Die Himmelsmalerin
Historischer Roman. Originalausgabe
Welch dunkles Geheimnis verbirgt sich hinter den prächtigen Fenstern der Franziskanerkirche?
Esslingen, 1326: Ohne die Hilfe seiner Tochter kann der Glasmaler Heinrich Luginsland nicht mehr arbeiten, denn seine Augen werden immer schlechter. Bereits seit...
Esslingen, 1326: Ohne die Hilfe seiner Tochter kann der Glasmaler Heinrich Luginsland nicht mehr arbeiten, denn seine Augen werden immer schlechter. Bereits seit...
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Produktinformationen zu „Die Himmelsmalerin “
Klappentext zu „Die Himmelsmalerin “
Welch dunkles Geheimnis verbirgt sich hinter den prächtigen Fenstern der Franziskanerkirche?Esslingen, 1326: Ohne die Hilfe seiner Tochter kann der Glasmaler Heinrich Luginsland nicht mehr arbeiten, denn seine Augen werden immer schlechter. Bereits seit drei Jahren hilft Lena ihm heimlich dabei, die Glasfragmente zu bemalen, denn Frauen ist es in Esslingen nicht gestattet, ein Handwerk auszuüben. Daher soll Lena den ihr verhassten Tübinger Glasmaler Marx Anstetter heiraten. Doch da kommt Lionel Jourdain, ein wandernder Künstler aus Frankreich, zu Gast in Heinrich Luginslands Haus. Mit sich bringt er das Geheimnis des Silbergelbs. Lena ist fasziniert von dem schönen Fremden ...
Lese-Probe zu „Die Himmelsmalerin “
Die Himmelsmalerin von Pia Rosenberger... mehr
1
Der Himmel war so blau wie der Mantel der Madonna. Lena richtete sich auf und strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. Kobalt, dachte sie, vielleicht Ultramarin. Sie stellte sich vor, wie das Licht durch die Scheiben leuchtete, die ihr Vater in diesen Farben färbte. Nur heute nicht. An St. Margareten, in der Mitte des siebten Monats, wurde im Weinberg gearbeitet. Der Boden musste gehackt und die Reben geschnitten werden, damit die Trauben reifen konnten. Bis das nicht geschehen war, standen die Arbeiten in den städtischen Werkstätten still.
Ihr Vater, der Glasmaler Heinrich Luginsland, war dabei, alle überflüssigen Triebe und viele grüne Trauben wegzuschnei den, und zeigte sich dabei großzügig wie immer. Seiner Meinung nach war das die beste Voraussetzung für einen guten Tropfen. Der Geselle half ihm, während die Lehrbuben - nichtsnutzig, wie sie waren - sich lieber gegenseitig die unreifen Beeren in den Kragen steckten, als die abgeschnittenen Triebe vom Boden aufzusammeln. Noch nichtsnutziger war nur Lenas Bräutigam.
Marx Anstetter, der Glasmaler aus Tübingen, der es nach ihrem Geschmack schon viel zu lange in Esslingen aushielt, hatte es sich am Feldrand bequem gemacht und rührte keinen Finger. Anders als Lena, die gemeinsam mit der Köchin Martha seit Sonnenaufgang Unkraut jätete und den Boden rund um die Weinstöcke hackte, hatte er es anscheidend nicht nötig, bei der Arbeit im Weinberg mit anzupacken. Fein säuberlich aufgeschichtet lagen die kleinen Haufen aus Löwenzahn, Quecken und Giersch zwischen den Reben. Der Boden unter dem Wein zerkrümelte zwischen Lenas Fingern und roch nach heißem Staub.
Sie richtete sich auf, wischte sich die erdigen Hände an ihrer Schürze ab und stützte sich auf die Hacke. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es Anfang Juli jemals so heiß gewesen war. Hitze, die über den Weinbergen vibrierte wie ein lebendiges Wesen.
Der Himmel lag so durchsichtig über den Hängen wie eine blaue Schüssel aus Glas, noch perfekter, als ihr Vater sie hätte blasen können. Darunter funkelte die Welt wie ein polierter Edelstein. Vom Fluss her wuchsen die Reben die Hänge hoch, hellgrün, golden und voller Verheißung. Sie hatten winzige, harte Beeren angesetzt, aus denen, wenn Gott Esslingen vor Hagelwetter schützte, ein weiterer guter Jahrgang werden würde.
Im Tal schlug der Neckar einen weiten Bogen um die Stadt. Über ihn spannte sich die neue Steinbrücke, auf der reges Kommen und Gehen herrschte. Sogar von hier oben konnte Lena sehen, wie dicht der Verkehr stadteinwärts war. So viele Leute drängten in die Stadt, dass sich die bunten Handelskarawanen, die Bauern und die Söldner vor dem Brückenhaus stauten wie ein wimmelnder Ameisenhaufen. Sie ließ ihre Augen über das Häusergewirr mit seinen roten Dächern schweifen, aus dem die beiden Türme der Stadtkirche hervorstachen wie zwei Finger, und blieb schließlich an der Baustelle der Liebfrauenkapelle hängen. Der Chor, der sich seit fünf Jahren im Bau befand, sah aus wie das Skelett eines riesigen Tieres. Was Valentin wohl gerade machte? Lena strengte sich an, aber sie konnte den blonden Haarschopf ihres Freundes zwischen den grauen Mauern nicht erkennen. Wie auch, es war viel zu weit weg.
Seufzend nahm sie die Hacke wieder auf und trieb das Blatt in den rissigen, ausgetrockneten Boden. Mit den Fingern lockerte sie geschickt eine Löwenzahnpflanze, löste sie mit der Wurzel heraus und warf sie auf den Haufen Unkraut neben sich. Dann richtete sie sich wieder auf und rieb sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn. Eigentlich reichte es ihr. Sie wäre lieber allein in der Werkstatt gewesen und hätte an ihren Entwürfen für den Thron Salomonis weitergearbeitet. Da ist es wenigstens kühl, dachte sie sehnsüchtig.
»Kannst du nicht mehr?«, fragte Martha.
Lena lachte und deutete auf die Sonne, die vom Zenit des Himmels auf sie herunterbrannte. »Ich glaube, es ist Zeit zu rasten.«
»Du hast recht, die Sonne steht schon hoch.«
Sie legten ihre Hacken beiseite, kletterten den steilen Abhang bis zum Weg hinauf und packten ihre mitgebrachten Körbe aus: Brot, Fleisch, Wein und die leckeren Pasteten, die Martha mit Wildfleisch und Preiselbeeren zubereitet hatte. Lena hockte sich ins Gras auf ihre Fersen und füllte ihrem Vater den Becher. Heinrich Luginsland setzte sich neben sie an den Feldrain und trank ihn in einem Zug leer. Lena füllte ihn gleich wieder, gab aber acht, den Wein dieses Mal mit Wasser zu verdünnen, bevor sie den Becher dem Vater reichte. Wenn er zu viel Wein trank, wurde sein Gesicht heiß und rot, und er fing an zu schnaufen. Besorgt musterte sie ihn von der Seite. Heinrich sah alt aus. Sein Haarschopf, der in ihrer Kindheit so rot wie ihr eigener geleuchtet hatte, war vollständig ergraut, und die Hände, mit denen er die schwere Hacke schwang, lagen krumm wie Klauen auf seinen Knien. Aber das war es nicht, was ihr Sorgen bereitete.
»Sag Lena«, flüsterte er. »Ist die Welt so bunt, wie ich denke?«
»Ja, sehr bunt«, wisperte sie. »Wie Edelsteine. Wie ... Glasfenster.« Eine Last senkte sich auf ihr Gemüt.
»Schon gut«, murmelte er und legte seine schweren Hände auf ihre. Die feinen, lehmverschmierten Finger verschwanden in seinen Pranken, und Lena musste ihre Tränen wegblinzeln.
»Wir schaffen das schon.«
Aber wie bloß?, dachte sie, sagte jedoch nichts, sondern verdrehte stattdessen die Augen. Denn von rechts näherte sich Marx Anstetter, breitete seinen Mantel aus, der aus feinstem Tuch bestand, und ließ sich elegant an ihrer Seite nieder. Seine Beine steckten in zweifarbigen Hosen, das eine Bein blau, das andere grün. Das war der letzte Schrei aus Frankreich. Eingekesselt zwischen ihrem Vater und ihrem Bewerber biss sie herzhaft in ihre Pastete und betrachtete Anstetter verstohlen. Wie konnte man nach einem halben Tag im Weinberg noch immer aussehen wie aus dem Ei gepellt und riechen, als käme man gerade aus der Badestube? Nur, wenn man nichts geschafft hat, dachte sie. Anstetter schob seinen modischen Hut in den Nacken und wischte sich über die Stirn. Am Ringfinger der rechten Hand trug er einen kostbaren Rubin, der das Sonnenlicht einfing und blitzend in der Luft verteilte.
Hoch oben am Himmel stand eine Lerche und jubilierte ihre Freude über den prächtigen Sommertag in die Welt.
Unten auf dem Neckar wurde gerade Holz in Richtung Stadt geflößt. Die Baumstämme bedeckten den graugrünen Fluss an der Biegung fast vollständig. Wenn man ganz still war, konnte man die Kommandos der Flößer hören, die von Baumstamm zu Baumstamm sprangen, um die festgehakten Stämme vom Ufer zu lösen. Und die Lerche noch dazu. Aber Anstetter war nicht still. Das war er nie.
»Sagt, Luginsland, wann kommt er nun, der französische Geck, der uns den Auftrag für das Fenster in der Franziskanerkirche vor der Nase weggeschnappt hat?«
Heinrich Luginsland schüttelte den Kopf und lachte leise. »Einige Tage wird es schon noch dauern. Er kommt aus dem Burgundischen, hat mir der Prior erzählt.«
»Und Ihr wollt ihm wirklich Eure Werkstatt zur Verfügung stellen, mit allem Drum und Dran?«
»So lautet die Abmachung.«
Anstetter machte eine Pause, die tiefste Missbilligung ausdrückte. Lena wusste, wie wichtig die Vereinbarung mit den Franziskanern war. Sie brauchten die Miete für die Werkstatt dringend.
»Nun, Jungfer Lena.« Anstetter strich sich die dunklen, glatten Haare aus dem Gesicht. »Wollt Ihr mir nicht auch eine dieser schmackhaften Wildpasteten reichen, die Eure Martha so köstlich zubereitet hat?«
Er lächelte und ließ seine beiden vorstehenden Vorderzähne sehen, die Lena zusammen mit dem fliehenden Kinn immer an ein Frettchen erinnerten. Lena tat der Höflichkeit Genüge, reichte ihm eine Pastete und füllte seinen Becher mit ihrem guten weißen Hauswein, der in Windeseile Anstetters Schlund heruntergurgelte. Lena sah seinen Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfen.
Wie ein gieriger Specht, dachte sie spöttisch.
»Euer guter Neckarwein macht es mir leicht, um Eure Tochter anzuhalten, Meister Luginsland.« Er rülpste leise.
»Wenn Ihr dem Wein weiter so zusprecht, Meister Anstetter, wird er nicht bis zur Hochzeit reichen«, sagte Lena. »Dann ist unser Keller nämlich leer.«
Ihr Vater drückte warnend ihre Hand. Wir können ihn nicht mehr lange hinhalten, hieß das.
»Oh, mich lockt nicht nur der Wein ...«, sagte Anstetter nachdenklich und ließ seine Augen über ihren Körper wandern.
Lena wurde das Flusstal zu eng. Sie stand auf und trat an den Steilhang, der seit hundert Jahren terrassiert und mit Weinstöcken bewachsen war. Es war nicht nur der Wein, der Anstetter anzog, und ganz gewiss nicht ihre eigene kratzbürstige Person, auch wenn der Kerl noch so lüstern tat. Es war die gutgehende Glasmalerwerkstatt, die Aufträge aus dem ganzen Württembergischen und aus so mancher Reichsstadt erhielt. Nur derzeit gingen fast keine ein, aber das wusste er nicht. Eigentlich waren die Anstetters aus Tübingen direkte Konkurrenz zur Werkstatt Luginsland in Esslingen. Doch das ließ sich schnell ändern, wenn der älteste Sohn die Glasmalertochter aus Esslingen freite. Dann war man ein einziger Betrieb, und alle Probleme lösten sich von ganz alleine. Wenn, ja wenn Lena den Meister Anstetter aus Tübingen nur ein bisschen netter finden würde.
»Denkt dran«, begann dieser jetzt von neuem. »Margareta mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl. Und Katharina, Eure Stadtheilige, ist die Beschützerin der Ehefrauen. Also vielleicht bald auch die Eure.«
»Aber auch die der Mädchen und Jungfrauen«, gab Lena vorwitzig zurück und trat an den Rebhang heran, der sich vor ihr fast senkrecht bis zum Fluss herunterzog.
Er schüttelte missbilligend den Kopf, stand auf und streckte sich, bis es in seinen Knien knackte. »Aber nicht die der alten Jungfern.«
Lena sah ihn an und hätte fast gelacht. Manchmal konnte er es mit ihrer spitzen Zunge durchaus aufnehmen. So bald war sie noch keine alte Jungfer. Schließlich war sie im letzten Dezember erst siebzehn geworden, und damit im besten heiratsfähigen Alter.
Ächzend ließ sich Meister Luginsland von seinem Schwiegersohn in spe auf die Füße helfen. »Wir reden später, Meister Marx«, sagte der Glasmaler und ging wieder an die Arbeit.
Das geflößte Holz war inzwischen an der Landestelle angekommen und verstopfte den Neckar nun oberhalb der Brücke. In Esslingen wurde an jeder Ecke gebaut, Holz war immer gefragt.
Die Sonne wanderte gen Westen, aber es war noch immer so heiß, dass Lena der Schweiß zwischen den Schulterblättern herablief. Ganz plötzlich stand Marx Anstetter neben ihr.
»Was denkt Ihr Euch dabei, mich so vorzuführen, vor Eurem Vater?«
Verwundert sah sie ihn an. Seine Stimme klang anders als zuvor. Scharf, ungeduldig und voller unausgesprochener Drohungen. Ihr Vater hatte nie so mit ihr gesprochen. Anstetters Hand legte sich auf ihren Rücken, Besitz ergreifend, als gehöre sie ihm bereits mit Leib und Leben. Lena tat einen Schritt nach vorn in Richtung des Abgrunds.
»Ich brauche Eure Antwort nicht, obwohl es sicher Spaß machen würde, Euch zu zähmen. Mit Eurem Vater bin ich schon einig. Und Ihr wisst ganz genau, warum.«
Er ließ sie stehen, allein zwischen den summenden Bienen, den Blick auf den graugrünen Fluss gerichtet, der gen Westen hinter einer Biegung verschwand, wohin Lena nie gekommen war. Alle anderen gingen an ihre Arbeit zurück, nur sie verharrte noch einen Moment. Dann drehte sie sich um und wanderte steil bergauf.
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Der Himmel war so blau wie der Mantel der Madonna. Lena richtete sich auf und strich sich eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn. Kobalt, dachte sie, vielleicht Ultramarin. Sie stellte sich vor, wie das Licht durch die Scheiben leuchtete, die ihr Vater in diesen Farben färbte. Nur heute nicht. An St. Margareten, in der Mitte des siebten Monats, wurde im Weinberg gearbeitet. Der Boden musste gehackt und die Reben geschnitten werden, damit die Trauben reifen konnten. Bis das nicht geschehen war, standen die Arbeiten in den städtischen Werkstätten still.
Ihr Vater, der Glasmaler Heinrich Luginsland, war dabei, alle überflüssigen Triebe und viele grüne Trauben wegzuschnei den, und zeigte sich dabei großzügig wie immer. Seiner Meinung nach war das die beste Voraussetzung für einen guten Tropfen. Der Geselle half ihm, während die Lehrbuben - nichtsnutzig, wie sie waren - sich lieber gegenseitig die unreifen Beeren in den Kragen steckten, als die abgeschnittenen Triebe vom Boden aufzusammeln. Noch nichtsnutziger war nur Lenas Bräutigam.
Marx Anstetter, der Glasmaler aus Tübingen, der es nach ihrem Geschmack schon viel zu lange in Esslingen aushielt, hatte es sich am Feldrand bequem gemacht und rührte keinen Finger. Anders als Lena, die gemeinsam mit der Köchin Martha seit Sonnenaufgang Unkraut jätete und den Boden rund um die Weinstöcke hackte, hatte er es anscheidend nicht nötig, bei der Arbeit im Weinberg mit anzupacken. Fein säuberlich aufgeschichtet lagen die kleinen Haufen aus Löwenzahn, Quecken und Giersch zwischen den Reben. Der Boden unter dem Wein zerkrümelte zwischen Lenas Fingern und roch nach heißem Staub.
Sie richtete sich auf, wischte sich die erdigen Hände an ihrer Schürze ab und stützte sich auf die Hacke. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es Anfang Juli jemals so heiß gewesen war. Hitze, die über den Weinbergen vibrierte wie ein lebendiges Wesen.
Der Himmel lag so durchsichtig über den Hängen wie eine blaue Schüssel aus Glas, noch perfekter, als ihr Vater sie hätte blasen können. Darunter funkelte die Welt wie ein polierter Edelstein. Vom Fluss her wuchsen die Reben die Hänge hoch, hellgrün, golden und voller Verheißung. Sie hatten winzige, harte Beeren angesetzt, aus denen, wenn Gott Esslingen vor Hagelwetter schützte, ein weiterer guter Jahrgang werden würde.
Im Tal schlug der Neckar einen weiten Bogen um die Stadt. Über ihn spannte sich die neue Steinbrücke, auf der reges Kommen und Gehen herrschte. Sogar von hier oben konnte Lena sehen, wie dicht der Verkehr stadteinwärts war. So viele Leute drängten in die Stadt, dass sich die bunten Handelskarawanen, die Bauern und die Söldner vor dem Brückenhaus stauten wie ein wimmelnder Ameisenhaufen. Sie ließ ihre Augen über das Häusergewirr mit seinen roten Dächern schweifen, aus dem die beiden Türme der Stadtkirche hervorstachen wie zwei Finger, und blieb schließlich an der Baustelle der Liebfrauenkapelle hängen. Der Chor, der sich seit fünf Jahren im Bau befand, sah aus wie das Skelett eines riesigen Tieres. Was Valentin wohl gerade machte? Lena strengte sich an, aber sie konnte den blonden Haarschopf ihres Freundes zwischen den grauen Mauern nicht erkennen. Wie auch, es war viel zu weit weg.
Seufzend nahm sie die Hacke wieder auf und trieb das Blatt in den rissigen, ausgetrockneten Boden. Mit den Fingern lockerte sie geschickt eine Löwenzahnpflanze, löste sie mit der Wurzel heraus und warf sie auf den Haufen Unkraut neben sich. Dann richtete sie sich wieder auf und rieb sich mit der Hand über die verschwitzte Stirn. Eigentlich reichte es ihr. Sie wäre lieber allein in der Werkstatt gewesen und hätte an ihren Entwürfen für den Thron Salomonis weitergearbeitet. Da ist es wenigstens kühl, dachte sie sehnsüchtig.
»Kannst du nicht mehr?«, fragte Martha.
Lena lachte und deutete auf die Sonne, die vom Zenit des Himmels auf sie herunterbrannte. »Ich glaube, es ist Zeit zu rasten.«
»Du hast recht, die Sonne steht schon hoch.«
Sie legten ihre Hacken beiseite, kletterten den steilen Abhang bis zum Weg hinauf und packten ihre mitgebrachten Körbe aus: Brot, Fleisch, Wein und die leckeren Pasteten, die Martha mit Wildfleisch und Preiselbeeren zubereitet hatte. Lena hockte sich ins Gras auf ihre Fersen und füllte ihrem Vater den Becher. Heinrich Luginsland setzte sich neben sie an den Feldrain und trank ihn in einem Zug leer. Lena füllte ihn gleich wieder, gab aber acht, den Wein dieses Mal mit Wasser zu verdünnen, bevor sie den Becher dem Vater reichte. Wenn er zu viel Wein trank, wurde sein Gesicht heiß und rot, und er fing an zu schnaufen. Besorgt musterte sie ihn von der Seite. Heinrich sah alt aus. Sein Haarschopf, der in ihrer Kindheit so rot wie ihr eigener geleuchtet hatte, war vollständig ergraut, und die Hände, mit denen er die schwere Hacke schwang, lagen krumm wie Klauen auf seinen Knien. Aber das war es nicht, was ihr Sorgen bereitete.
»Sag Lena«, flüsterte er. »Ist die Welt so bunt, wie ich denke?«
»Ja, sehr bunt«, wisperte sie. »Wie Edelsteine. Wie ... Glasfenster.« Eine Last senkte sich auf ihr Gemüt.
»Schon gut«, murmelte er und legte seine schweren Hände auf ihre. Die feinen, lehmverschmierten Finger verschwanden in seinen Pranken, und Lena musste ihre Tränen wegblinzeln.
»Wir schaffen das schon.«
Aber wie bloß?, dachte sie, sagte jedoch nichts, sondern verdrehte stattdessen die Augen. Denn von rechts näherte sich Marx Anstetter, breitete seinen Mantel aus, der aus feinstem Tuch bestand, und ließ sich elegant an ihrer Seite nieder. Seine Beine steckten in zweifarbigen Hosen, das eine Bein blau, das andere grün. Das war der letzte Schrei aus Frankreich. Eingekesselt zwischen ihrem Vater und ihrem Bewerber biss sie herzhaft in ihre Pastete und betrachtete Anstetter verstohlen. Wie konnte man nach einem halben Tag im Weinberg noch immer aussehen wie aus dem Ei gepellt und riechen, als käme man gerade aus der Badestube? Nur, wenn man nichts geschafft hat, dachte sie. Anstetter schob seinen modischen Hut in den Nacken und wischte sich über die Stirn. Am Ringfinger der rechten Hand trug er einen kostbaren Rubin, der das Sonnenlicht einfing und blitzend in der Luft verteilte.
Hoch oben am Himmel stand eine Lerche und jubilierte ihre Freude über den prächtigen Sommertag in die Welt.
Unten auf dem Neckar wurde gerade Holz in Richtung Stadt geflößt. Die Baumstämme bedeckten den graugrünen Fluss an der Biegung fast vollständig. Wenn man ganz still war, konnte man die Kommandos der Flößer hören, die von Baumstamm zu Baumstamm sprangen, um die festgehakten Stämme vom Ufer zu lösen. Und die Lerche noch dazu. Aber Anstetter war nicht still. Das war er nie.
»Sagt, Luginsland, wann kommt er nun, der französische Geck, der uns den Auftrag für das Fenster in der Franziskanerkirche vor der Nase weggeschnappt hat?«
Heinrich Luginsland schüttelte den Kopf und lachte leise. »Einige Tage wird es schon noch dauern. Er kommt aus dem Burgundischen, hat mir der Prior erzählt.«
»Und Ihr wollt ihm wirklich Eure Werkstatt zur Verfügung stellen, mit allem Drum und Dran?«
»So lautet die Abmachung.«
Anstetter machte eine Pause, die tiefste Missbilligung ausdrückte. Lena wusste, wie wichtig die Vereinbarung mit den Franziskanern war. Sie brauchten die Miete für die Werkstatt dringend.
»Nun, Jungfer Lena.« Anstetter strich sich die dunklen, glatten Haare aus dem Gesicht. »Wollt Ihr mir nicht auch eine dieser schmackhaften Wildpasteten reichen, die Eure Martha so köstlich zubereitet hat?«
Er lächelte und ließ seine beiden vorstehenden Vorderzähne sehen, die Lena zusammen mit dem fliehenden Kinn immer an ein Frettchen erinnerten. Lena tat der Höflichkeit Genüge, reichte ihm eine Pastete und füllte seinen Becher mit ihrem guten weißen Hauswein, der in Windeseile Anstetters Schlund heruntergurgelte. Lena sah seinen Adamsapfel beim Schlucken auf und ab hüpfen.
Wie ein gieriger Specht, dachte sie spöttisch.
»Euer guter Neckarwein macht es mir leicht, um Eure Tochter anzuhalten, Meister Luginsland.« Er rülpste leise.
»Wenn Ihr dem Wein weiter so zusprecht, Meister Anstetter, wird er nicht bis zur Hochzeit reichen«, sagte Lena. »Dann ist unser Keller nämlich leer.«
Ihr Vater drückte warnend ihre Hand. Wir können ihn nicht mehr lange hinhalten, hieß das.
»Oh, mich lockt nicht nur der Wein ...«, sagte Anstetter nachdenklich und ließ seine Augen über ihren Körper wandern.
Lena wurde das Flusstal zu eng. Sie stand auf und trat an den Steilhang, der seit hundert Jahren terrassiert und mit Weinstöcken bewachsen war. Es war nicht nur der Wein, der Anstetter anzog, und ganz gewiss nicht ihre eigene kratzbürstige Person, auch wenn der Kerl noch so lüstern tat. Es war die gutgehende Glasmalerwerkstatt, die Aufträge aus dem ganzen Württembergischen und aus so mancher Reichsstadt erhielt. Nur derzeit gingen fast keine ein, aber das wusste er nicht. Eigentlich waren die Anstetters aus Tübingen direkte Konkurrenz zur Werkstatt Luginsland in Esslingen. Doch das ließ sich schnell ändern, wenn der älteste Sohn die Glasmalertochter aus Esslingen freite. Dann war man ein einziger Betrieb, und alle Probleme lösten sich von ganz alleine. Wenn, ja wenn Lena den Meister Anstetter aus Tübingen nur ein bisschen netter finden würde.
»Denkt dran«, begann dieser jetzt von neuem. »Margareta mit dem Wurm, Barbara mit dem Turm, Katharina mit dem Radl, das sind die drei heiligen Madl. Und Katharina, Eure Stadtheilige, ist die Beschützerin der Ehefrauen. Also vielleicht bald auch die Eure.«
»Aber auch die der Mädchen und Jungfrauen«, gab Lena vorwitzig zurück und trat an den Rebhang heran, der sich vor ihr fast senkrecht bis zum Fluss herunterzog.
Er schüttelte missbilligend den Kopf, stand auf und streckte sich, bis es in seinen Knien knackte. »Aber nicht die der alten Jungfern.«
Lena sah ihn an und hätte fast gelacht. Manchmal konnte er es mit ihrer spitzen Zunge durchaus aufnehmen. So bald war sie noch keine alte Jungfer. Schließlich war sie im letzten Dezember erst siebzehn geworden, und damit im besten heiratsfähigen Alter.
Ächzend ließ sich Meister Luginsland von seinem Schwiegersohn in spe auf die Füße helfen. »Wir reden später, Meister Marx«, sagte der Glasmaler und ging wieder an die Arbeit.
Das geflößte Holz war inzwischen an der Landestelle angekommen und verstopfte den Neckar nun oberhalb der Brücke. In Esslingen wurde an jeder Ecke gebaut, Holz war immer gefragt.
Die Sonne wanderte gen Westen, aber es war noch immer so heiß, dass Lena der Schweiß zwischen den Schulterblättern herablief. Ganz plötzlich stand Marx Anstetter neben ihr.
»Was denkt Ihr Euch dabei, mich so vorzuführen, vor Eurem Vater?«
Verwundert sah sie ihn an. Seine Stimme klang anders als zuvor. Scharf, ungeduldig und voller unausgesprochener Drohungen. Ihr Vater hatte nie so mit ihr gesprochen. Anstetters Hand legte sich auf ihren Rücken, Besitz ergreifend, als gehöre sie ihm bereits mit Leib und Leben. Lena tat einen Schritt nach vorn in Richtung des Abgrunds.
»Ich brauche Eure Antwort nicht, obwohl es sicher Spaß machen würde, Euch zu zähmen. Mit Eurem Vater bin ich schon einig. Und Ihr wisst ganz genau, warum.«
Er ließ sie stehen, allein zwischen den summenden Bienen, den Blick auf den graugrünen Fluss gerichtet, der gen Westen hinter einer Biegung verschwand, wohin Lena nie gekommen war. Alle anderen gingen an ihre Arbeit zurück, nur sie verharrte noch einen Moment. Dann drehte sie sich um und wanderte steil bergauf.
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Autoren-Porträt von Pia Rosenberger
Pia Rosenberger wurde 1963 in der Nähe von Osnabrück geboren. Nach dem Abitur studierte sie Kunstgeschichte, Literatur und Pädagogik. Heute lebt sie mit Mann und zwei Kindern in Esslingen und arbeitet als freie Journalistin, Stadtführerin und Museumspädagogin. Ihr erster historischer Roman 'Die Himmelsmalerin' ist ebenfalls bei FISCHER erschienen.
Bibliographische Angaben
- Autor: Pia Rosenberger
- 2012, 4. Aufl., 528 Seiten, Maße: 12,6 x 19,1 cm, Taschenbuch, Deutsch
- Verlag: FISCHER Taschenbuch
- ISBN-10: 3596193214
- ISBN-13: 9783596193219
- Erscheinungsdatum: 24.09.2012
Rezension zu „Die Himmelsmalerin “
Der Band mit dem wunderschönen Cover hat rund 500 Seiten, auf denen nirgendwo Langeweile einkehrt. Anna Eunike Röhrig EKZ Bibliotheksservice 20121204
Pressezitat
Der Band mit dem wunderschönen Cover hat rund 500 Seiten, auf denen nirgendwo Langeweile einkehrt. Anna Eunike Röhrig EKZ Bibliotheksservice 20121204
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