Die Hebamme und das Rätsel von York
York, 1644 zur Zeit des englischen Bürgerkriegs
Während die Stadt unter der Belagerung der parlamentarischen Rebellen leidet, sieht sich die angesehene Hebamme Bridget mit einem weiteren Problem konfrontiert: Ihre Freundin...
Während die Stadt unter der Belagerung der parlamentarischen Rebellen leidet, sieht sich die angesehene Hebamme Bridget mit einem weiteren Problem konfrontiert: Ihre Freundin...
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Produktinformationen zu „Die Hebamme und das Rätsel von York “
York, 1644 zur Zeit des englischen Bürgerkriegs
Während die Stadt unter der Belagerung der parlamentarischen Rebellen leidet, sieht sich die angesehene Hebamme Bridget mit einem weiteren Problem konfrontiert: Ihre Freundin Esther wurde des Mordes an ihrem Ehemann Stephen angeklagt und soll bei lebendigem Leib verbrannt werden. Von der Unschuld ihrer Freundin überzeugt, setzt sie alles daran, den wahren Mörder zu finden. Unterstützung findet sie in der Magd Martha, die erst seit Kurzem in ihrem Haushalt ist und erstaunlich gut mit Waffen umgehen kann. Ihre Fähigkeiten erweisen sich bei der Suche nach dem Mörder als ebenso nützlich wie Bridgets gute Vernetzung als Hebamme. Die Suche nach der Wahrheit führt die beiden Frauen von den Gassen der Elendsviertel bis zu den mächtigsten Familien der Stadt und sie müssen erkennen, dass sich hinter den ehrenwertesten Fassaden die dunkelsten Geheimnisse verbergen ...
"Voller faszinierender Details aus dem Hebammenalltag und dem Leben während des englischen Bürgerkriegs. Die raffinierte und rasante Krimihandlung setzt dem Ganzen noch die Krone auf."
Kirkus Reviews
Während die Stadt unter der Belagerung der parlamentarischen Rebellen leidet, sieht sich die angesehene Hebamme Bridget mit einem weiteren Problem konfrontiert: Ihre Freundin Esther wurde des Mordes an ihrem Ehemann Stephen angeklagt und soll bei lebendigem Leib verbrannt werden. Von der Unschuld ihrer Freundin überzeugt, setzt sie alles daran, den wahren Mörder zu finden. Unterstützung findet sie in der Magd Martha, die erst seit Kurzem in ihrem Haushalt ist und erstaunlich gut mit Waffen umgehen kann. Ihre Fähigkeiten erweisen sich bei der Suche nach dem Mörder als ebenso nützlich wie Bridgets gute Vernetzung als Hebamme. Die Suche nach der Wahrheit führt die beiden Frauen von den Gassen der Elendsviertel bis zu den mächtigsten Familien der Stadt und sie müssen erkennen, dass sich hinter den ehrenwertesten Fassaden die dunkelsten Geheimnisse verbergen ...
"Voller faszinierender Details aus dem Hebammenalltag und dem Leben während des englischen Bürgerkriegs. Die raffinierte und rasante Krimihandlung setzt dem Ganzen noch die Krone auf."
Kirkus Reviews
Klappentext zu „Die Hebamme und das Rätsel von York “
England 1644: Parlamentarische Rebellen haben einen Aufstand gegen den König angezettelt und belagern die Stadt York. Unterdessen wird die Hebamme Bridget Hodgson unvermittelt zur Detektivin: Ihre Freundin Esther Cooper wurde des Mordes an ihrem Ehemann Stephen angeklagt und soll bei lebendigem Leib verbrannt werden - es sei denn, Bridget kann ihre Unschuld beweisen. Auf der Suche nach dem wahren Mörder bekommt Bridget unverhoffte Unterstützung von ihrer Magd Martha, die erst seit Kurzem in ihrem Haushalt ist und erstaunlich gut mit Waffen umgehen kann. Schnell stellt sich heraus, dass Martha weit weniger harmlos ist, als sie auf den ersten Blick erscheint. Ihre Fähigkeiten erweisen sich bei der Suche nach dem Mörder als ebenso nützlich wie Bridgets gute Vernetzung als Hebamme. Gemeinsam finden die beiden Frauen heraus, dass Stephen Cooper heimlich mit den Rebellen kooperiert hat. Während die Liste der Verdächtigen immer länger wird, legen sich Bridget und Martha mit den Obrigkeiten der Stadt, bis hin zum Bürgermeister, an. Doch erst ein weiterer Mord führt die Hebamme und ihre Magd auf die Spur des wahren Mörders ...
Lese-Probe zu „Die Hebamme und das Rätsel von York “
Die Hebamme und das Rätsel von York von Sam ThomasAus dem Amerikanischen von Britta Evert
Juni 1644
York, England
1.
In der Nacht, in der ich Mercy Harris von einem unehelichen Kind entband, steckten die Soldaten des Königs die Vororte der Stadt in Brand und zogen sich dann hinter die Stadtmauern zurück, um dort den Angriff der Rebellen zu erwarten.
Es war Abend, als der Armenpfleger eintraf, um mich von der bevorstehenden Geburt zu verständigen. Hannah, mein Dienstmädchen, führte ihn in den Salon.
»Lady Hodgson«, sagte er, als ich eintrat, »ich bedaure sehr, Euch an einem so schlimmen Tag zu belästigen, aber eine der Mägde aus meiner Pfarre liegt mit einem vaterlosen Kind in den Wehen. Die Kirchengemeinderäte haben mich um eine Hebamme geschickt.«
»Aus welchem Sprengel kommt Ihr?«, fragte ich. Ich wusste, dass er nicht der Pfarre St. Helen angehörte, und die meisten Pfarrgemeinden kümmerten sich selbst um die Geburten unehelicher Kinder.
»St. Savior, Mylady.«
»Sicher gibt es auch in St. Savior Hebammen.«
»Bei all den Bränden und dem Rauch und den vielen Soldaten, die unterwegs sind, wagen sie sich nicht auf die Straße. Es ist ihnen zu gefährlich.«
Ich schüttelte bekümmert den Kopf. Manchen Frauen war die Bedeutung eines Eids offenbar fremd. »Also gut, ich komme. Wie heißt die Mutter?«
»Mercy Harris, Mylady. Sie wohnt in einer Gasse in der Nähe der St. Andrewgate.«
»Hat sie den Namen des Vaters genannt?«
»Sie weigert sich. Eben deshalb brauchen wir eine Hebamme. «
... mehr
»Gott bewahre uns vor eigensinnigen Frauen«, seufzte ich. »Wartet hier, bis ich meine Tasche geholt habe. Ihr müsst mich zu ihr bringen.«
»Sehr wohl, Mylady.«
Ich schickte Hannah um meine Ausrüstung nach oben und schlüpfte rasch in einen Kittel, der für die Arbeit, die vor mir lag, geeigneter war.
Der Armenpfleger und ich wanderten an den hohen Türmen des Münsters vorbei zu dem Gewirr von Straßen, Gassen und Hinterhöfen, die den Bezirk St. Savior bildeten. In einer Hand trug der Armenpfleger das kleine Köfferchen mit meinen Utensilien, in der anderen eine Laterne, die mir bei meiner Arbeit Licht spenden sollte. Überall in den Straßen wimmelte es von Leuten, die mit allem, was sie in Läden oder auf Märkten an Essbarem ergattert hatten, nach Hause eilten. Eine junge Frau mit ängstlichen Augen lief an uns vorbei, auf einem Arm einen schreienden Säugling, im anderen ihre Einkäufe. Sie bog bei der St. Andrewgate ab und verschwand in einer Gasse.
Als wir vor Mercys Tür standen, hob ich den Blick zum Münster, das von den Rauchschwaden umhüllt wurde, die über den Sommerhimmel zogen. Herr, stimme unsere Herzen milde für die bitteren Früchte verheerender Kriege, betete ich.
»Geht heim«, sagte ich zum Armenpfleger. »Das Feuer wird Eurer Frau und Euren Kindern Angst machen. Sie werden sich sicherer fühlen, wenn Ihr bei ihnen seid.«
»Wirklich, Mylady?«, fragte er. »Es ist nicht ungefährlich für Euch, in einer Nacht wie dieser allein nach Hause zu gehen.«
»Ich gehe bestimmt nicht vor Tagesanbruch zurück«, versicherte ich ihm. »Es ist ihr erstes Kind, und sie lehnt es ab, den Vater zu nennen. Das wird für sie und mich eine lange Nacht.«
Er nickte und eilte in die relative Sicherheit der St. Andrewgate zurück. Ich wappnete mich für die bevorstehende Nacht und betrat das Haus, ohne anzuklopfen.
In dem Zimmer, in dem ich mein nächtliches Werk vollbringen würde, schaute ich mich um. Selbst mittags musste es hier drinnen düster sein, und die untergehende Sonne ließ nur einen schwachen Lichtschimmer durch die Hornfenster dringen.
Mercy Harris lag auf einer armseligen Bettstatt aus Stroh. Sie war vielleicht dreiundzwanzig Jahre alt und keine große Schönheit. Außerdem starrte sie mich mürrisch an. Offensichtlich war ich als Hebamme nicht ihre erste Wahl. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich hätte sie mir auch nicht als Patientin ausgesucht. Ein Mädchen von ungefähr fünfzehn und genauso dunkelhaarig wie Mercy stand in der Ecke. Sie verkroch sich vor meinem Blick. Wie es schien, hätte sie sich am liebsten unsichtbar gemacht.
»Dem Aussehen nach bist du Mercys Schwester«, sagte ich zu ihr. »Du wirst mir heute Nacht zur Hand gehen. Wie heißt du?« Sie zuckte zusammen, als ich sie ansprach, und schaute zu Mercy, die widerwillig nickte.
»Sairy, Mylady«, murmelte sie daraufhin.
»Also, Sairy«, sagte ich. »Tu genau das, was ich dir sage, und genau dann, wenn ich es sage, dann wird alles gut. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Mylady«, antwortete sie zögerlich.
»Fein. Dann schauen wir uns mal an, was wir hier haben.« Ich ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Das trübe Licht, das durch die kleinen Fenster fiel, ließ kaum erkennen, wo die Schatten aufhörten und der Schmutz begann, deshalb empfand ich die späte Stunde eher als Segen. Mercy trug nur ihr Unterkleid, und ohne Röcke und Schürze war ihre Schwangerschaft nicht zu übersehen. Das Laken aus derber Leinwand und die grobe Wolldecke, die sie zur Seite geschlagen hatte, vervollständigten den Eindruck einer Familie am Rande der Armut.
Neben dem Bett befanden sich die einzigen anderen Möbelstücke - zwei einfache Schemel, ein wackeliger Tisch und eine Truhe, die schon bessere Tage gesehen hatte. Durch eine niedrige Tür konnte ich eine kleine Küche erkennen, hegte aber wenig Hoffnung, dass sich dort ausreichend Nahrung befand, um uns durch die lange Nacht zu helfen.
Ich drehte mich wieder zu Mercy um. »Schau mich an, Mercy«, forderte ich sie auf. Sie gehorchte. »Du weißt, dass ich dir nicht helfen kann, wenn du nicht den Vater des Kindes nennst. Sag mir, wer der Vater ist. Wenn du die Wahrheit sprichst, helfe ich dir, die Schmerzen und Gefahren der Geburt zu bekämpfen. Sag mir die Wahrheit, damit ich vor dem Friedensrichter Zeugnis ablegen kann. Er wird dafür sorgen, dass der Vater für den Unterhalt des Kindes bezahlt.« Mercy wandte den Blick ab, ohne etwas zu erwidern. »Hat er dir Geld angeboten, damit du den Mund hältst?«, fuhr ich fort. »Ein, zwei Schilling? Vielleicht sogar ein Pfund? Ist er verheiratet und will seiner Frau Kummer ersparen?« In der Hoffnung auf einen Hinweis schaute ich Sairy an, aber sie wich meinem Blick hastig aus.
Plötzlich verkrampfte Mercy sich und stieß einen unter- drückten Schrei aus. Ihre Wehen wurden stärker. Ich kauerte mich auf den Schemel, der am weitesten vom Bett entfernt stand, und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. Mein Köfferchen ließ ich bewusst unangetastet. »Wenn du mir nicht sagst, wer der Vater ist, Mercy, kann weder ich dir helfen noch jemand anders. Dann musst du ganz allein fertigwerden. «
Sie wahrte ihr eisernes Schweigen.
»Brennt in der Küche ein Feuer, Sairy?«, fragte ich.
»Wir haben kein Brennholz.« Das Mädchen sah aus, als würde es gleich in Tränen ausbrechen.
Wir würden für die Zeit nach der Geburt etwas zu essen brauchen. Noch wichtiger aber war, Feuer zu machen und Wasser zu erhitzen. Deshalb drückte ich Sairy ein paar Pennys in die Hand, damit sie bei einem Nachbarn Holz kaufen konnte. Sie kehrte bald zurück und zündete in der Küche ein kleines Feuer an. Dann holte sie eine blakende Talgkerze, die zusammen mit meiner Laterne das Zimmer leidlich erhellte. Mit ein wenig Glück würde das Kind bis zum Morgen warten, wenn ich mehr Licht hätte, bevor es zur Welt kam. Aber Frauen wie Mercy wurden im Allgemeinen nicht vom Glück begünstigt.
Die Glocken des Münsters schlugen die Stunden der erbitterten Machtprobe, die nun folgte. Als die Wehen stärker wurden, flehten Sairys Augen mich an, ihr zu sagen, was zu tun war. Ich verhärtete mein Herz und mied ihren Blick ebenso hartnäckig, wie Mercy den meinen. Ich hätte dem armen Mädchen nur zu gern geholfen und fragte mich unwillkürlich, wie sie in diese Situation geraten war. Wo waren ihre Eltern? War Sairy alles, was Mercy an Familie besaß?
Um elf Uhr platzte Mercys Fruchtblase. Mit zitternden Händen versuchte Sairy, die Strohliege mit einem schmutzigen Küchenlumpen zu reinigen. Armes Ding.
Gegen zwei Uhr morgens schließlich setzten die Geburtswehen ein.
»Mercy, ich frage dich noch einmal. Wer ist der Vater?«
Sie biss die Zähne zusammen und starrte mich aus funkelnden Augen an. Ihre Unterlippe war völlig zerbissen, und im flackernden Kerzenlicht sah ich Blut über ihr Kinn laufen. Ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen, aber noch immer hüllte sie sich in eisernes Schweigen.
Nein, so hatte es keinen Sinn.
Ich wandte mich an Sairy. »Du kannst versuchen, eine andere Hebamme zu finden, wenn du willst, aber in einer Nacht wie dieser wird sich kaum eine auf die Straßen wagen, schon gar nicht für eine Frau wie deine Schwester. Und selbst wenn du eine findest, wird sie dieselbe Frage stellen.« Sairys Augen weiteten sich vor Furcht, und ich fuhr fort: »Vielleicht helfen euch die Nachbarn, aber kaum jemand hat etwas für vaterlose Bastarde übrig. Ihr beide werdet heute Nacht auf euch allein gestellt sein.« Ich griff nach Tasche und Laterne und öffnete die Tür. »Sei vorsichtig, wenn du die Nabelschnur durchschneidest«, fügte ich hinzu. »Wenn du nicht aufpasst, wird das Kind sterben . . . und deine Schwester ebenfalls. « Ich verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Draußen trat ich in den Torbogen eines Nachbarhauses, nur um festzustellen, dass der Platz von einem der Schweine belegt wurde, die durch Yorks Straßen streunten. Ich versetzte dem Tier einen Tritt in die Seite, und es galoppierte mit einem empörten Quieken davon. Dann schlüpfte ich in den Schatten und wartete. Genau wie ich vermutet hatte, wurde bald darauf Mercys Tür aufgestoßen, und Sairy lief mit gerafften Röcken an mir vorbei. Ich rief ihren Namen, worauf sie so sehr erschrak, dass sie in dem mit Urin gefüllten Rinnstein beinahe ausgerutscht wäre. Sie eilte zu mir und packte mich am Arm, um mich zum Haus zurückzuzerren. Ich unterdrückte die Regung, das Mädchen in die Arme zu nehmen und ihr auf jede erdenkliche Art beizustehen. Es entsprach nicht meiner Natur, jemandem meine Hilfe zu versagen, aber in dieser Situation hatte ich keine andere Wahl. Ich riss mich los, und Sairy fiel schluchzend auf die Knie.
»Warum wollt Ihr Mercy denn nicht helfen?«, rief sie. »Ohne Eure Hilfe wird sie sterben und das Kind auch! Das habt Ihr selbst gesagt!«
Ihr kummervolles Wehklagen erweichte mein Herz, und ich bückte mich, um ihr aufzuhelfen. Das arme Mädchen tat mir leid. Schließlich hatte nicht sie gesündigt, sondern Mercy. »Es gibt jetzt schon zu viele vaterlose Kinder in York«, erklärte ich so freundlich, wie ich konnte. »Wenn deine Schwester den Vater nicht nennt, muss die Stadt für das Kind aufkommen. Solange sie den Namen verschweigt, ist es mir nicht erlaubt, ihr zu helfen.«
»Was soll ich tun?«
»Sag ihr, sie soll den Vater nennen«, erwiderte ich und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Wenn sie das verspricht, komme ich zurück, und alles wird gut.«
Sairy nickte und verschwand im Haus. Gleich darauf tauchte sie wieder auf. »Meine Schwester will Euch sagen, wer der Vater ist. Werdet Ihr jetzt helfen?«
Ich nickte, folgte ihr ins Haus, durchquerte das Zimmer und kauerte mich zwischen Mercys Beine, hielt aber inne, bevor ich sie anfasste. »Mercy, du musst mir jetzt den Namen des Kindsvaters nennen, sonst gehe ich wieder. Dein Leben ist in Gefahr, also lass die letzten Worte, die du vielleicht sprichst, keine Lüge sein, sonst wirst du dich beim Jüngsten Gericht dafür verantworten müssen.«
»Peter Clark«, stieß Mercy keuchend hervor. »Der Vater heißt Peter Clark.«
»Ich kenne keinen Peter Clark«, erwiderte ich. »Und es ist ein verbreiteter Name. Welchen Peter Clark meinst du?«
»Er ist Lehrling bei William Dolben, einem Fleischer in den Shambles. Er ist der Vater, ich schwör's!«
Ich würde sie natürlich noch einmal befragen müssen, aber einstweilen war Peter Clark ein guter Anfang, und ich konnte mit meiner Arbeit beginnen. »Danke, Mercy«, sagte ich. »Du hast das Richtige für euch beide getan, für dich und dein Kind.«
Ich klappte mein Köfferchen auf und entnahm ihm die Öle und Heilmittel, die ich brauchen würde. Als ich ein kleines Messer zum Durchtrennen der Nabelschnur in meine Schürze steckte, sprach ich ein Gebet. Der kleine Beutel mit den Schneidewerkzeugen lag am Boden der Tasche und würde hoffentlich auch dort bleiben. Ich entkorkte eine Phiole mit Öl und rieb damit meine Hände und Mercys Intimbereich ein, begleitet von einem weiteren gemurmelten Gebet, bevor ich meine Hand in sie hineinschob, um festzustellen, wie das Kind lag, und abzuschätzen, wie ich ihm den Weg in diese Welt zu erleichtern vermochte. Ich konnte den Kopf des Kinds spüren und wusste, es würde bald kommen.
Ich blickte zu Mercy auf. Die Haut über ihren Wangenknochen spannte sich, und ihre Augen glänzten vor Schmerz, was ihr ein beinahe dämonisches Aussehen verlieh. Sie hätte etwas essen sollen, um bei Kräften zu bleiben, aber ihre Armut konnte ich ihr schwerlich zum Vorwurf machen.
Ich drehte mich zu Sairy um »Das Kind kommt gleich. Habt ihr etwas Leinen bereitliegen?« Sie starrte mich verständnislos an. »Um das Kind zu wickeln«, fügte ich hinzu.
»In der Truhe«, sagte Mercy mit schwacher Stimme. »Ich habe es letzte Woche gekauft.«
Ich nickte Sairy zu, und sie lief hastig zur Truhe, holte ein kleines Bündel heraus und legte es auf den Tisch.
»Und jetzt stell bitte Wasser auf«, sagte ich. Wieder zögerte Sairy. Ein liebes Mädchen und eine gute Schwester, aber nicht unbedingt das, was ich mir von einer Helferin erhoffte. »Wir müssen das Kind waschen. Nicht zu heiß, bloß warm genug, um es zu säubern.« Sairy verschwand in der Küche, und ich wandte mich wieder Mercy zu.
»Komm, ich helf dir. Es ist besser, wenn du ein bisschen auf und ab gehst, statt zu liegen. Das Kind wird darum kämpfen, zur Welt zu kommen, und es hilft, wenn der Weg nach unten führt.« Sie zögerte, als wäre sie unschlüssig, ob es tatsächlich eine gute Idee war, durchs Zimmer zu gehen. »Außerdem musst du dann die Matratze nachher nicht verbrennen«, fügte ich hinzu.
Sie hielt sich an meinen Händen fest und wuchtete sich mit einiger Mühe vom Bett und auf die Beine. In kleinen Kreisen gingen wir durchs Zimmer, Mercys Arm auf meine Schultern, meiner um ihre Taille gelegt. Von Zeit zu Zeit legte sie den Kopf an meine Schulter, und ich sah, wie sie ihre Tränen an meinem Kragen abwischte. Ich hatte den Eindruck, dass es keine Tränen des Schmerzes, sondern des Bedauerns waren. Natürlich, sie hatte gesündigt und ihr Schicksal bis zu einem gewissen Grad verdient, aber ich fragte mich, welche Zukunft Peter Clark ihr möglicherweise gestohlen hatte, als er sie schwängerte. Würde sie je das Leben einer ehrbaren Hausfrau führen? Würde sie ihre Kinder in einem Zuhause großziehen, in dem es mehr als ein Bett, zwei Schemel und einen Tisch gab? Oder war dies hier der letzte Schritt auf dem Weg in bitterste Armut? Würde sie ihr Leben als eine der Huren der Stadt beschließen, mit einem Kind, dem eine ähnliche Zukunft beschieden war?
»Alles wird gut«, sagte ich und betete im Stillen, dass ich recht haben möge. »Die Wehen verlaufen normal, und der Kopf des Kindes befindet sich am Gebärmutterhals. Vielleicht tut es nicht mal weh.« Obwohl Angst und Erschöpfung sie nahezu überwältigten, lächelte Mercy ein wenig. »Wahrscheinlich wird es doch wehtun«, gab ich zu.
Als die Geburt kurz bevorstand, rief ich Sairy. »Du musst sie stützen, während ich das Kind hole. Setz dich auf die Bett- kante und schieb deine Arme unter ihre Achseln, um sie aufrecht zu halten.« Dann stellte ich Mercy erneut meine Frage: »Wer ist der Vater deines Kindes? Sag die Wahrheit.«
»Peter Clark.«
»Schwöre es, Mercy.«
»Wenn es ein anderer als Peter Clark ist, möge dies Kind nie meinen Leib verlassen!«
Aber kurz darauf geschah es, und durch die Gnade Gottes konnte ich Mercy von einem munteren Mädchen entbinden. Falls kräftige Lungen die Garantie für ein langes Leben waren, würde dieses Kind die eigenen Enkel überleben. Ich durchtrennte die Nabelschnur und verband sie.
»Hol das Wasser und ein sauberes Tuch«, sagte ich zu Sairy. Sie eilte in die Küche und kehrte mit einem Topf zurück, den sie auf den Tisch stellte. Dann kramte sie in der Truhe nach einem Tuch, schien aber keine große Hoffnung zu haben, eins zu finden. »Lass gut sein«, sagte ich, löste meinen Kragen und überprüfte die Wassertemperatur. Wie durch ein Wunder war sie genau richtig. Ich tauchte meinen Kragen als behelfsmäßigen Waschlappen ins Wasser und säuberte den schreienden Säugling. Sowie ich damit fertig war, griff ich nach den Leinenstreifen, die Mercy gekauft hatte, und wickelte das Mädchen. Mercy saß benommen auf einem der Schemel und lehnte sich ans Bett. Ich legte den Säugling in ihre Arme und hielt die Laterne so, dass Mutter und Kind einander anschauen konnten.
»Wenn die Nachgeburt nicht von selbst kommt, muss ich sie herausholen«, erklärte ich. Mercy nickte, aber sie hatte Glück, und wenige Minuten später kam die Nachgeburt von selbst. Nachdem ich Mercys Intimbereich versorgt hatte, half ich ihr ins Bett. Erschöpft ließ sie sich zurücksinken und schloss die Augen.
»Du kannst jetzt noch nicht schlafen«, sagte ich. »Erst musst du dein Kind stillen, dann könnt ihr euch beide ausruhen. «
Ihre Brustwarzen waren wie geschaffen zum Stillen, und das Kind saugte gierig. Als ich mich nach Sairy umsah, stellte ich fest, dass sie in einer Ecke des Zimmers döste. Gott allein wusste, wie lange sie schon auf den Beinen war. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass der Tag angebrochen war. Ich hörte die Glocke des Münsters einmal schlagen - halb fünf, nahm ich an. Ich ging in die Küche, um nachzusehen, was an Essen vorhanden war, fand aber nur einen altbackenen Brotkanten und einen Krug Dünnbier.
Als ich ins Zimmer zurückkam, stellte ich fest, dass alle drei Bewohner schliefen. Ich rüttelte Sairy wach, und sie blinzelte mich schlaftrunken an.
»Habt ihr ein bisschen Geld?«, fragte ich.
Sie schaute mich bestürzt an. »Wir . . . wir können nicht . . . der Armenpfleger hat gesagt ...«, stammelte sie.
»Nicht für mich, Sairy. Für Essen. Wenn deine Schwester aufwacht, wird sie hungrig wie ein Löwe sein.«
»Wir haben nichts. Sie hat unser letztes Geld ausgegeben, um Leinen für das Baby zu kaufen.«
Ich holte ein paar Münzen aus meiner Tasche. »Da! Falls du ein bisschen Fleisch bekommst, solltest du es lieber kochen als braten. Mercy sollte Brühe und Eier bekommen, aber kein Hammelfleisch, davon bekommt sie Fieber. Vielleicht kann Peter Clark ein Huhn oder Rindfleisch für euch besorgen. Es ist das Mindeste, was er für euch tun kann.« Auch Weißwein würde Mercy helfen, wieder zu Kräften zu kommen, aber da sie sich bestimmt keinen Wein leisten konnte, riet ich zu Gerstenwasser. »Und Mandelmilch, falls du welche beschaffen kannst.« Sairy bedankte sich überschwänglich, half mir, meine Sachen zusammenzupacken, und begleitete mich bis zur St. Andrewgate.
»Einstweilen sollte alles in Ordnung sein«, sagte ich. »Die nächste Hebamme hier in der Gegend ist Elizabeth Halliday, drüben in der Pfarre St. Cuthbert, gleich bei der Kirche um die Ecke.« Sairy nickte. »Sie ist eine gute Hebamme und Pflegerin und kann euch helfen. Sag ihr, dass ich dich geschickt habe und dass ich mich für ihre Gefälligkeit revanchieren werde. Wenn du mich brauchst, gehst du nach St. Helen Stonegate. Jeder von den Kaufleuten in der Gegend kann dir sagen, wo ich wohne. Ich bin Lady Bridget Hodgson.«
Wieder nickte sie. »Ja, Mylady.«
»Gut. Du hast dich heute Nacht wacker gehalten. Deine Schwester kann von Glück sagen, dass sie dich hat. Und jetzt sieh zu, dass du etwas zu essen für euch beide bekommst.«
»Danke, Mylady.«
Ich sah dem Mädchen nach, bis es um eine Ecke verschwand, und machte mich auf den Heimweg.
2.
Als ich im morgendlichen Dämmerlicht nach Hause ging, blickte ich zum Bootham Bar und sprach ein Dankgebet, weil die Brände der vergangenen Nacht erloschen waren. Eine Rauchwolke schwebte über den glosenden Aschehaufen gen Himmel, aber das Schlimmste war vorüber. Ich hoffte, dass es den Männern des Königs gelungen war, für den Fall eines Angriffs die Deckung der Rebellen zu zerstören. Gott allein wusste, welch ein Gemetzel folgen würde, falls die Rebellen die Stadt eroberten.
Als ich auf die Stonegate einbog, tauchte ein Trupp Soldaten auf, der in Richtung Vorwerk marschierte, um die Wachtposten auf den Stadtmauern abzulösen. Kaum waren die Soldaten wieder aus meinem Blickfeld verschwunden, grübelte ich darüber nach, wie aus dem freien, wohlhabenden York eine Stadt hatte werden können, die so erbittert belagert wurde. Seltsamerweise hatte der Weg, der England in den Bürgerkrieg geführt hatte, in Irland begonnen, als die Papisten ihre Waffen gegen ihre protestantischen Herren erhoben und sie zu Tausenden niedermetzelten, ohne Frauen und Kinder zu schonen. Schon bald wurden Gerüchte laut, die Iren hätten mit Wissen und Billigung des Königs gehandelt und er beabsichtige, sie nach England zu holen, um sie dort ihr blutiges Werk fortsetzen zu lassen. Das Parlament mobilisierte ein Heer, um Englandgegen die Iren zu verteidigen, und König Charles wiederum stellte ein Heer auf, um sich selbst gegen das Parlament zu verteidigen. Binnen weniger Wochen brach der Krieg aus.
Die Parlamentarier behaupteten, der König wolle die protestantische Religion abschaffen und England wieder den Zwängen der katholischen Kirche unterwerfen. Einige warnten sogar, König Charles hoffe darauf, eine irische Armee aufzustellen, die englische Protestanten in ihren Betten erschlagen sollte. Wieder andere waren überzeugt, dass der König das Parlament abschaffen und als Alleinherrscher regieren wollte. Sie sagten, er würde sich zum absoluten Monarchen machen, altehrwürdige englische Freiheiten außer Kraft setzen und für sich das Recht in Anspruch nehmen, jedermanns Eigentum zu beschlagnahmen.
Der König wiederum verdammte die Parlamentarier als Verräter, die es darauf anlegten, Recht und Ordnung zu zerstören. Wenn es den Rebellen gelang, die Monarchie abzuschaffen, verkündete er, würden sie bald auch die Kirche und in weiterer Folge die Autorität von Herren und Meistern umstoßen. Sie würden nicht eher ruhen, ehe sie jede Ordnung aufgehoben hätten, sogar die von Gott selbst geschaffene. Ihr Ziel, sagte er, sei die Anarchie.
Ich für meinen Teil gab Recht und Gesetz den Vorzug vor dem Chaos und hielt zum König, aber hauptsächlich beklagte ich den Verlust einer Zeit, in der König, Kirche und Volk einig gewesen waren.
Der Krieg erreichte York im Dezember des Jahres 1642, als der Marquis von Newcastle - damals noch ein Earl - in die Stadt einzog und eine königstreue Garnison errichtete. Wenige Monate später brachte die Königin Waffen und Geld für die Verteidigung der Stadt, aber Gott sei Dank ließ sich kein Feind blicken. Über ein Jahr lang genossen wir den Luxus, den Bürgerkrieg im Land von Weitem zu beobachten, während andere Städte erobert und zurückgewonnen wurden und die Söhne anderer Männer sich im Kampf bewähren mussten.
Dies alles fand im Frühjahr ein Ende, als die Schotten sich den Rebellen anschlossen, auf die Stadtmauern zumarschierten und die Schlinge um York enger zogen. Noch gab es genug zu essen, aber die Belagerung konnte sich weitere Monate hinziehen, und wie würde es dann um uns stehen?
Mittlerweile beschossen die Parlamentstruppen mit ihrer Artillerie die Stadt, ohne sich darum zu kümmern, wen oder was sie trafen. Dank Gottes Gnade landeten die meisten Geschosse im Fluss Foss, aber gelegentlich hatte auch der Teufel seine Hand im Spiel. Häuser wurden zerstört, Unschuldige getötet, und auch der Kirchturm von St. Denys wurde wie zur Verhöhnung des vermeintlichen Anspruchs des Parlaments, den wahren Glauben zu verteidigen, von einer Kanonenkugel getroffen.
Als ich mich der schmalen Straße näherte, die zu meinem Heim führte, tauchten ein paar Männer von der Stadtmiliz auf. Es waren junge Burschen, und sie nahmen höflich ihre Mützen ab, als sie mich erkannten.
»Auf dem Heimweg von einer Entbindung, Lady Hodgson? «, erkundigte sich der Sergeant.
»So ist es.« Ich versuchte vergeblich, mich an seinen Vornamen zu erinnern - ich wusste, dass ich zwei seiner Kinder entbunden hatte, aber während ich niemals eine Mutter vergaß, sah es bei den Männern anders aus. »Wie geht es Barbara und den Mädchen, Sergeant Smith?« Es war wohl besser, ihn mit seinem Rang anzusprechen.
»Den Mädchen geht es gut, gelobt sei Gott! Bridget ist jetzt fast zwei und läuft überall im Haus herum.« Er wusste, dass ich mich noch an Bridgets Geburt erinnern würde. Die Wehen seiner Frau dauerten Tage. Eine andere Hebamme behauptete, das Kind wäre tot, und wollte den Arzt mit seinen Skalpellen holen. Der Ehemann jedoch kam in seiner Verzweiflung zu mir und flehte mich um Hilfe an. Schließlich stellte sich heraus, dass es Zwillinge waren. Den Jungen konnte ich nicht retten, aber das Mädchen blieb am Leben, und ihr Vater ließ sie mir zu Ehren auf meinen Namen taufen. Ich beschloss, mein Dienstmädchen Hannah zu bitten, eine Pastete zu backen und der Familie bringen zu lassen.
Nachdem ich mich von Sergeant Smith verabschiedet hatte, legte ich die letzten Schritte meines Weges zurück. Wie alle anderen Gebäude in der Gegend war mein Haus drei Stockwerke hoch, von denen jedes ein Stück weiter als das untere in die Straße hineinragte. In engeren Gassen war es beinahe möglich, aus dem Fenster eines Hauses hinaus-und in das Fenster des gegenüberliegenden Hauses hineinzuklettern.
Als mein Zuhause in Sichtweite kam, wurde mir bewusst, wie müde ich war. Ich hoffte inständig, dass die Frauen, denen ich zugesagt hatte, ihnen bei der Entbindung beizustehen, bis zum Abend warten würden - oder besser noch bis zum nächsten Morgen -, bis die Wehen einsetzten. Und wenn der Armenpfleger erneut zu mir kam? Nun, in York gab es ein halbes Dutzend Hebammen.
Als ich das Haus betrat, kam Hannah ins Empfangszimmer gelaufen und begann, ein großes Getue um mich zu machen. Sie war ungefähr fünfundzwanzig Jahre älter als ich und mein Dienstmädchen, solange ich zurückdenken konnte. Sie hatte geholfen, mich aufzuziehen, und dann ihre Familie in Hereford verlassen, um mich nach York zu begleiten. Sie hatte erlebt, wie ich zweimal heiratete und zweimal zur Witwe wurde, und ich glaube, sie hatte noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, eine dritte Heirat und vielleicht ein, zwei Kinder zu erleben. Sie behauptete, sie fühle sich so jung wie eh und je, aber ich fragte mich, wie lange sie es noch schaffen würde, die Hausarbeit allein zu bewältigen.
Hannah nahm mir meinen Umhang ab und drängte mich liebevoll, wenn auch mit einem missbilligenden Zungen- schnalzen, ins Speisezimmer.
»Und?« ,fragte sie. »Wer ist der Vater des Kindes?« Einer der Vorteile, im Haus einer Hebamme zu wohnen, besteht darin, dass man immer als eine der Ersten die neuesten Neuigkeiten erfährt.
»Niemand von Bedeutung«, antwortete ich. »Bloß ein Fleischerlehrling. «
Hannahs Enttäuschung war nicht zu übersehen. Ein sittenloser Ratsherr auf Abwegen hätte weit besseren Stoff für den Klatsch und Tratsch in Geschäften und Märkten abgegeben. Sie ging in die Küche und kam einen Moment später mit einem Teller dampfender Gemüsesuppe zurück, die sie vor mich auf den Tisch stellte, bevor sie nach oben ging, um mit ihrer Arbeit weiterzumachen. Ich war hungrig und machte mich über die Suppe her, aber das Klirren des Löffels am Suppenteller hallte laut im leeren Zimmer wider. Ich wünschte, Hannah wäre bei mir geblieben oder hätte sich wenigstens in der Küche zu schaffen gemacht, dann hätte ich mich nicht so allein gefühlt. Diese melancholischen Gedanken raubten mir den Appetit. Ich schob den Teller beiseite und ging zur Treppe.
Auf dem Weg durchs Empfangszimmer warf ich einen Blick auf das Porträt meines zweiten Ehemanns, Phineas, der Mann, der mich nach York gebracht hatte. Obwohl ich das Bild seit seinem Tod jeden Tag betrachtet hatte, staunte ich jedes Mal darüber, dass es dem Maler nicht gelungen war, Phineas ein wenig vorteilhafter darzustellen, als er gewesen war. Im Grunde war das Porträt ein Meisterwerk. Wie zu seinen Lebzeiten wirkten die Augen meines Gatten eingesunken und hervor quellend zugleich, und sein auffallend fliehendes Kinn wurde zu seinem markantesten Gesichtszug. Seine Ohren wären groß genug für einen doppelt so großen Mann gewesen, und seine Nase schien sich angesichts der Aussicht, seinen eigenen fauligen Atem zu riechen, angewidert zu verziehen. Mehr als einmal hatte ich mit dem Gedanken an eine dritte Ehe gespielt, sei es auch nur, um mein Zuhause von einem derart wahrheitsgetreuen Abbild eines derart lächerlichen Mannsbildes zu befreien.
Von Phineas' Porträt schweifte mein Blick zu der wesentlich kleineren Zeichnung meines ersten Mannes, Luke. Als Phineas noch lebte, hatte ich das Bild in einer Schublade verwahrt, aber nach seinem Tod stellte ich es auf den kleinen Tisch im Empfangszimmer. Wenn Phineas schon im Vergleich zu den meisten anderen Männern verlor, schnitt er neben Luke besonders schlecht ab. Ich hatte Luke erst kennengelernt, nachdem unsere Ehe arrangiert worden war. Die Ländereien unserer Familien in Hereford grenzten aneinander, und unsere Eltern schlossen den Bund, ohne einen von uns nach seiner Meinung zu fragen. Obwohl derartige Ehen häufig in einer Katastrophe endeten, waren Luke und ich uns vom Wesen her ähnlich, und bald verliebten wir uns ineinander. Doch knapp zwei Jahre nach unserer Heirat, als Luke während einer Reise nach London einem Fieber erlag, verwandelte sich mein Glück in Trauer. Der Schmerz, den ich nach seinem Tod empfand, war so stark, dass ich kaum noch klar denken konnte.
Meine Eltern machten sich sofort auf die Suche nach einem neuen Ehemann für mich. Wenige Wochen, nachdem ich Witwe geworden war, teilte mein Vater mir mit, er habe meine Ehe mit Phineas Hodgson arrangiert, dem zweiten Sohn des Lord Mayors von York.
Ich konnte ihm seine Entscheidung kaum verübeln. Eine vierundzwanzigjährige kinderlose Witwe war für ihre Familie von keinerlei Nutzen. Einige Monate später stiegen Hannah und ich in eine Kutsche und machten uns auf den Weg in unser neues Leben in York.
Von Hereford aus erschien die zweite Verbindung meines Vaters genauso gut wie die erste: Die Hodgsons gehörten zu den einflussreichsten Familien der Stadt, und sowohl Phineas' Vater wie sein Bruder waren eindrucksvolle Erscheinungen. Zu spät entdeckte ich, dass Phineas weniger gut geraten war. Sein unschönes Äußeres entsprach seinen mangelnden geistigen Fähigkeiten und seiner Charakterschwäche. Schon lange bevor ich in York eintraf, hatte er sein väterliches Erbe verprasst, und nach unserer Heirat verbrachte er einen Großteil seiner Zeit mit dem Versuch, mir meinen Grundbesitz in Hereford abzuschmeicheln. Wenn das misslang, entschloss er sich, meinem Bett einen Besuch abzustatten, wobei er unmissverständlich klarmachte, dass er mein Land meinem Körper bei Weitem vorgezogen hätte. Ich frage mich bis heute, ob mein Vater wusste, was für einen Mann er für mich ausgesucht hatte.
Als Phineas 1642 einem Fieber erlag, zählte ich mich zu den glücklichsten Frauen Englands. Ich hatte meine Jugend, mein Vermögen, meine Freiheit und meine schöne Tochter Birdy. Aber nun stand Birdys Bild neben dem von Luke auf dem kleinen Tisch.
Das Klappern von Hannahs Schuhen, die den Arm voller Wäsche die Treppe hinunterkam, riss mich aus meinen Tagträumen. »Ich lege mich hin, Hannah. Hilf mir beim Auskleiden. «
In meinem Zimmer löste Hannah die Schnüre meines Mieders und nahm mir meine schmutzigen Sachen ab. Ich schlüpfte in ein reines Hemd und kniete mich zum Beten nieder. Danach fiel ich ins Bett und ließ meine Gedanken schweifen, indem ich mich fragte, welches Schicksal Mercy und ihr uneheliches Kind erwartete. Ich befürchtete, dass sie sich schon bald um Hilfe an die Pfarre wenden würde. Mit ein wenig Glück fand sie vielleicht Aufnahme in eines der Arbeitshäuser der Stadt, was sie davor bewahren würde, mitsamt ihrem Kind zu verhungern, aber mehr auch nicht. Ich wünschte mir, ich könnte mehr für sie tun, aber sie hatte ihre Entscheidungen selbst getroffen und konnte sie nicht mehr rückgängig machen. Vielleicht würde der Kindsvater sie heiraten, dachte ich. Mit harter Arbeit könnte er seine Freiheit erringen und Mercy ein besseres Leben bieten, als sie mit Fug und Recht erhoffen durfte. Es war mir lieber, diesen Gedanken auszuspinnen.
Als ich in der Ferne Kanonendonner hörte, fragte ich mich, welche Zukunft unsere Nation erwartete. Englische und schottische Armeen verwüsteten das Land, und jenseits des Meeres lauerten die irischen Horden darauf, es ihnen gleichzutun.
Endlich kam der Schlaf, aber ich fand keine Ruhe. In meinen verstörenden Träumen stand ich neben Mercy Harris, die ihr Neugeborenes im Arm hielt, auf der Brücke über die Ouse. Mercy starrte auf das Wasser, und Tränen strömten über ihr Gesicht. Hilflos sah ich zu, wie sie auf das Brückengeländer stieg, zärtlich ihr Kind küsste und es in den Fluss fallen ließ. Als das Wasser das Kind verschlang, sah ich, dass es nicht mehr Mercys Tochter, sondern mein Sohn Michael war. Ich schlug die Hände vors Gesicht und bohrte mir in meiner Seelenqual die Fingernägel in die Augen. Mercy fiel neben mir auf die Knie, und wir schluchzten beide herzzerreißend.
Unvermittelt schrak ich aus dem Schlaf und versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken, bevor Hannah mich hörte und nachschauen kam. Während mein Atem allmählich ruhiger ging, betete ich, dass Mercy nie das Leid erfahren möge, ein Kind zu verlieren. Ihre Tochter war gesund zur Welt gekommen, aber ich wusste nur zu gut, dass das keine Garantie war. Michael war der Inbegriff von Gesundheit, als er zur Welt kam, aber er erkrankte und starb wenige Tage nach seiner Taufe. Birdy lebte lange genug, um zu erleben, wie Bruder und Vater beerdigt wurden, aber der Herr nahm auch sie zu sich. Einen Sonntagmorgen noch sang sie aus voller Kehle die Psalmen, und schon am selben Nachmittag bekam sie Husten. In jener Nacht starb sie fiebrig und zitternd in meinen Armen, und ich blieb allein auf der Welt zurück.
Sowie ich zu weinen aufgehört und meine Tränen getrocknet hatte, rief ich nach Hannah und ließ mir von ihr ein Glas Milch bringen, um mein Blut abzukühlen. Dann schickte ich sie mit der Ermahnung weg, mich vor dem Abendessen nicht zu stören. Da ich aus Angst, die Träume könnten wiederkehren, nicht wagte, die Augen zu schließen, beschloss ich, meine Haushaltsbücher in Ordnung zu bringen. Wir hatten immer noch die Vorräte, die ich angelegt hatte, als eine Belagerung wahrscheinlich schien, aber die Preise für lebensnotwendige Dinge wie Butter und Eier bestürzten mich. In meiner verschlossenen Truhe lag immer noch eine Menge Geld; hinzu kamen ein paar hundert Pfund in Anleihen an begüterte Freunde und Goldschmiede. Aber wenn sich der Belagerungszustand weiter in die Länge zog und Nahrungsmittel nicht mehr aufzutreiben waren, egal zu welchem Preis, würde Bargeld meine geringste Sorge sein. Als ich meine Abrechnungen beendete, betete ich, dass es nicht so weit kommen möge.
Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht und den Träumen vom Vormittag beschloss ich, den Rest des Nachmittags stiller Einkehr zu widmen. Ich schlug das Buch mit Mr. Herberts frommen Gedichten auf und begann zu lesen. Natürlich stand schon nach wenigen Minuten Hannah in der Tür.
»Lieblicher Friede, wo weilest du?«, las ich laut. Sie machte ein verdutztes Gesicht, sagte aber nichts. »Was gibt's, Hannah? «
»Mylady, da ist ein Mädchen mit einem Brief für Euch. Ich weiß nicht, wer sie ist. Aus der Stadt ist sie nicht.«
»Na schön, nimm den Brief, gib ihr einen Penny und schick sie ihrer Wege«, sagte ich. »Ich hatte dich doch gebeten, mich nicht zu stören.«
»Das hab ich versucht, Madam. Sie besteht darauf zu warten, bis Ihr den Brief gelesen habt.« Anscheinend übermittelte sie mir diese Botschaft äußerst ungern. Ich dachte daran, das Mädchen zu verscheuchen, aber ihre Beharrlichkeit weckte meine Neugier.
»Also gut«, sagte ich. »Bring mir das Schreiben, aber lass das Mädchen in der Küche warten. Wer weiß, wer sie ist.«
Hannah brachte den Brief und huschte wieder nach unten. Das Wachssiegel auf dem Umschlag und die kunstvolle Handschrift deuteten auf einen professionellen Schreiber hin. Als ich ihn öffnete, stellte ich fest, dass der Inhalt von derselben Hand geschrieben worden war. Der Brief stammte von einer meiner Cousinen, die vor ein paar Monaten gestorben war. Sie war sehr fromm gewesen, und das zeigte sich auch in ihrem kurzen Schreiben.
Geschrieben in meinem Heim in Hereford, den 11. März 1644
Liebste Cousine!
Schon während ich dies schreibe, schwinden meine Kräfte dahin. Weine nicht, denn ich werde zur Rechten des Allmächtigen weilen. Ich bin im Begriff, meine irdischen Angelegenheiten zu regeln und mich auf meinen Weg in das Reich Gottes vorzubereiten. Deshalb will dafür sorgen, dass meine treuen Diener wohlversorgt sind. Martha Hawkins, das Mädchen, das dir diesen Brief gebracht hat, lebt seit zwei Jahren unter meinem Dach und hat sich als eine der fleißigsten Dienerinnen erwiesen, die ich je hatte. Sie ist bescheiden und ehrlich und arbeitet hart. Sie kann sogar lesen und schreiben. Wir leben in Zeiten, die für ein Mädchen ohne Anstellung sehr gefährlich sind. Was soll aus Martha werden in diesem Land, durch das Armeen ziehen? Wenn du sie nicht in deinem eigenen Heim unterbringen kannst, bitte ich dich, bei einer guten, frommen Familie in der Stadt einen Platz für sie zu finden. Ich werde dich schon bald zur Rechten Gottes wiedersehen, aber bis dahin verbleibe ich
Deine dich liebende Schwester in Christo,
Elizabeth
Der Brief war eindeutig genug, aber etliche Fragen blieben offen. Ich überlegte einen Moment, ob Gott mir dieses Mädchen vielleicht ins Haus geschickt hatte, um die vom Alter geschwächte Hannah bei ihrer Arbeit zu unterstützen.
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»Gott bewahre uns vor eigensinnigen Frauen«, seufzte ich. »Wartet hier, bis ich meine Tasche geholt habe. Ihr müsst mich zu ihr bringen.«
»Sehr wohl, Mylady.«
Ich schickte Hannah um meine Ausrüstung nach oben und schlüpfte rasch in einen Kittel, der für die Arbeit, die vor mir lag, geeigneter war.
Der Armenpfleger und ich wanderten an den hohen Türmen des Münsters vorbei zu dem Gewirr von Straßen, Gassen und Hinterhöfen, die den Bezirk St. Savior bildeten. In einer Hand trug der Armenpfleger das kleine Köfferchen mit meinen Utensilien, in der anderen eine Laterne, die mir bei meiner Arbeit Licht spenden sollte. Überall in den Straßen wimmelte es von Leuten, die mit allem, was sie in Läden oder auf Märkten an Essbarem ergattert hatten, nach Hause eilten. Eine junge Frau mit ängstlichen Augen lief an uns vorbei, auf einem Arm einen schreienden Säugling, im anderen ihre Einkäufe. Sie bog bei der St. Andrewgate ab und verschwand in einer Gasse.
Als wir vor Mercys Tür standen, hob ich den Blick zum Münster, das von den Rauchschwaden umhüllt wurde, die über den Sommerhimmel zogen. Herr, stimme unsere Herzen milde für die bitteren Früchte verheerender Kriege, betete ich.
»Geht heim«, sagte ich zum Armenpfleger. »Das Feuer wird Eurer Frau und Euren Kindern Angst machen. Sie werden sich sicherer fühlen, wenn Ihr bei ihnen seid.«
»Wirklich, Mylady?«, fragte er. »Es ist nicht ungefährlich für Euch, in einer Nacht wie dieser allein nach Hause zu gehen.«
»Ich gehe bestimmt nicht vor Tagesanbruch zurück«, versicherte ich ihm. »Es ist ihr erstes Kind, und sie lehnt es ab, den Vater zu nennen. Das wird für sie und mich eine lange Nacht.«
Er nickte und eilte in die relative Sicherheit der St. Andrewgate zurück. Ich wappnete mich für die bevorstehende Nacht und betrat das Haus, ohne anzuklopfen.
In dem Zimmer, in dem ich mein nächtliches Werk vollbringen würde, schaute ich mich um. Selbst mittags musste es hier drinnen düster sein, und die untergehende Sonne ließ nur einen schwachen Lichtschimmer durch die Hornfenster dringen.
Mercy Harris lag auf einer armseligen Bettstatt aus Stroh. Sie war vielleicht dreiundzwanzig Jahre alt und keine große Schönheit. Außerdem starrte sie mich mürrisch an. Offensichtlich war ich als Hebamme nicht ihre erste Wahl. Aber um der Wahrheit die Ehre zu geben, ich hätte sie mir auch nicht als Patientin ausgesucht. Ein Mädchen von ungefähr fünfzehn und genauso dunkelhaarig wie Mercy stand in der Ecke. Sie verkroch sich vor meinem Blick. Wie es schien, hätte sie sich am liebsten unsichtbar gemacht.
»Dem Aussehen nach bist du Mercys Schwester«, sagte ich zu ihr. »Du wirst mir heute Nacht zur Hand gehen. Wie heißt du?« Sie zuckte zusammen, als ich sie ansprach, und schaute zu Mercy, die widerwillig nickte.
»Sairy, Mylady«, murmelte sie daraufhin.
»Also, Sairy«, sagte ich. »Tu genau das, was ich dir sage, und genau dann, wenn ich es sage, dann wird alles gut. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Mylady«, antwortete sie zögerlich.
»Fein. Dann schauen wir uns mal an, was wir hier haben.« Ich ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Das trübe Licht, das durch die kleinen Fenster fiel, ließ kaum erkennen, wo die Schatten aufhörten und der Schmutz begann, deshalb empfand ich die späte Stunde eher als Segen. Mercy trug nur ihr Unterkleid, und ohne Röcke und Schürze war ihre Schwangerschaft nicht zu übersehen. Das Laken aus derber Leinwand und die grobe Wolldecke, die sie zur Seite geschlagen hatte, vervollständigten den Eindruck einer Familie am Rande der Armut.
Neben dem Bett befanden sich die einzigen anderen Möbelstücke - zwei einfache Schemel, ein wackeliger Tisch und eine Truhe, die schon bessere Tage gesehen hatte. Durch eine niedrige Tür konnte ich eine kleine Küche erkennen, hegte aber wenig Hoffnung, dass sich dort ausreichend Nahrung befand, um uns durch die lange Nacht zu helfen.
Ich drehte mich wieder zu Mercy um. »Schau mich an, Mercy«, forderte ich sie auf. Sie gehorchte. »Du weißt, dass ich dir nicht helfen kann, wenn du nicht den Vater des Kindes nennst. Sag mir, wer der Vater ist. Wenn du die Wahrheit sprichst, helfe ich dir, die Schmerzen und Gefahren der Geburt zu bekämpfen. Sag mir die Wahrheit, damit ich vor dem Friedensrichter Zeugnis ablegen kann. Er wird dafür sorgen, dass der Vater für den Unterhalt des Kindes bezahlt.« Mercy wandte den Blick ab, ohne etwas zu erwidern. »Hat er dir Geld angeboten, damit du den Mund hältst?«, fuhr ich fort. »Ein, zwei Schilling? Vielleicht sogar ein Pfund? Ist er verheiratet und will seiner Frau Kummer ersparen?« In der Hoffnung auf einen Hinweis schaute ich Sairy an, aber sie wich meinem Blick hastig aus.
Plötzlich verkrampfte Mercy sich und stieß einen unter- drückten Schrei aus. Ihre Wehen wurden stärker. Ich kauerte mich auf den Schemel, der am weitesten vom Bett entfernt stand, und lehnte mich mit dem Rücken an die Wand. Mein Köfferchen ließ ich bewusst unangetastet. »Wenn du mir nicht sagst, wer der Vater ist, Mercy, kann weder ich dir helfen noch jemand anders. Dann musst du ganz allein fertigwerden. «
Sie wahrte ihr eisernes Schweigen.
»Brennt in der Küche ein Feuer, Sairy?«, fragte ich.
»Wir haben kein Brennholz.« Das Mädchen sah aus, als würde es gleich in Tränen ausbrechen.
Wir würden für die Zeit nach der Geburt etwas zu essen brauchen. Noch wichtiger aber war, Feuer zu machen und Wasser zu erhitzen. Deshalb drückte ich Sairy ein paar Pennys in die Hand, damit sie bei einem Nachbarn Holz kaufen konnte. Sie kehrte bald zurück und zündete in der Küche ein kleines Feuer an. Dann holte sie eine blakende Talgkerze, die zusammen mit meiner Laterne das Zimmer leidlich erhellte. Mit ein wenig Glück würde das Kind bis zum Morgen warten, wenn ich mehr Licht hätte, bevor es zur Welt kam. Aber Frauen wie Mercy wurden im Allgemeinen nicht vom Glück begünstigt.
Die Glocken des Münsters schlugen die Stunden der erbitterten Machtprobe, die nun folgte. Als die Wehen stärker wurden, flehten Sairys Augen mich an, ihr zu sagen, was zu tun war. Ich verhärtete mein Herz und mied ihren Blick ebenso hartnäckig, wie Mercy den meinen. Ich hätte dem armen Mädchen nur zu gern geholfen und fragte mich unwillkürlich, wie sie in diese Situation geraten war. Wo waren ihre Eltern? War Sairy alles, was Mercy an Familie besaß?
Um elf Uhr platzte Mercys Fruchtblase. Mit zitternden Händen versuchte Sairy, die Strohliege mit einem schmutzigen Küchenlumpen zu reinigen. Armes Ding.
Gegen zwei Uhr morgens schließlich setzten die Geburtswehen ein.
»Mercy, ich frage dich noch einmal. Wer ist der Vater?«
Sie biss die Zähne zusammen und starrte mich aus funkelnden Augen an. Ihre Unterlippe war völlig zerbissen, und im flackernden Kerzenlicht sah ich Blut über ihr Kinn laufen. Ihre Brust hob und senkte sich beim Atmen, aber noch immer hüllte sie sich in eisernes Schweigen.
Nein, so hatte es keinen Sinn.
Ich wandte mich an Sairy. »Du kannst versuchen, eine andere Hebamme zu finden, wenn du willst, aber in einer Nacht wie dieser wird sich kaum eine auf die Straßen wagen, schon gar nicht für eine Frau wie deine Schwester. Und selbst wenn du eine findest, wird sie dieselbe Frage stellen.« Sairys Augen weiteten sich vor Furcht, und ich fuhr fort: »Vielleicht helfen euch die Nachbarn, aber kaum jemand hat etwas für vaterlose Bastarde übrig. Ihr beide werdet heute Nacht auf euch allein gestellt sein.« Ich griff nach Tasche und Laterne und öffnete die Tür. »Sei vorsichtig, wenn du die Nabelschnur durchschneidest«, fügte ich hinzu. »Wenn du nicht aufpasst, wird das Kind sterben . . . und deine Schwester ebenfalls. « Ich verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter mir.
Draußen trat ich in den Torbogen eines Nachbarhauses, nur um festzustellen, dass der Platz von einem der Schweine belegt wurde, die durch Yorks Straßen streunten. Ich versetzte dem Tier einen Tritt in die Seite, und es galoppierte mit einem empörten Quieken davon. Dann schlüpfte ich in den Schatten und wartete. Genau wie ich vermutet hatte, wurde bald darauf Mercys Tür aufgestoßen, und Sairy lief mit gerafften Röcken an mir vorbei. Ich rief ihren Namen, worauf sie so sehr erschrak, dass sie in dem mit Urin gefüllten Rinnstein beinahe ausgerutscht wäre. Sie eilte zu mir und packte mich am Arm, um mich zum Haus zurückzuzerren. Ich unterdrückte die Regung, das Mädchen in die Arme zu nehmen und ihr auf jede erdenkliche Art beizustehen. Es entsprach nicht meiner Natur, jemandem meine Hilfe zu versagen, aber in dieser Situation hatte ich keine andere Wahl. Ich riss mich los, und Sairy fiel schluchzend auf die Knie.
»Warum wollt Ihr Mercy denn nicht helfen?«, rief sie. »Ohne Eure Hilfe wird sie sterben und das Kind auch! Das habt Ihr selbst gesagt!«
Ihr kummervolles Wehklagen erweichte mein Herz, und ich bückte mich, um ihr aufzuhelfen. Das arme Mädchen tat mir leid. Schließlich hatte nicht sie gesündigt, sondern Mercy. »Es gibt jetzt schon zu viele vaterlose Kinder in York«, erklärte ich so freundlich, wie ich konnte. »Wenn deine Schwester den Vater nicht nennt, muss die Stadt für das Kind aufkommen. Solange sie den Namen verschweigt, ist es mir nicht erlaubt, ihr zu helfen.«
»Was soll ich tun?«
»Sag ihr, sie soll den Vater nennen«, erwiderte ich und nahm ihr Gesicht in beide Hände. »Wenn sie das verspricht, komme ich zurück, und alles wird gut.«
Sairy nickte und verschwand im Haus. Gleich darauf tauchte sie wieder auf. »Meine Schwester will Euch sagen, wer der Vater ist. Werdet Ihr jetzt helfen?«
Ich nickte, folgte ihr ins Haus, durchquerte das Zimmer und kauerte mich zwischen Mercys Beine, hielt aber inne, bevor ich sie anfasste. »Mercy, du musst mir jetzt den Namen des Kindsvaters nennen, sonst gehe ich wieder. Dein Leben ist in Gefahr, also lass die letzten Worte, die du vielleicht sprichst, keine Lüge sein, sonst wirst du dich beim Jüngsten Gericht dafür verantworten müssen.«
»Peter Clark«, stieß Mercy keuchend hervor. »Der Vater heißt Peter Clark.«
»Ich kenne keinen Peter Clark«, erwiderte ich. »Und es ist ein verbreiteter Name. Welchen Peter Clark meinst du?«
»Er ist Lehrling bei William Dolben, einem Fleischer in den Shambles. Er ist der Vater, ich schwör's!«
Ich würde sie natürlich noch einmal befragen müssen, aber einstweilen war Peter Clark ein guter Anfang, und ich konnte mit meiner Arbeit beginnen. »Danke, Mercy«, sagte ich. »Du hast das Richtige für euch beide getan, für dich und dein Kind.«
Ich klappte mein Köfferchen auf und entnahm ihm die Öle und Heilmittel, die ich brauchen würde. Als ich ein kleines Messer zum Durchtrennen der Nabelschnur in meine Schürze steckte, sprach ich ein Gebet. Der kleine Beutel mit den Schneidewerkzeugen lag am Boden der Tasche und würde hoffentlich auch dort bleiben. Ich entkorkte eine Phiole mit Öl und rieb damit meine Hände und Mercys Intimbereich ein, begleitet von einem weiteren gemurmelten Gebet, bevor ich meine Hand in sie hineinschob, um festzustellen, wie das Kind lag, und abzuschätzen, wie ich ihm den Weg in diese Welt zu erleichtern vermochte. Ich konnte den Kopf des Kinds spüren und wusste, es würde bald kommen.
Ich blickte zu Mercy auf. Die Haut über ihren Wangenknochen spannte sich, und ihre Augen glänzten vor Schmerz, was ihr ein beinahe dämonisches Aussehen verlieh. Sie hätte etwas essen sollen, um bei Kräften zu bleiben, aber ihre Armut konnte ich ihr schwerlich zum Vorwurf machen.
Ich drehte mich zu Sairy um »Das Kind kommt gleich. Habt ihr etwas Leinen bereitliegen?« Sie starrte mich verständnislos an. »Um das Kind zu wickeln«, fügte ich hinzu.
»In der Truhe«, sagte Mercy mit schwacher Stimme. »Ich habe es letzte Woche gekauft.«
Ich nickte Sairy zu, und sie lief hastig zur Truhe, holte ein kleines Bündel heraus und legte es auf den Tisch.
»Und jetzt stell bitte Wasser auf«, sagte ich. Wieder zögerte Sairy. Ein liebes Mädchen und eine gute Schwester, aber nicht unbedingt das, was ich mir von einer Helferin erhoffte. »Wir müssen das Kind waschen. Nicht zu heiß, bloß warm genug, um es zu säubern.« Sairy verschwand in der Küche, und ich wandte mich wieder Mercy zu.
»Komm, ich helf dir. Es ist besser, wenn du ein bisschen auf und ab gehst, statt zu liegen. Das Kind wird darum kämpfen, zur Welt zu kommen, und es hilft, wenn der Weg nach unten führt.« Sie zögerte, als wäre sie unschlüssig, ob es tatsächlich eine gute Idee war, durchs Zimmer zu gehen. »Außerdem musst du dann die Matratze nachher nicht verbrennen«, fügte ich hinzu.
Sie hielt sich an meinen Händen fest und wuchtete sich mit einiger Mühe vom Bett und auf die Beine. In kleinen Kreisen gingen wir durchs Zimmer, Mercys Arm auf meine Schultern, meiner um ihre Taille gelegt. Von Zeit zu Zeit legte sie den Kopf an meine Schulter, und ich sah, wie sie ihre Tränen an meinem Kragen abwischte. Ich hatte den Eindruck, dass es keine Tränen des Schmerzes, sondern des Bedauerns waren. Natürlich, sie hatte gesündigt und ihr Schicksal bis zu einem gewissen Grad verdient, aber ich fragte mich, welche Zukunft Peter Clark ihr möglicherweise gestohlen hatte, als er sie schwängerte. Würde sie je das Leben einer ehrbaren Hausfrau führen? Würde sie ihre Kinder in einem Zuhause großziehen, in dem es mehr als ein Bett, zwei Schemel und einen Tisch gab? Oder war dies hier der letzte Schritt auf dem Weg in bitterste Armut? Würde sie ihr Leben als eine der Huren der Stadt beschließen, mit einem Kind, dem eine ähnliche Zukunft beschieden war?
»Alles wird gut«, sagte ich und betete im Stillen, dass ich recht haben möge. »Die Wehen verlaufen normal, und der Kopf des Kindes befindet sich am Gebärmutterhals. Vielleicht tut es nicht mal weh.« Obwohl Angst und Erschöpfung sie nahezu überwältigten, lächelte Mercy ein wenig. »Wahrscheinlich wird es doch wehtun«, gab ich zu.
Als die Geburt kurz bevorstand, rief ich Sairy. »Du musst sie stützen, während ich das Kind hole. Setz dich auf die Bett- kante und schieb deine Arme unter ihre Achseln, um sie aufrecht zu halten.« Dann stellte ich Mercy erneut meine Frage: »Wer ist der Vater deines Kindes? Sag die Wahrheit.«
»Peter Clark.«
»Schwöre es, Mercy.«
»Wenn es ein anderer als Peter Clark ist, möge dies Kind nie meinen Leib verlassen!«
Aber kurz darauf geschah es, und durch die Gnade Gottes konnte ich Mercy von einem munteren Mädchen entbinden. Falls kräftige Lungen die Garantie für ein langes Leben waren, würde dieses Kind die eigenen Enkel überleben. Ich durchtrennte die Nabelschnur und verband sie.
»Hol das Wasser und ein sauberes Tuch«, sagte ich zu Sairy. Sie eilte in die Küche und kehrte mit einem Topf zurück, den sie auf den Tisch stellte. Dann kramte sie in der Truhe nach einem Tuch, schien aber keine große Hoffnung zu haben, eins zu finden. »Lass gut sein«, sagte ich, löste meinen Kragen und überprüfte die Wassertemperatur. Wie durch ein Wunder war sie genau richtig. Ich tauchte meinen Kragen als behelfsmäßigen Waschlappen ins Wasser und säuberte den schreienden Säugling. Sowie ich damit fertig war, griff ich nach den Leinenstreifen, die Mercy gekauft hatte, und wickelte das Mädchen. Mercy saß benommen auf einem der Schemel und lehnte sich ans Bett. Ich legte den Säugling in ihre Arme und hielt die Laterne so, dass Mutter und Kind einander anschauen konnten.
»Wenn die Nachgeburt nicht von selbst kommt, muss ich sie herausholen«, erklärte ich. Mercy nickte, aber sie hatte Glück, und wenige Minuten später kam die Nachgeburt von selbst. Nachdem ich Mercys Intimbereich versorgt hatte, half ich ihr ins Bett. Erschöpft ließ sie sich zurücksinken und schloss die Augen.
»Du kannst jetzt noch nicht schlafen«, sagte ich. »Erst musst du dein Kind stillen, dann könnt ihr euch beide ausruhen. «
Ihre Brustwarzen waren wie geschaffen zum Stillen, und das Kind saugte gierig. Als ich mich nach Sairy umsah, stellte ich fest, dass sie in einer Ecke des Zimmers döste. Gott allein wusste, wie lange sie schon auf den Beinen war. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir, dass der Tag angebrochen war. Ich hörte die Glocke des Münsters einmal schlagen - halb fünf, nahm ich an. Ich ging in die Küche, um nachzusehen, was an Essen vorhanden war, fand aber nur einen altbackenen Brotkanten und einen Krug Dünnbier.
Als ich ins Zimmer zurückkam, stellte ich fest, dass alle drei Bewohner schliefen. Ich rüttelte Sairy wach, und sie blinzelte mich schlaftrunken an.
»Habt ihr ein bisschen Geld?«, fragte ich.
Sie schaute mich bestürzt an. »Wir . . . wir können nicht . . . der Armenpfleger hat gesagt ...«, stammelte sie.
»Nicht für mich, Sairy. Für Essen. Wenn deine Schwester aufwacht, wird sie hungrig wie ein Löwe sein.«
»Wir haben nichts. Sie hat unser letztes Geld ausgegeben, um Leinen für das Baby zu kaufen.«
Ich holte ein paar Münzen aus meiner Tasche. »Da! Falls du ein bisschen Fleisch bekommst, solltest du es lieber kochen als braten. Mercy sollte Brühe und Eier bekommen, aber kein Hammelfleisch, davon bekommt sie Fieber. Vielleicht kann Peter Clark ein Huhn oder Rindfleisch für euch besorgen. Es ist das Mindeste, was er für euch tun kann.« Auch Weißwein würde Mercy helfen, wieder zu Kräften zu kommen, aber da sie sich bestimmt keinen Wein leisten konnte, riet ich zu Gerstenwasser. »Und Mandelmilch, falls du welche beschaffen kannst.« Sairy bedankte sich überschwänglich, half mir, meine Sachen zusammenzupacken, und begleitete mich bis zur St. Andrewgate.
»Einstweilen sollte alles in Ordnung sein«, sagte ich. »Die nächste Hebamme hier in der Gegend ist Elizabeth Halliday, drüben in der Pfarre St. Cuthbert, gleich bei der Kirche um die Ecke.« Sairy nickte. »Sie ist eine gute Hebamme und Pflegerin und kann euch helfen. Sag ihr, dass ich dich geschickt habe und dass ich mich für ihre Gefälligkeit revanchieren werde. Wenn du mich brauchst, gehst du nach St. Helen Stonegate. Jeder von den Kaufleuten in der Gegend kann dir sagen, wo ich wohne. Ich bin Lady Bridget Hodgson.«
Wieder nickte sie. »Ja, Mylady.«
»Gut. Du hast dich heute Nacht wacker gehalten. Deine Schwester kann von Glück sagen, dass sie dich hat. Und jetzt sieh zu, dass du etwas zu essen für euch beide bekommst.«
»Danke, Mylady.«
Ich sah dem Mädchen nach, bis es um eine Ecke verschwand, und machte mich auf den Heimweg.
2.
Als ich im morgendlichen Dämmerlicht nach Hause ging, blickte ich zum Bootham Bar und sprach ein Dankgebet, weil die Brände der vergangenen Nacht erloschen waren. Eine Rauchwolke schwebte über den glosenden Aschehaufen gen Himmel, aber das Schlimmste war vorüber. Ich hoffte, dass es den Männern des Königs gelungen war, für den Fall eines Angriffs die Deckung der Rebellen zu zerstören. Gott allein wusste, welch ein Gemetzel folgen würde, falls die Rebellen die Stadt eroberten.
Als ich auf die Stonegate einbog, tauchte ein Trupp Soldaten auf, der in Richtung Vorwerk marschierte, um die Wachtposten auf den Stadtmauern abzulösen. Kaum waren die Soldaten wieder aus meinem Blickfeld verschwunden, grübelte ich darüber nach, wie aus dem freien, wohlhabenden York eine Stadt hatte werden können, die so erbittert belagert wurde. Seltsamerweise hatte der Weg, der England in den Bürgerkrieg geführt hatte, in Irland begonnen, als die Papisten ihre Waffen gegen ihre protestantischen Herren erhoben und sie zu Tausenden niedermetzelten, ohne Frauen und Kinder zu schonen. Schon bald wurden Gerüchte laut, die Iren hätten mit Wissen und Billigung des Königs gehandelt und er beabsichtige, sie nach England zu holen, um sie dort ihr blutiges Werk fortsetzen zu lassen. Das Parlament mobilisierte ein Heer, um Englandgegen die Iren zu verteidigen, und König Charles wiederum stellte ein Heer auf, um sich selbst gegen das Parlament zu verteidigen. Binnen weniger Wochen brach der Krieg aus.
Die Parlamentarier behaupteten, der König wolle die protestantische Religion abschaffen und England wieder den Zwängen der katholischen Kirche unterwerfen. Einige warnten sogar, König Charles hoffe darauf, eine irische Armee aufzustellen, die englische Protestanten in ihren Betten erschlagen sollte. Wieder andere waren überzeugt, dass der König das Parlament abschaffen und als Alleinherrscher regieren wollte. Sie sagten, er würde sich zum absoluten Monarchen machen, altehrwürdige englische Freiheiten außer Kraft setzen und für sich das Recht in Anspruch nehmen, jedermanns Eigentum zu beschlagnahmen.
Der König wiederum verdammte die Parlamentarier als Verräter, die es darauf anlegten, Recht und Ordnung zu zerstören. Wenn es den Rebellen gelang, die Monarchie abzuschaffen, verkündete er, würden sie bald auch die Kirche und in weiterer Folge die Autorität von Herren und Meistern umstoßen. Sie würden nicht eher ruhen, ehe sie jede Ordnung aufgehoben hätten, sogar die von Gott selbst geschaffene. Ihr Ziel, sagte er, sei die Anarchie.
Ich für meinen Teil gab Recht und Gesetz den Vorzug vor dem Chaos und hielt zum König, aber hauptsächlich beklagte ich den Verlust einer Zeit, in der König, Kirche und Volk einig gewesen waren.
Der Krieg erreichte York im Dezember des Jahres 1642, als der Marquis von Newcastle - damals noch ein Earl - in die Stadt einzog und eine königstreue Garnison errichtete. Wenige Monate später brachte die Königin Waffen und Geld für die Verteidigung der Stadt, aber Gott sei Dank ließ sich kein Feind blicken. Über ein Jahr lang genossen wir den Luxus, den Bürgerkrieg im Land von Weitem zu beobachten, während andere Städte erobert und zurückgewonnen wurden und die Söhne anderer Männer sich im Kampf bewähren mussten.
Dies alles fand im Frühjahr ein Ende, als die Schotten sich den Rebellen anschlossen, auf die Stadtmauern zumarschierten und die Schlinge um York enger zogen. Noch gab es genug zu essen, aber die Belagerung konnte sich weitere Monate hinziehen, und wie würde es dann um uns stehen?
Mittlerweile beschossen die Parlamentstruppen mit ihrer Artillerie die Stadt, ohne sich darum zu kümmern, wen oder was sie trafen. Dank Gottes Gnade landeten die meisten Geschosse im Fluss Foss, aber gelegentlich hatte auch der Teufel seine Hand im Spiel. Häuser wurden zerstört, Unschuldige getötet, und auch der Kirchturm von St. Denys wurde wie zur Verhöhnung des vermeintlichen Anspruchs des Parlaments, den wahren Glauben zu verteidigen, von einer Kanonenkugel getroffen.
Als ich mich der schmalen Straße näherte, die zu meinem Heim führte, tauchten ein paar Männer von der Stadtmiliz auf. Es waren junge Burschen, und sie nahmen höflich ihre Mützen ab, als sie mich erkannten.
»Auf dem Heimweg von einer Entbindung, Lady Hodgson? «, erkundigte sich der Sergeant.
»So ist es.« Ich versuchte vergeblich, mich an seinen Vornamen zu erinnern - ich wusste, dass ich zwei seiner Kinder entbunden hatte, aber während ich niemals eine Mutter vergaß, sah es bei den Männern anders aus. »Wie geht es Barbara und den Mädchen, Sergeant Smith?« Es war wohl besser, ihn mit seinem Rang anzusprechen.
»Den Mädchen geht es gut, gelobt sei Gott! Bridget ist jetzt fast zwei und läuft überall im Haus herum.« Er wusste, dass ich mich noch an Bridgets Geburt erinnern würde. Die Wehen seiner Frau dauerten Tage. Eine andere Hebamme behauptete, das Kind wäre tot, und wollte den Arzt mit seinen Skalpellen holen. Der Ehemann jedoch kam in seiner Verzweiflung zu mir und flehte mich um Hilfe an. Schließlich stellte sich heraus, dass es Zwillinge waren. Den Jungen konnte ich nicht retten, aber das Mädchen blieb am Leben, und ihr Vater ließ sie mir zu Ehren auf meinen Namen taufen. Ich beschloss, mein Dienstmädchen Hannah zu bitten, eine Pastete zu backen und der Familie bringen zu lassen.
Nachdem ich mich von Sergeant Smith verabschiedet hatte, legte ich die letzten Schritte meines Weges zurück. Wie alle anderen Gebäude in der Gegend war mein Haus drei Stockwerke hoch, von denen jedes ein Stück weiter als das untere in die Straße hineinragte. In engeren Gassen war es beinahe möglich, aus dem Fenster eines Hauses hinaus-und in das Fenster des gegenüberliegenden Hauses hineinzuklettern.
Als mein Zuhause in Sichtweite kam, wurde mir bewusst, wie müde ich war. Ich hoffte inständig, dass die Frauen, denen ich zugesagt hatte, ihnen bei der Entbindung beizustehen, bis zum Abend warten würden - oder besser noch bis zum nächsten Morgen -, bis die Wehen einsetzten. Und wenn der Armenpfleger erneut zu mir kam? Nun, in York gab es ein halbes Dutzend Hebammen.
Als ich das Haus betrat, kam Hannah ins Empfangszimmer gelaufen und begann, ein großes Getue um mich zu machen. Sie war ungefähr fünfundzwanzig Jahre älter als ich und mein Dienstmädchen, solange ich zurückdenken konnte. Sie hatte geholfen, mich aufzuziehen, und dann ihre Familie in Hereford verlassen, um mich nach York zu begleiten. Sie hatte erlebt, wie ich zweimal heiratete und zweimal zur Witwe wurde, und ich glaube, sie hatte noch immer nicht die Hoffnung aufgegeben, eine dritte Heirat und vielleicht ein, zwei Kinder zu erleben. Sie behauptete, sie fühle sich so jung wie eh und je, aber ich fragte mich, wie lange sie es noch schaffen würde, die Hausarbeit allein zu bewältigen.
Hannah nahm mir meinen Umhang ab und drängte mich liebevoll, wenn auch mit einem missbilligenden Zungen- schnalzen, ins Speisezimmer.
»Und?« ,fragte sie. »Wer ist der Vater des Kindes?« Einer der Vorteile, im Haus einer Hebamme zu wohnen, besteht darin, dass man immer als eine der Ersten die neuesten Neuigkeiten erfährt.
»Niemand von Bedeutung«, antwortete ich. »Bloß ein Fleischerlehrling. «
Hannahs Enttäuschung war nicht zu übersehen. Ein sittenloser Ratsherr auf Abwegen hätte weit besseren Stoff für den Klatsch und Tratsch in Geschäften und Märkten abgegeben. Sie ging in die Küche und kam einen Moment später mit einem Teller dampfender Gemüsesuppe zurück, die sie vor mich auf den Tisch stellte, bevor sie nach oben ging, um mit ihrer Arbeit weiterzumachen. Ich war hungrig und machte mich über die Suppe her, aber das Klirren des Löffels am Suppenteller hallte laut im leeren Zimmer wider. Ich wünschte, Hannah wäre bei mir geblieben oder hätte sich wenigstens in der Küche zu schaffen gemacht, dann hätte ich mich nicht so allein gefühlt. Diese melancholischen Gedanken raubten mir den Appetit. Ich schob den Teller beiseite und ging zur Treppe.
Auf dem Weg durchs Empfangszimmer warf ich einen Blick auf das Porträt meines zweiten Ehemanns, Phineas, der Mann, der mich nach York gebracht hatte. Obwohl ich das Bild seit seinem Tod jeden Tag betrachtet hatte, staunte ich jedes Mal darüber, dass es dem Maler nicht gelungen war, Phineas ein wenig vorteilhafter darzustellen, als er gewesen war. Im Grunde war das Porträt ein Meisterwerk. Wie zu seinen Lebzeiten wirkten die Augen meines Gatten eingesunken und hervor quellend zugleich, und sein auffallend fliehendes Kinn wurde zu seinem markantesten Gesichtszug. Seine Ohren wären groß genug für einen doppelt so großen Mann gewesen, und seine Nase schien sich angesichts der Aussicht, seinen eigenen fauligen Atem zu riechen, angewidert zu verziehen. Mehr als einmal hatte ich mit dem Gedanken an eine dritte Ehe gespielt, sei es auch nur, um mein Zuhause von einem derart wahrheitsgetreuen Abbild eines derart lächerlichen Mannsbildes zu befreien.
Von Phineas' Porträt schweifte mein Blick zu der wesentlich kleineren Zeichnung meines ersten Mannes, Luke. Als Phineas noch lebte, hatte ich das Bild in einer Schublade verwahrt, aber nach seinem Tod stellte ich es auf den kleinen Tisch im Empfangszimmer. Wenn Phineas schon im Vergleich zu den meisten anderen Männern verlor, schnitt er neben Luke besonders schlecht ab. Ich hatte Luke erst kennengelernt, nachdem unsere Ehe arrangiert worden war. Die Ländereien unserer Familien in Hereford grenzten aneinander, und unsere Eltern schlossen den Bund, ohne einen von uns nach seiner Meinung zu fragen. Obwohl derartige Ehen häufig in einer Katastrophe endeten, waren Luke und ich uns vom Wesen her ähnlich, und bald verliebten wir uns ineinander. Doch knapp zwei Jahre nach unserer Heirat, als Luke während einer Reise nach London einem Fieber erlag, verwandelte sich mein Glück in Trauer. Der Schmerz, den ich nach seinem Tod empfand, war so stark, dass ich kaum noch klar denken konnte.
Meine Eltern machten sich sofort auf die Suche nach einem neuen Ehemann für mich. Wenige Wochen, nachdem ich Witwe geworden war, teilte mein Vater mir mit, er habe meine Ehe mit Phineas Hodgson arrangiert, dem zweiten Sohn des Lord Mayors von York.
Ich konnte ihm seine Entscheidung kaum verübeln. Eine vierundzwanzigjährige kinderlose Witwe war für ihre Familie von keinerlei Nutzen. Einige Monate später stiegen Hannah und ich in eine Kutsche und machten uns auf den Weg in unser neues Leben in York.
Von Hereford aus erschien die zweite Verbindung meines Vaters genauso gut wie die erste: Die Hodgsons gehörten zu den einflussreichsten Familien der Stadt, und sowohl Phineas' Vater wie sein Bruder waren eindrucksvolle Erscheinungen. Zu spät entdeckte ich, dass Phineas weniger gut geraten war. Sein unschönes Äußeres entsprach seinen mangelnden geistigen Fähigkeiten und seiner Charakterschwäche. Schon lange bevor ich in York eintraf, hatte er sein väterliches Erbe verprasst, und nach unserer Heirat verbrachte er einen Großteil seiner Zeit mit dem Versuch, mir meinen Grundbesitz in Hereford abzuschmeicheln. Wenn das misslang, entschloss er sich, meinem Bett einen Besuch abzustatten, wobei er unmissverständlich klarmachte, dass er mein Land meinem Körper bei Weitem vorgezogen hätte. Ich frage mich bis heute, ob mein Vater wusste, was für einen Mann er für mich ausgesucht hatte.
Als Phineas 1642 einem Fieber erlag, zählte ich mich zu den glücklichsten Frauen Englands. Ich hatte meine Jugend, mein Vermögen, meine Freiheit und meine schöne Tochter Birdy. Aber nun stand Birdys Bild neben dem von Luke auf dem kleinen Tisch.
Das Klappern von Hannahs Schuhen, die den Arm voller Wäsche die Treppe hinunterkam, riss mich aus meinen Tagträumen. »Ich lege mich hin, Hannah. Hilf mir beim Auskleiden. «
In meinem Zimmer löste Hannah die Schnüre meines Mieders und nahm mir meine schmutzigen Sachen ab. Ich schlüpfte in ein reines Hemd und kniete mich zum Beten nieder. Danach fiel ich ins Bett und ließ meine Gedanken schweifen, indem ich mich fragte, welches Schicksal Mercy und ihr uneheliches Kind erwartete. Ich befürchtete, dass sie sich schon bald um Hilfe an die Pfarre wenden würde. Mit ein wenig Glück fand sie vielleicht Aufnahme in eines der Arbeitshäuser der Stadt, was sie davor bewahren würde, mitsamt ihrem Kind zu verhungern, aber mehr auch nicht. Ich wünschte mir, ich könnte mehr für sie tun, aber sie hatte ihre Entscheidungen selbst getroffen und konnte sie nicht mehr rückgängig machen. Vielleicht würde der Kindsvater sie heiraten, dachte ich. Mit harter Arbeit könnte er seine Freiheit erringen und Mercy ein besseres Leben bieten, als sie mit Fug und Recht erhoffen durfte. Es war mir lieber, diesen Gedanken auszuspinnen.
Als ich in der Ferne Kanonendonner hörte, fragte ich mich, welche Zukunft unsere Nation erwartete. Englische und schottische Armeen verwüsteten das Land, und jenseits des Meeres lauerten die irischen Horden darauf, es ihnen gleichzutun.
Endlich kam der Schlaf, aber ich fand keine Ruhe. In meinen verstörenden Träumen stand ich neben Mercy Harris, die ihr Neugeborenes im Arm hielt, auf der Brücke über die Ouse. Mercy starrte auf das Wasser, und Tränen strömten über ihr Gesicht. Hilflos sah ich zu, wie sie auf das Brückengeländer stieg, zärtlich ihr Kind küsste und es in den Fluss fallen ließ. Als das Wasser das Kind verschlang, sah ich, dass es nicht mehr Mercys Tochter, sondern mein Sohn Michael war. Ich schlug die Hände vors Gesicht und bohrte mir in meiner Seelenqual die Fingernägel in die Augen. Mercy fiel neben mir auf die Knie, und wir schluchzten beide herzzerreißend.
Unvermittelt schrak ich aus dem Schlaf und versuchte mein Schluchzen zu unterdrücken, bevor Hannah mich hörte und nachschauen kam. Während mein Atem allmählich ruhiger ging, betete ich, dass Mercy nie das Leid erfahren möge, ein Kind zu verlieren. Ihre Tochter war gesund zur Welt gekommen, aber ich wusste nur zu gut, dass das keine Garantie war. Michael war der Inbegriff von Gesundheit, als er zur Welt kam, aber er erkrankte und starb wenige Tage nach seiner Taufe. Birdy lebte lange genug, um zu erleben, wie Bruder und Vater beerdigt wurden, aber der Herr nahm auch sie zu sich. Einen Sonntagmorgen noch sang sie aus voller Kehle die Psalmen, und schon am selben Nachmittag bekam sie Husten. In jener Nacht starb sie fiebrig und zitternd in meinen Armen, und ich blieb allein auf der Welt zurück.
Sowie ich zu weinen aufgehört und meine Tränen getrocknet hatte, rief ich nach Hannah und ließ mir von ihr ein Glas Milch bringen, um mein Blut abzukühlen. Dann schickte ich sie mit der Ermahnung weg, mich vor dem Abendessen nicht zu stören. Da ich aus Angst, die Träume könnten wiederkehren, nicht wagte, die Augen zu schließen, beschloss ich, meine Haushaltsbücher in Ordnung zu bringen. Wir hatten immer noch die Vorräte, die ich angelegt hatte, als eine Belagerung wahrscheinlich schien, aber die Preise für lebensnotwendige Dinge wie Butter und Eier bestürzten mich. In meiner verschlossenen Truhe lag immer noch eine Menge Geld; hinzu kamen ein paar hundert Pfund in Anleihen an begüterte Freunde und Goldschmiede. Aber wenn sich der Belagerungszustand weiter in die Länge zog und Nahrungsmittel nicht mehr aufzutreiben waren, egal zu welchem Preis, würde Bargeld meine geringste Sorge sein. Als ich meine Abrechnungen beendete, betete ich, dass es nicht so weit kommen möge.
Nach den Ereignissen der vergangenen Nacht und den Träumen vom Vormittag beschloss ich, den Rest des Nachmittags stiller Einkehr zu widmen. Ich schlug das Buch mit Mr. Herberts frommen Gedichten auf und begann zu lesen. Natürlich stand schon nach wenigen Minuten Hannah in der Tür.
»Lieblicher Friede, wo weilest du?«, las ich laut. Sie machte ein verdutztes Gesicht, sagte aber nichts. »Was gibt's, Hannah? «
»Mylady, da ist ein Mädchen mit einem Brief für Euch. Ich weiß nicht, wer sie ist. Aus der Stadt ist sie nicht.«
»Na schön, nimm den Brief, gib ihr einen Penny und schick sie ihrer Wege«, sagte ich. »Ich hatte dich doch gebeten, mich nicht zu stören.«
»Das hab ich versucht, Madam. Sie besteht darauf zu warten, bis Ihr den Brief gelesen habt.« Anscheinend übermittelte sie mir diese Botschaft äußerst ungern. Ich dachte daran, das Mädchen zu verscheuchen, aber ihre Beharrlichkeit weckte meine Neugier.
»Also gut«, sagte ich. »Bring mir das Schreiben, aber lass das Mädchen in der Küche warten. Wer weiß, wer sie ist.«
Hannah brachte den Brief und huschte wieder nach unten. Das Wachssiegel auf dem Umschlag und die kunstvolle Handschrift deuteten auf einen professionellen Schreiber hin. Als ich ihn öffnete, stellte ich fest, dass der Inhalt von derselben Hand geschrieben worden war. Der Brief stammte von einer meiner Cousinen, die vor ein paar Monaten gestorben war. Sie war sehr fromm gewesen, und das zeigte sich auch in ihrem kurzen Schreiben.
Geschrieben in meinem Heim in Hereford, den 11. März 1644
Liebste Cousine!
Schon während ich dies schreibe, schwinden meine Kräfte dahin. Weine nicht, denn ich werde zur Rechten des Allmächtigen weilen. Ich bin im Begriff, meine irdischen Angelegenheiten zu regeln und mich auf meinen Weg in das Reich Gottes vorzubereiten. Deshalb will dafür sorgen, dass meine treuen Diener wohlversorgt sind. Martha Hawkins, das Mädchen, das dir diesen Brief gebracht hat, lebt seit zwei Jahren unter meinem Dach und hat sich als eine der fleißigsten Dienerinnen erwiesen, die ich je hatte. Sie ist bescheiden und ehrlich und arbeitet hart. Sie kann sogar lesen und schreiben. Wir leben in Zeiten, die für ein Mädchen ohne Anstellung sehr gefährlich sind. Was soll aus Martha werden in diesem Land, durch das Armeen ziehen? Wenn du sie nicht in deinem eigenen Heim unterbringen kannst, bitte ich dich, bei einer guten, frommen Familie in der Stadt einen Platz für sie zu finden. Ich werde dich schon bald zur Rechten Gottes wiedersehen, aber bis dahin verbleibe ich
Deine dich liebende Schwester in Christo,
Elizabeth
Der Brief war eindeutig genug, aber etliche Fragen blieben offen. Ich überlegte einen Moment, ob Gott mir dieses Mädchen vielleicht ins Haus geschickt hatte, um die vom Alter geschwächte Hannah bei ihrer Arbeit zu unterstützen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg
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Autoren-Porträt von Sam Thomas
Sam Thomas ist promovierter Historiker und unterrichtet Geschichte an einer Privatschule in der Nähe von Cleveland, Ohio. Er hat mehrere Forschungsstipendien erhalten und über verschiedene Themen geschrieben. "Die Hebamme und das Rätsel von York" ist sein erster Roman. Sam Thomas lebt mit seiner Frau und zwei Söhnen in Shaker Heights, Ohio.
Bibliographische Angaben
- Autor: Sam Thomas
- 384 Seiten, Maße: 14,3 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656369
- ISBN-13: 9783863656362
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