Die Hexengabe
Roman. Originalausgabe
Beatrix Mannel bringt Spannung, Tempo und Opulenz in den historischen Roman!
Nürnberg 1697: Die schöne Rosa gilt als Hexe, denn sie hat sechs Finger an ihrer linken Hand. Als ihr Vater ums Leben kommt, will man sie und ihre Familie daher nur...
Nürnberg 1697: Die schöne Rosa gilt als Hexe, denn sie hat sechs Finger an ihrer linken Hand. Als ihr Vater ums Leben kommt, will man sie und ihre Familie daher nur...
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Produktinformationen zu „Die Hexengabe “
Beatrix Mannel bringt Spannung, Tempo und Opulenz in den historischen Roman!
Nürnberg 1697: Die schöne Rosa gilt als Hexe, denn sie hat sechs Finger an ihrer linken Hand. Als ihr Vater ums Leben kommt, will man sie und ihre Familie daher nur allzu gerne loswerden. Doch Rosa ringt dem Rat der Stadt ein Ultimatum ab: Gelingt es ihr, binnen zwei Jahren ihren Neffen, den einzigen männlichen Erben, aus Ostindien zu holen, darf die Familie die Spielkartendruckerei des Vaters weiterführen. Auf der gefahrvollen Reise leistet ausgerechnet ihr sechster Finger wertvolle Dienste - denn mit seiner Hilfe kann Rosa erkennen, wenn jemand lügt ...
Originalausgabe mit Karten, Literaturverzeichnis und Glossar.
Nürnberg 1697: Die schöne Rosa gilt als Hexe, denn sie hat sechs Finger an ihrer linken Hand. Als ihr Vater ums Leben kommt, will man sie und ihre Familie daher nur allzu gerne loswerden. Doch Rosa ringt dem Rat der Stadt ein Ultimatum ab: Gelingt es ihr, binnen zwei Jahren ihren Neffen, den einzigen männlichen Erben, aus Ostindien zu holen, darf die Familie die Spielkartendruckerei des Vaters weiterführen. Auf der gefahrvollen Reise leistet ausgerechnet ihr sechster Finger wertvolle Dienste - denn mit seiner Hilfe kann Rosa erkennen, wenn jemand lügt ...
Originalausgabe mit Karten, Literaturverzeichnis und Glossar.
Klappentext zu „Die Hexengabe “
Beatrix Mannel bringt Spannung, Tempo und Opulenz in den historischen Roman!Nürnberg 1697: Die schöne Rosa gilt als Hexe, denn sie hat sechs Finger an ihrer linken Hand. Als ihr Vater ums Leben kommt, will man sie und ihre Familie daher nur allzu gerne loswerden. Doch Rosa ringt dem Rat der Stadt ein Ultimatum ab: Gelingt es ihr, binnen zwei Jahren ihren Neffen, den einzigen männlichen Erben, aus Ostindien zu holen, darf die Familie die Spielkartendruckerei des Vaters weiterführen. Auf der gefahrvollen Reise leistet ausgerechnet ihr sechster Finger wertvolle Dienste - denn mit seiner Hilfe kann Rosa erkennen, wenn jemand lügt ...
Originalausgabe mit Karten, Literaturverzeichnis und Glossar.
"Beatrix Mannel (...) fesselt ihre Leser durch immer wieder neue Wendungen und wechselnde Perspektiven. Ihr Roman erinnert an frühere TV-Weihnachtsmehrteiler und ist ein packendes Abenteuer für lange Winterabende." -- Frankfurter Neue Presse
Lese-Probe zu „Die Hexengabe “
Die Hexengabe von Beatrix Mannel... mehr
1. Kapitel
Aber das ist Unrecht!« Rosa hob zum ersten Mal, seit
sie an der Seite ihrer Mutter das gewaltige Portal des
Nürnberger Rathauses durchschritten hatte, ihren Blick und
funkelte ihre Peiniger wütend an.
Die sieben Männer starrten fassungslos zurück.
Auf den ersten Blick sahen sie für Rosa alle gleich aus in ihren
schwarzen Kniehosen, den schwarzen Hemden und Wämsern
mit den weiß aufleuchtenden Spitzenkragen. Wie bösartige Raben,
fand Rosa, hockten sie da oben hinter dem langen Tisch.
»Großes Unrecht!«, wiederholte Rosa noch einmal lauter,
doch ein Rempler ihrer Mutter brachte sie zum Schweigen,
was von den Männern mit einem wohlwollenden Nicken aufgenommen
wurde.
»Ehrwürdige Herren«, begann die Mutter mit brüchiger
Stimme, »soweit mir bekannt ist, hat der Rat der Stadt Nürnberg
noch niemals eine Witwe dermaßen ungnädig behandelt.«
Rosa, die schräg hinter ihrer Mutter stand, bemerkte, dass
deren bester schwarzer Leinenrock vibrierte, als ob die Knie
ihrer Mutter stark zittern würden. Sie fragte sich, warum ihre
Mutter so viel Angst vor diesen Männern hatte.
Sie musterte den Rat jetzt eingehender und fand, dass sich
die Raben, zumindest was Haartracht und Körperfülle anging,
doch voneinander unterschieden.
»Wir tragen Sorge für jedwede Witwe in Nürnberg«, erklärte
der Mann mit der größten Stirnglatze, »doch wie sol-
len wir Euch gestatten, das für Eure Verhältnisse viel zu prächtige
Haus und noch dazu den ebenso vollständig überschuldeten
Betrieb Eures Mannes weiterzuführen, wenn es weder
einen männlichen Erben gibt, noch ein Geselle im Haus ist.«
Er wischte mit einem Tuch seine glänzende Stirn trocken.
»Aber für gewöhnlich erlaubt Ihr der Witwe für wenigstens
drei Jahre ...«
»Ei, da schaut an, die Zapfin kennt sich aus!«, spottete einer
und brachte die anderen so zum Lachen, dass ihre weißen
Spitzenkragen wackelten.
»Ihr habt in der Tat nicht ganz unrecht«, erbarmte sich
der Herr ganz links am Tisch. Er zwirbelte seinen Spitzbart,
während er mit einem merkwürdigen Lächeln weiterredete.
»Doch dieser endlose Krieg hat Nürnberg auf Jahre hinaus
arm gemacht, und wir können es uns nicht leisten, einen Betrieb
weiterlaufen zu lassen, von dem keinerlei Einnahmen
für den Stadtsäckel zu erwarten sind. Noch dazu gibt es bereits
mehr als genug Spielkartendrucker in der Stadt.«
Rosa, die wie alle anderen in der kleinen Ratsstube stark
schwitzte, spürte, wie eine lähmende Kälte in den sechsten
Finger ihrer linken Hand stieg - wie immer, wenn jemand log.
Unwillkürlich fasste sie mit ihrer rechten Hand nach der behandschuhten
linken. Sie hasste es, wenn ihr sechster Finger
sich auf diese Art bemerkbar machte, und wünschte sich nichts
mehr, als dass er endlich einmal so kalt wie ein Eiszapfen würde,
den sie dann einfach abbrechen und fortwerfen könnte.
Stets hatte sie Angst, jemand könnte diese seltsame Fähigkeit
ihres Fingers bemerken, doch ein Blick auf die Männer
überzeugte sie davon, dass diese Furcht unbegründet war:
Der Spitzbärtige redete noch, und die anderen lauschten andächtig.
»Euer selig verstorbener Mann, der Johannes Willibald
Zapf, hätte zum Ersten gut daran getan, sich zu bescheiden,
zum Zweiten, besser zu wirtschaften ...«, er wandte sich Beifall
heischend zu den Herren, die rechts und links von ihm
saßen, und zwinkerte diesen zu, »und zum Dritten hätte er
statt Eurer teuflisch krüppeligen Tochter und deren kränklichen
Schwestern auch einen Sohn zeugen sollen.«
Die Herren brachen in gemeinschaftliches Gelächter aus,
nickten sich zu, nur um dann mit neugierigen Blicken Rosas
üppige Gestalt nach ihrer Missbildung abzusuchen.
Rosa spürte unterdessen ihren Hexenfinger kalt wie nie,
es kam ihr so vor, als würde er mit jedem Lachen wachsen,
anschwellen, als müsste er gleich seinen ledernen Handschuh
sprengen. Sie zwang sich, nicht nachzusehen, und
versteckte die unselige Hand noch tiefer zwischen den
Falten ihres dunkelblauen Leinenrocks. Diese schreckliche
Hand, die allein schuld war an dem plötzlichen Tod des
Vaters.
Sie spürte, wie ihre Mutter in sich zusammensank.
»Mutter«, flüsterte sie ihr zu, »du musst dich wehren. Der
Vater hätte gewollt, dass wir weitermachen. Die Ratsherren
sagen uns nicht die Wahrheit.«
Ihre Mutter bedachte sie nicht einmal mit einem Blick,
sondern zischte nur ein kurzes »Schweig!«, atmete tief ein,
straffte ihre Schultern und begann erneut.
»Mag sein, dass es Gott beliebt hat, meinen seligen Ehemann
und mich für unsere Sünden zu strafen, indem er uns
den sehnlichst erwünschten Sohn versagt hat, doch wer seid
Ihr ...«
Der spitzbärtige Rabe wurde rot im Gesicht und sprang
auf. »Ihr vergesst Euch, denkt daran, vor wem Ihr hier steht!«
Die Mutter verstummte und zuckte zurück, als hätte er sie
geschlagen.
»Ihr schließt den Betrieb, verkauft Euer Haus und alle Gerätschaften
und sucht Euch eine andere Bleibe, eine, die Euch
und Euren merkwürdigen Töchtern besser ansteht. Am allerbesten
verlasst Ihr Nürnberg gleich ganz.«
Die Männer nickten zustimmend, und ein besonders
schmerbäuchiger, dessen Kinn in drei Ringen über dem Spitzenkragen
lag, fügte noch an: »Für die mit der Hexenhand
werdet Ihr sowieso niemals einen Mann finden, und Eure
Zwillinge sind, so wurde uns glaubhaft versichert, zu kränklich,
um für den Ehestand tauglich zu sein.«
Der Spitzbärtige fügte, immer noch rot im Gesicht, hinzu:
»Welcher ehrbare Kartendruckergeselle würde eine Alte wie
Euch schon ehelichen. Noch dazu eine«, er holte tief Luft,
um dann mit allem Nachdruck zu sagen: »eine, deren Leib
verflucht zu sein scheint.«
Dieser letzte Hieb brachte ihre Mutter zum Schwanken.
Rosa spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Was die
Mutter wegen ihr alles ertragen musste! Diese Art von Gemeinheiten
hatten die Leute auch schon bei der Beerdigung
des Vaters geraunt. Der Mutter wurde widerwillig das Beileid
ausgesprochen, Rosa nur mit abfälligen Blicken bedacht. Als
ob sie nicht am allermeisten um ihren Vater trauern würde,
den einzigen Menschen, der sie je geliebt hatte.
Und es war nicht bei den Blicken geblieben. Schon auf
dem Weg zum Leichenschmaus hatte sich das boshafte Zischeln
der Schwätzerinnen ausgebreitet wie der Geruch
nach frischem Blut am Schlachttag. Obwohl ihr Vater nur
mit wenigen darüber gesprochen hatte, war man sich einig,
dass der Vater nur deshalb vom Pferd gestürzt war, weil er
für die verfluchte Tochter ein gar zu eitles Geschenk besorgt
hatte. Immer wieder hatte Rosa versucht, das Geflüster
zu ignorieren, aber Worte waren wie Staub: Sie drangen
überall durch, bohrten sich in ihre Seele und setzten sich
dort fest.
Und nun hatte es dieser Spitzbärtige gewagt, ihrer Mutter
ins Gesicht zu sagen, was bis jetzt nur hinter ihrem Rücken
getuschelt worden war. ›Teuflischer Krüppel‹.
Aber sie alle hatten etwas vergessen! Dorothea und ihren
Sohn.
Ihre zehn Jahre ältere Halbschwester, die weder krank
noch missgebildet war und die der Vater mit in die Ehe mit
ihrer Mutter gebracht hatte. Der Gedanke an ihre geliebte
Schwester gab Rosa Kraft, sogar ihr Finger wurde wieder wärmer.
Und je wärmer er wurde, desto stärker wurde in Rosa
das Gefühl, sie würde platzen, wenn sie nicht endlich gegen
dieses Unrecht vorging. Es musste doch eine Möglichkeit
geben, etwas gegen diese Männer auszurichten.
Aber was würde sie überzeugen?
Aus den Augenwinkeln ihrer mageren Mutter rann eine
Träne, die diese mit einer ungeduldigen Handbewegung wegwischte.
Sie war keine, die jammerte.
»Damit ist alles gesagt«, verkündete der Spitzbärtige gerade
und schlug zur Bekräftigung auf den Tisch.
Die Raben erhoben sich.
»Nein!«, rief Rosa völlig verzweifelt, und obwohl ihr Herz
wie rasend klopfte, wiederholte sie noch einmal und noch
viel lauter: »Nein!«
Die Männer sahen sich verblüfft an, ihre Mutter schüttelte
den Kopf. »Schschsch«, sagte sie mit einer Handbewegung
zu Rosa hin, als wollte sie eine lästige Taube verscheuchen.
Doch Rosa ließ sich nicht mehr zurückhalten. Alles, was
ihr Vater aufgebaut hatte, sollten sie verkaufen, ja aus ihrer
Heimat wegziehen? Ihr war, als könnte sie förmlich hören,
wie ihr Vater mit der Faust auf den Tisch schlug. Aber der Vater
war nicht hier, und die Männer wollten das ausnutzen.
Wenn sie jetzt klein beigab, dann wäre das Verrat an dem
einzigen Menschen, der sie niemals wie ein Monster behandelt
hatte. Diese Gedanken und ihr Zorn gaben Rosa die Kraft,
zu sprechen. Ja, sie musste sprechen!
»Ehrwürdiger Rat, diese Unwürdige möchte nur verhindern,
dass Ihr ein großes Unrecht begeht.«
Die Ratsherren sahen sich an, zögerten.
Gut, dachte Rosa, die von ihrer Wut angetrieben wurde,
aber noch gar nicht wusste, was genau sie vorbringen wollte.
Der mit der Stirnglatze ließ sich zuerst wieder auf seinen
Platz sinken und forderte Rosa dann mit einem ungeduldigen
Schnicken der Hand auf weiterzureden.
Die anderen folgten seinem Beispiel und setzten sich, leise
stöhnend, wieder hin. Vor allem der Spitzbärtige schüttelte
dabei vehement den Kopf.
Rosa hatte die Worte ihres Vaters im Ohr: Jedes Blatt ist nur so
gut wie sein Spieler. Sie rief: »Mein Vater hat noch eine Tochter,
meine Halbschwester Dorothea!«, als wäre damit alles klar.
»Noch eine von der Sorte? Mir scheint, Euer Vater war ein
sehr unglücklicher Mann!«, sagte der mit dem Spitzbart grinsend
zu den anderen Männern.
»Meine Schwester Dorothea, die verehelicht ist mit Christian
Martin Balderius, hat einen Sohn. Meinen Neffen Kaspar
Johannes. Der Enkel meines Vaters.«
Der Schmerbäuchige wendete sich ungehalten an die anderen:
»Warum war von dem hier nie die Rede?«
»Weil«, mischte sich der mit der Stirnglatze ein, »die alle in
Indien verschollen sind, schon seit Jahren.«
»Verschollen in Indien, so, so.« Der Spitzbärtige entspannte
sich.
Für Rosa aber klang das abscheulich. Immer mehr gewann
sie den Eindruck, dass man sie einfach aus der Stadt haben
wollte. Die wollten ihre Schwester einfach wegreden. »Niemand
ist verschollen«, empörte sie sich. »Sie leben in Masulipatnam
in Ostindien.«
»Hört, hört!«, bemerkte der mit dem Spitzbart, der ihre
Anstrengungen mit einer Miene betrachtete, als wäre sie ein
auf den Rücken gefallener Käfer, der sich mit aller Kraft bemühte,
wieder auf die Beine zu kommen, ohne zu ahnen, dass
er sowieso gleich totgetreten werden würde.
»Und wie alt ist Euer Enkel?«, fragte ein anderer der Raben
ihre Mutter.
»Kaspar ist am Johannistag sechs Jahre alt geworden und
erfreut sich allerbester Gesundheit«, antwortete Rosa, bevor
ihre Mutter antworten konnte.
»Aber niemand weiß, wann und ob der Junge wieder nach
Nürnberg zurückkehren wird.« Der Spitzbärtige schien erfreut
über seine Anmerkung, was Rosas Verzweiflung noch
vergrößerte. Es musste einfach einen Weg geben. Jeder Tag,
den die Mutter Vaters Gewerbe weiter betreiben durfte, würde
ihnen allen nutzen. Wovon sollten sie und ihre schwächlichen
Schwestern denn sonst leben?
»Ihr irrt Euch. Es ist eine beschlossene Sache. Schon sehr
bald wird mein Neffe hier sein«, behauptete Rosa und hoffte,
dass die Mutter sie nicht unterbrechen würde, bevor ihr einfiel,
was sie als Nächstes vorbringen konnte.
Noch nie in ihrem Leben hatte Rosa dermaßen dreist ge-
logen, und sie erwartete, dass sich die Erde unter ihr auftat oder
die Pauken und Trompeten des letzten Gerichts erklangen,
aber es blieb still, nicht einmal ihr sechster Finger reagierte.
Sie hatte Angst, es zu weit getrieben zu haben, überlegte,
was sie noch tun könnte, um Zeit zum Nachdenken zu schinden,
griff dann nach der Kette mit dem Medaillon in ihrem
Ausschnitt und tat so, als würde sie das interessierte Glitzern
in den Augen der Männer nicht bemerken. Sie zog das Medaillon
heraus und öffnete es.
»Das hier ist eine Locke von Kaspar. Dorothea hat mich
zu seiner Patin bestimmt, denn sie ist sehr unglücklich darüber,
dass ihr Sohn bei den Heiden aufwachsen muss.« Sie trat
einen Schritt vor und zeigte die mit einem blauen Bändchen
umwundene blonde Locke.
Der Spitzbärtige ließ sich die Locke geben und rieb sie
zwischen seinen Fingern hin und her, als wollte er sie zu Staub
mahlen.
»Ihr seid so ... schweigsam ... Zapfin?« Der mit dem spitzen
Bart wandte sich mit einem drohenden Unterton an ihre
Mutter.
Rosa schwitzte - wenn ihre Mutter nur nicht alles verdarb!
Ihre Mutter log nie. Sogar damals, als Rosa sie gefragt hatte,
ob ihr sechster Finger wirklich ein Zeichen des Teufels sei,
war ihre Mutter ehrlich gewesen. Ja, hatte sie schlicht geantwortet.
Und dass man Rosa deshalb sehr genau im Auge behalten
müsse.
Um von der Mutter abzulenken, wollte Rosa die Locke
wieder zurückhaben, doch der Spitzbärtige schüttelte den
Kopf und reichte die Locke weiter wie ein Beweisstück.
»Nun, Zapfin?«, fragte jetzt auch der mit der Stirnglatze.
»Für wann erwartet Ihr seine Rückkehr?«
Rosa saß in der Klemme, sie musste etwas sagen. Sofort.
Denn erstens war Dorothea nicht auf dem Heimweg, und
zweitens würde ihre Mutter, diese Wahrheitsfanatikerin, das
ganz sicher gleich aufklären. Denk nach, Rosa, denk nach!
Ihre Waden zitterten unter den ungeduldigen Blicken der
Ratsleute, und der Puls dröhnte in ihren Ohren.
Das Blatt ist nur so gut wie sein Spieler, hörte Rosa wieder die
Stimme ihres Vaters.
»Nun, ich weiß nicht, wie ich es vorbringen soll ...«
Mach jetzt keinen Fehler, Rosa, überleg, schnell!
Die Raben starrten sie ungeduldig an.
Wenn du keine Trümpfe in der Hand hast, dann tue so, als hättest
du welche, hörte sie wieder ihren Vater, der zum Leidwesen
der Mutter ein begnadeter Spieler gewesen war. Rosa
überschlug ihre Möglichkeiten, und plötzlich wusste sie, was
sie sagen musste. Es gab nur diesen einen Weg.
»Da mein Neffe noch nicht alleine nach Hause fahren
kann, werde ich ihn holen. Meine Halbschwester wünscht
es so, damit ihr armer Sohn nicht unter Heiden aufwachsen
muss«, erklärte Rosa mit betont fester Stimme und hoffte,
niemand würde ihr ansehen, dass sie bisher noch nicht einmal
bis Fürth gekommen war oder auch nur bis vor die Tore
der Stadt.
Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen, dann begann
einer nach dem anderen zu lachen, immer lauter und
lauter. »Die da holt das Kind?«, stöhnte der Schmerbäuchige
und zeigte mit dem Finger auf Rosa. »Ausgerechnet die da?«
»Direkt aus Indien!« Der Spitzbärtige schlug sich auf die
Schenkel. »Das muss ich meinem Vater erzählen. So ein lächerliches
Ansinnen hat es unter seinem Vorsitz sicher nicht
ein einziges Mal gegeben.«
»Dieses Frauenzimmer hält sich wohl für klug, aber ich
versichere ihr, es ist ein Irrsinn zu glauben, dass sie ohne anständige
Begleitung und Schutz auch nur bis vor die Stadttore
kommen wird.« Ein bisher stummer Ratsherr brachte die
anderen mit seiner lauten Stimme zum Schweigen.
Rosa betrachtete ihn neugierig. Er hatte ein ledern gegerbtes
Gesicht mit einer großen Narbe über dem rechten Auge,
was den Eindruck entstehen ließ, als würde er fortwährend
fragend die Augenbrauen hochziehen.
»Mein seliger Vater, der verehrte Johann Sigismund Wurffbain,
hat in seinem Reisetagebuch genauestens beschrieben,
welche Strapazen ein Mannsbild auf dieser Reise zu erwarten
hat. Undenkbar, dass ein Frauenzimmer das durchsteht.«
In Rosas Ohren hallte noch das Gelächter wider. Sie dachte
an ihren Vater, der alles für sie getan hatte und dessen Lebenswerk
sie jetzt verschleudern sollten. Niemals!
Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch da griff ihre Mutter
nach Rosas Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch
diese schüttelte deren Hand ab. »Woher wollt Ihr wissen,
dass ich scheitern werde? Der Erfolg meiner Mission steht allein
in Gottes Hand, und er wird darüber entscheiden. Meine
Schwester ist auch wohlbehalten in Indien angekommen! Es
wäre also nur recht und billig, wenn Ihr meiner Mutter wenigstens
zwei Jahre gebt, die ihr als Witwe mehr als zustehen.
Wenn ich nach Ablauf der zwei Jahre mit meinem Neffen
nicht vor Euch erscheine, dann ...«
Diesmal lachten sie alle gleichzeitig, es dröhnte dumpf in
Rosas Kopf, die weit aufgerissenen Münder kamen ihr vor
wie gierige Schlünde. Die Doppelkinne wabbelten über den
Spitzenkrägen, und in diesem Moment hasste Rosa sie alle
miteinander von ganzem Herzen.
Plötzlich drang ein gequälter Laut an ihr Ohr, ihre Mutter.
»Rosa!«, stöhnte sie drängend. »Mir ist nicht wohl!«
Rosa riss die Augen von den lachenden Raben los, um sich
ihrer Mutter zuzuwenden, und konnte sie gerade noch auffangen.
»Mutter!«, rief sie, aber ihre Mutter war ohnmächtig.
Das Gelächter beruhigte sich.
»Seht nur, was diese verhexte Person ihrer Mutter mit ihrem
Geschwätz angetan hat. Bringt die Zapfin nach draußen,
fächelt ihr Luft zu!«, verlangte der Schmerbäuchige. »Wir
werden uns beraten und Euch dann unsere Entscheidung verkünden.«
Ein Ratsdiener half Rosa dabei, ihre Mutter in den Flur zu
schleppen. Sie legten sie auf eine der steinernen Bänke, die
unter den hohen, schmalen Bogenfenstern standen. Hier kam
eine leichte Brise herein, die sie der Mutter mit ihrer Überschürze
zufächelte. Der Ratsdiener ging einen Becher Wasser
holen.
Rosa fragte sich, warum ihre Mutter ohnmächtig geworden
war. Noch nie hatte Rosa sie so hilflos gesehen, und sie
dachte bei sich, dass es nicht schlecht wäre, wenn ihre Mutter
bewusstlos bleiben würde, dann konnte sie die Lügen ihrer
Tochter nicht aufdecken.
»Danke«, sagte Rosa und nahm den Becher vom zurückgekehrten
Diener entgegen. Sie tauchte eine Ecke ihrer Überschürze
in das Wasser und tupfte ihrer Mutter die Stirn ab.
Ihre Mutter war für gewöhnlich von zäher Natur. Doch wie sie
so dalag in ihrem besten Gewand mit der teuren Lochstickerei,
die Wangen eingefallen und mit schwarzen Schatten unter
den Augen, begriff Rosa plötzlich, dass nicht nur sie, sondern
auch ihre Mutter unter dem Tod des Vaters gelitten hatte.
»Rosa!« Die Augen der Mutter blieben zu, aber ihre Stimme
klang zornig. »Was fällt dir ein? Wie redest du mit dem
Rat? Und vor allem, was redest du da?«
Immer noch blass im Gesicht, richtete sie sich auf, legte
ihre Hand unter Rosas Kinn, sodass Rosa direkt in die graugrünen
Augen ihrer Mutter sehen musste.
»Haltet Euch nicht selbst für klug!«, zitierte die Mutter aus
der Bibel.
»Aber diese Spitzbuben wollen, dass wir Vaters Erbe verschleudern!
Ja, mir kommt es geradeso vor, als wollten sie uns
vernichten!«, erwiderte Rosa.
Ihre Mutter ließ das Kinn los, als hätte sie sich daran verbrannt.
Sie schüttelte den Kopf so vehement, dass ihre weiße
Haube ins Rutschen kam.
»Mutter, ich musste uns retten! Warum behandeln sie uns
anders als die anderen?«
Ihre Mutter wurde wieder bleich und senkte die Augen.
Rosa wusste, warum. Es war ihre Schuld, wie immer. Ganz allein
nur ihre Schuld, denn sie war anders als die anderen.
»Das, mein Kind, ist eine lange Geschichte«, begann ihre
Mutter langsam Wort für Wort hervorzupressen, beinahe so,
als müsste sie daran ersticken. Rosa sah ihre Mutter überrascht
an. Was für eine Geschichte sollte das sein?
In diesem Augenblick kam der Ratsdiener wieder auf sie zu
und gebot ihnen, ihm zu folgen.
Rosas Herz hämmerte. Was würde jetzt geschehen?
Der Spitzbärtige stand auf, ein sardonisches Lächeln
huschte über sein Gesicht, so kurz, dass Rosa nicht sicher
war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dann verkündete
er mit von Selbstgerechtigkeit triefender Stimme: »Wir,
der Rat der Stadt Nürnberg, haben nunmehr folgenden Be-
schluss gefasst. Wir erlauben der Witwe des seligen Johannes
Willibald Zapf, dass sie bis zur Ankunft des Enkelsohnes den
Betrieb ohne Einschränkung weiterführen darf. Sollte dieser
jedoch nicht auf den Tag genau von heute in spätestens zwei
Jahren hier vor dem erlauchten Rat stehen, so erlischt jeder
weitere Anspruch der Witwe auf die Fortführung des Gewerbes.
Seine Locke behalten wir hier zum Vergleich. Beschlossen
am fünfzehnten Juli 1697.«
»Aber ...« Rosas Mutter versuchte, etwas zu sagen, wurde
aber von einer ungnädigen Handbewegung des Spitzbärtigen
unterbrochen, der wiederholte: »Wenn der besagte Enkel
bis allerspätestens zum 15. Juli 1699 nicht hier erscheint.«
Rosa hoffte, dass man ihrer Mutter kein weiteres Wort erlauben
würde.
»Aber ...«, begann Rosas Mutter wieder, doch der Ratsherr,
sichtlich an den Grenzen seiner Geduld angekommen,
schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Genug, Weib. Ihr seid entlassen!«
Beklommen folgte Rosa ihrer Mutter durch die langen Flure
des Rathauses nach draußen, wo sich die feuchte Hitze,
die ihnen entgegenschlug, sofort in ihre Kleider setzte, Haut
und Haare durchdrang und jeden Schritt über den mittäglich
ruhigen Hauptmarkt mühseliger werden ließ.
Bis sie zu Hause in der Mauergasse am Milchmarkt angelangt
waren, fiel kein einziges Wort.
2. Kapitel
Schon als Rosa sich dem Haus näherte, konnte sie Tonis
Stimme hören. Beim vertrauten Anblick ihres Elternhauses,
in dem sie nun schon seit mehr als zehn Jahren
wohnten, zog sich Rosas Brust zusammen. Vorher hatten sie
im Haus ihrer Großeltern gelebt, das eines Nachts bis auf die
Grundmauern abgebrannt war. Rosa war darüber nie so traurig
gewesen wie ihre Mutter, denn sie hatte sich dort immer wie
eine Aussätzige, wie nur geduldet gefühlt.
Doch dieses zweistöckige Fachwerkhaus mit dem Erdgeschoss
aus rotem Sandstein, das war ihr Zuhause. Niemals
würde sie es verkaufen - der Vater war so stolz darauf gewesen!
Auch weil es ganz in der Nähe von Dürers Haus stand,
den ihr Vater sehr bewundert hatte. Ihr Vater hatte eigentlich
dessen Haus kaufen wollen, aber Dürers Erben hatten es
vorgezogen, das Haus völlig herunterkommen zu lassen.
Toni zankte in der Küche, die sich neben der Druckereiwerkstatt
im Erdgeschoss befand, gerade die Zwillinge aus,
die ihrer Meinung nach die Karotten viel zu dick geschält hatten.
Die drei standen um den Herd, auf dem über dem Feuer
in einem Kupferkessel schon die Brühe für die Suppe köchelte
und einen angenehmen Geruch verbreitete. Als Rosa und
ihre Mutter hereinkamen, erstarrten alle drei und sahen erwartungsvoll
zu ihnen her.
Dann lösten sich Eva und Maria und stürmten zu ihrer
Mutter. »Und? Was hat der Rat entschieden?«, fragten sie wie
aus einem Mund, und die Aufregung verlieh den beiden fast
einen Hauch von Farbe in ihren sonst so blassen Gesichtern.
Die Mutter setzte sich auf die Holzbank, die unter dem
winzigen Fenster neben dem langen, blank gescheuerten Tisch
aus dunkler Eiche stand. »Toni, gib mir ein wenig Bier.«
Die Zwillinge platzierten sich rechts und links neben der
Mutter. Trotz der jetzt unnatürlich geröteten Wangen fand
Rosa, dass ihre Schwestern aussahen wie zwei Gerippe mit
Hauben. Noch dazu schielte Maria, obwohl der Vater von
einer Reise aus Italien einen merkwürdigen Apparat besorgt
hatte, um ihr das Schielen abzugewöhnen. Er hatte aus ein
paar walnussgroßen Silberblechen bestanden, die an einem
Band befestigt waren und durch deren erbsengroße Löcher
die arme Maria monatelang hatte schauen müssen, doch ohne
jeden Erfolg.
Wie gut, dachte Rosa, dass wir wenigstens diese zwei Jahre
beim Rat herausgeschunden haben. Zwei Jahre, in denen ihre
Schwestern vielleicht endlich richtig gesund werden würden.
Aber was wurde nach den zwei Jahren? Wer würde diese
beiden, die aufgrund ihrer ständigen Erkrankungen so viel
jünger wirkten, als sie waren, schon heiraten? Und falls doch
ein Wunder geschähe und eine von beiden würde sich verehelichen,
wie würde sie eine Schwangerschaft und die Geburt
überstehen? Und selbst wenn, wer konnte wissen, ob sie
jemals Söhne gebären würden?
Nein, Rosa musste dafür sorgen, dass der Betrieb weiterlaufen
konnte, allein schon, damit ihre Schwestern und ihre
Mutter zu essen hatten und ein Dach über dem Kopf.
Toni goss Bier aus dem dunkelblauen Krug in einen braunen
Steingutbecher. Die Mutter beeilte sich, das stark schäumende
Bier abzutrinken, bevor es überlaufen konnte, kippte
den Becher dann in einem Zug hinunter und brach endlich
das gespannte Schweigen.
»Nun, der Rat hat nach unserer Eingabe eine Gnadenfrist
von zwei Jahren gewährt.«
Eva und Maria brachen in freudiges Jubeln aus, sprangen auf
und tanzten durch die Küche, was die Pfannen und Töpfe, die
an der Esse aufgehängt waren, in leise scheppernde Bewegungen
versetzte. Dann stürmten sie zu Rosa und umtanzten sie.
»Hört auf damit! Setzt euch wieder hin, und seid still! Das
ist kein Grund zur Freude. Eure unselige Schwester hat behauptet,
sie würde innerhalb dieser beiden Jahre nach Indien
reisen und euren Neffen Kaspar, Johannes' Enkel, nach Hause
holen.«
Die Mutter seufzte und forderte Toni mit einem Kopfnicken
auf, noch etwas nachzuschenken. Die Zwillinge hatten
sich wieder hingesetzt, und alle zusammen starrten nun
Rosa an.
»Und genau das werde ich tun! Ich werde es diesem ungerechten
Rat zeigen! Wenn das der einzige Weg ist, um Vaters
Werkstatt weiterführen zu können, dann muss und werde ich
das schaffen. Es gibt kein Zurück mehr!«
Die Zwillinge verzogen ihre Münder. »Aber Rosa, wir wollen
nicht, dass du weggehst. Ohne dich ist es so langweilig«,
maulten sie, als ob sie nicht schon vierzehn Jahre alt wären.
»Sie wird nirgends hingehen«, Rosas Mutter schlug mit
der Hand auf den Tisch, »denn das schickt sich nicht für eine
Frau. Und wenn euch so langweilig ist, dann werden Toni
und ich euch in der nächsten Zeit mit mehr Arbeit eindecken,
als ihr euch das auch nur vorstellen könnt.«
»Aber Mutter. Ich muss diese Reise machen, nur dann bleiben
uns diese zwei Jahre.«
»Dein Benehmen vor dem Rat war unmöglich. Rosa, wie
oft habe ich dir schon gesagt, dass gerade du es mit der Wahrheit
besonders genau nehmen sollst.« Die Mutter schüttelte
den Kopf. Dabei hatte Rosa noch gar nicht widersprochen.
»Gerade weil du mit diesem Zeichen geboren bist, solltest du
dich umso mehr durch anständiges lutherisches Betragen hervortun
statt durch teuflisches Lügen.«
»Was hat Rosa den Räten denn so Übles gesagt?«, wollte
Toni wissen. Sie ging vom Tisch zurück zum Feuer, wo sie mit
einem langen Holzlöffel in der Suppe rührte und einen kleinen
Schluck probierte. Sie zwinkerte Rosa aufmunternd zu,
und Rosa fühlte sich plötzlich besser. Ihre Mutter hatte eben
nicht immer recht!
»Die Unselige hat behauptet, Dorothea wollte, dass sie
käme, um Kaspar nach Hause zu holen.« Die Mutter bekreuzigte
sich. »Das nennt man den Teufel versuchen. Jetzt bin ich
sicher, dass ich meine Dorothea niemals mehr sehen werde.«
Meine Dorothea, dachte Rosa bitter. Dabei hatte der Vater
Dorothea mit in die Ehe gebracht, und trotzdem war seine
Tochter für die Mutter ihre Dorothea.
»Dein Vater hätte sie niemals diesem elenden Kaufmann zur
Frau geben sollen. Hier wäre ihr Platz, hier bei mir.« Die Mutter
schlug sich bei den letzten Worten auf die magere Brust.
Rosa wurde jetzt erst klar, dass sie der Mutter noch zusätzlichen
Kummer bereitet hatte. Ohne nachzudenken, schritt sie
zu ihr hin, wollte ihr tröstend mit der Hand über den Arm
streichen, doch die Mutter wich zurück und legte ihre Arme
links und rechts um die Zwillinge. Wie eine Wand saßen die
drei vor ihr.
Wie ähnlich sich die drei sahen, schoss es durch Rosas Kopf.
Zum wiederholten Mal fragte sie sich, warum sie so völlig aus
der Zapf'schen Art geschlagen war. Die drei hatten ein lang gezogenes
Gesicht und ihre wenigen dünnen Haare die Farbe
von nassem Sand. Drei fahlrosa und schmale Münder, deren
hübsch geschwungene Oberlippen sich gerade missbilligend
kräuselten. Vier graugrüne Augen starrten Rosa durchdringend
an. Bei denen von Maria wusste man nie genau, wo sie hinsah.
»Alles, was zählt, ist das Ergebnis«, sagte Rosa und zitierte
damit ihren Vater, der Machiavelli für den größten aller italienischen
Staatsmänner gehalten hatte. Sie hoffte, damit ihre
Mutter zu besänftigen.
Toni räusperte sich und fragte, ob denn heute nichts zu
Mittag gegessen werden sollte, dann bat sie Eva und Maria,
ihr dabei zu helfen, die Suppe aufzutragen.
»Wir haben diese zwei Jahre, Mutter. Ich werde Kaspar holen,
und ihr werdet in dieser Zeit so viel Geld wie möglich
sparen, für den Fall, dass ich nicht zurückkomme. Aber ich
werde es schaffen. Also, Mutter, warum passt es dir nicht,
dass wir gewonnen haben?«
»Wir haben nicht gewonnen, sondern gelogen, mein Kind,
das ist ein großer Unterschied.«
Das war nun doch reichlich ungerecht, fand Rosa. »Ich
habe für zwei Jahre unser Dach über dem Kopf gesichert.
Außerdem«, sie zögerte, dann atmete sie tief durch, »außerdem
habe ich nicht gelogen, denn ich werde losziehen und
Kaspar nach Hause holen!«
Niemand sagte ein Wort.
»Aber Rosa, wer soll die Werkstatt leiten, wenn du weg
bist?«, fragte Maria nach einer Weile und brach die eisige
Stille. »Wer soll sich neue Kartenbilder ausdenken?«
»Das werdet ihr schon schaffen. Wir werden einen Vorrat
anlegen. Und ich werde euch noch zwei neue Druckstöcke
stechen, dann könnt ihr genug Kopien davon abnehmen.
Das wird reichen.«
»Aber nur du kannst die Karten so gut entwerfen und stechen
wie Vater«, mischte sich jetzt Eva ein.
Rosas Brust wurde enger, als sie die besorgten Blicke ihrer
Schwestern auf sich fühlte. Die beiden waren wirklich nicht
in der Lage, auch nur eine gerade Linie zu ziehen. Bei Maria
machte es das Schielen unmöglich, und Eva hatte nicht genug
Kraft, ihre Linien waren zu zittrig.
»Bis ich abreise, werden wir all das geregelt haben. Das
verspreche ich euch.« Rosa versuchte, die Stimmen in ihrem
Kopf zu ignorieren, Stimmen, die sie mit der höhnischen
Stimme des Spitzbärtigen fragten, wie sie das denn überhaupt
anstellen wollte. Stattdessen lächelte sie ihre Schwestern aufmunternd
an, obwohl diese sie anstarrten, als hätte sie ihnen
ihr Todesurteil verkündet.
Toni brachte den Suppenkessel und stellte ihn auf den
Tisch. Die Zwillinge verteilten Tonschüsseln und Löffel.
Rosa betrachtete widerwillig ihre Gerstensuppe, sie hatte
keinen Hunger. »Mutter, ich muss nach Indien fahren, der Rat
hat es nun so festgelegt«, brach es aus ihr hervor. »Wie stehen
wir denn da, wenn ich es nicht einmal versuche?«
Maria und Eva schlürften ihre Suppe, Toni sah Rosa fragend
an.
»Du redest Unsinn, Kind.« Die Mutter legte ihren Löffel
seufzend hin. »Die Reise nach Indien dauert lang und ist gefährlich.
Dein Vater hätte das niemals gutgeheißen.«
»Aber was sollen wir denn sonst tun? An den elenden Martin
Löffelholtz verkaufen? Der war dem Vater immer schon
ein Dorn im Auge! Jedes Mal, wenn der Vater eine neue Idee
hatte, hat der Löffelholtz sie schnell kopiert und billiger ver
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Valesca Schober
Herstellung | Helga Schörnig
Umschlaggestaltung | t. mutzenbach design, München,
unter Verwendung folgender Motive: © Reni Guido (1575-1642), Prado,
Madrid, Spain/bridgemanart und Nuremberg, Prout, Samuel (1783-1852) /
© Wolverhampton Art Gallery, West Midlands, UK/Bridgeman Berlin
Satz | Leingärtner, Nabburg
Druck und Bindung | GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany 2010
978-3-453-35425-8
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1. Kapitel
Aber das ist Unrecht!« Rosa hob zum ersten Mal, seit
sie an der Seite ihrer Mutter das gewaltige Portal des
Nürnberger Rathauses durchschritten hatte, ihren Blick und
funkelte ihre Peiniger wütend an.
Die sieben Männer starrten fassungslos zurück.
Auf den ersten Blick sahen sie für Rosa alle gleich aus in ihren
schwarzen Kniehosen, den schwarzen Hemden und Wämsern
mit den weiß aufleuchtenden Spitzenkragen. Wie bösartige Raben,
fand Rosa, hockten sie da oben hinter dem langen Tisch.
»Großes Unrecht!«, wiederholte Rosa noch einmal lauter,
doch ein Rempler ihrer Mutter brachte sie zum Schweigen,
was von den Männern mit einem wohlwollenden Nicken aufgenommen
wurde.
»Ehrwürdige Herren«, begann die Mutter mit brüchiger
Stimme, »soweit mir bekannt ist, hat der Rat der Stadt Nürnberg
noch niemals eine Witwe dermaßen ungnädig behandelt.«
Rosa, die schräg hinter ihrer Mutter stand, bemerkte, dass
deren bester schwarzer Leinenrock vibrierte, als ob die Knie
ihrer Mutter stark zittern würden. Sie fragte sich, warum ihre
Mutter so viel Angst vor diesen Männern hatte.
Sie musterte den Rat jetzt eingehender und fand, dass sich
die Raben, zumindest was Haartracht und Körperfülle anging,
doch voneinander unterschieden.
»Wir tragen Sorge für jedwede Witwe in Nürnberg«, erklärte
der Mann mit der größten Stirnglatze, »doch wie sol-
len wir Euch gestatten, das für Eure Verhältnisse viel zu prächtige
Haus und noch dazu den ebenso vollständig überschuldeten
Betrieb Eures Mannes weiterzuführen, wenn es weder
einen männlichen Erben gibt, noch ein Geselle im Haus ist.«
Er wischte mit einem Tuch seine glänzende Stirn trocken.
»Aber für gewöhnlich erlaubt Ihr der Witwe für wenigstens
drei Jahre ...«
»Ei, da schaut an, die Zapfin kennt sich aus!«, spottete einer
und brachte die anderen so zum Lachen, dass ihre weißen
Spitzenkragen wackelten.
»Ihr habt in der Tat nicht ganz unrecht«, erbarmte sich
der Herr ganz links am Tisch. Er zwirbelte seinen Spitzbart,
während er mit einem merkwürdigen Lächeln weiterredete.
»Doch dieser endlose Krieg hat Nürnberg auf Jahre hinaus
arm gemacht, und wir können es uns nicht leisten, einen Betrieb
weiterlaufen zu lassen, von dem keinerlei Einnahmen
für den Stadtsäckel zu erwarten sind. Noch dazu gibt es bereits
mehr als genug Spielkartendrucker in der Stadt.«
Rosa, die wie alle anderen in der kleinen Ratsstube stark
schwitzte, spürte, wie eine lähmende Kälte in den sechsten
Finger ihrer linken Hand stieg - wie immer, wenn jemand log.
Unwillkürlich fasste sie mit ihrer rechten Hand nach der behandschuhten
linken. Sie hasste es, wenn ihr sechster Finger
sich auf diese Art bemerkbar machte, und wünschte sich nichts
mehr, als dass er endlich einmal so kalt wie ein Eiszapfen würde,
den sie dann einfach abbrechen und fortwerfen könnte.
Stets hatte sie Angst, jemand könnte diese seltsame Fähigkeit
ihres Fingers bemerken, doch ein Blick auf die Männer
überzeugte sie davon, dass diese Furcht unbegründet war:
Der Spitzbärtige redete noch, und die anderen lauschten andächtig.
»Euer selig verstorbener Mann, der Johannes Willibald
Zapf, hätte zum Ersten gut daran getan, sich zu bescheiden,
zum Zweiten, besser zu wirtschaften ...«, er wandte sich Beifall
heischend zu den Herren, die rechts und links von ihm
saßen, und zwinkerte diesen zu, »und zum Dritten hätte er
statt Eurer teuflisch krüppeligen Tochter und deren kränklichen
Schwestern auch einen Sohn zeugen sollen.«
Die Herren brachen in gemeinschaftliches Gelächter aus,
nickten sich zu, nur um dann mit neugierigen Blicken Rosas
üppige Gestalt nach ihrer Missbildung abzusuchen.
Rosa spürte unterdessen ihren Hexenfinger kalt wie nie,
es kam ihr so vor, als würde er mit jedem Lachen wachsen,
anschwellen, als müsste er gleich seinen ledernen Handschuh
sprengen. Sie zwang sich, nicht nachzusehen, und
versteckte die unselige Hand noch tiefer zwischen den
Falten ihres dunkelblauen Leinenrocks. Diese schreckliche
Hand, die allein schuld war an dem plötzlichen Tod des
Vaters.
Sie spürte, wie ihre Mutter in sich zusammensank.
»Mutter«, flüsterte sie ihr zu, »du musst dich wehren. Der
Vater hätte gewollt, dass wir weitermachen. Die Ratsherren
sagen uns nicht die Wahrheit.«
Ihre Mutter bedachte sie nicht einmal mit einem Blick,
sondern zischte nur ein kurzes »Schweig!«, atmete tief ein,
straffte ihre Schultern und begann erneut.
»Mag sein, dass es Gott beliebt hat, meinen seligen Ehemann
und mich für unsere Sünden zu strafen, indem er uns
den sehnlichst erwünschten Sohn versagt hat, doch wer seid
Ihr ...«
Der spitzbärtige Rabe wurde rot im Gesicht und sprang
auf. »Ihr vergesst Euch, denkt daran, vor wem Ihr hier steht!«
Die Mutter verstummte und zuckte zurück, als hätte er sie
geschlagen.
»Ihr schließt den Betrieb, verkauft Euer Haus und alle Gerätschaften
und sucht Euch eine andere Bleibe, eine, die Euch
und Euren merkwürdigen Töchtern besser ansteht. Am allerbesten
verlasst Ihr Nürnberg gleich ganz.«
Die Männer nickten zustimmend, und ein besonders
schmerbäuchiger, dessen Kinn in drei Ringen über dem Spitzenkragen
lag, fügte noch an: »Für die mit der Hexenhand
werdet Ihr sowieso niemals einen Mann finden, und Eure
Zwillinge sind, so wurde uns glaubhaft versichert, zu kränklich,
um für den Ehestand tauglich zu sein.«
Der Spitzbärtige fügte, immer noch rot im Gesicht, hinzu:
»Welcher ehrbare Kartendruckergeselle würde eine Alte wie
Euch schon ehelichen. Noch dazu eine«, er holte tief Luft,
um dann mit allem Nachdruck zu sagen: »eine, deren Leib
verflucht zu sein scheint.«
Dieser letzte Hieb brachte ihre Mutter zum Schwanken.
Rosa spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Was die
Mutter wegen ihr alles ertragen musste! Diese Art von Gemeinheiten
hatten die Leute auch schon bei der Beerdigung
des Vaters geraunt. Der Mutter wurde widerwillig das Beileid
ausgesprochen, Rosa nur mit abfälligen Blicken bedacht. Als
ob sie nicht am allermeisten um ihren Vater trauern würde,
den einzigen Menschen, der sie je geliebt hatte.
Und es war nicht bei den Blicken geblieben. Schon auf
dem Weg zum Leichenschmaus hatte sich das boshafte Zischeln
der Schwätzerinnen ausgebreitet wie der Geruch
nach frischem Blut am Schlachttag. Obwohl ihr Vater nur
mit wenigen darüber gesprochen hatte, war man sich einig,
dass der Vater nur deshalb vom Pferd gestürzt war, weil er
für die verfluchte Tochter ein gar zu eitles Geschenk besorgt
hatte. Immer wieder hatte Rosa versucht, das Geflüster
zu ignorieren, aber Worte waren wie Staub: Sie drangen
überall durch, bohrten sich in ihre Seele und setzten sich
dort fest.
Und nun hatte es dieser Spitzbärtige gewagt, ihrer Mutter
ins Gesicht zu sagen, was bis jetzt nur hinter ihrem Rücken
getuschelt worden war. ›Teuflischer Krüppel‹.
Aber sie alle hatten etwas vergessen! Dorothea und ihren
Sohn.
Ihre zehn Jahre ältere Halbschwester, die weder krank
noch missgebildet war und die der Vater mit in die Ehe mit
ihrer Mutter gebracht hatte. Der Gedanke an ihre geliebte
Schwester gab Rosa Kraft, sogar ihr Finger wurde wieder wärmer.
Und je wärmer er wurde, desto stärker wurde in Rosa
das Gefühl, sie würde platzen, wenn sie nicht endlich gegen
dieses Unrecht vorging. Es musste doch eine Möglichkeit
geben, etwas gegen diese Männer auszurichten.
Aber was würde sie überzeugen?
Aus den Augenwinkeln ihrer mageren Mutter rann eine
Träne, die diese mit einer ungeduldigen Handbewegung wegwischte.
Sie war keine, die jammerte.
»Damit ist alles gesagt«, verkündete der Spitzbärtige gerade
und schlug zur Bekräftigung auf den Tisch.
Die Raben erhoben sich.
»Nein!«, rief Rosa völlig verzweifelt, und obwohl ihr Herz
wie rasend klopfte, wiederholte sie noch einmal und noch
viel lauter: »Nein!«
Die Männer sahen sich verblüfft an, ihre Mutter schüttelte
den Kopf. »Schschsch«, sagte sie mit einer Handbewegung
zu Rosa hin, als wollte sie eine lästige Taube verscheuchen.
Doch Rosa ließ sich nicht mehr zurückhalten. Alles, was
ihr Vater aufgebaut hatte, sollten sie verkaufen, ja aus ihrer
Heimat wegziehen? Ihr war, als könnte sie förmlich hören,
wie ihr Vater mit der Faust auf den Tisch schlug. Aber der Vater
war nicht hier, und die Männer wollten das ausnutzen.
Wenn sie jetzt klein beigab, dann wäre das Verrat an dem
einzigen Menschen, der sie niemals wie ein Monster behandelt
hatte. Diese Gedanken und ihr Zorn gaben Rosa die Kraft,
zu sprechen. Ja, sie musste sprechen!
»Ehrwürdiger Rat, diese Unwürdige möchte nur verhindern,
dass Ihr ein großes Unrecht begeht.«
Die Ratsherren sahen sich an, zögerten.
Gut, dachte Rosa, die von ihrer Wut angetrieben wurde,
aber noch gar nicht wusste, was genau sie vorbringen wollte.
Der mit der Stirnglatze ließ sich zuerst wieder auf seinen
Platz sinken und forderte Rosa dann mit einem ungeduldigen
Schnicken der Hand auf weiterzureden.
Die anderen folgten seinem Beispiel und setzten sich, leise
stöhnend, wieder hin. Vor allem der Spitzbärtige schüttelte
dabei vehement den Kopf.
Rosa hatte die Worte ihres Vaters im Ohr: Jedes Blatt ist nur so
gut wie sein Spieler. Sie rief: »Mein Vater hat noch eine Tochter,
meine Halbschwester Dorothea!«, als wäre damit alles klar.
»Noch eine von der Sorte? Mir scheint, Euer Vater war ein
sehr unglücklicher Mann!«, sagte der mit dem Spitzbart grinsend
zu den anderen Männern.
»Meine Schwester Dorothea, die verehelicht ist mit Christian
Martin Balderius, hat einen Sohn. Meinen Neffen Kaspar
Johannes. Der Enkel meines Vaters.«
Der Schmerbäuchige wendete sich ungehalten an die anderen:
»Warum war von dem hier nie die Rede?«
»Weil«, mischte sich der mit der Stirnglatze ein, »die alle in
Indien verschollen sind, schon seit Jahren.«
»Verschollen in Indien, so, so.« Der Spitzbärtige entspannte
sich.
Für Rosa aber klang das abscheulich. Immer mehr gewann
sie den Eindruck, dass man sie einfach aus der Stadt haben
wollte. Die wollten ihre Schwester einfach wegreden. »Niemand
ist verschollen«, empörte sie sich. »Sie leben in Masulipatnam
in Ostindien.«
»Hört, hört!«, bemerkte der mit dem Spitzbart, der ihre
Anstrengungen mit einer Miene betrachtete, als wäre sie ein
auf den Rücken gefallener Käfer, der sich mit aller Kraft bemühte,
wieder auf die Beine zu kommen, ohne zu ahnen, dass
er sowieso gleich totgetreten werden würde.
»Und wie alt ist Euer Enkel?«, fragte ein anderer der Raben
ihre Mutter.
»Kaspar ist am Johannistag sechs Jahre alt geworden und
erfreut sich allerbester Gesundheit«, antwortete Rosa, bevor
ihre Mutter antworten konnte.
»Aber niemand weiß, wann und ob der Junge wieder nach
Nürnberg zurückkehren wird.« Der Spitzbärtige schien erfreut
über seine Anmerkung, was Rosas Verzweiflung noch
vergrößerte. Es musste einfach einen Weg geben. Jeder Tag,
den die Mutter Vaters Gewerbe weiter betreiben durfte, würde
ihnen allen nutzen. Wovon sollten sie und ihre schwächlichen
Schwestern denn sonst leben?
»Ihr irrt Euch. Es ist eine beschlossene Sache. Schon sehr
bald wird mein Neffe hier sein«, behauptete Rosa und hoffte,
dass die Mutter sie nicht unterbrechen würde, bevor ihr einfiel,
was sie als Nächstes vorbringen konnte.
Noch nie in ihrem Leben hatte Rosa dermaßen dreist ge-
logen, und sie erwartete, dass sich die Erde unter ihr auftat oder
die Pauken und Trompeten des letzten Gerichts erklangen,
aber es blieb still, nicht einmal ihr sechster Finger reagierte.
Sie hatte Angst, es zu weit getrieben zu haben, überlegte,
was sie noch tun könnte, um Zeit zum Nachdenken zu schinden,
griff dann nach der Kette mit dem Medaillon in ihrem
Ausschnitt und tat so, als würde sie das interessierte Glitzern
in den Augen der Männer nicht bemerken. Sie zog das Medaillon
heraus und öffnete es.
»Das hier ist eine Locke von Kaspar. Dorothea hat mich
zu seiner Patin bestimmt, denn sie ist sehr unglücklich darüber,
dass ihr Sohn bei den Heiden aufwachsen muss.« Sie trat
einen Schritt vor und zeigte die mit einem blauen Bändchen
umwundene blonde Locke.
Der Spitzbärtige ließ sich die Locke geben und rieb sie
zwischen seinen Fingern hin und her, als wollte er sie zu Staub
mahlen.
»Ihr seid so ... schweigsam ... Zapfin?« Der mit dem spitzen
Bart wandte sich mit einem drohenden Unterton an ihre
Mutter.
Rosa schwitzte - wenn ihre Mutter nur nicht alles verdarb!
Ihre Mutter log nie. Sogar damals, als Rosa sie gefragt hatte,
ob ihr sechster Finger wirklich ein Zeichen des Teufels sei,
war ihre Mutter ehrlich gewesen. Ja, hatte sie schlicht geantwortet.
Und dass man Rosa deshalb sehr genau im Auge behalten
müsse.
Um von der Mutter abzulenken, wollte Rosa die Locke
wieder zurückhaben, doch der Spitzbärtige schüttelte den
Kopf und reichte die Locke weiter wie ein Beweisstück.
»Nun, Zapfin?«, fragte jetzt auch der mit der Stirnglatze.
»Für wann erwartet Ihr seine Rückkehr?«
Rosa saß in der Klemme, sie musste etwas sagen. Sofort.
Denn erstens war Dorothea nicht auf dem Heimweg, und
zweitens würde ihre Mutter, diese Wahrheitsfanatikerin, das
ganz sicher gleich aufklären. Denk nach, Rosa, denk nach!
Ihre Waden zitterten unter den ungeduldigen Blicken der
Ratsleute, und der Puls dröhnte in ihren Ohren.
Das Blatt ist nur so gut wie sein Spieler, hörte Rosa wieder die
Stimme ihres Vaters.
»Nun, ich weiß nicht, wie ich es vorbringen soll ...«
Mach jetzt keinen Fehler, Rosa, überleg, schnell!
Die Raben starrten sie ungeduldig an.
Wenn du keine Trümpfe in der Hand hast, dann tue so, als hättest
du welche, hörte sie wieder ihren Vater, der zum Leidwesen
der Mutter ein begnadeter Spieler gewesen war. Rosa
überschlug ihre Möglichkeiten, und plötzlich wusste sie, was
sie sagen musste. Es gab nur diesen einen Weg.
»Da mein Neffe noch nicht alleine nach Hause fahren
kann, werde ich ihn holen. Meine Halbschwester wünscht
es so, damit ihr armer Sohn nicht unter Heiden aufwachsen
muss«, erklärte Rosa mit betont fester Stimme und hoffte,
niemand würde ihr ansehen, dass sie bisher noch nicht einmal
bis Fürth gekommen war oder auch nur bis vor die Tore
der Stadt.
Einen Moment herrschte verblüfftes Schweigen, dann begann
einer nach dem anderen zu lachen, immer lauter und
lauter. »Die da holt das Kind?«, stöhnte der Schmerbäuchige
und zeigte mit dem Finger auf Rosa. »Ausgerechnet die da?«
»Direkt aus Indien!« Der Spitzbärtige schlug sich auf die
Schenkel. »Das muss ich meinem Vater erzählen. So ein lächerliches
Ansinnen hat es unter seinem Vorsitz sicher nicht
ein einziges Mal gegeben.«
»Dieses Frauenzimmer hält sich wohl für klug, aber ich
versichere ihr, es ist ein Irrsinn zu glauben, dass sie ohne anständige
Begleitung und Schutz auch nur bis vor die Stadttore
kommen wird.« Ein bisher stummer Ratsherr brachte die
anderen mit seiner lauten Stimme zum Schweigen.
Rosa betrachtete ihn neugierig. Er hatte ein ledern gegerbtes
Gesicht mit einer großen Narbe über dem rechten Auge,
was den Eindruck entstehen ließ, als würde er fortwährend
fragend die Augenbrauen hochziehen.
»Mein seliger Vater, der verehrte Johann Sigismund Wurffbain,
hat in seinem Reisetagebuch genauestens beschrieben,
welche Strapazen ein Mannsbild auf dieser Reise zu erwarten
hat. Undenkbar, dass ein Frauenzimmer das durchsteht.«
In Rosas Ohren hallte noch das Gelächter wider. Sie dachte
an ihren Vater, der alles für sie getan hatte und dessen Lebenswerk
sie jetzt verschleudern sollten. Niemals!
Sie setzte zu einer Erwiderung an, doch da griff ihre Mutter
nach Rosas Arm, um sie zum Schweigen zu bringen. Doch
diese schüttelte deren Hand ab. »Woher wollt Ihr wissen,
dass ich scheitern werde? Der Erfolg meiner Mission steht allein
in Gottes Hand, und er wird darüber entscheiden. Meine
Schwester ist auch wohlbehalten in Indien angekommen! Es
wäre also nur recht und billig, wenn Ihr meiner Mutter wenigstens
zwei Jahre gebt, die ihr als Witwe mehr als zustehen.
Wenn ich nach Ablauf der zwei Jahre mit meinem Neffen
nicht vor Euch erscheine, dann ...«
Diesmal lachten sie alle gleichzeitig, es dröhnte dumpf in
Rosas Kopf, die weit aufgerissenen Münder kamen ihr vor
wie gierige Schlünde. Die Doppelkinne wabbelten über den
Spitzenkrägen, und in diesem Moment hasste Rosa sie alle
miteinander von ganzem Herzen.
Plötzlich drang ein gequälter Laut an ihr Ohr, ihre Mutter.
»Rosa!«, stöhnte sie drängend. »Mir ist nicht wohl!«
Rosa riss die Augen von den lachenden Raben los, um sich
ihrer Mutter zuzuwenden, und konnte sie gerade noch auffangen.
»Mutter!«, rief sie, aber ihre Mutter war ohnmächtig.
Das Gelächter beruhigte sich.
»Seht nur, was diese verhexte Person ihrer Mutter mit ihrem
Geschwätz angetan hat. Bringt die Zapfin nach draußen,
fächelt ihr Luft zu!«, verlangte der Schmerbäuchige. »Wir
werden uns beraten und Euch dann unsere Entscheidung verkünden.«
Ein Ratsdiener half Rosa dabei, ihre Mutter in den Flur zu
schleppen. Sie legten sie auf eine der steinernen Bänke, die
unter den hohen, schmalen Bogenfenstern standen. Hier kam
eine leichte Brise herein, die sie der Mutter mit ihrer Überschürze
zufächelte. Der Ratsdiener ging einen Becher Wasser
holen.
Rosa fragte sich, warum ihre Mutter ohnmächtig geworden
war. Noch nie hatte Rosa sie so hilflos gesehen, und sie
dachte bei sich, dass es nicht schlecht wäre, wenn ihre Mutter
bewusstlos bleiben würde, dann konnte sie die Lügen ihrer
Tochter nicht aufdecken.
»Danke«, sagte Rosa und nahm den Becher vom zurückgekehrten
Diener entgegen. Sie tauchte eine Ecke ihrer Überschürze
in das Wasser und tupfte ihrer Mutter die Stirn ab.
Ihre Mutter war für gewöhnlich von zäher Natur. Doch wie sie
so dalag in ihrem besten Gewand mit der teuren Lochstickerei,
die Wangen eingefallen und mit schwarzen Schatten unter
den Augen, begriff Rosa plötzlich, dass nicht nur sie, sondern
auch ihre Mutter unter dem Tod des Vaters gelitten hatte.
»Rosa!« Die Augen der Mutter blieben zu, aber ihre Stimme
klang zornig. »Was fällt dir ein? Wie redest du mit dem
Rat? Und vor allem, was redest du da?«
Immer noch blass im Gesicht, richtete sie sich auf, legte
ihre Hand unter Rosas Kinn, sodass Rosa direkt in die graugrünen
Augen ihrer Mutter sehen musste.
»Haltet Euch nicht selbst für klug!«, zitierte die Mutter aus
der Bibel.
»Aber diese Spitzbuben wollen, dass wir Vaters Erbe verschleudern!
Ja, mir kommt es geradeso vor, als wollten sie uns
vernichten!«, erwiderte Rosa.
Ihre Mutter ließ das Kinn los, als hätte sie sich daran verbrannt.
Sie schüttelte den Kopf so vehement, dass ihre weiße
Haube ins Rutschen kam.
»Mutter, ich musste uns retten! Warum behandeln sie uns
anders als die anderen?«
Ihre Mutter wurde wieder bleich und senkte die Augen.
Rosa wusste, warum. Es war ihre Schuld, wie immer. Ganz allein
nur ihre Schuld, denn sie war anders als die anderen.
»Das, mein Kind, ist eine lange Geschichte«, begann ihre
Mutter langsam Wort für Wort hervorzupressen, beinahe so,
als müsste sie daran ersticken. Rosa sah ihre Mutter überrascht
an. Was für eine Geschichte sollte das sein?
In diesem Augenblick kam der Ratsdiener wieder auf sie zu
und gebot ihnen, ihm zu folgen.
Rosas Herz hämmerte. Was würde jetzt geschehen?
Der Spitzbärtige stand auf, ein sardonisches Lächeln
huschte über sein Gesicht, so kurz, dass Rosa nicht sicher
war, ob sie es sich nicht nur eingebildet hatte. Dann verkündete
er mit von Selbstgerechtigkeit triefender Stimme: »Wir,
der Rat der Stadt Nürnberg, haben nunmehr folgenden Be-
schluss gefasst. Wir erlauben der Witwe des seligen Johannes
Willibald Zapf, dass sie bis zur Ankunft des Enkelsohnes den
Betrieb ohne Einschränkung weiterführen darf. Sollte dieser
jedoch nicht auf den Tag genau von heute in spätestens zwei
Jahren hier vor dem erlauchten Rat stehen, so erlischt jeder
weitere Anspruch der Witwe auf die Fortführung des Gewerbes.
Seine Locke behalten wir hier zum Vergleich. Beschlossen
am fünfzehnten Juli 1697.«
»Aber ...« Rosas Mutter versuchte, etwas zu sagen, wurde
aber von einer ungnädigen Handbewegung des Spitzbärtigen
unterbrochen, der wiederholte: »Wenn der besagte Enkel
bis allerspätestens zum 15. Juli 1699 nicht hier erscheint.«
Rosa hoffte, dass man ihrer Mutter kein weiteres Wort erlauben
würde.
»Aber ...«, begann Rosas Mutter wieder, doch der Ratsherr,
sichtlich an den Grenzen seiner Geduld angekommen,
schlug mit der Faust auf den Tisch.
»Genug, Weib. Ihr seid entlassen!«
Beklommen folgte Rosa ihrer Mutter durch die langen Flure
des Rathauses nach draußen, wo sich die feuchte Hitze,
die ihnen entgegenschlug, sofort in ihre Kleider setzte, Haut
und Haare durchdrang und jeden Schritt über den mittäglich
ruhigen Hauptmarkt mühseliger werden ließ.
Bis sie zu Hause in der Mauergasse am Milchmarkt angelangt
waren, fiel kein einziges Wort.
2. Kapitel
Schon als Rosa sich dem Haus näherte, konnte sie Tonis
Stimme hören. Beim vertrauten Anblick ihres Elternhauses,
in dem sie nun schon seit mehr als zehn Jahren
wohnten, zog sich Rosas Brust zusammen. Vorher hatten sie
im Haus ihrer Großeltern gelebt, das eines Nachts bis auf die
Grundmauern abgebrannt war. Rosa war darüber nie so traurig
gewesen wie ihre Mutter, denn sie hatte sich dort immer wie
eine Aussätzige, wie nur geduldet gefühlt.
Doch dieses zweistöckige Fachwerkhaus mit dem Erdgeschoss
aus rotem Sandstein, das war ihr Zuhause. Niemals
würde sie es verkaufen - der Vater war so stolz darauf gewesen!
Auch weil es ganz in der Nähe von Dürers Haus stand,
den ihr Vater sehr bewundert hatte. Ihr Vater hatte eigentlich
dessen Haus kaufen wollen, aber Dürers Erben hatten es
vorgezogen, das Haus völlig herunterkommen zu lassen.
Toni zankte in der Küche, die sich neben der Druckereiwerkstatt
im Erdgeschoss befand, gerade die Zwillinge aus,
die ihrer Meinung nach die Karotten viel zu dick geschält hatten.
Die drei standen um den Herd, auf dem über dem Feuer
in einem Kupferkessel schon die Brühe für die Suppe köchelte
und einen angenehmen Geruch verbreitete. Als Rosa und
ihre Mutter hereinkamen, erstarrten alle drei und sahen erwartungsvoll
zu ihnen her.
Dann lösten sich Eva und Maria und stürmten zu ihrer
Mutter. »Und? Was hat der Rat entschieden?«, fragten sie wie
aus einem Mund, und die Aufregung verlieh den beiden fast
einen Hauch von Farbe in ihren sonst so blassen Gesichtern.
Die Mutter setzte sich auf die Holzbank, die unter dem
winzigen Fenster neben dem langen, blank gescheuerten Tisch
aus dunkler Eiche stand. »Toni, gib mir ein wenig Bier.«
Die Zwillinge platzierten sich rechts und links neben der
Mutter. Trotz der jetzt unnatürlich geröteten Wangen fand
Rosa, dass ihre Schwestern aussahen wie zwei Gerippe mit
Hauben. Noch dazu schielte Maria, obwohl der Vater von
einer Reise aus Italien einen merkwürdigen Apparat besorgt
hatte, um ihr das Schielen abzugewöhnen. Er hatte aus ein
paar walnussgroßen Silberblechen bestanden, die an einem
Band befestigt waren und durch deren erbsengroße Löcher
die arme Maria monatelang hatte schauen müssen, doch ohne
jeden Erfolg.
Wie gut, dachte Rosa, dass wir wenigstens diese zwei Jahre
beim Rat herausgeschunden haben. Zwei Jahre, in denen ihre
Schwestern vielleicht endlich richtig gesund werden würden.
Aber was wurde nach den zwei Jahren? Wer würde diese
beiden, die aufgrund ihrer ständigen Erkrankungen so viel
jünger wirkten, als sie waren, schon heiraten? Und falls doch
ein Wunder geschähe und eine von beiden würde sich verehelichen,
wie würde sie eine Schwangerschaft und die Geburt
überstehen? Und selbst wenn, wer konnte wissen, ob sie
jemals Söhne gebären würden?
Nein, Rosa musste dafür sorgen, dass der Betrieb weiterlaufen
konnte, allein schon, damit ihre Schwestern und ihre
Mutter zu essen hatten und ein Dach über dem Kopf.
Toni goss Bier aus dem dunkelblauen Krug in einen braunen
Steingutbecher. Die Mutter beeilte sich, das stark schäumende
Bier abzutrinken, bevor es überlaufen konnte, kippte
den Becher dann in einem Zug hinunter und brach endlich
das gespannte Schweigen.
»Nun, der Rat hat nach unserer Eingabe eine Gnadenfrist
von zwei Jahren gewährt.«
Eva und Maria brachen in freudiges Jubeln aus, sprangen auf
und tanzten durch die Küche, was die Pfannen und Töpfe, die
an der Esse aufgehängt waren, in leise scheppernde Bewegungen
versetzte. Dann stürmten sie zu Rosa und umtanzten sie.
»Hört auf damit! Setzt euch wieder hin, und seid still! Das
ist kein Grund zur Freude. Eure unselige Schwester hat behauptet,
sie würde innerhalb dieser beiden Jahre nach Indien
reisen und euren Neffen Kaspar, Johannes' Enkel, nach Hause
holen.«
Die Mutter seufzte und forderte Toni mit einem Kopfnicken
auf, noch etwas nachzuschenken. Die Zwillinge hatten
sich wieder hingesetzt, und alle zusammen starrten nun
Rosa an.
»Und genau das werde ich tun! Ich werde es diesem ungerechten
Rat zeigen! Wenn das der einzige Weg ist, um Vaters
Werkstatt weiterführen zu können, dann muss und werde ich
das schaffen. Es gibt kein Zurück mehr!«
Die Zwillinge verzogen ihre Münder. »Aber Rosa, wir wollen
nicht, dass du weggehst. Ohne dich ist es so langweilig«,
maulten sie, als ob sie nicht schon vierzehn Jahre alt wären.
»Sie wird nirgends hingehen«, Rosas Mutter schlug mit
der Hand auf den Tisch, »denn das schickt sich nicht für eine
Frau. Und wenn euch so langweilig ist, dann werden Toni
und ich euch in der nächsten Zeit mit mehr Arbeit eindecken,
als ihr euch das auch nur vorstellen könnt.«
»Aber Mutter. Ich muss diese Reise machen, nur dann bleiben
uns diese zwei Jahre.«
»Dein Benehmen vor dem Rat war unmöglich. Rosa, wie
oft habe ich dir schon gesagt, dass gerade du es mit der Wahrheit
besonders genau nehmen sollst.« Die Mutter schüttelte
den Kopf. Dabei hatte Rosa noch gar nicht widersprochen.
»Gerade weil du mit diesem Zeichen geboren bist, solltest du
dich umso mehr durch anständiges lutherisches Betragen hervortun
statt durch teuflisches Lügen.«
»Was hat Rosa den Räten denn so Übles gesagt?«, wollte
Toni wissen. Sie ging vom Tisch zurück zum Feuer, wo sie mit
einem langen Holzlöffel in der Suppe rührte und einen kleinen
Schluck probierte. Sie zwinkerte Rosa aufmunternd zu,
und Rosa fühlte sich plötzlich besser. Ihre Mutter hatte eben
nicht immer recht!
»Die Unselige hat behauptet, Dorothea wollte, dass sie
käme, um Kaspar nach Hause zu holen.« Die Mutter bekreuzigte
sich. »Das nennt man den Teufel versuchen. Jetzt bin ich
sicher, dass ich meine Dorothea niemals mehr sehen werde.«
Meine Dorothea, dachte Rosa bitter. Dabei hatte der Vater
Dorothea mit in die Ehe gebracht, und trotzdem war seine
Tochter für die Mutter ihre Dorothea.
»Dein Vater hätte sie niemals diesem elenden Kaufmann zur
Frau geben sollen. Hier wäre ihr Platz, hier bei mir.« Die Mutter
schlug sich bei den letzten Worten auf die magere Brust.
Rosa wurde jetzt erst klar, dass sie der Mutter noch zusätzlichen
Kummer bereitet hatte. Ohne nachzudenken, schritt sie
zu ihr hin, wollte ihr tröstend mit der Hand über den Arm
streichen, doch die Mutter wich zurück und legte ihre Arme
links und rechts um die Zwillinge. Wie eine Wand saßen die
drei vor ihr.
Wie ähnlich sich die drei sahen, schoss es durch Rosas Kopf.
Zum wiederholten Mal fragte sie sich, warum sie so völlig aus
der Zapf'schen Art geschlagen war. Die drei hatten ein lang gezogenes
Gesicht und ihre wenigen dünnen Haare die Farbe
von nassem Sand. Drei fahlrosa und schmale Münder, deren
hübsch geschwungene Oberlippen sich gerade missbilligend
kräuselten. Vier graugrüne Augen starrten Rosa durchdringend
an. Bei denen von Maria wusste man nie genau, wo sie hinsah.
»Alles, was zählt, ist das Ergebnis«, sagte Rosa und zitierte
damit ihren Vater, der Machiavelli für den größten aller italienischen
Staatsmänner gehalten hatte. Sie hoffte, damit ihre
Mutter zu besänftigen.
Toni räusperte sich und fragte, ob denn heute nichts zu
Mittag gegessen werden sollte, dann bat sie Eva und Maria,
ihr dabei zu helfen, die Suppe aufzutragen.
»Wir haben diese zwei Jahre, Mutter. Ich werde Kaspar holen,
und ihr werdet in dieser Zeit so viel Geld wie möglich
sparen, für den Fall, dass ich nicht zurückkomme. Aber ich
werde es schaffen. Also, Mutter, warum passt es dir nicht,
dass wir gewonnen haben?«
»Wir haben nicht gewonnen, sondern gelogen, mein Kind,
das ist ein großer Unterschied.«
Das war nun doch reichlich ungerecht, fand Rosa. »Ich
habe für zwei Jahre unser Dach über dem Kopf gesichert.
Außerdem«, sie zögerte, dann atmete sie tief durch, »außerdem
habe ich nicht gelogen, denn ich werde losziehen und
Kaspar nach Hause holen!«
Niemand sagte ein Wort.
»Aber Rosa, wer soll die Werkstatt leiten, wenn du weg
bist?«, fragte Maria nach einer Weile und brach die eisige
Stille. »Wer soll sich neue Kartenbilder ausdenken?«
»Das werdet ihr schon schaffen. Wir werden einen Vorrat
anlegen. Und ich werde euch noch zwei neue Druckstöcke
stechen, dann könnt ihr genug Kopien davon abnehmen.
Das wird reichen.«
»Aber nur du kannst die Karten so gut entwerfen und stechen
wie Vater«, mischte sich jetzt Eva ein.
Rosas Brust wurde enger, als sie die besorgten Blicke ihrer
Schwestern auf sich fühlte. Die beiden waren wirklich nicht
in der Lage, auch nur eine gerade Linie zu ziehen. Bei Maria
machte es das Schielen unmöglich, und Eva hatte nicht genug
Kraft, ihre Linien waren zu zittrig.
»Bis ich abreise, werden wir all das geregelt haben. Das
verspreche ich euch.« Rosa versuchte, die Stimmen in ihrem
Kopf zu ignorieren, Stimmen, die sie mit der höhnischen
Stimme des Spitzbärtigen fragten, wie sie das denn überhaupt
anstellen wollte. Stattdessen lächelte sie ihre Schwestern aufmunternd
an, obwohl diese sie anstarrten, als hätte sie ihnen
ihr Todesurteil verkündet.
Toni brachte den Suppenkessel und stellte ihn auf den
Tisch. Die Zwillinge verteilten Tonschüsseln und Löffel.
Rosa betrachtete widerwillig ihre Gerstensuppe, sie hatte
keinen Hunger. »Mutter, ich muss nach Indien fahren, der Rat
hat es nun so festgelegt«, brach es aus ihr hervor. »Wie stehen
wir denn da, wenn ich es nicht einmal versuche?«
Maria und Eva schlürften ihre Suppe, Toni sah Rosa fragend
an.
»Du redest Unsinn, Kind.« Die Mutter legte ihren Löffel
seufzend hin. »Die Reise nach Indien dauert lang und ist gefährlich.
Dein Vater hätte das niemals gutgeheißen.«
»Aber was sollen wir denn sonst tun? An den elenden Martin
Löffelholtz verkaufen? Der war dem Vater immer schon
ein Dorn im Auge! Jedes Mal, wenn der Vater eine neue Idee
hatte, hat der Löffelholtz sie schnell kopiert und billiger ver
Copyright © 2010 by Diana Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion | Valesca Schober
Herstellung | Helga Schörnig
Umschlaggestaltung | t. mutzenbach design, München,
unter Verwendung folgender Motive: © Reni Guido (1575-1642), Prado,
Madrid, Spain/bridgemanart und Nuremberg, Prout, Samuel (1783-1852) /
© Wolverhampton Art Gallery, West Midlands, UK/Bridgeman Berlin
Satz | Leingärtner, Nabburg
Druck und Bindung | GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany 2010
978-3-453-35425-8
www.diana-verlag.de
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Autoren-Porträt von Beatrix Mannel
Beatrix Mannel wuchs in Darmstadt auf und studierte Theater-, Literaturwissenschaften und Romanistik in München und Italien. Sie arbeitete einige Jahre lang als Fernsehredakteurin, bevor sie begann, Jugendbücher zu schreiben. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Bayern.
Bibliographische Angaben
- Autor: Beatrix Mannel
- 2010, 567 Seiten, Maße: 11,8 x 18,8 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: Diana
- ISBN-10: 3453354257
- ISBN-13: 9783453354258
Rezension zu „Die Hexengabe “
"Beatrix Mannel (...) fesselt ihre Leser durch immer wieder neue Wendungen und wechselnde Perspektiven. Ihr Roman erinnert an frühere TV-Weihnachtsmehrteiler und ist ein packendes Abenteuer für lange Winterabende."
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