Die Herrin der Kathedrale
Ballenstedt im 11. Jahrhundert: Hochadlige Gäste suchen die Burg für politische Gespräche auf. Uta, die Tochter des verarmten Burgherrn, genießt das Fest, doch der Tag endet im Fiasko: Bei einem Ausritt in den Wald versucht ein...
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Produktinformationen zu „Die Herrin der Kathedrale “
Ballenstedt im 11. Jahrhundert: Hochadlige Gäste suchen die Burg für politische Gespräche auf. Uta, die Tochter des verarmten Burgherrn, genießt das Fest, doch der Tag endet im Fiasko: Bei einem Ausritt in den Wald versucht ein Knappe, sie zu vergewaltigen, worauf der Vater Uta die Schuld gibt. Um sie vor dem prügelnden Vater zu retten, lässt die Mutter das Mädchen heimlich fortschaffen. Wenige Tage danach erfährt Uta vom Tod der Mutter und dem Verdacht, der Vater habe sie umgebracht. Fassungslos und in tiefer Trauer schwört Uta, nicht eher zu ruhen, bis sie den Mörder der Mutter zur Verantwortung gezogen hat.
Dieses Versprechen begleitet sie von nun an bei jedem Schritt. Ihr brennender Wunsch nach Wissen und ihre zeichnerische Begabung lassen sie Jahre später als Bauzeichnerin die Errichtung der Naumburger Kathedrale unterstützen. Als das Wahrzeichen für Frieden und Glauben im Heiligen Römischen Reich vollendet ist, scheint endlich auch die Chance gekommen zu sein, ihr altes Versprechen einzulösen ...
"Wenn ich ein weibliches Geschöpf aus der Kulturgeschichte treffen wollte, dann Uta von Naumburg ..."
Umberto Eco
Klappentext zu „Die Herrin der Kathedrale “
Ballenstedt im 11. Jahrhundert: Hochadlige Gäste suchen die Burg für politische Gespräche auf. Uta, die Tochter des verarmten Burgherrn, genießt die seltene Festlichkeit. Dabei fällt ihr der besonnene Markgrafensohn Herman auf. Der herbeigesehnte Tag endet für das junge Mädchen jedoch im Fiasko: Bei einem Ausritt in den Wald versucht ein Knappe, sie zu vergewaltigen. Der Vater, der dazu stößt und seine Tochter entblößt vorfindet, gibt Uta die Schuld. Um sie vor dem prügelnden Vater und dem sicheren Tod zu retten, lässt die Mutter das Mädchen heimlich in das Damenstift Gernrode schaffen. Wenige Tage nach der Ankunft im Stift erfährt Uta vom Tod der Mutter und dem Verdacht, der Vater habe sie umgebracht. Fassungslos über die Grausamkeit des Vaters und in tiefer Trauer um den Tod der geliebten Mutter schwört Uta, nicht eher zu ruhen, bis sie den Mörder der Mutter zur Verantwortung gezogen hat. Dieses Versprechen begleitet sie von nun an bei jedem Schritt. Ihr brennender Wunsch nach Wissen und ihre zeichnerische Begabung lassen sie Jahre später als Bauzeichnerin die Errichtung der Naumburger Kathedrale unterstützen. Uta ergreift die Chance, ihren eigenen Gerichtssaal für die kaiserliche Rechtsprechung zu schaffen, und wagt, was keine jemals vor ihr tat: Sie vollendet das Wahrzeichen für Frieden und Glauben im Heiligen Römischen Reich - die erste Naumburger Kathedrale - und begegnet der Liebe.
Lese-Probe zu „Die Herrin der Kathedrale “
Die Herrin der Kathedrale von Claudia & Nadja Beinert TEIL I - BASIS FÜR DIE STANDHAFTIGKEIT
Die Jahre 1018 bis 1019
1. Die Schneerose
Der Frühlingswind trug Blütenstaub von Hasel und Narzisse an Utas Nase heran. »Esiko, ich wünschte, diese Düfte zögen mit uns zur Burg, so dass die Mutter sie auch riechen könnte.« Genießerisch sog sie die Luft ein und streifte sich in Gedanken ein Gewand aus verwobenen Narzissen über. Sie spürte, dass heute ein ganz besonderer Tag werden würde. Gemeinsam mit Esiko, ihrem fünf Jahre älteren Bruder, durfte sie dem Mittagsmahl beiwohnen, zu dem der Meißener Markgraf geladen war. Mit Vorliebe lauschte sie bei solch seltenen Gelegenheiten den Erzählungen der Besucher, die stets von Königsaudienzen, Festen und anderen Geschehnissen aus fremden Gegenden berichteten.
»Schwesterlein, du träumst zu viel!«, scherzte Esiko und führte sein Ross neben ihres. »Aber ich könnte das Grünzeug köpfen, dann kannst du es mitnehmen.« Unter ihrem entsetzten Blick zerteilte er die Luft zwischen ihnen mit dem Kurzschwert.
»Tu ihnen keine Gewalt an«, bat Uta und schaute ihn herzerweichend an, während ihr der Wind durch das lose Haar fuhr. Sie merkte, dass er gereizt war, aber das würde sich während des Mahls sicherlich geben. Nur selten wurde auf dem Ballenstedter Burgberg so festlich getafelt.
»Wie ängstlich du bist, Schwesterlein.« Esiko hob das Kinn. »Viel zu ängstlich!«
Uta betrachtete den Bruder, wie er mit Harnisch und Beinschutz auf seinem Ross thronte, sein weizenblondes Haar und die festen Bartstoppeln.
... mehr
»Wir müssen zurück zur Burg.« Auch Esiko betrachtete die Schwester eindringlich. »Die Gäste reiten bald ein.«
Uta begegnete dem Blick des Bruders mit einem Strahlen. »Wer zuerst an der Zugbrücke ist, einverstanden?«
Esiko ließ von ihrem Gesicht ab und prüfte, ob sich beide Beine seiner Schwester auf der linken Seite des Tieres befanden. »Aber gerne doch!«, bestätigte er dann.
»Dann los!« Uta presste sich fest an ihre Stute und preschte davon.
Derweil beugte sich Esiko seitlich hinab und schlug mit einem einzigen Hieb zwei Dutzend Narzissen die Köpfe ab. »So gefallt ihr mir schon besser!«, beschied er und gab seinem Hengst die Sporen.
Voller Freude atmete Uta tief durch. »Lauf Lisa, lauf!«, trieb sie die Stute an. Wie schön es doch war, durch die Frühlingswiesen zu reiten. Ein Vergnügen, das sie seit einiger Zeit immer seltener genießen durfte. Auch sonst hatte sich jüngst viel in ihrem Leben verändert. Denn war der Vater, Graf Adalbert von Ballenstedt, früher noch nach der Schneeschmelze zu den Schlachtfeldern aufgebrochen und erst bei einsetzendem Frost wieder heimgekehrt, war ihm dies aufgrund einer Kampfverletzung seit dem vergangenen Jahr verwehrt. In der Abwesenheit des Vaters hatte die Mutter ihr das Lesen und etwas Schreiben beigebracht und jede ihrer Fragen mit einer geduldigen Antwort befriedigt. Doch nun, seitdem der Vater ganzjährig auf der Burg weilte, musste Uta sich wesensmäßig das gesamte Jahr über zurücknehmen.
Der mächtige Klang der Doppelglocke, der weit über die umliegenden Felder und Wiesen der Burg hinaus zu hören war, holte Uta aus ihren Gedanken zurück. »Die Glocke vom elterlichen Bergfried!« Dreimaliges Läuten war das Zeichen dafür, dass die Gäste am Horizont in Sicht waren.
»Eil nur, Schwesterlein!« Esiko zog an ihr vorbei. »Mich holst du nie ein!«
»Lauf Lisa, schneller!«, trieb sie ihre Stute an. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. Doch Esikos Vorsprung vergrößerte sich, und erst vor der Zugbrücke stoppte er seinen Hengst mit einem triumphalen Aufbäumen. »Ob du jemals richtig reiten lernen wirst?«, kommentierte er die spätere Ankunft seiner Schwester heftig atmend.
»Wenn ich doch nur breitbeinig reiten dürfte«, erwiderte Uta und schaute Esiko fragend an.
»Aber du bist doch ein Weib!«, entgegnete er und winkte ab. Esiko achtete stets darauf, dass sie - wie es sich für eine Frau geziemte - nur mit Satteldecke und beiden Beinen auf ein und derselben Seite ritt.
»Ich vermag vielleicht noch nicht so schnell zu reiten wie du, dafür kann ich aber Schriftzeichen lesen, die mit echter Tinte geschrieben sind.«
»Was ist schon Tinte«, entgegnete er abfällig und versetzte seinem Pferd einen Tritt in die Seite, um es zum Eintraben in den Hof der Burg zu bewegen. »Damit kann man keinen Kampf gewinnen!«
»Die Mutter sagt, dass Buchstaben mehr Macht haben als Schwerter.« Utas Augen leuchteten beim Gedanken an die funkelnden Minuskeln des Psalmenbüchleins, aus dem die Mutter ihr manchmal vorlas.
Mit einem kurzen Pfiff scheuchte Esiko eine Wäscherin beiseite. »Was die Mutter so sagt. Sie hat doch noch nie ein Schwert geführt. Kennt dessen Macht also gar nicht!«
Erschrocken schlug Uta die Hände vor den Mund. »Wie kannst du so über unsere Mutter reden?«
Anstatt einer Antwort kümmerte sich Esiko um die Versorgung der Pferde. »Stallbursche, hierher!« Trotz der regen Betriebsamkeit reichte seine Stimme mühelos bis zu den Stallungen hinüber. Im Hof herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Mägde hasteten mit riesigen Krügen auf das Küchenhaus zu. Knechte trugen Hocker und Tafeln in Richtung des Wohnturms. Zwischen ihnen erblickte Uta Hazecha, ihre jüngere Schwester, die eifrig einer mit Wasser gefüllten Kuh- blase hinterherlief, und ihren kleinen Bruder Wigbert auf den Armen seiner Amme.
Der junge Linhart bahnte sich etwas ungelenk seinen Weg zu den Geschwistern. Er war die linke Hand des Stallmeisters und eine unübersehbare Erscheinung auf dem Burgberg. Sein Körper war schon in die Höhe geschossen, als die mit ihm gleichaltrigen Knechte noch von den ersten Barthärchen geträumt hatten; zudem trug er sein Haupthaar ungewöhnlich lang.
»Kümmere dich um die Tiere und vergiss das Abreiben nicht«, wies Esiko ihn an.
Uta schenkte Linhart ein Lächeln. Sie wusste, dass er jedes Tier im Stall mit der gleichen Hingabe versorgte. Dann rutschte sie schwungvoll aus dem Sattel, erschrak jedoch, noch bevor sie festen Boden unter den Füßen spürte. »Oh, nein!« Ihre Finger glitten über einen Riss im Obergewand, der sich von ihrer Hüfte bis zum Knie hinabzog. »Ausgerechnet jetzt.«
»Schwesterlein«, begann Esiko und schwang sich, sich der bewundernden Blicke der Umstehenden versichernd, vom Rücken seines Rosses. »Bist selbst im Damensattel zu stürmisch «, dabei warf er Linhart, der mit offenem Mund auf Utas Gewand starrte, einen drohenden Blick zu.
Der Stallbursche wendete sich augenblicklich ab.
»Zu stürmisch?« Uta blickte vom Riss ihres Kleides zu Esiko auf, der sie beinahe um zwei Köpfe überragte.
»Ich muss jetzt zum Vater«, sagte er. »Er erwartet meine Unterstützung beim Empfang der Gäste.«
»Warte!«, bat sie eindringlich und griff nach seinem Arm. »Sage ihm nichts von meiner Unachtsamkeit.« Uta blickte zur Tür des Wohnturmes, aus welcher der Vater jeden Moment treten konnte. »Ich wechsele schnell noch mein Gewand.« Uta schaute ihn bittend an.
Esiko setzte einen strengen Blick auf.
»Der Vater wird nicht akzeptieren, wenn du zu spät erscheinst!«
Uta nickte und erklomm - von Esikos Mahnung getrieben - die Treppen des Wohnturms. Da sie nicht mehr die Zeit hatte, ihr Kammermädchen Erna zu Hilfe zu rufen, trat sie vor ihre Bettstatt und streifte sich rasch das eingerissene Obergewand ab. Dabei blieb ihr Blick an ihren Brüsten hängen, die sich seit dem vergangenen Winter zu wölben begonnen hatten und sich nun leicht gegen das Untergewand hindurch abdrückten. Der Veränderung ihres Körpers hatte sie jedoch erst Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem ihr vor wenigen Wochen gleich nach dem Osterfest auch ein schwarzer Haarflaum unter den Armen und zwischen den Beinen gewachsen war.
»Was ist das?« Uta schreckte zusammen. Ein roter walnussgroßer Fleck zeichnete sich in Höhe ihres Schoßes auf ihrem Unterkleid ab. Sie raffte den Stoff bis zur Taille, um nachzusehen, und bemerkte, dass die Innenseiten ihrer Oberschenkel mit einem Blutschleim überzogen waren. »Der Monatsfluss? « Utas Gesicht verdunkelte sich. Die Burgregeln ordneten an, dass sich unreine Frauen Tag und Nacht vom Rest der Burgbewohner getrennt halten mussten, damit sie ihre Blutspur nicht in der gesamten Burg hinterließen. Uta kniete nieder und faltete die Hände. »Lieber Herrgott im Himmel, lass das nicht den Monatsfluss sein!«
Als die Doppelglocke zweimal läutete, erhob sie sich wieder, sprang ans Fenster und schob das Leder beiseite. Sie vernahm, dass der Stallmeister seinen Knechten Anweisung gab, im Hof Aufstellung zu nehmen. In der Ferne, weit hinter den Burgmauern, machte sie einen Tross von Berittenen aus, zog sich darauf hastig das befleckte Unterkleid über den Kopf und versteckte das blutige Gewand tief unten in der Gewandtruhe. Über das frische Unterkleid zog sie ein knöchellanges blaues Oberkleid. Jetzt musste sie nur noch die Haare binden. Mit ihrem vom Wind zerzausten Schopf ähnelte sie eher einer Wilden. Sie, eine Wilde? Uta lächelte und sah sich breitbeinig auf dem Rücken ihrer Stute durch die Felder galoppieren. Ein Klopfen riss Uta aus ihrer Träumerei. Sie blinzelte sich in die Realität zurück, dann öffnete sie die Tür.
»Wo bleibst du denn?«, erkundigte sich Erna atemlos. Das pausbäckige Mädchen mit den von der Haube kaum zu bändigenden hellen Locken schaute ihre Herrin sorgenvoll an.
»Das Gewand sitzt«, entgegnete Uta und schaute prüfend an sich hinunter.
»Dein Kopf«, deutete Erna, die sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, mit dem Zeigefinger. »Man könnte meinen, du hättest mit Lisa die Haare getauscht.«
Uta musste nun auch schmunzeln und fuhr sich mit den Fingern durch die langen Strähnen, um sie zu entwirren. Mit wenigen gekonnten Handgriffen flocht sie das Haar auf dem Rücken zu einem dicken Zopf. Sie ergriff die auf der Fensterbank liegende Spange und steckte damit eine widerspenstige Locke über dem Ohr fest. Das Schmuckstück mit den hellgrünen Vierkantsteinen war ein Geschenk ihrer Mutter. Vielleicht mochte sie es deswegen besonders gern. Dass es ihre Augen so wunderbar zum Leuchten brächte, sagte die Mutter stets, wenn sie das Schmückstück an Uta entdeckte, und strich ihr dabei liebevoll über die Wangen. Uta war stolz, die grünen Augen ihrer Mutter geerbt zu haben, zumal Esiko, der manchmal etwas eigen war, die gleiche Augenfarbe besaß. Auch die zierliche Gestalt und die Konturen ihres Gesichts mit den geschwungenen Brauen, der schmalen Nase mit dem breiten Nasenrücken und den kleinen Mund mit den vollen Lippen hatte die Mutter ihr in die Wiege gelegt. Besonders stolz war Uta jedoch auf den kleinen braunen Fleck, einen Fingerbreit unter ihrem linken Auge. Den besaßen alle vier Geschwister an genau der gleichen Stelle, was sie mit der Mutter auf eine besondere Weise verband.
»Du siehst hübsch aus«, sagte Erna und richtete Uta die Spange. In diesem Moment erklang der letzte Schlag der Doppelglocke: Die Gäste waren also angekommen.
»Komm! Sonst schimpft der Vater.« Uta ergriff Ernas Hand und zog sie hinter sich aus der Kemenate.
Zur Begrüßung der hohen Besucher hatten die Burgbewohner in drei Reihen Aufstellung genommen. An der Spitze der Versammlung stand der Burgherr Graf Adalbert von Ballenstedt mit seinem Stammhalter Esiko. Adalberts einst blaue Augen waren vor Verbitterung über die Jahre hinweg verblasst. Als Graf war er ein Lehnsmann des Königs und als solcher zum Schutz seiner Untertanen verpflichtet. Die Untertanen brachten im Gegenzug dafür halbjährlich Naturalien und Brennholz auf die Burg. Mittlerweile erzielte er Einkünfte aus zahlreichen Lehnsdörfern im Schwaben- und im Harzgau, im Nordthüringengau und im Serimunt. Außerdem hatte er durch die Heirat mit Hidda, der Tochter des Markgrafen Gero aus der Ostmark, noch umfangreiches, freies Landeigentum hinzugewonnen. Nichtsdestotrotz konnte er dem König aufgrund seiner vergleichsweise immer noch kleinen Lehen nur geringe Kriegsdienste leisten. Die Markgrafen der östlichsten Reichsgebiete stellten dem König für den Krieg zwanzigmal so viele Krieger, Pferde und Waffen zur Verfügung wie er und wurden deshalb auch in Angelegenheiten des Reiches von Kaiser Heinrich zur Beratung und Mitsprache herangezogen. Adalbert war ihnen an Macht und Einfluss deutlich unterlegen, aber das - so hatte er sich vorgenommen - würde er heute, so gut es ging, zu überspielen wissen. Keine leichte Aufgabe, wenn es um Gebietsstreitigkeiten mit dem Meißner Markgrafen Ekkehard dem Älteren ging. Adalbert richtete sein Wams und fixierte das Eingangstor, vor dem nun deutlich Pferdegetrappel zu vernehmen war.
Diesen Moment der Konzentration nutzte Uta und sprang am Küchenmeister vorbei an die Seite ihrer Mutter, die in der zweiten Reihe hinter dem Grafen Aufstellung genommen hatte. Erna trat zu den Mägden.
»Entschuldigt, Mutter«, flüsterte Uta und knickste. Gräfin Hidda, die dem besonderen Anlass entsprechend einen Schleier mit edler Borte angelegt hatte, ergriff unauffällig die Hand ihrer Tochter. Esiko, der neben dem Vater stand, wandte sich um und mahnte mit dem Finger auf dem Mund zur Ruhe. Als er sah, dass die Schwester liebevoll lächelnd von der Mutter zu ihm schaute, wandte er sich wieder dem Geschehen vor sich zu. Auf Schlachtrössern zogen an der Spitze des Zugs nun Markgraf Ekkehard und sein Sohn Hermann, gefolgt von einer Schar von Rittern, Knappen, Bannerträgern und Bläsern ein. Die Zugbrücke knarrte unter dem Gewicht des Gästezugs. Adalbert wandte sich dem Stallmeister zu, der sich zusammen mit dem Burggeistlichen, dem Küchenmeister nebst Mägden, dem Schmiedemeister und weiterem Gesinde hinter der Ballenstedter Familie versammelt hatte. »Versorgt die Tiere unserer Gäste. Sofort!«, befahl er.
Die Besucher saßen ab. »Vielen Dank für die Einladung«, grüßte der Markgraf, dem ein Fahnenträger folgte, auf dessen Banner ein Adler prangte.
Adalbert verbeugte sich und ging seinem Gegenüber einige Schritte entgegen. »Seid willkommen auf meiner Burg, Markgraf. «
Der nickte. »Ich bin zuversichtlich, unsere Meinungsverschiedenheiten ohne Kampfeshandlungen lösen zu können und damit unserer beider Kraft für Wichtigeres zu bewahren.«
Uta beobachtete, wie sich ihres Vaters Lippen zu einem weißen Strich verzogen, als er darauf nickte und nach weiteren Stallburschen winkte. Esiko hatte sie jüngst belehrt, dass sie froh darüber sein konnten, dass Markgraf Ekkehard ihre Burg nicht einfach belagert und ausgeräuchert hatte, um das strittige Waldstück in seinen Besitz zu bringen. Aber angeblich lag dem Vater dank des Heiratsguts der Mutter eine Urkunde vor, die das besagte Waldland eindeutig der Ballenstedter Familie zuschrieb.
»Meinen Erstgeborenen Hermann kennt Ihr bereits vom Kriegsdienst für den König«, fuhr Ekkehard fort und winkte den Sohn an seine Seite.
Damit trat ein hochgewachsener Mann in Utas Sichtfeld, der das hellbraune Haar kaum schulterlang und den Bart ungewohnt kurz geschoren trug.
Graf Adalbert deutete eine Verbeugung an und winkte seinerseits Esiko zu sich heran. »Mein Stammhalter weiß mit der Streitaxt und mit dem Kurzschwert bestens umzugehen«, sagte er und blickte stolz auf seinen Sohn, der als Zeichen für seine Zugehörigkeit zur Ritterschaft das Kettenhemd angelegt hatte.
»Beim nächsten Kriegszug bin ich im Heer unseres Königs.« Esiko verbeugte sich mit auf die Brust gelegter Hand.
Markgraf Ekkehard nickte und begann, sein Gehänge abzubinden. »Dann werden unsere Söhne sicherlich gemeinsam kämpfen.«
Bei diesen Worten trat der Markgrafensohn hinter den Vater zurück und gab damit den Blick auf seinen Knappen und Schwertträger frei. Beim Anblick des jungen Knappen verfi el Uta ins Grübeln. Sein Gesicht war von Sommersprossen übersät, und sein Haar hatte die Farbe lodernder Glut. Nur ein einziges Mal war sie bislang jemandem mit solch ungewöhnlichem Aussehen begegnet. Das ist Volkard aus dem Hardagau, durchfuhr es Uta, mein einstiger Spielkamerad! Sie erinnerte sich, dass er ihr beim letzten Aufeinandertreffen vor zwei Jahren berichtet hatte, dass er als Knappe an die Ostgrenze des Reiches gehen wolle, weil sein alter Lehrmeister niedergemetzelt worden war. Vielleicht würde sie später mit der Erlaubnis des Vaters noch die Möglichkeit haben, sich mit Volkard auszutauschen.
»Sollten wir unsere Söhne nicht eine Kostprobe ihres Könnens geben lassen und sie auf die Jagd mitnehmen?«, schlug der Markgraf vor.
»Sehr wohl, Markgraf«, entgegnete Adalbert von Ballenstedt. Obwohl nicht ausreichend kampferprobt, war Esiko im zurückliegenden Winter deutlich früher als jeder andere begabte Junge zum Ritter geschlagen worden. »Doch erinnere ich mich, dass Ihr noch einen zweiten Sohn hattet. Geruhte er nicht mitzukommen?«
»Meinen Sohn Ekkehard erwarten wir erst im Herbst aus Kiew zurück, wo er dieser Tage meine jüngste Tochter Oda ihrem Gatten Boleslaw zuführt.«
»Kiew?«, fragte Adalbert von Ballenstedt.
»Herzog Boleslaw hat inzwischen die Herrschaft über Kiew erlangt und tritt nun - mit Kaiser Heinrichs Einverständnis - dem byzantinischen Kaiser Basileios entgegen. Die Ehe mit unserer Oda«, der Markgraf lächelte in Richtung seines Sohnes, »bindet ihn vielleicht mehr als jedes Vertragswerk an die Interessen unseres Kaisers und den jüngst in Bautzen zwischen ihnen geschlossenen Frieden!«
»Der Herzog fordert den byzantinischen Kaiser heraus?«, fragte Esiko beeindruckt.
Markgraf Ekkehard nickte, wandte sich dann aber der Hausherrin zu. »Verehrte Gräfin von Ballenstedt, auch Euch danke ich für die Einladung und freue mich, Euch in bester Gesundheit vorzufi nden.«
Gräfin Hidda löste ihre Hand aus Utas und knickste. »Seid willkommen, Markgraf. Wir hoffen, Euch und den Euren den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.«
»Unser letzter Besuch ist zwar schon einige Zeit her«, sagte der alte Markgraf und deutete ebenfalls eine Verbeugung vor der Hausherrin an, »ich erinnere mich aber noch gut an die hervorragende Bewirtung.«
Gräfin Hidda verneigte sich ergeben.
»Man hört derzeit viel aus den Grenzgebieten«, fuhr Markgraf Ekkehard fort. »Wo nun die Lausitzen meinem Schwiegersohn Boleslaw«, er schmunzelte bei diesem Wort, »als Lehen zugesprochen worden sind.«
Uta sah die Mutter tief einatmen. Sie ahnte, dass Hidda die Abtretung der Gebiete, die bisher im Besitz ihrer Familie gewesen waren, schmerzte.
Markgraf Ekkehard schaute sich weiter um. »Und wer ist diese erblühende Jungfer hier?«
Uta hielt den Blick gesenkt. Kein Wort mehr als der Vater sie zu sagen angewiesen hatte! Ihr Herz begann, heftig zu schlagen. »Her... her... herzlich willkommen auf Burg Ballenstedt, Markgraf«, sagte sie aufgeregt. Peinlich berührt schloss sie die Augen und schalt sich für ihr Stottern. Warum nur musste es sich ihrer ausgerechnet immer in solchen Situationen bemächtigen, in denen sie besonders gewandt auftreten wollte!
»Ist das Eure Zweitgeborene, Adalbert?« Der Markgraf tätschelte Uta den Kopf.
»Das ist sie!«, antwortete der. »Und mit ihren zwölf Jahren bald im gebärfähigen Alter.«
Unwillkürlich presste Uta die Oberschenkel zusammen. Konnte dem Vater der Blutschleim aufgefallen sein?
»Sie ist uns eine Freude.« Gräfin Hidda bedachte die Tochter mit einem liebevollen Blick.
»Das glaube ich, Gräfin«, bestätigte der Markgraf. »Die junge Dame ist äußerst ansehnlich. Ist sie schon versprochen?«
Adalbert von Ballenstedt hob aufmerksam die Brauen. »Noch nicht.«
»Dafür muss sie erst noch etwas wachsen!« Esiko bedachte die Schwester mit einem prüfenden Blick. »Wie Ihr seht, Markgraf, reicht sie einem Manne gerade einmal bis zur Brust.«
Uta fühlte sich plötzlich nackt und fröstelte.
»Das wird schon noch«, versicherte der Markgraf und zwinkerte Uta zu, die daraufhin zaghaft lächelte.
Graf Adalbert räusperte sich. »Wenn es Euch recht ist, möchte ich Euch jetzt zur Tafel bitten.« Er deutete zum Burgsaal hinüber und ging den Gästen dann voran.
Uta folgte hinter der Mutter. Dabei hörte sie Esiko vor sich in Richtung des Hardagauer Knappen zischen: »Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen!«
»Lasst noch eine zusätzliche Tafel und weitere Bänke bringen «, bat Gräfin Hidda den Tischmeister leise und folgte dem Gatten über die Schwelle in den Burgsaal. »Wir haben einige Gäste mehr als erwartet.«
Der Tischmeister verbeugte sich und hastete davon.
Mit zusammengekniffenen Augen überflog Adalbert die bereitgestellten Tische. Als er schon ansetzen wollte, seine Gattin für die im Raum herrschende Kälte zu tadeln, fiel ihm ein, dass er selbst den Befehl gegeben hatte, einen erheblichen Teil der Brennholzvorräte zur Verfüllung eines Loches in der Außenmauer des Brothauses zu verwenden. »Nehmt mit Eurer Familie an der Tafel uns gegenüber Platz, Markgraf«, sagte er daher nun und ließ sich selbst, gefolgt von seiner Gattin, mittig an der Außenseite der rechten Tafel vor dem Kamin nieder. Neben ihm saßen Esiko und der Burggeistliche, während sich Uta an der Seite der Mutter niederlassen durfte. Die weiteren Plätze wurden dem Rang entsprechend abwärts verteilt. An der dritten Tafel, die inzwischen an das Kopfende des Saales getragen worden war, ließ sich das untere Gefolge des Markgrafen nieder.
»Die Mahlzeiten stehen bereit, Graf«, meldete der Küchenmeister seinem Herrn.
»Dann reicht die Wasserschalen«, befahl Adalbert den Mägden, die an den Kopfenden der Tafeln standen. Nachdem sich die Gäste die Hände gereinigt und an den Tafeltüchern abgetrocknet hatten, begannen die Mägde, die Krüge vollzugießen.
»Auf gute Nachbarschaft«, prostete Markgraf Ekkehard.
»Auf gute Nachbarschaft«, erwiderte Adalbert und gab mit der freien Hand den beiden Burgmusikanten das Zeichen zum Aufspielen. Der Jüngere der beiden stimmte ruhige Töne mit der Harfe an, während der Schlaksige auf der Doppelfl öte eine leichte Melodie blies. Die Küchenjungen trugen vollbeladene Tabletts in den Saal und knieten zum Zeichen des Friedens zwischen Gastgeber und Gast in der Mitte des Burgsaales nieder.
Fasziniert verfolgte Uta die Zeremonie und das Vorlegen der Speisen, welche die sonst auf Ballenstedt gereichten deutlich an Imposanz und Vielfalt übertrafen. So hatten sie im vergangenen Winter tagelang nur Brot und mehliges Wasser zu essen und zu trinken gehabt. Umso mehr genoss sie nun den Geruch von Schinken, Leberpastete und des herrlich nach Pflaumen und Birnen duftenden Muses. Der Tag, der mit dem betörenden Duft der Narzissen beim Ausritt begonnen hatte, schien eine geruchsintensive Fortsetzung zu erfahren. Im Sog einer fröhlichen Melodie streifte Utas Blick die dritte Tafel, an der Volkard aus dem Hardagau saß und gerade nach einer Hühnerkeule griff. Sie erinnerte sich noch gut an ihn, ihre beiden Familien hatten vor zwei Sommern das Auferstehungsfest des Herrn hier auf Burg Ballenstedt gemeinsam begangen. Der Junge mit dem ungewöhnlichen Haar, von dem Uta meinte, dass es die Leuchtkraft der brennenden Kienspäne an den Wänden des Burgsaales aufsog, zählte drei Jahre mehr als sie, erschien ihr körperlich aber unverändert gedrungen.
»Mmh. Was für ein guter Schinken!« Eine Silberschale schob sich in Utas Blickfeld. »Ein Edelfräulein sollte Fremde nicht so anstarren«, flüsterte Erna, die gewöhnlich für das Ankleiden, die Ordnung in der Kemenate und noch einige andere Wünsche der Grafenkinder zuständig war. Aufgrund des aufwendigen Mahles half sie dieser Tage jedoch auch in der Küche aus. »Erna!« Uta lächelte und senkte den Blick. »Dir entgeht auch nichts!« Sie schaute sofort wieder auf, piekste mit dem Messer ein Stück vom Schinken auf und legte es auf eine Scheibe Brot. »Hier, nimm gleich noch etwas.« Die Freundin hielt die Silberschale tiefer. »Bevor alles weg ist.«
»Ich möchte lieber vom Mus kosten. Kommst du nach dem Fest zu mir hinauf? Dann kann ich dir die Geschichten der Gäste erzählen.«
Voller Vorfreude nickte Erna und wurde im nächsten Augenblick von einem Hungrigen am Ärmel fortgezerrt, der sich darüber beklagte, dass die Platte vor ihm bereits leer sei. Inzwischen waren Tischgespräche über allerlei Belangloses in Gang gekommen. Esiko beschrieb seinen letzten Jagderfolg mit der Axt, die Ritter an der gegenüberliegenden Tafel redeten durcheinander.
»Was meint Ihr dazu, dass unsere kaiserliche Hoheit das Bündnis mit den Liutizen nach dem Friedensschluss mit Boleslaw in Bautzen aufgelöst hat?«, erhob Markgraf Ekkehard, nachdem er einen Fasanenschenkel vertilgt hatte, das Wort und brachte damit alle anderen Gespräche zum Verstummen. »Wird der Friede wirklich ein endgültiger sein?«
Uta horchte auf. Die Liutizen? Esiko hatte ihr vor einiger Zeit von diesem seltsamen Volk erzählt. Sie waren Slawen, die entlang der Elbe bis hinauf zur Ostsee lebten, in ihren Tempeln Gottheiten mit zehn Gesichtern verehrten und diesen sogar Menschenopfer darbrachten. Esiko hatte ihr einst bildhaft vorgeführt, wie sie ihre Opfer quer am Hals, schräg über dem Handgelenk und zwei Finger breit über dem Knie zerschnitten. Zuletzt wurde ihnen der Schädel gespalten.
»Der Kaiser hat das Bündnis mit diesen wilden, heidnischen Slawenvölkern aufgelöst?« Graf Adalbert war offensichtlich angewidert. »Was kann ein Stammesvolk, das sich nicht von Christus leiten lässt, schon gegen einen so übermächtigen Gegner wie Herzog Boleslaw ausrichten!« Er wusste, dass der Friedenschluss mit dem Polen nur durch Zugeständnisse Kaiser Heinrichs möglich geworden war. Und eines davon war die Kündigung des Bündnisses mit den Liutizen gewesen, die Heinrich nun nicht länger als Verbündete gegen Boleslaw zu benötigen glaubte.
»Auf dem Weg in den Harz streift der Kaiser dieser Tage nur knapp unsere Ländereien«, erklärte der Markgraf. »Er führt jene Geiseln aus dem Gefolge des polnischen Herzogs in seinem Zug mit, welche er in Bautzen beim Friedensschluss als Pfand übergeben bekam. Doch trotz dieses Umstands bin ich mir unsicher, was die Dauerhaftigkeit des Friedensabkommens angeht. Schließlich ist allgemein bekannt, dass Herzog Boleslaw einst die polnische Königskrone versprochen bekommen hat, dieses Versprechen von kaiserlicher Seite aber nie eingelöst wurde. Wegen des zu Jahresbeginn geschlossenen Friedens und seiner Ehe mit Oda wird Herzog Boleslaw vorerst vielleicht von weiteren Angriffen absehen, aber ob er endgültig von der Königskrone wird lassen können?«
Markgrafensohn Hermann nickte. »Ich bezweifele ebenfalls, dass Boleslaw die Krone aufgegeben hat. Bereits beim Friedensschluss wurde erzählt, dass er seinen Ältesten, Bezprym, enterbt und Mieszko, seinen zweiten Sohn, als Nachfolger erkoren hat. Und Mieszko scheint wenig mit unserem Kaiser Heinrich gemein zu haben, obwohl Mieszkos Schwester seit dem vergangenen Sommer meine Gemahlin ist.«
»Zwei Frauen Eurer Familie für die Sicherung des östlichen Vorfeldes unseres Reiches?«, fragte Adalbert aufmerksam und ließ seinen Blick zufrieden zu seiner Frau gleiten.
Uta hingegen erschauderte bei dem Gedanken an einen Vater, der seine Tochter als Kriegspfand einsetzte.
»Mieszko erscheint mir noch unberechenbarer als sein Vater «, grübelte der Markgraf an die Runde gewandt. Beim Anblick der kleinen Grafentochter mit den vor Spannung weit aufgerissenen Augen schaute er aber sofort wieder fürsorglich. »Deswegen hat Kaiser Heinrich nach dem Friedensschluss in Bautzen entlang der Elbe auch das halbe Heer zurückgelassen. Man kann ja nie wissen. Die Befehlsgewalt soll er seiner Gattin, Kaiserin Kunigunde, übertragen haben.«
»Pah!« Graf Adalbert schlug mit der Faust auf die Tafel und schüttelte verständnislos den Kopf.
Uta zuckte zusammen und griff unter dem Tisch nach der Hand der Mutter. Sie wusste aus Erfahrung, dass der Vater im Zorn gern seine körperliche Kraft zur Demonstration seines Willens einsetzte, wie damals, als die Neugier sie das Wort an einen königlichen Gesandten hatte richten lassen, noch bevor der Vater dazu gekommen war, diesen formal zu begrüßen. Hochschwanger hatte sich die Mutter schützend vor sie gestellt und war vom Vater wie eine Puppe zur Seite geschleudert worden. Durch den harten Aufprall an die Wand des Burgsaals hatte sich ihr ungeborenes Kind im Mutterleib gedreht. Bei der drei Tage dauernden nachfolgenden Geburt hatte die Wehmutter dann von einem Wunder gesprochen: Der kleine Wigbert war gesund geboren worden. Doch nach diesem Vorfall hatte Uta sich geschworen, ihre Mutter nie wieder in eine solche Situation zu bringen. Sie seufzte und dachte dann an ihre jüngeren Geschwister, die auf Anweisung des Vaters während der Tafel von ihrer Amme Gertrud in der mütterlichen Kemenate beaufsichtigt wurden, damit sie unter keinen Umständen das Fest störten.
»Kaiserin Kunigunde unterzeichnet inzwischen sogar als Mitregentin - als consors regni«, ergänzte der Markgrafensohn.
»Was ist eine Mitregentin?«, flüsterte Uta der Mutter ausgerechnet in dem Moment ins Ohr, in dem Graf Adalbert sich seiner Gattin zuwendete. Mit einem scharfen Blick quittierte er das Tun seiner Tochter und beugte sich zu ihr hinüber. »Du sprichst nur, wenn du ausdrücklich dazu aufgefordert wirst. Hast du verstanden?« Adalbert von Ballenstedts linkes Augenlid pochte, als er seine Gattin vorwurfsvoll anschaute. »Sie kann ja nicht einmal pünktlich erscheinen, wenn es von ihr verlangt wird!«
Traurig senkte Uta den Kopf. Sie hatte doch lediglich das Wort an die Mutter gerichtet. Noch dazu im Flüsterton. Sollte ihr dies ab dem heutigen Tag etwa auch versagt sein?
»Eine Mitregentin«, begann Hermann von Naumburg an Gastgeber und Gastgeberin gerichtet zu erklären, »hat wichtige politische Pflichten zu erfüllen, will sie ihren königlichen Gatten tatkräftig unterstützen.«
Graf Adalbert ließ daraufhin von den Frauen seiner Familie ab und konzentrierte sich wieder auf die gegenüberliegende Tafel. Betreten senkte Uta den Kopf.
»Unsere Kaiserin Kunigunde hilft ihrem Gatten zum Beispiel nicht nur bei der Organisation des Heerlagers«, fuhr der Markgrafensohn mit seiner tiefen Stimme ruhig fort, »sie berät ihn sogar bei der Besetzung von Ämtern oder bei Landesschenkungen. «
Vor lauter Erstaunen über diese Worte hatte Uta Mühe, den Kopf gesenkt zu halten.
»Solche Kaiserinnen sind die Ausnahme«, belehrte Markgraf Ekkehard die Runde, als er die irritierten Gesichter beider Gefolge bemerkte. »Für solche Angelegenheiten hat der Kaiser in der Regel Berater wie mich.«
»Heinrich muss mit seiner Gattin ein besonders enges Vertrauensband haben, wenn er ihr diese Verantwortung überträgt «, sagte Markgrafensohn Hermann mehr zu sich selbst als an die Tischgesellschaft gewandt. »Er muss ihr mindestens genauso viel Verstand und Verhandlungsgeschick zubilligen wie uns, seinen Beratern.«
»Nicht so melancholisch. Du hast doch ein vernünftiges Weib«, sagte der Markgraf und stieß seinen Sohn in die Seite. »Ja, ja. Die holde Weiblichkeit. Die hat ihre eigenen Waffen im Kampf um Einfluss und Macht«, fuhr er dann lauter und für alle vernehmbar fort.
Daraufhin erhob sich ein Ritter und griff sich zwischen die Beine. »Unsere Waffen sind aber auch nicht zu verachten.« Die Männer lachten grölend.
»Ich bezweifele«, versuchte Graf Adalbert das Gelächter zu übertönen, »dass ein Weib Kriegsführung und Politik tatsächlich so zu erlernen vermag, wie uns Gott dieses Vermögen von Geburt an mitgegeben hat.«
»Niemals«, mischte sich Esiko ein und klopfte dem Vater beipflichtend auf die Schulter. »Sonst würde die von Gott gewollte Ordnung ja auch vorsehen, dass Weiber lernfähig sind.« Er glaubte zwar daran, Frauen belehren zu müssen, aber die Fähigkeit aus diesen Belehrungen zu lernen, sprach Esiko ihnen kategorisch ab. »Auf die Politik des starken Geschlechts «, prostete er den Gästen zu.
Gräfin Hidda blickte ihren Sohn sorgenvoll an. Auch Uta war der Durst vergangen. »Frauen dürfen nicht lernen? Wie kann Esiko so etwas behaupten?«, wandte sie sich erneut an die Mutter, als der Vater durch einen anderen Gesprächspartner abgelenkt war.
»Später, Liebes«, bat die Gräfi n.
»Aber Esiko muss sich irren!«, beharrte Uta und zupfte Hidda am Ärmel.
»Wir reden darüber, wenn die Gäste fort sind.«
Uta holte tief Luft und wollte abermals ansetzen, hielt aber inne, als sie die Hand ihrer Mutter auf dem Schoß spürte. Augenblicklich erinnerte sie sich wieder der quälenden Geburtsschreie und verharrte weiter stumm, während die Musikanten von Gast zu Gast gingen und dabei beschwingtere Stücke aufspielten.
»Habt so weit Dank für Eure Gastfreundlichkeit«, sagte Markgraf Ekkehard schließlich und griff nach einem Stück vom Gewürzkuchen, den die Mägde mit den letzten Naschereien herumtrugen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
»Wir müssen zurück zur Burg.« Auch Esiko betrachtete die Schwester eindringlich. »Die Gäste reiten bald ein.«
Uta begegnete dem Blick des Bruders mit einem Strahlen. »Wer zuerst an der Zugbrücke ist, einverstanden?«
Esiko ließ von ihrem Gesicht ab und prüfte, ob sich beide Beine seiner Schwester auf der linken Seite des Tieres befanden. »Aber gerne doch!«, bestätigte er dann.
»Dann los!« Uta presste sich fest an ihre Stute und preschte davon.
Derweil beugte sich Esiko seitlich hinab und schlug mit einem einzigen Hieb zwei Dutzend Narzissen die Köpfe ab. »So gefallt ihr mir schon besser!«, beschied er und gab seinem Hengst die Sporen.
Voller Freude atmete Uta tief durch. »Lauf Lisa, lauf!«, trieb sie die Stute an. Wie schön es doch war, durch die Frühlingswiesen zu reiten. Ein Vergnügen, das sie seit einiger Zeit immer seltener genießen durfte. Auch sonst hatte sich jüngst viel in ihrem Leben verändert. Denn war der Vater, Graf Adalbert von Ballenstedt, früher noch nach der Schneeschmelze zu den Schlachtfeldern aufgebrochen und erst bei einsetzendem Frost wieder heimgekehrt, war ihm dies aufgrund einer Kampfverletzung seit dem vergangenen Jahr verwehrt. In der Abwesenheit des Vaters hatte die Mutter ihr das Lesen und etwas Schreiben beigebracht und jede ihrer Fragen mit einer geduldigen Antwort befriedigt. Doch nun, seitdem der Vater ganzjährig auf der Burg weilte, musste Uta sich wesensmäßig das gesamte Jahr über zurücknehmen.
Der mächtige Klang der Doppelglocke, der weit über die umliegenden Felder und Wiesen der Burg hinaus zu hören war, holte Uta aus ihren Gedanken zurück. »Die Glocke vom elterlichen Bergfried!« Dreimaliges Läuten war das Zeichen dafür, dass die Gäste am Horizont in Sicht waren.
»Eil nur, Schwesterlein!« Esiko zog an ihr vorbei. »Mich holst du nie ein!«
»Lauf Lisa, schneller!«, trieb sie ihre Stute an. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben. Doch Esikos Vorsprung vergrößerte sich, und erst vor der Zugbrücke stoppte er seinen Hengst mit einem triumphalen Aufbäumen. »Ob du jemals richtig reiten lernen wirst?«, kommentierte er die spätere Ankunft seiner Schwester heftig atmend.
»Wenn ich doch nur breitbeinig reiten dürfte«, erwiderte Uta und schaute Esiko fragend an.
»Aber du bist doch ein Weib!«, entgegnete er und winkte ab. Esiko achtete stets darauf, dass sie - wie es sich für eine Frau geziemte - nur mit Satteldecke und beiden Beinen auf ein und derselben Seite ritt.
»Ich vermag vielleicht noch nicht so schnell zu reiten wie du, dafür kann ich aber Schriftzeichen lesen, die mit echter Tinte geschrieben sind.«
»Was ist schon Tinte«, entgegnete er abfällig und versetzte seinem Pferd einen Tritt in die Seite, um es zum Eintraben in den Hof der Burg zu bewegen. »Damit kann man keinen Kampf gewinnen!«
»Die Mutter sagt, dass Buchstaben mehr Macht haben als Schwerter.« Utas Augen leuchteten beim Gedanken an die funkelnden Minuskeln des Psalmenbüchleins, aus dem die Mutter ihr manchmal vorlas.
Mit einem kurzen Pfiff scheuchte Esiko eine Wäscherin beiseite. »Was die Mutter so sagt. Sie hat doch noch nie ein Schwert geführt. Kennt dessen Macht also gar nicht!«
Erschrocken schlug Uta die Hände vor den Mund. »Wie kannst du so über unsere Mutter reden?«
Anstatt einer Antwort kümmerte sich Esiko um die Versorgung der Pferde. »Stallbursche, hierher!« Trotz der regen Betriebsamkeit reichte seine Stimme mühelos bis zu den Stallungen hinüber. Im Hof herrschte ein aufgeregtes Durcheinander. Mägde hasteten mit riesigen Krügen auf das Küchenhaus zu. Knechte trugen Hocker und Tafeln in Richtung des Wohnturms. Zwischen ihnen erblickte Uta Hazecha, ihre jüngere Schwester, die eifrig einer mit Wasser gefüllten Kuh- blase hinterherlief, und ihren kleinen Bruder Wigbert auf den Armen seiner Amme.
Der junge Linhart bahnte sich etwas ungelenk seinen Weg zu den Geschwistern. Er war die linke Hand des Stallmeisters und eine unübersehbare Erscheinung auf dem Burgberg. Sein Körper war schon in die Höhe geschossen, als die mit ihm gleichaltrigen Knechte noch von den ersten Barthärchen geträumt hatten; zudem trug er sein Haupthaar ungewöhnlich lang.
»Kümmere dich um die Tiere und vergiss das Abreiben nicht«, wies Esiko ihn an.
Uta schenkte Linhart ein Lächeln. Sie wusste, dass er jedes Tier im Stall mit der gleichen Hingabe versorgte. Dann rutschte sie schwungvoll aus dem Sattel, erschrak jedoch, noch bevor sie festen Boden unter den Füßen spürte. »Oh, nein!« Ihre Finger glitten über einen Riss im Obergewand, der sich von ihrer Hüfte bis zum Knie hinabzog. »Ausgerechnet jetzt.«
»Schwesterlein«, begann Esiko und schwang sich, sich der bewundernden Blicke der Umstehenden versichernd, vom Rücken seines Rosses. »Bist selbst im Damensattel zu stürmisch «, dabei warf er Linhart, der mit offenem Mund auf Utas Gewand starrte, einen drohenden Blick zu.
Der Stallbursche wendete sich augenblicklich ab.
»Zu stürmisch?« Uta blickte vom Riss ihres Kleides zu Esiko auf, der sie beinahe um zwei Köpfe überragte.
»Ich muss jetzt zum Vater«, sagte er. »Er erwartet meine Unterstützung beim Empfang der Gäste.«
»Warte!«, bat sie eindringlich und griff nach seinem Arm. »Sage ihm nichts von meiner Unachtsamkeit.« Uta blickte zur Tür des Wohnturmes, aus welcher der Vater jeden Moment treten konnte. »Ich wechsele schnell noch mein Gewand.« Uta schaute ihn bittend an.
Esiko setzte einen strengen Blick auf.
»Der Vater wird nicht akzeptieren, wenn du zu spät erscheinst!«
Uta nickte und erklomm - von Esikos Mahnung getrieben - die Treppen des Wohnturms. Da sie nicht mehr die Zeit hatte, ihr Kammermädchen Erna zu Hilfe zu rufen, trat sie vor ihre Bettstatt und streifte sich rasch das eingerissene Obergewand ab. Dabei blieb ihr Blick an ihren Brüsten hängen, die sich seit dem vergangenen Winter zu wölben begonnen hatten und sich nun leicht gegen das Untergewand hindurch abdrückten. Der Veränderung ihres Körpers hatte sie jedoch erst Aufmerksamkeit geschenkt, nachdem ihr vor wenigen Wochen gleich nach dem Osterfest auch ein schwarzer Haarflaum unter den Armen und zwischen den Beinen gewachsen war.
»Was ist das?« Uta schreckte zusammen. Ein roter walnussgroßer Fleck zeichnete sich in Höhe ihres Schoßes auf ihrem Unterkleid ab. Sie raffte den Stoff bis zur Taille, um nachzusehen, und bemerkte, dass die Innenseiten ihrer Oberschenkel mit einem Blutschleim überzogen waren. »Der Monatsfluss? « Utas Gesicht verdunkelte sich. Die Burgregeln ordneten an, dass sich unreine Frauen Tag und Nacht vom Rest der Burgbewohner getrennt halten mussten, damit sie ihre Blutspur nicht in der gesamten Burg hinterließen. Uta kniete nieder und faltete die Hände. »Lieber Herrgott im Himmel, lass das nicht den Monatsfluss sein!«
Als die Doppelglocke zweimal läutete, erhob sie sich wieder, sprang ans Fenster und schob das Leder beiseite. Sie vernahm, dass der Stallmeister seinen Knechten Anweisung gab, im Hof Aufstellung zu nehmen. In der Ferne, weit hinter den Burgmauern, machte sie einen Tross von Berittenen aus, zog sich darauf hastig das befleckte Unterkleid über den Kopf und versteckte das blutige Gewand tief unten in der Gewandtruhe. Über das frische Unterkleid zog sie ein knöchellanges blaues Oberkleid. Jetzt musste sie nur noch die Haare binden. Mit ihrem vom Wind zerzausten Schopf ähnelte sie eher einer Wilden. Sie, eine Wilde? Uta lächelte und sah sich breitbeinig auf dem Rücken ihrer Stute durch die Felder galoppieren. Ein Klopfen riss Uta aus ihrer Träumerei. Sie blinzelte sich in die Realität zurück, dann öffnete sie die Tür.
»Wo bleibst du denn?«, erkundigte sich Erna atemlos. Das pausbäckige Mädchen mit den von der Haube kaum zu bändigenden hellen Locken schaute ihre Herrin sorgenvoll an.
»Das Gewand sitzt«, entgegnete Uta und schaute prüfend an sich hinunter.
»Dein Kopf«, deutete Erna, die sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte, mit dem Zeigefinger. »Man könnte meinen, du hättest mit Lisa die Haare getauscht.«
Uta musste nun auch schmunzeln und fuhr sich mit den Fingern durch die langen Strähnen, um sie zu entwirren. Mit wenigen gekonnten Handgriffen flocht sie das Haar auf dem Rücken zu einem dicken Zopf. Sie ergriff die auf der Fensterbank liegende Spange und steckte damit eine widerspenstige Locke über dem Ohr fest. Das Schmuckstück mit den hellgrünen Vierkantsteinen war ein Geschenk ihrer Mutter. Vielleicht mochte sie es deswegen besonders gern. Dass es ihre Augen so wunderbar zum Leuchten brächte, sagte die Mutter stets, wenn sie das Schmückstück an Uta entdeckte, und strich ihr dabei liebevoll über die Wangen. Uta war stolz, die grünen Augen ihrer Mutter geerbt zu haben, zumal Esiko, der manchmal etwas eigen war, die gleiche Augenfarbe besaß. Auch die zierliche Gestalt und die Konturen ihres Gesichts mit den geschwungenen Brauen, der schmalen Nase mit dem breiten Nasenrücken und den kleinen Mund mit den vollen Lippen hatte die Mutter ihr in die Wiege gelegt. Besonders stolz war Uta jedoch auf den kleinen braunen Fleck, einen Fingerbreit unter ihrem linken Auge. Den besaßen alle vier Geschwister an genau der gleichen Stelle, was sie mit der Mutter auf eine besondere Weise verband.
»Du siehst hübsch aus«, sagte Erna und richtete Uta die Spange. In diesem Moment erklang der letzte Schlag der Doppelglocke: Die Gäste waren also angekommen.
»Komm! Sonst schimpft der Vater.« Uta ergriff Ernas Hand und zog sie hinter sich aus der Kemenate.
Zur Begrüßung der hohen Besucher hatten die Burgbewohner in drei Reihen Aufstellung genommen. An der Spitze der Versammlung stand der Burgherr Graf Adalbert von Ballenstedt mit seinem Stammhalter Esiko. Adalberts einst blaue Augen waren vor Verbitterung über die Jahre hinweg verblasst. Als Graf war er ein Lehnsmann des Königs und als solcher zum Schutz seiner Untertanen verpflichtet. Die Untertanen brachten im Gegenzug dafür halbjährlich Naturalien und Brennholz auf die Burg. Mittlerweile erzielte er Einkünfte aus zahlreichen Lehnsdörfern im Schwaben- und im Harzgau, im Nordthüringengau und im Serimunt. Außerdem hatte er durch die Heirat mit Hidda, der Tochter des Markgrafen Gero aus der Ostmark, noch umfangreiches, freies Landeigentum hinzugewonnen. Nichtsdestotrotz konnte er dem König aufgrund seiner vergleichsweise immer noch kleinen Lehen nur geringe Kriegsdienste leisten. Die Markgrafen der östlichsten Reichsgebiete stellten dem König für den Krieg zwanzigmal so viele Krieger, Pferde und Waffen zur Verfügung wie er und wurden deshalb auch in Angelegenheiten des Reiches von Kaiser Heinrich zur Beratung und Mitsprache herangezogen. Adalbert war ihnen an Macht und Einfluss deutlich unterlegen, aber das - so hatte er sich vorgenommen - würde er heute, so gut es ging, zu überspielen wissen. Keine leichte Aufgabe, wenn es um Gebietsstreitigkeiten mit dem Meißner Markgrafen Ekkehard dem Älteren ging. Adalbert richtete sein Wams und fixierte das Eingangstor, vor dem nun deutlich Pferdegetrappel zu vernehmen war.
Diesen Moment der Konzentration nutzte Uta und sprang am Küchenmeister vorbei an die Seite ihrer Mutter, die in der zweiten Reihe hinter dem Grafen Aufstellung genommen hatte. Erna trat zu den Mägden.
»Entschuldigt, Mutter«, flüsterte Uta und knickste. Gräfin Hidda, die dem besonderen Anlass entsprechend einen Schleier mit edler Borte angelegt hatte, ergriff unauffällig die Hand ihrer Tochter. Esiko, der neben dem Vater stand, wandte sich um und mahnte mit dem Finger auf dem Mund zur Ruhe. Als er sah, dass die Schwester liebevoll lächelnd von der Mutter zu ihm schaute, wandte er sich wieder dem Geschehen vor sich zu. Auf Schlachtrössern zogen an der Spitze des Zugs nun Markgraf Ekkehard und sein Sohn Hermann, gefolgt von einer Schar von Rittern, Knappen, Bannerträgern und Bläsern ein. Die Zugbrücke knarrte unter dem Gewicht des Gästezugs. Adalbert wandte sich dem Stallmeister zu, der sich zusammen mit dem Burggeistlichen, dem Küchenmeister nebst Mägden, dem Schmiedemeister und weiterem Gesinde hinter der Ballenstedter Familie versammelt hatte. »Versorgt die Tiere unserer Gäste. Sofort!«, befahl er.
Die Besucher saßen ab. »Vielen Dank für die Einladung«, grüßte der Markgraf, dem ein Fahnenträger folgte, auf dessen Banner ein Adler prangte.
Adalbert verbeugte sich und ging seinem Gegenüber einige Schritte entgegen. »Seid willkommen auf meiner Burg, Markgraf. «
Der nickte. »Ich bin zuversichtlich, unsere Meinungsverschiedenheiten ohne Kampfeshandlungen lösen zu können und damit unserer beider Kraft für Wichtigeres zu bewahren.«
Uta beobachtete, wie sich ihres Vaters Lippen zu einem weißen Strich verzogen, als er darauf nickte und nach weiteren Stallburschen winkte. Esiko hatte sie jüngst belehrt, dass sie froh darüber sein konnten, dass Markgraf Ekkehard ihre Burg nicht einfach belagert und ausgeräuchert hatte, um das strittige Waldstück in seinen Besitz zu bringen. Aber angeblich lag dem Vater dank des Heiratsguts der Mutter eine Urkunde vor, die das besagte Waldland eindeutig der Ballenstedter Familie zuschrieb.
»Meinen Erstgeborenen Hermann kennt Ihr bereits vom Kriegsdienst für den König«, fuhr Ekkehard fort und winkte den Sohn an seine Seite.
Damit trat ein hochgewachsener Mann in Utas Sichtfeld, der das hellbraune Haar kaum schulterlang und den Bart ungewohnt kurz geschoren trug.
Graf Adalbert deutete eine Verbeugung an und winkte seinerseits Esiko zu sich heran. »Mein Stammhalter weiß mit der Streitaxt und mit dem Kurzschwert bestens umzugehen«, sagte er und blickte stolz auf seinen Sohn, der als Zeichen für seine Zugehörigkeit zur Ritterschaft das Kettenhemd angelegt hatte.
»Beim nächsten Kriegszug bin ich im Heer unseres Königs.« Esiko verbeugte sich mit auf die Brust gelegter Hand.
Markgraf Ekkehard nickte und begann, sein Gehänge abzubinden. »Dann werden unsere Söhne sicherlich gemeinsam kämpfen.«
Bei diesen Worten trat der Markgrafensohn hinter den Vater zurück und gab damit den Blick auf seinen Knappen und Schwertträger frei. Beim Anblick des jungen Knappen verfi el Uta ins Grübeln. Sein Gesicht war von Sommersprossen übersät, und sein Haar hatte die Farbe lodernder Glut. Nur ein einziges Mal war sie bislang jemandem mit solch ungewöhnlichem Aussehen begegnet. Das ist Volkard aus dem Hardagau, durchfuhr es Uta, mein einstiger Spielkamerad! Sie erinnerte sich, dass er ihr beim letzten Aufeinandertreffen vor zwei Jahren berichtet hatte, dass er als Knappe an die Ostgrenze des Reiches gehen wolle, weil sein alter Lehrmeister niedergemetzelt worden war. Vielleicht würde sie später mit der Erlaubnis des Vaters noch die Möglichkeit haben, sich mit Volkard auszutauschen.
»Sollten wir unsere Söhne nicht eine Kostprobe ihres Könnens geben lassen und sie auf die Jagd mitnehmen?«, schlug der Markgraf vor.
»Sehr wohl, Markgraf«, entgegnete Adalbert von Ballenstedt. Obwohl nicht ausreichend kampferprobt, war Esiko im zurückliegenden Winter deutlich früher als jeder andere begabte Junge zum Ritter geschlagen worden. »Doch erinnere ich mich, dass Ihr noch einen zweiten Sohn hattet. Geruhte er nicht mitzukommen?«
»Meinen Sohn Ekkehard erwarten wir erst im Herbst aus Kiew zurück, wo er dieser Tage meine jüngste Tochter Oda ihrem Gatten Boleslaw zuführt.«
»Kiew?«, fragte Adalbert von Ballenstedt.
»Herzog Boleslaw hat inzwischen die Herrschaft über Kiew erlangt und tritt nun - mit Kaiser Heinrichs Einverständnis - dem byzantinischen Kaiser Basileios entgegen. Die Ehe mit unserer Oda«, der Markgraf lächelte in Richtung seines Sohnes, »bindet ihn vielleicht mehr als jedes Vertragswerk an die Interessen unseres Kaisers und den jüngst in Bautzen zwischen ihnen geschlossenen Frieden!«
»Der Herzog fordert den byzantinischen Kaiser heraus?«, fragte Esiko beeindruckt.
Markgraf Ekkehard nickte, wandte sich dann aber der Hausherrin zu. »Verehrte Gräfin von Ballenstedt, auch Euch danke ich für die Einladung und freue mich, Euch in bester Gesundheit vorzufi nden.«
Gräfin Hidda löste ihre Hand aus Utas und knickste. »Seid willkommen, Markgraf. Wir hoffen, Euch und den Euren den Aufenthalt so angenehm wie möglich zu gestalten.«
»Unser letzter Besuch ist zwar schon einige Zeit her«, sagte der alte Markgraf und deutete ebenfalls eine Verbeugung vor der Hausherrin an, »ich erinnere mich aber noch gut an die hervorragende Bewirtung.«
Gräfin Hidda verneigte sich ergeben.
»Man hört derzeit viel aus den Grenzgebieten«, fuhr Markgraf Ekkehard fort. »Wo nun die Lausitzen meinem Schwiegersohn Boleslaw«, er schmunzelte bei diesem Wort, »als Lehen zugesprochen worden sind.«
Uta sah die Mutter tief einatmen. Sie ahnte, dass Hidda die Abtretung der Gebiete, die bisher im Besitz ihrer Familie gewesen waren, schmerzte.
Markgraf Ekkehard schaute sich weiter um. »Und wer ist diese erblühende Jungfer hier?«
Uta hielt den Blick gesenkt. Kein Wort mehr als der Vater sie zu sagen angewiesen hatte! Ihr Herz begann, heftig zu schlagen. »Her... her... herzlich willkommen auf Burg Ballenstedt, Markgraf«, sagte sie aufgeregt. Peinlich berührt schloss sie die Augen und schalt sich für ihr Stottern. Warum nur musste es sich ihrer ausgerechnet immer in solchen Situationen bemächtigen, in denen sie besonders gewandt auftreten wollte!
»Ist das Eure Zweitgeborene, Adalbert?« Der Markgraf tätschelte Uta den Kopf.
»Das ist sie!«, antwortete der. »Und mit ihren zwölf Jahren bald im gebärfähigen Alter.«
Unwillkürlich presste Uta die Oberschenkel zusammen. Konnte dem Vater der Blutschleim aufgefallen sein?
»Sie ist uns eine Freude.« Gräfin Hidda bedachte die Tochter mit einem liebevollen Blick.
»Das glaube ich, Gräfin«, bestätigte der Markgraf. »Die junge Dame ist äußerst ansehnlich. Ist sie schon versprochen?«
Adalbert von Ballenstedt hob aufmerksam die Brauen. »Noch nicht.«
»Dafür muss sie erst noch etwas wachsen!« Esiko bedachte die Schwester mit einem prüfenden Blick. »Wie Ihr seht, Markgraf, reicht sie einem Manne gerade einmal bis zur Brust.«
Uta fühlte sich plötzlich nackt und fröstelte.
»Das wird schon noch«, versicherte der Markgraf und zwinkerte Uta zu, die daraufhin zaghaft lächelte.
Graf Adalbert räusperte sich. »Wenn es Euch recht ist, möchte ich Euch jetzt zur Tafel bitten.« Er deutete zum Burgsaal hinüber und ging den Gästen dann voran.
Uta folgte hinter der Mutter. Dabei hörte sie Esiko vor sich in Richtung des Hardagauer Knappen zischen: »Rote Haare, Sommersprossen sind des Teufels Artgenossen!«
»Lasst noch eine zusätzliche Tafel und weitere Bänke bringen «, bat Gräfin Hidda den Tischmeister leise und folgte dem Gatten über die Schwelle in den Burgsaal. »Wir haben einige Gäste mehr als erwartet.«
Der Tischmeister verbeugte sich und hastete davon.
Mit zusammengekniffenen Augen überflog Adalbert die bereitgestellten Tische. Als er schon ansetzen wollte, seine Gattin für die im Raum herrschende Kälte zu tadeln, fiel ihm ein, dass er selbst den Befehl gegeben hatte, einen erheblichen Teil der Brennholzvorräte zur Verfüllung eines Loches in der Außenmauer des Brothauses zu verwenden. »Nehmt mit Eurer Familie an der Tafel uns gegenüber Platz, Markgraf«, sagte er daher nun und ließ sich selbst, gefolgt von seiner Gattin, mittig an der Außenseite der rechten Tafel vor dem Kamin nieder. Neben ihm saßen Esiko und der Burggeistliche, während sich Uta an der Seite der Mutter niederlassen durfte. Die weiteren Plätze wurden dem Rang entsprechend abwärts verteilt. An der dritten Tafel, die inzwischen an das Kopfende des Saales getragen worden war, ließ sich das untere Gefolge des Markgrafen nieder.
»Die Mahlzeiten stehen bereit, Graf«, meldete der Küchenmeister seinem Herrn.
»Dann reicht die Wasserschalen«, befahl Adalbert den Mägden, die an den Kopfenden der Tafeln standen. Nachdem sich die Gäste die Hände gereinigt und an den Tafeltüchern abgetrocknet hatten, begannen die Mägde, die Krüge vollzugießen.
»Auf gute Nachbarschaft«, prostete Markgraf Ekkehard.
»Auf gute Nachbarschaft«, erwiderte Adalbert und gab mit der freien Hand den beiden Burgmusikanten das Zeichen zum Aufspielen. Der Jüngere der beiden stimmte ruhige Töne mit der Harfe an, während der Schlaksige auf der Doppelfl öte eine leichte Melodie blies. Die Küchenjungen trugen vollbeladene Tabletts in den Saal und knieten zum Zeichen des Friedens zwischen Gastgeber und Gast in der Mitte des Burgsaales nieder.
Fasziniert verfolgte Uta die Zeremonie und das Vorlegen der Speisen, welche die sonst auf Ballenstedt gereichten deutlich an Imposanz und Vielfalt übertrafen. So hatten sie im vergangenen Winter tagelang nur Brot und mehliges Wasser zu essen und zu trinken gehabt. Umso mehr genoss sie nun den Geruch von Schinken, Leberpastete und des herrlich nach Pflaumen und Birnen duftenden Muses. Der Tag, der mit dem betörenden Duft der Narzissen beim Ausritt begonnen hatte, schien eine geruchsintensive Fortsetzung zu erfahren. Im Sog einer fröhlichen Melodie streifte Utas Blick die dritte Tafel, an der Volkard aus dem Hardagau saß und gerade nach einer Hühnerkeule griff. Sie erinnerte sich noch gut an ihn, ihre beiden Familien hatten vor zwei Sommern das Auferstehungsfest des Herrn hier auf Burg Ballenstedt gemeinsam begangen. Der Junge mit dem ungewöhnlichen Haar, von dem Uta meinte, dass es die Leuchtkraft der brennenden Kienspäne an den Wänden des Burgsaales aufsog, zählte drei Jahre mehr als sie, erschien ihr körperlich aber unverändert gedrungen.
»Mmh. Was für ein guter Schinken!« Eine Silberschale schob sich in Utas Blickfeld. »Ein Edelfräulein sollte Fremde nicht so anstarren«, flüsterte Erna, die gewöhnlich für das Ankleiden, die Ordnung in der Kemenate und noch einige andere Wünsche der Grafenkinder zuständig war. Aufgrund des aufwendigen Mahles half sie dieser Tage jedoch auch in der Küche aus. »Erna!« Uta lächelte und senkte den Blick. »Dir entgeht auch nichts!« Sie schaute sofort wieder auf, piekste mit dem Messer ein Stück vom Schinken auf und legte es auf eine Scheibe Brot. »Hier, nimm gleich noch etwas.« Die Freundin hielt die Silberschale tiefer. »Bevor alles weg ist.«
»Ich möchte lieber vom Mus kosten. Kommst du nach dem Fest zu mir hinauf? Dann kann ich dir die Geschichten der Gäste erzählen.«
Voller Vorfreude nickte Erna und wurde im nächsten Augenblick von einem Hungrigen am Ärmel fortgezerrt, der sich darüber beklagte, dass die Platte vor ihm bereits leer sei. Inzwischen waren Tischgespräche über allerlei Belangloses in Gang gekommen. Esiko beschrieb seinen letzten Jagderfolg mit der Axt, die Ritter an der gegenüberliegenden Tafel redeten durcheinander.
»Was meint Ihr dazu, dass unsere kaiserliche Hoheit das Bündnis mit den Liutizen nach dem Friedensschluss mit Boleslaw in Bautzen aufgelöst hat?«, erhob Markgraf Ekkehard, nachdem er einen Fasanenschenkel vertilgt hatte, das Wort und brachte damit alle anderen Gespräche zum Verstummen. »Wird der Friede wirklich ein endgültiger sein?«
Uta horchte auf. Die Liutizen? Esiko hatte ihr vor einiger Zeit von diesem seltsamen Volk erzählt. Sie waren Slawen, die entlang der Elbe bis hinauf zur Ostsee lebten, in ihren Tempeln Gottheiten mit zehn Gesichtern verehrten und diesen sogar Menschenopfer darbrachten. Esiko hatte ihr einst bildhaft vorgeführt, wie sie ihre Opfer quer am Hals, schräg über dem Handgelenk und zwei Finger breit über dem Knie zerschnitten. Zuletzt wurde ihnen der Schädel gespalten.
»Der Kaiser hat das Bündnis mit diesen wilden, heidnischen Slawenvölkern aufgelöst?« Graf Adalbert war offensichtlich angewidert. »Was kann ein Stammesvolk, das sich nicht von Christus leiten lässt, schon gegen einen so übermächtigen Gegner wie Herzog Boleslaw ausrichten!« Er wusste, dass der Friedenschluss mit dem Polen nur durch Zugeständnisse Kaiser Heinrichs möglich geworden war. Und eines davon war die Kündigung des Bündnisses mit den Liutizen gewesen, die Heinrich nun nicht länger als Verbündete gegen Boleslaw zu benötigen glaubte.
»Auf dem Weg in den Harz streift der Kaiser dieser Tage nur knapp unsere Ländereien«, erklärte der Markgraf. »Er führt jene Geiseln aus dem Gefolge des polnischen Herzogs in seinem Zug mit, welche er in Bautzen beim Friedensschluss als Pfand übergeben bekam. Doch trotz dieses Umstands bin ich mir unsicher, was die Dauerhaftigkeit des Friedensabkommens angeht. Schließlich ist allgemein bekannt, dass Herzog Boleslaw einst die polnische Königskrone versprochen bekommen hat, dieses Versprechen von kaiserlicher Seite aber nie eingelöst wurde. Wegen des zu Jahresbeginn geschlossenen Friedens und seiner Ehe mit Oda wird Herzog Boleslaw vorerst vielleicht von weiteren Angriffen absehen, aber ob er endgültig von der Königskrone wird lassen können?«
Markgrafensohn Hermann nickte. »Ich bezweifele ebenfalls, dass Boleslaw die Krone aufgegeben hat. Bereits beim Friedensschluss wurde erzählt, dass er seinen Ältesten, Bezprym, enterbt und Mieszko, seinen zweiten Sohn, als Nachfolger erkoren hat. Und Mieszko scheint wenig mit unserem Kaiser Heinrich gemein zu haben, obwohl Mieszkos Schwester seit dem vergangenen Sommer meine Gemahlin ist.«
»Zwei Frauen Eurer Familie für die Sicherung des östlichen Vorfeldes unseres Reiches?«, fragte Adalbert aufmerksam und ließ seinen Blick zufrieden zu seiner Frau gleiten.
Uta hingegen erschauderte bei dem Gedanken an einen Vater, der seine Tochter als Kriegspfand einsetzte.
»Mieszko erscheint mir noch unberechenbarer als sein Vater «, grübelte der Markgraf an die Runde gewandt. Beim Anblick der kleinen Grafentochter mit den vor Spannung weit aufgerissenen Augen schaute er aber sofort wieder fürsorglich. »Deswegen hat Kaiser Heinrich nach dem Friedensschluss in Bautzen entlang der Elbe auch das halbe Heer zurückgelassen. Man kann ja nie wissen. Die Befehlsgewalt soll er seiner Gattin, Kaiserin Kunigunde, übertragen haben.«
»Pah!« Graf Adalbert schlug mit der Faust auf die Tafel und schüttelte verständnislos den Kopf.
Uta zuckte zusammen und griff unter dem Tisch nach der Hand der Mutter. Sie wusste aus Erfahrung, dass der Vater im Zorn gern seine körperliche Kraft zur Demonstration seines Willens einsetzte, wie damals, als die Neugier sie das Wort an einen königlichen Gesandten hatte richten lassen, noch bevor der Vater dazu gekommen war, diesen formal zu begrüßen. Hochschwanger hatte sich die Mutter schützend vor sie gestellt und war vom Vater wie eine Puppe zur Seite geschleudert worden. Durch den harten Aufprall an die Wand des Burgsaals hatte sich ihr ungeborenes Kind im Mutterleib gedreht. Bei der drei Tage dauernden nachfolgenden Geburt hatte die Wehmutter dann von einem Wunder gesprochen: Der kleine Wigbert war gesund geboren worden. Doch nach diesem Vorfall hatte Uta sich geschworen, ihre Mutter nie wieder in eine solche Situation zu bringen. Sie seufzte und dachte dann an ihre jüngeren Geschwister, die auf Anweisung des Vaters während der Tafel von ihrer Amme Gertrud in der mütterlichen Kemenate beaufsichtigt wurden, damit sie unter keinen Umständen das Fest störten.
»Kaiserin Kunigunde unterzeichnet inzwischen sogar als Mitregentin - als consors regni«, ergänzte der Markgrafensohn.
»Was ist eine Mitregentin?«, flüsterte Uta der Mutter ausgerechnet in dem Moment ins Ohr, in dem Graf Adalbert sich seiner Gattin zuwendete. Mit einem scharfen Blick quittierte er das Tun seiner Tochter und beugte sich zu ihr hinüber. »Du sprichst nur, wenn du ausdrücklich dazu aufgefordert wirst. Hast du verstanden?« Adalbert von Ballenstedts linkes Augenlid pochte, als er seine Gattin vorwurfsvoll anschaute. »Sie kann ja nicht einmal pünktlich erscheinen, wenn es von ihr verlangt wird!«
Traurig senkte Uta den Kopf. Sie hatte doch lediglich das Wort an die Mutter gerichtet. Noch dazu im Flüsterton. Sollte ihr dies ab dem heutigen Tag etwa auch versagt sein?
»Eine Mitregentin«, begann Hermann von Naumburg an Gastgeber und Gastgeberin gerichtet zu erklären, »hat wichtige politische Pflichten zu erfüllen, will sie ihren königlichen Gatten tatkräftig unterstützen.«
Graf Adalbert ließ daraufhin von den Frauen seiner Familie ab und konzentrierte sich wieder auf die gegenüberliegende Tafel. Betreten senkte Uta den Kopf.
»Unsere Kaiserin Kunigunde hilft ihrem Gatten zum Beispiel nicht nur bei der Organisation des Heerlagers«, fuhr der Markgrafensohn mit seiner tiefen Stimme ruhig fort, »sie berät ihn sogar bei der Besetzung von Ämtern oder bei Landesschenkungen. «
Vor lauter Erstaunen über diese Worte hatte Uta Mühe, den Kopf gesenkt zu halten.
»Solche Kaiserinnen sind die Ausnahme«, belehrte Markgraf Ekkehard die Runde, als er die irritierten Gesichter beider Gefolge bemerkte. »Für solche Angelegenheiten hat der Kaiser in der Regel Berater wie mich.«
»Heinrich muss mit seiner Gattin ein besonders enges Vertrauensband haben, wenn er ihr diese Verantwortung überträgt «, sagte Markgrafensohn Hermann mehr zu sich selbst als an die Tischgesellschaft gewandt. »Er muss ihr mindestens genauso viel Verstand und Verhandlungsgeschick zubilligen wie uns, seinen Beratern.«
»Nicht so melancholisch. Du hast doch ein vernünftiges Weib«, sagte der Markgraf und stieß seinen Sohn in die Seite. »Ja, ja. Die holde Weiblichkeit. Die hat ihre eigenen Waffen im Kampf um Einfluss und Macht«, fuhr er dann lauter und für alle vernehmbar fort.
Daraufhin erhob sich ein Ritter und griff sich zwischen die Beine. »Unsere Waffen sind aber auch nicht zu verachten.« Die Männer lachten grölend.
»Ich bezweifele«, versuchte Graf Adalbert das Gelächter zu übertönen, »dass ein Weib Kriegsführung und Politik tatsächlich so zu erlernen vermag, wie uns Gott dieses Vermögen von Geburt an mitgegeben hat.«
»Niemals«, mischte sich Esiko ein und klopfte dem Vater beipflichtend auf die Schulter. »Sonst würde die von Gott gewollte Ordnung ja auch vorsehen, dass Weiber lernfähig sind.« Er glaubte zwar daran, Frauen belehren zu müssen, aber die Fähigkeit aus diesen Belehrungen zu lernen, sprach Esiko ihnen kategorisch ab. »Auf die Politik des starken Geschlechts «, prostete er den Gästen zu.
Gräfin Hidda blickte ihren Sohn sorgenvoll an. Auch Uta war der Durst vergangen. »Frauen dürfen nicht lernen? Wie kann Esiko so etwas behaupten?«, wandte sie sich erneut an die Mutter, als der Vater durch einen anderen Gesprächspartner abgelenkt war.
»Später, Liebes«, bat die Gräfi n.
»Aber Esiko muss sich irren!«, beharrte Uta und zupfte Hidda am Ärmel.
»Wir reden darüber, wenn die Gäste fort sind.«
Uta holte tief Luft und wollte abermals ansetzen, hielt aber inne, als sie die Hand ihrer Mutter auf dem Schoß spürte. Augenblicklich erinnerte sie sich wieder der quälenden Geburtsschreie und verharrte weiter stumm, während die Musikanten von Gast zu Gast gingen und dabei beschwingtere Stücke aufspielten.
»Habt so weit Dank für Eure Gastfreundlichkeit«, sagte Markgraf Ekkehard schließlich und griff nach einem Stück vom Gewürzkuchen, den die Mägde mit den letzten Naschereien herumtrugen.
Genehmigte Lizenzausgabe für Verlagsgruppe Weltbild GmbH, Steinerne Furt, 86167 Augsburg.
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Autoren-Porträt von Claudia Beinert, Nadja Beinert
Claudia und Nadja Beinert wurden am 4. Mai 1978 in Staßfurt geboren. Beide studierten Internationales Management in Magdeburg. Claudia Beinert arbeitete lange Zeit in der Unternehmensberatung, hatte eine Professur für Finanzmanagement inne und veröffentlichte zahlreiche wissenschaftliche Aufsätze und Fachbücher. Nadja Beinert ist seit vielen Jahren in der Filmbranche tätig. Nadja lebt und schreibt in Erfurt - Claudia in Erfurt und Würzburg.
Bibliographische Angaben
- Autoren: Claudia Beinert , Nadja Beinert
- 768 Seiten, Maße: 14,5 x 22 cm, Geb. mit Su.
- Verlag: Weltbild
- ISBN-10: 3863656407
- ISBN-13: 9783863656409
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