie fröstelte plötzlich trotz der warmen Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Schon von Weitem erkannte sie die füllige Gestalt von Minna, einer ihrer Spinnerinnen, die vor der Tür der Werkstatt nicht weit vom Ufer der Wakenitz stand und ihr zuwinkte. Cristin versuchte ein Lächeln.
"Ihr wart lange fort. Habt Ihr alles erledigen können?"
"Was sagst du?" Cristin nestelte an ihrer Haube herum. Eigentlich hatte sie Stoff bestellen wollen, denn ihre Kleider wurden allmählich eng. Nicht mehr lange, und jeder würde sehen können, dass sie ein Kind erwartete. "Nein, Minna. Ich bin unterwegs aufgehalten worden", gab sie zerstreut zurück und betrat die Goldspinnerei, die sie mit ihrem fünfzehn Lenze älteren Ehemann Lukas führte. Wie lange hatten sie auf dieses Kind warten müssen! Sie waren beinahe vier Winter verheiratet, und insgeheim hatte Cristin sich so manches Mal gefragt, ob der Samen ihres Mannes nicht schon zu verbraucht war, um ein Kind zeugen zu können. Umso glücklicher waren sie gewesen, als ihre Monatsblutung endlich ausgeblieben war.
Lukas lächelte. Als sie jedoch näher trat, kniff er die Augen zusammen. "Du bist bleich, mein Lieb! Quält dich die Übelkeit wieder?"
Cristin sank schwer auf einen der Stühle, die für Kunden vorgesehen waren. Da sie allein waren, band sie ihre Haube ab und löste den Zopf. Sie nickte. "Ich war auf dem Köpfelberg. Sie ... sie haben dort einen ...", brach sie ab.
Seine Stirn umwölkte sich, sein Blick wurde düster. "Du warst an der Richtstätte?"
Cristin senkte den Kopf. "Ein Junge wurde getötet, Lukas. Zwischen Wagenrädern zermalmt. Er soll Kirchendiebstahl begangen haben." Sie erhob sich, trat ans Fenster und betrachtete den hübschen kleinen Kräutergarten, den sie vergangenes Jahr im Hinterhof angelegt hatte. "Es war furchtbar."
"Schickt es sich für das Weib eines anständigen und angesehenen Geschäftsmannes, einer Hinrichtung beizuwohnen? Hast du es nötig, dich zu diesen Gaffern zu gesellen? Lukas Bremers Frau hat dort nichts zu suchen!" Sie drehte sich um. Lukas' Miene war ernst, während seine blauen Augen über ihre schlanke Gestalt wanderten. "Noch dazu in deinem Zustand."
Cristin zuckte unter seinem Tonfall zusammen. "Sei nicht böse, Lieber."
Sie ließ sich wieder auf den Stuhl sinken und schaute zu ihrem hochgewachsenen Mann auf, der in seinem taillierten Wams über dem bestickten Hemd und den engen Hosen ausgesprochen gut aussah. Seine dunkelbraunen Haare waren noch immer voll. Doch am meisten liebte sie sein Lächeln, wenn sich die vielen Fältchen um seine Augen vertieften.
"Sie haben ihm jeden Knochen einzeln gebrochen. Wie der Arme geschrien hat! Das ist einfach nicht recht!" Cristin erhob sich erregt. "Fünfzehn Lenze, kaum mehr, Lukas! Bestimmt konnte der Junge die Folgen dieses Diebstahls gar nicht ermessen. Wer fragt danach, warum er das getan hat?" Sie trat auf ihren Mann zu. "Vielleicht hat er einen Kerzenleuchter vom Marienaltar gestohlen, in der Hoffnung, davon Medizin für einen kranken Verwandten kaufen zu können?"
"Schweig, Frau!", fiel er ihr ins Wort. "Es steht dir nicht zu, die Handlungsweise unserer Richteherren zu kritisieren! Zügle deine Zunge! Wenn dich jemand reden hört, stehst du bald am Pranger!"
Sie stemmte die Hände in die Hüften. "Du kannst erwarten, dass ich mich außerhalb unseres Heimes zurückhalte.
Niemals würde ich dir in Gegenwart anderer widersprechen. Aber hier, in unseren eigenen vier Wänden, lasse ich mir nicht den Mund verbieten!"
Lukas Bremer schüttelte den Kopf. Ein feines Lächeln umspielte jetzt die schmalen Lippen. "Darum geht es nicht, Cristin. Ich möchte einfach nicht, dass dich dein vorlautes Mundwerk irgendwann einmal in Schwierigkeiten bringt!" Vermutlich war seine Frau einfach noch zu jung, um zu verstehen, wie gefährlich ihr Verhalten werden konnte. Und er liebte sie viel zu sehr, um ihr jemals ernsthaft böse sein zu können. "Ich weiß, dass du dir nicht den Mund verbieten lässt. Doch denke bitte daran, in einigen Monaten trägst du die Verantwortung für unser Kind. Vergiss das nicht!"
Mit ausgestreckten Armen ging Lukas auf sie zu und zog sie an sich. "Geh nie wieder zum Köpfelberg. Dieser Ort ist nichts für dich. Versprichst du mir das?" Cristin lehnte ihren Kopf an seine Brust und genoss die Vertrautheit des Augenblicks. Voller Zuneigung blickte sie zu ihm auf. Ihre Eltern hatten mit Lukas eine gute Wahl getroffen. Sie konnte sich glücklich schätzen, einen Ehemann bekommen zu haben, der sie aufrichtig liebte. Cristin wusste, dass es mittlerweile in der Stadt möglich war, den Ehemann selbst zu wählen. Doch obwohl sie Lukas vorher kaum gekannt hatte, hatte sie auf den weisen Ratschlag der Eltern vertraut und in die Ehe eingewilligt. Und sie war glücklich mit ihm. Johann und Gesche Weber waren bereits vor einiger Zeit verstorben. Sie waren schon älter gewesen, als Cristin geboren worden war. Wenn sie später danach gefragt hatte, warum sie keine Geschwister bekam, hatte ihre Mutter stets erklärt, Gott hätte es so gewollt, dass sie ihr einziges Kind blieb. Auch jetzt noch vermisste sie ihre weisen und liebevollen Eltern. Doch nun hatte sie Lukas.
Sie strich ihm über die hohe Stirn, woraufhin er lächelte und sich zu ihr herunterbeugte. Ihre Lippen trafen sich zu einem zärtlichen Kuss. In diesem Moment hörte Cristin eine fremde Stimme in der Werkstatt. "Bis später, Lukas. Wir haben Kundschaft."
Eilig zog sie die Tür hinter sich ins Schloss und legte die wenigen Schritte bis zur Goldspinnerei zurück. Ein gut gekleideter, untersetzter Mann, dessen schulterlange Haare sich bereits am Ansatz lichteten, stand mit hinter dem Rücken gekreuzten Armen vor ihr. "Herr Bräunling. Wie nett, Euch zu sehen", begrüßte sie ihn und fragte sich im Stillen, was der Knochenhauer, der es in seiner Gilde zu Ansehen gebracht hatte, wohl von ihr wünschte. "Was kann ich für Euch tun?"
Der Mann, dessen Oberlippe durch eine breite Spalte verunstaltet wurde, lächelte. "Euer Anblick verschönert meinen Tag", erwiderte er nuschelnd. Seine Augen ruhten anerkennend auf ihrer Gestalt. "Ist Euer Gatte im Haus?"
"Selbstverständlich, Herr Bräunling. Nur ist er sehr beschäftigt. Kann ich Euch weiterhelfen?"
"Nun, es verhält sich so, werte Frau Bremer: Mein Bruder ist der Abt des Franziskanerklosters. Das wisst Ihr doch sicher?"
"Bruder Paulus, ja, ich weiß, Herr Bräunling."
Er beugte sich vertraulich zu ihr herüber. "Mit Eurem Gemahl wurde abgesprochen, dass ich sein Gewand abholen darf."
Sein intensiv nach Wein riechender Atem streifte Cristins Wange. Sie hatte von Lukas gehört, wie oft er den Knochenhauer schon am frühen Morgen in eine Schänke hatte gehen sehen.
Cristin räusperte sich. "Aber gern. Dann wartet einen Moment. Ich hole es Euch rasch."
Sie wandte sich ab und ging in den Nebenraum, in dem sie neben Garnen und Stoffen auch die fertigen Waren aufbewahrten. Kurze Zeit später kam sie mit einem Bündel zurück und reichte es ihm. Ihre Finger berührten sich, und sie zuckte zusammen. Ein Blitz schien in ihren Körper gefahren zu sein, Feuerzungen durch ihren Leib zu kriechen. Cristin schnappte nach Luft, spürte Schweiß aus allen Poren treten. Mit vor Entsetzen geweiteten Augen wich sie vor ihm zurück.
"Was ist denn los?", fragte Herr Bräunling irritiert. "Warum starrt Ihr mich so an?" Er lachte ein wenig gekünstelt. "Oder ist mir eine Warze im Gesicht gewachsen?"
"Nein", stammelte sie, "natürlich nicht. Ich ... ich fühle mich nicht wohl. Entschuldigt." Sie rannte aus der Werkstatt, ohne auf die verblüfften Gesichter der Arbeiterinnen zu achten.
Nachdem sie die Holztreppe zu ihrer geräumigen Wohnung hinaufgestolpert war, warf sie sich auf das Ehebett. Cristin bebte am ganzen Körper. Was, im Namen Gottes, hatte das zu bedeuten gehabt? Dieser furchtbare Schrecken, als sie die Hand des Kunden ergriffen hatte. Der Eindruck von alles vernichtender Hitze. Sie schlug die Hände vor das Gesicht. Sie hatte den Schmerz just in dem Moment erlebt, als ihre Hände sich berührten. In seinem Leib musste eine Krankheit wüten, von der er nichts ahnte. Ganz deutlich hatte sie empfunden, wie üble Säfte begannen, sich durch seinen Körper zu fressen. War er krank? Er musste krank sein. Der Hals wurde ihr eng. Könnte sie den guten Mann nur warnen und ihm anraten, einen Medicus aufzusuchen. Doch das durfte sie nicht. Wer sollte ihr schon glauben? Cristin biss sich auf die Lippen. War es wieder einer jener geheimnisvollen Momente, in denen sie körperlich empfinden konnte, wenn anderen Menschen eine Krankheit oder ein Unheil drohte? Mochte Gott geben, dass sie sich irrte! Gewiss gab es eine andere Erklärung für dieses Gefühl, und sie hatte sich diese Empfindungen nur eingebildet. Und wenn nicht? Könnte ich nur meine Hände auf ihn legen, um seine Krankheit zu lindern, dachte sie seufzend.
Cristin wanderte weiter zu den Erinnerungen in den Tagen ihrer Kindheit zurück. Warum passierte ihr das? Wieso nur? Vor vielen Jahren, sie war neun oder zehn Lenze alt gewesen, erinnerte sie sich, da hatte sie etwas Ähnliches erlebt - und ebenfalls aus Angst, als Hexe beschimpft zu werden, geschwiegen. Dabei verstand Cristin selbst am wenigsten, was mit ihr geschah! Oder der Moment, in dem sie das erste Mal gespürt hatte, dass etwas an ihr anders, ja fast unheimlich war. Grede, eine Freundin, war beim Spielen einfach zusammengesackt. Sie erinnerte sich noch lebhaft an den Augenblick, als sie tröstend den Bauch des Mädchens berührt hatte. Während sie sich erkundigte, ob der Freundin etwas zugestoßen sei, hatte ihre Hand plötzlich zu zittern begonnen. Es war wie ein Sog, der ihre Haut kribbeln ließ. Sie erschrak, wollte sich abwenden.
"Es tut nicht mehr weh, Cristin." Das Mädchen hatte sie verblüfft angestarrt. Einen Moment später war Grede aufgestanden und hatte weitergespielt, so als wäre nichts geschehen.
Sie waren beide zu jung gewesen, um sich weiter Gedanken darüber zu machen. Seither passierte es immer wieder, dass Menschen, denen sie die Hand auflegte, wieder gesund wurden. Das Schlimmste jedoch war, sich niemandem anvertrauen zu können. Die Zeit verging. Je älter sie wurde, desto beängstigender erschien ihr das Ganze. Der einzige Trost in jenen einsamen Zeiten, als sie noch ein Kind und voller Fragen gewesen war, auf die niemand eine Antwort gewusst hätte, war ihr unsichtbarer Gefährte gewesen, mit dem sie stets gesprochen und gespielt und dem sie alles anvertraut hatte. Cristin hatte ihn nur Freund genannt, denn sie kannte seinen Namen nicht. Er war ungefähr in ihrem Alter gewesen, seine Haare eher von der Farbe reifen Korns und von größerer Gestalt als sie. In seinem Gesicht spiegelte sich der Schalk wider. Am meisten hatte sie aber seine Stimme geliebt, tiefer und rauchiger als ihre und stets etwas atemlos. Meist kam er zu ihr, wenn sie allein oder im Spiel versunken war, und setzte sich zu ihr. Gemeinsam hatten sie sich Geschichten von tapferen Rittern und schönen Jungfrauen ausgedacht, die gerettet werden mussten. Dann wurde ihr Herz leichter, und sie vergaß ihre bösen Träume von Hexen und Dämonen, die sie schreckten und bis in den Tag verfolgten.
Oft hatte sie sich gewünscht, dieser Junge könnte bei ihr bleiben und würde sich nicht plötzlich nach dem Spiel wieder in Luft auflösen. Manchmal hatte ihre Mutter sie dabei erwischt, wenn sie mit ihm gesprochen oder gelacht hatte, und ihr mit ernster Miene immer wieder versichert, diesen Spielgefährten bildete sie sich nur ein. Aber für Cristin, kaum acht Lenze alt, war der Freund so wahr und echt gewesen wie der Erdboden unter ihren Füßen und die nächtlichen Sterne am Himmel.
Cristin lächelte, als die Bilder aus der Vergangenheit in ihr verblassten. Ihr unsichtbarer Freund erschien ihr nun, da sie erwachsen war und selbst bald Mutter sein würde, wie das kostbarste Geschenk ihrer Kindheit. Später dann, als sie älter und verständiger war, hatte sie erkannt, dass der Junge tatsächlich ihrer Fantasie entsprungen sein musste, denn als sie allmählich zu einer Frau heranreifte, kam er nicht mehr. Seither waren es lediglich wenige Träume, in denen sie meinte, die Wärme einer anderen vertrauten Person neben sich ausmachen zu können. Doch auch dies war gewiss nur eine Wunschvorstellung und hatte mit der Wirklichkeit nichts zu schaffen. Immer wenn sie an diesem Punkt ihrer Überlegungen angelangt war, überfiel sie ein Ziehen in der Herzgegend. Die Trauer darüber, den Gefährten verloren zu haben, konnte sie auch in diesem Augenblick noch spüren.
3 inna und die junge Mirke waren nach einem langen Arbeitstag damit beschäftigt, die Werkstatt aufzuräumen. Cristin beobachtete das blonde, zierliche Mädchen mit dem runden Gesicht aus den Augenwinkeln. Die noch ein wenig schüchtern und unsicher wirkende Mirke war erst kurze Zeit bei ihnen und gab sich redlich Mühe, den Anforderungen ihres Herrn gerecht zu werden. Allerdings war sie ungewöhnlich geschickt, wenn es darum ging, besonders gleichmäßiges Garn zu spinnen. Cristin nickte dem Mädchen In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und ein schlanker Mann betrat die Werkstatt. Seine blonden, halblangen Haare waren von einem flachen Filzhut bedeckt, den eine Brosche zierte, die gut und gerne einen halben Gulden gekostet haben mochte. Er lächelte. "Gott zum Gruße, verehrte Damen."
"Gott zum Gruße, Lynhard", begrüßte Cristin ihren Schwager höflich. "Was führt dich zu dieser späten Stunde noch hierher?"
Lynhard Bremer schloss die Tür und musterte seine Schwägerin wohlwollend. Seine blauen Augen funkelten. "Ich wünsche Lukas zu sprechen. Ist er hier?"
Cristin nickte in Richtung der kleinen Schreibstube. "Er ist in der Dornse. Geh nur hinein."
Sein Blick suchte kurz den ihren, doch sie wich ihm aus. Es war ihr stets unangenehm, wenn er sie auf diese Weise betrachtete. Obwohl er mit seinem formvollendeten Auftreten und dem charmanten Lächeln sicher das Herz so mancher jungen Frau höher schlagen ließ, konnte sie sich einer gewissen Abneigung gegenüber Lynhard nicht erwehren. Seinem Wesen fehlten die Wärme und der Humor, die sie an Lukas so liebte. Sie sah ihm nach, wie er mit eleganten Bewegungen die Werkstatt verließ, wobei ihr Mirkes träumerischer Ausdruck nicht entging. Kopfschüttelnd machte sie sich wieder an die Arbeit.
Nachdem sie die Goldspinnerei abgesperrt hatte und die Lohnarbeiter gegangen waren, machte Cristin sich an die Zubereitung des Abendessens. Wenig später saß sie mit Lukas am Tisch. Beide genossen diese ruhigen Momente, in denen sie Muße hatten, ungestört miteinander plaudern zu können. Sie trug ein dunkelgrünes Untergewand mit einem hellen Surcot darüber, denn Cristin wusste, wie gut die Farben zu ihrem Haar und der hellen Haut passten. Seine Augen wanderten über ihre Gestalt. Sie lächelte und hob ihren Becher, er tat es ihr gleich. Lukas begann, seinen Teller mit Suppe zu füllen. Um ihm eine Freude zu bereiten, hatte sie den Tisch liebevoll mit Blumen aus ihrem Garten dekoriert. Eine Kerze in einem bronzenen Leuchter verbreitete den süßen Duft von Honig.
"Wir werden eine zusätzliche Lohnarbeiterin einstellen müssen", eröffnete Lukas das Gespräch. "Ich habe heute vom Richteherrn Büttenwart einen Auftrag bekommen, für ihn und seine Familie neue Gewänder anzufertigen. Eine schöne Schecke und Beinlinge für ihn und je einen Surcot für seine Frau und die zwei Töchter. Außerdem ein Hochzeitsgewand für Magdalena, seine Älteste. Sie wird im kommenden Sommer heiraten."
"Ist gut. Ich werde mich nach einer fähigen Spinnerin umsehen." Cristin blickte aus dem Fenster. Die Blätter der Ahornbäume leuchteten im letzten Licht der Augustsonne in ersten Rot- und Goldtönen. Rot wie Blut. Wieder sah sie den jungen Kirchendieb vor sich, den Büttenwart zum Tode verurteilt hatte. Der Richteherr, der nun die Hochzeit seiner Tochter feiern wollte. Einen Moment lang wurde ihr die Kehle eng. Gewaltsam musste sie die Erinnerung an das grausame Geschehen auf dem Köpfelberg abschütteln.
Lukas bedachte seine Frau mit einem nachdenklichen Blick. "Außerdem solltest du nicht mehr so hart arbeiten, Cristin."
Sie tunkte ihren Löffel in die Suppe. "Aber Lukas, was soll ich denn den lieben langen Tag anfangen, wenn ich nicht mehr arbeite? Es geht mir doch gut."
Der Kaufmann tätschelte ihr die Hand. "Warum triffst du dich nicht öfter mit Mechthild? Sie wäre bestimmt über deine Gesellschaft erfreut."
Cristin rollte mit den Augen. "Mechthild redet doch von nichts anderem als von ihren Kindern. Sie ist ja eine nette Person, zugegeben, aber auch", sie verzog das Gesicht, "todlangweilig!"
Lukas hob die Mundwinkel. "Auch du wirst bald Mutter sein."
"Ja, Lukas." Sie griff nach einem Mundtuch, wischte sich über die Lippen und wechselte das Thema. "Ich bin jung und möchte noch so vieles lernen! Natürlich werde ich unseren Kindern eine gute Mutter sein. Aber das reicht mir nicht."
Lukas runzelte die Stirn. "Was denn noch, Cristin? Du bist eine hübsche Kaufmannsfrau und hast alles, was dein Herz begehrt, oder etwa nicht?"
"Ja, Liebling. Trotzdem gibt es da etwas, das ich gerne ..."
"Was ist es?"
Erregung erfasste sie. "Lehre mich das Lesen, Liebster!"
Lukas' Brauen schossen in die Höhe. "Lesen? Was sind das wieder für Hirngespinste, die in deinem Kopf herumspuken? Du weißt genau, dass es sich für eine Frau nicht schickt, das Lesen zu erlernen."
Cristins Wangen röteten sich, doch ihre Stimme wurde einschmeichelnd. "Ach, Lukas. Niemand muss etwas davon erfahren."
Er erhob sich, schob den Stuhl zurück und trat neben sie. "Was sollen die Leute von uns denken, Cristin? Nein, das kommt nicht in Frage."
Sie strich ihm zart über die Hand. "Denk nur mal, wie sinnvoll ich die Zeit bis zur Geburt verbringen könnte, wenn ich nicht mehr arbeite! Außerdem könnte ich dir später viel besser ."
"... bei den Geschäften helfen?", beendete er ihren Satz.
"Ja, auch das. Aber darum geht es mir gar nicht, du führst das Geschäft vorzüglich."
Kopfschüttelnd wandte er sich ab, doch Cristin war nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Sie stand ebenfalls auf, schlang ihm von hinten die Arme um den Nacken und schmiegte sich an seine Wange. Den wahren Grund, warum sie lesen lernen wollte, verschwieg sie: Möglicherweise könnte sie mehr über die Heilkunst erfahren. Endlich könnte sie auch herausfinden, was es mit ihrer eigenartigen Gabe auf sich hatte. Ob es noch mehr Menschen wie sie gab, die imstande waren, Dinge zu erspüren, durch bloßes Handauflegen Schmerzen zu lindern oder Krankheiten zu heilen. Seit dem beunruhigenden Erlebnis von vor einigen Tagen, als sie plötzlich diese sengende Hitze bei dem Händeschütteln mit Herrn Bräunling verspürt hatte, ließen diese Gedanken sie nicht mehr los. Sie musste wissen, was das alles bedeutete!
"Ach, Lukas. Was kann es schon schaden, wenn du deiner Frau etwas beibringst?", bat sie noch einmal. "Nur zu meinem Vergnügen."Lukas rang sichtlich mit sich. "Bitte. Sag ja, Liebster!"
Er drehte sich um und zog sie an sich. "Gut", lenkte er widerstrebend ein und sah ihr in die Augen. "Ich werde dir ein paar meiner Pergamente geben. Aber nur unter einer Bedingung - du darfst niemals etwas davon verlauten lassen. Gegenüber niemandem, hörst du?"
Cristin nickte, auch wenn sie dieses ungeschriebene Gesetz nicht verstehen konnte. Warum nur war es den Frauen nicht erlaubt, sich zu bilden? Wahrscheinlich ist es den Männern nicht recht, wenn die Frauen ihren Verstand benutzen, überlegte sie zynisch, hütete sich jedoch, diesen Gedanken laut auszusprechen, um sich nicht eine weitere Rüge ihres Mannes einzuhandeln. "Ich verspreche es, Lukas. Danke", rief sie und umarmte ihn stürmisch, bis er lachend protestierte.
"Was hat Lynhard eigentlich von dir gewollt?", fragte Cris- tin eine Weile später, als sie zur Ruhe gehen wollten.
Lukas machte eine wegwerfende Handbewegung. "Nichts Besonderes, rein geschäftlich", murmelte er und griff nach einer Bürste.
Doch Cristin bemerkte, wie seine Miene sich schlagartig verfinsterte. Wahrscheinlich hatten die Brüder wieder gestritten. Das geschah öfter, und dann waren ihre aufgebrachten Stimmen bis in die Werkstatt zu hören. Cristin ärgerte es, dass Lukas sie nicht in alle Dinge einbezog. Schließlich war sie seine Frau und wissbegierig bei allem, was das Geschäft betraf. Sie hütete sich jedoch, weiter in ihn zu dringen. Lukas konnte dann sehr ungehalten werden.
... weniger
Autoren-Porträt von Gerit Bertram
Gerit Bertram ist das Pseudonym eines Autorenpaares, das sich 2007 durch ein Internet-Schreibforum kennenlernte. Schnell entdeckten sie ihre gemeinsame Liebe zur Geschichte. Seitdem arbeiten sie erfolgreich zusammen. Iris Klockmann ist gelernte Arzthelferin und lebt mit ihrer Familie in ihrer Geburtstadt Lübeck. Peter Hoeft war fast dreißig Jahre lang in der stationären Altenpflege tätig und wohnt mit Frau und Sohn in Bad Oeynhausen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Gerit Bertram
- 2010, 2, 509 Seiten, Maße: 13,7 x 21,5 cm, Kartoniert (TB), Deutsch
- Verlag: Blanvalet
- ISBN-10: 3764503718
- ISBN-13: 9783764503710
Rezension zu „Die Goldspinnerin “
"Mitreißende Charaktere und Spannung bis zur letzten Seite! Ein fesselnder Roman!"
Kommentare zu "Die Goldspinnerin"
0 Gebrauchte Artikel zu „Die Goldspinnerin“
Zustand | Preis | Porto | Zahlung | Verkäufer | Rating |
---|
5 von 5 Sternen
5 Sterne 4Schreiben Sie einen Kommentar zu "Die Goldspinnerin".
Kommentar verfassen